Triff mich im Paradies - Heine Bakkeid - E-Book

Triff mich im Paradies E-Book

Heine Bakkeid

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Beschreibung

Hoch im Norden, wenn alles dunkel wird ... Thorkild Aske, einst Verhörspezialist und interner Ermittler der norwegischen Polizei, wird dazu überredet, die bekannte Krimiautorin Milla Lind bei ihren Recherchen zu unterstützen. Linds ehemaliger Berater, ebenfalls ein Ex-Polizist, kam während der Arbeit an Millas neuestem Projekt ums Leben. Ihr Buch basiert auf realen Vorkommnissen: Zwei junge Mädchen verschwanden auf mysteriöse Weise aus einem Jugendheim. Schon bald begreift Aske, dass nichts so ist, wie es scheint. Weder das Verschwinden der Mädchen, noch Millas Buchprojekt – ebenso wenig der Tod jenes Mannes, dessen Arbeit er übernommen hat. Als sein eigenes Leben in Gefahr gerät, ist Aske bereit, es um jeden Preis zu verteidigen.

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Heine Bakkeid

Triff mich im Paradies

Thriller

 

 

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Justus Carl

 

Über dieses Buch

Hoch im Norden, wenn alles dunkel wird …

Thorkild Aske, einst Verhörspezialist und interner Ermittler der norwegischen Polizei, wird dazu überredet, die bekannte Krimiautorin Milla Lind bei ihren Recherchen zu unterstützen. Linds ehemaliger Berater, ebenfalls ein Ex-Polizist, kam während der Arbeit an Millas neuestem Projekt ums Leben. Das Buch basiert auf realen Vorkommnissen: Zwei junge Mädchen verschwanden auf mysteriöse Weise aus einem Jugendheim.

Schon bald begreift Aske, dass nichts so ist, wie es scheint. Weder das Verschwinden der Mädchen, noch Millas Buchprojekt – ebenso der Tod des Mannes, dessen Arbeit er übernommen hat. Als sein eigenes Leben in Gefahr gerät, ist Aske bereit, es um jeden Preis zu verteidigen.

Vita

Heine Bakkeid, Jahrgang 1974, ist in Norwegen ein renommierter Jugendbuchautor. «Morgen werde ich dich vermissen» war sein erster Kriminalroman und Auftakt der Reihe, die in 11 Ländern erscheint und auf fünf Bände angelegt ist.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Møt meg i paradis» bei H. Aschehoug, Oslo.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Møt meg i paradis» Copyright © 2018 by Heine Bakkeid

Redaktion Julie Hübner

Covergestaltung bürosüd, München

Coverabbildung Dan Chung/arcangel

ISBN 978-3-644-40084-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Die norwegische Kripo führt ein zentrales Register über Vermisstenmeldungen. Jedes Jahr kommen ungefähr 1800 neue Einträge hinzu, das heißt fünf Vermisste pro Tag. In diesen Fällen gehen die Ermittler immer von vier verschiedenen Szenarien aus: Es gibt Menschen, die sich selbst das Leben nehmen. Menschen, die einfach abhauen. Menschen, denen ein Unglück widerfährt. Und Menschen, die anderen zum Opfer gefallen sind …

Robert Riverholts letzter Arbeitstag

«Na? Was meinst du?» Milla Lind hatte die Beine übereinandergeschlagen. Sie trug einen Hosenanzug und hatte ihr Haar heute so frisiert, wie es Robert Riverholt von den Umschlägen ihrer Bücher kannte. Ihre Stimme klang immer sanft und angenehm, sie war nicht so anmaßend und geschwätzig wie seine übrige Klientel. Ihre Fragen waren nie mechanisch, eher eine nette Abwechslung von all den wichtigen Gesprächsthemen. Milla Lind fragte, weil sie etwas wissen wollte. Das mochte er am liebsten an ihr. Das, und ihre Augen.

«Gut.» Er gab ihr die Manuskriptseiten zurück und lehnte sich in seinem Sessel nach hinten. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und lächelte. «Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.»

«Genial!» Auf dem Sofa weiter hinten im Loft nickte Millas schwedischer Agent Pelle Rask enthusiastisch, ohne dabei von seinem iPad aufzusehen. Robert stellte fest, dass Pelle wieder einmal den Stil der Timesharing-Makler auf Gran Canaria imitiert hatte: halblange, nach hinten gegelte Haare und ein hautenges Hemd, dessen zwei obere Knöpfe offen standen.

Milla drehte sich zum Sofa, ohne etwas zu sagen, bevor sie sich wieder an Robert wandte. «Ich habe Lust, die Reihe damit zu beenden, wie Gjertrud in August Mugabes Leben tritt.» Sie nahm eine Strähne ihrer Locken und zwirbelte sie zwischen den Fingern. «Der Augenblick, in dem sich alles ändert.»

Als Robert Milla zum ersten Mal begegnet war, hatte er diese Angewohnheit als Zeichen von Unsicherheit gedeutet. Er hatte geglaubt, die nervösen Fingerspitzen zeugten von mangelndem Selbstvertrauen. Inzwischen wusste er es besser. «Das ist auch der Moment, in dem seine Tochter verschwindet, oder?»

«Ja», antwortete Milla.

Robert ließ seinen Blick durch eines der Dachfenster in den wolkenlosen Himmel über Oslo wandern. «Ich glaube, das wäre ein würdiges Ende für dieses Projekt.»

«Du erinnerst mich an August.» Milla ließ die Haare los und schob sich demonstrativ einen vergoldeten Kugelschreiber zwischen die Lippen, ehe sie ihn wieder herauszog und damit auf ihr Bein trommelte. Währenddessen betrachtete sie Robert. «Immer mehr.»

«Puh!» Robert zwang sich zu einem herzlichen Lachen. Ich habe es zu weit kommen lassen, dachte er und musste sich beherrschen, damit ihm seine Gesichtsmuskeln nicht entglitten. Viel zu weit.

Milla schaute ihn immer noch an. «Ich weiß nicht, ob das schon immer so war oder ob ich es mir einrede.»

«Tja, verrate es einfach niemandem.» Robert zwinkerte ihr zu und schlug sich abschließend auf die Schenkel, bevor er aufstand. Er nickte Pelle auf dem Sofa zu und nahm Kurs auf den Flur, wo er stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. «Wir sehen uns heute Abend auf Tjøme. Du hast die Jungs zusammengetrommelt, oder?»

«Ja.» Milla kam ihm mit dem Manuskript in den Händen entgegen. «Sie kommen.» Sie blieb stehen und holte Luft. «Hast du etwas herausgefunden? Etwas Neues?»

«Heute Abend, Milla. Wir reden heute Abend.»

 

Draußen überflutete die Sonne den gesamten Himmel. Sie strahlte zwischen den Häusern hindurch und tauchte die Straßen der Hauptstadt in ein schönes Licht. Seit er aus dem Hamsterrad ausgebrochen war und begonnen hatte, selbständig zu arbeiten, war Robert Riverholt vollkommen von der Stadt fasziniert. Und auch jetzt war er wieder so versunken in die Architektur, dass er nicht auf den Klang der zielstrebigen Schritte hinter sich achtete oder auf den Schatten, der auf ihn fiel, als er in eine von ehrwürdigen alten Stadtbäumen gesäumte Seitenstraße einbog. Im nächsten Moment registrierte er nur noch die Mündung an seinem Hinterkopf und das metallische Klicken des Bolzens, der gegen die Patrone schlug. Und dann war die Sonne verschwunden.

Teil IMenschen, die vermissen

Kapitel 1

Ich habe den Übergang vom Winter zum Frühling noch nie leiden können. Die Bäume sind krumm und nackt und erinnern an mutiertes Gestrüpp, das nach einem Atomkrieg aus dem Boden sprießt. Ganz Stavanger ertrinkt in unendlichen Regengüssen, die alles algengrün und grau färben.

Die Arbeitsvermittlung in der Klubbgata im Zentrum der Stadt hat jetzt mehr Besucher als früher. Das Sofa im Wartesaal ist besetzt, die Gesichter wirken hart und vom Glauben ans eigene Scheitern gezeichnet.

«Thorkild Aske.» Iljanas Händedruck hat sich seit dem letzten Mal nicht verändert. Wenn überhaupt, ist ihr Griff noch kraftloser und die Berührung noch kälter geworden, als würde man einer tiefgekühlten Leiche die Hand schütteln. «Freut mich», sagt sie wenig überzeugend und sinkt auf einen neuen, blauen Bürostuhl mit einer ergonomischen Rückenlehne.

«Und mich erst», antworte ich und setze mich.

«Erinnern Sie sich noch an Ihre Geburts- und Personennummer?»

«Aber natürlich.» Zwischen uns steht die Schale mit den Plastikbananen, so traurig wie eh und je. Ich sehe, dass sie Gesellschaft von einem Haufen roter Plastiktrauben und einer künstlichen Birne bekommen haben, ohne dass das dem Zimmer eine fruchtigere Atmosphäre verliehen hätte als damals die Bananenimitate.

«Würden Sie sie mir auch nennen?» Leicht gereizt schaukelt sie auf ihrem Stuhl vor und zurück.

Ich nenne ihr die Zahlenfolge, damit Iljana endlich den Blick von meinem zerstörten Gesicht abwenden und auf den Computerbildschirm schauen kann.

«Sie möchten also als arbeitsunfähig eingestuft werden?»

«Ja.» Ich gebe ihr den Umschlag, den ich dabeihabe. «In Absprache mit meiner Verantwortungseinheit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das der einzig richtige Weg für meine Zukunft ist.»

Sie nimmt die Brille ab. «Nach dem, was passiert ist, als Sie …»

«Als ich letzten Herbst meine Schwester in Nordnorwegen besucht habe, ja.»

«Sie haben versucht, sich …», Iljana sieht mich zögernd an, «… das Leben zu nehmen?»

Ich nicke. «Sogar zweimal. Die Arztberichte finden Sie in dem Umschlag.»

Iljana zieht die Unterlagen hervor und blättert darin. «Ja, das eine Mal mit Hilfe einer …» Sie sieht von dem Dokument auf: «Harpune?»

«Der Druck war einfach zu hoch.»

«Der Druck von … uns? Von der Arbeitsvermittlung?»

Ich nicke wieder.

Ulf, mein Freund und Psychiater, ist zu dem Schluss gekommen, dass es an der Zeit ist, aufs Ganze zu gehen. Vollständige Arbeitsunfähigkeit. Mein Hausarzt und er haben einen gemeinsamen Brief verfasst, in dem sie behaupten, der Versuch der Arbeitsvermittlung, mich an ein Callcenter in Forus, dem Industriegebiet von Stavanger, zu vermitteln, hätte schließlich dazu geführt, dass ich mich habe umbringen wollen: das erste Mal durch einen Sprung ins Meer, das zweite Mal, indem ich mir selbst mit einer Harpune in die Hand und in die Brust schoss. Der Fall, in den ich im Norden verwickelt gewesen war, bleibt unerwähnt. Noch dazu hat Ulf damit gedroht, die Presse einzuschalten, sollte die Arbeitsvermittlung seinen hirngeschädigten, höchst suizidalen und hilfebedürftigen Patienten weiter unter Druck setzen.

«Nun gut.» Iljana blättert wieder durch die Papiere. «Ich glaube, dann hätten wir alles, was wir von unserer Seite aus dazu brauchen.» Sie ordnet die Blätter und legt sie zurück in den Umschlag, bevor sie ihre Hände im Schoß faltet.

«Was passiert denn jetzt?» Ich reibe mit den Fingern über die Narbe auf der Handfläche. Die Stelle, an der die Harpune eingedrungen ist, tut immer noch weh, besonders an regnerischen Tagen. Und davon gibt es in Stavanger viele.

«Also», seufzt sie und presst die Daumen aneinander. «Der nächste Schritt ist die neuropsychologische Untersuchung.»

«Worin besteht die?»

Sie dreht ihren Kopf in meine Richtung, ohne mich direkt anzusehen. «Das sind eine Reihe kognitiver Tests. Im Laufe des Frühjahrs werden wir Ihnen diesbezüglich eine Benachrichtigung zuschicken.»

«Danke.» Ich stehe auf.

Iljana zeigt mir ein eingeübtes Lächeln, das nicht bis zu den Augen reicht, bevor sie sich zu der Schale mit dem Plastikobst vorbeugt: «Ruhen Sie sich aus, Aske. Respektieren Sie Ihre Grenzen. Keine Reisen mehr, jetzt, wo wir Ihren Fall prüfen.»

«Nie wieder», sage ich. «Ausschließlich ruhige Abende zu Hause, in tiefer Kontemplation über die Tiefgründigkeiten des Lebens und der norwegischen Arbeitsvermittlung.»

Iljana schüttelt leicht den Kopf und wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu, während ich mich umdrehe und hinausgehe.

 

Mein Handy klingelt, noch bevor ich das Gebäude der Arbeitsvermittlung verlassen habe.

«Fertig?» Ulfs Stimme ist angespannt, im Hintergrund kann ich den Motor dröhnen hören, während Arja Saijonmaa singt, dass sie dem Leben danken will.

«Fertig.»

«Und?»

«Werde im Laufe des Frühjahrs einen Termin für eine neuropsychologische Untersuchung bekommen.»

«Gut, gut», brummelt Ulf. «Dann kann es losgehen. Schön, schön.» Es entsteht eine Pause, in der ich hören kann, wie Ulf den Blinker setzt, die Melodie mitsummt und wahrscheinlich wie ein Irrer auf einem Nikotinkaugummi herumkaut, während Saijonmaa von Glück, Trauer und Schmerz singt.

Als ich aus Tromsø zurückgekehrt bin, hat Ulf mir meine Medikamente weggenommen und gleichzeitig seinen Marlboros abgeschworen, um als gutes Beispiel voranzugehen. Das hat zu einem gewaltigen Überkonsum von Nikotinpflastern und Nikotinkaugummis geführt. Uns wurde beiden schnell klar, dass Ulf sich mit diesem Versprechen in eine ziemlich heikle Lage gebracht hatte. Seitdem kann er seiner Sucht nicht nachgeben, ohne gleichzeitig auch meinen Medikamentenbedarf neu bewerten zu müssen. Das Ganze hat sich zu einem unerklärten Stellungskrieg entwickelt, in dem ich warte und Ulf kaut.

«Hast du schon für morgen gepackt?», fragt Ulf schnell, bevor ich auflegen kann.

«Ja. Alles paletti.»

«Keine Kaffeemaschine und keinen anderen überflüssigen Schnickschnack wie beim letzten Mal? Du kannst es dir nicht leisten, dir das selbst zu versauen, Thorkild.»

«Nur Klamotten und gute Absichten. Kein Schnickschnack.»

«Diese Gelegenheit, die sich mit Milla Lind ergeben hat, ist vielleicht die letzte, die du bekommst, um …»

«Ich verspreche es.»

«Doris freut sich übrigens sehr, dich kennenzulernen. Sie hat noch nie einen Isländer getroffen.»

«Halb-Isländer», antworte ich. «Ich bin halb isländisch, das weißt du auch, und ich war seit über zwanzig Jahren nicht mehr da.»

«Ist doch egal. Der Punkt ist, dass sie sich freut.»

«Ulf», setze ich an und kneife die Augen vor der grellen Frühlingssonne zu, die sich über dem Gebäude der Arbeitsvermittlung im Zentrum von Stavanger durch die Regenwolken kämpft. «Was das Abendessen angeht …»

«Vergiss es. Ich lade ein, du kommst. Keine Ausreden dieses Mal … Und alle Lieder sind dieselben Lieder …», singt Ulf im Duett mit Arja. «Ach, noch was: Bring Kerbel mit.»

«Was?»

«Kerbel. Du sollst Kerbel kaufen.»

«Was ist denn Kerbel?»

«Na, Kerbel!», bellt er. Seine Kiefermuskeln arbeiten auf Hochtouren. «Das ist eine Art Petersilie. Fahr im Supermarkt vorbei, bevor du kommst, da kriegst du das.»

«Muss ich?»

«Und alle Lieder, die wahr sind … Ja!», befiehlt Ulf und legt auf.

Kapitel 2

«Ulf sagt, du wärst impotent?» Doris sieht mich fragend an, während wir am Küchentisch in Ulfs Haus in Eiganes sitzen. Seine neue Freundin ist eine siebenundfünfzigjährige deutsche Sexologin und Kolumnistin mit einem eigenen Blog. Er hat sie auf einer Konferenz in Bergen kennengelernt.

«Nein! Ulf glaubt es!» Auf der Kücheninsel direkt nebenan hackt Ulf den Kerbel, als ginge es um sein Leben. Er trägt eine weiße, ärmellose Tunika, und auf seinem Oberarm kann ich drei Nikotinpflaster ausmachen.

Doris zerrupft ein Brötchen mit den Fingern und legt die Stücke in einen Brotkorb neben der Suppenschüssel. Gleich darauf kommt Ulf mit einer Handvoll Kerbel und streut sie über ihre Suppe. Sie benutzt eines der Brötchenstücke, um die Kerbelblätter in der milchigen Brühe zu ertränken, bevor sie es sich in den Mund steckt, eifrig zu kauen beginnt und mich dabei fragt: «Sag mal, onanierst du oft?»

Ich starre angestrengt in meinen Suppenteller und tue so, als hätte ich die Frage nicht gehört.

«Thorkild onaniert nicht», springt Ulf mir bei und schenkt Wein in unsere Gläser, bevor er sich zwischen uns setzt.

Doris taucht ein neues Stück Brötchen in die Kerbelgrütze und betrachtet mich aus schmalen Augen. «Woher willst du das denn wissen?»

«Das ist ja genau der Punkt.» Ulf leckt sich die grüne Farbe von den Fingerkuppen. «Er weiß es nicht. Er schafft sich diese Hindernisse, unüberwindbare Hürden, damit er sich nicht in der Welt außerhalb seiner Wohnung engagieren muss. Aske ist auf der Flucht vor allem, was man als zwischenmenschliche Interaktion bezeichnen kann.»

«Der moderne Eremit», sage ich in einem verzweifelten Versuch, in diesem Albtraum einer sozialen Begegnung die gute Laune zu wahren. Ich reiße das Glas an mich und leere den Inhalt. Doris verschränkt ihre Hände unter dem Kinn. Das kurze, rot gefärbte Haar sträubt sich in alle Richtungen; eine moderne Frisur, die an ein von einem manisch-depressiven Floristen kreiertes Blumengesteck erinnert. Ihre Lippen sind schmal und tiefrot, die Haut in ihrem Gesicht ist weiß und hängt in losen Falten herab, ohne dass sie dabei übergewichtig oder aufgedunsen wirkt, eher so, als hätte sie vor kurzem abgenommen und ihre Haut hätte noch nicht genügend Zeit gehabt, sich anzupassen. Sie sieht zufrieden aus, sowohl mit sich selbst als auch mit dem tief ausgeschnittenen Oberteil, das sie für diese abendliche Befragung gewählt hat.

«Hast du schon mal versucht, dich selbst in ein erotisches Szenario hineinzuversetzen oder dir Situationen oder Menschen vorzustellen, die normalerweise eine sexuelle Reaktion mit anschließender Erektion bei dir auslösen?»

«Ich weiß nicht …», antworte ich angestrengt und senke meinen Blick wieder in den Suppenteller. Der süßliche Geruch und die grüne, ölige Flüssigkeit lassen mich an algenverseuchtes Brackwasser denken. «Was … ich meine …»

Nach dem Essen fischt Doris eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündet sie an, während Ulf zornig und zugleich sehnsüchtig das glühende Ende des Glimmstängels anstarrt: «Du musst dich trauen, deine Phantasie einzusetzen», sagt Doris. «Deiner Lust wieder freien Lauf zu lassen.» Sie lehnt sich nach vorn und bläst eine Rauchwolke zur Decke. «Manchmal hat man sie weggepackt und glaubt, sie wäre nicht mehr vorhanden. Die Unterdrückung der eigenen Sexualität ist nicht nur ein weibliches Konzept. Sie wird einem auch nicht notwendigerweise von jemand anderem aufgezwungen.» Sie inhaliert noch mehr Zigarettenrauch und bläst ihn zufrieden wieder aus. «Ich kann dir ein paar Übungen mitgeben, die du mal ausprobieren könntest, wenn du alleine bist.»

«Danke», murmele ich und rühre sprachlos in der Suppe. «Das ist äußerst nett von dir.»

Ulf dreht sich verärgert von Doris und der Zigarette weg, während er mit einer Hand über die Pflaster auf seinem Oberarm streicht. Anschließend richtet er seinen Blick auf mich. «Vielleicht sollten wir noch ein letztes Mal alles durchgehen, was dich morgen in Oslo erwartet?»

«Okay», antworte ich, froh, endlich das Thema wechseln zu können und Ulf ebenso leiden zu sehen wie mich.

«Ich liebe ihre Bücher», schwärmt Doris. «Eine bessere Gegenspielerin als August Mugabes Frau Gjertrud findet man ja wohl selten. Hast du Milla Linds Bücher gelesen?»

Ich schüttele den Kopf.

«Also», fährt Doris fort, wobei sie den Suppenteller als Aschenbecher benutzt. «Milla Lind ist nicht nur die unangefochtene Krimikönigin im Norden, sondern auch in Deutschland sehr erfolgreich.»

Ulf mischt sich ein, während er weiter die Suppe in sich hineinlöffelt: «Sie hat zwölf Bücher über den melancholischen Ermittler mit dem seltsamen Namen August Mugabe geschrieben, dessen Frau zweimal versucht hat, ihn umzubringen.»

«Dreimal», korrigiert Doris ihn.

«Was?» Ulf lässt seinen Löffel fallen und schaut sie und ihre Zigarette ärgerlich an. «Nein, zweimal. Das erste …»

«Mugabes Frau hat dreimal versucht, ihn umzubringen.» Doris schenkt sich Wein nach. «Im ersten Buch vergiftet sie ihn, im vierten zündet sie die Hütte an, während er mit Schlafmitteln vollgedröhnt auf dem Dachboden liegt. Und im achten …»

«Nein, nein», unterbricht Ulf sie. «Der Auftragskiller, der ihn im achten Buch umbringen will, ist eindeutig von Mugabes Chef Brandt angeheuert. Er sagt ja selbst, das wäre ein Gruß von einem alten Freund, bevor er schießt. Wäre er von Gjertrud beauftragt worden, hätte er gesagt, dass der Gruß von jemandem ist, den August geliebt hat.»

Ulf schaut mich an und nickt heftig, als wolle er mich dazu bringen, seiner These zuzustimmen. Ich weigere mich, irgendeine Theorie des Mannes zu bestätigen, der zwischen mir und meinen Tabletten steht, weshalb ich ihn geflissentlich übersehe und mich wieder Doris zuwende.

«Gerade weil er das sagt, wissen wir doch, dass Gjertrud den Mörder beauftragt hat», gibt Doris zurück. «Zu sagen, dass der Gruß von einem alten Freund kommt, ist doch nur eine letzte Beleidigung dieser fast siebzig Jahre alten Frau, die nichts als Verachtung für den Mann übrighat, der ihr kein Kind schenken wollte. Das gilt auch für die kalten Kartoffeln, die sie ihm immer zum Essen serviert. Das ist die ausdrucksstarke Symbolik einer kinderlosen Frau, die sich in Trauer und bittere Reue hüllt.»

Ulf kaut schmatzend. «Hmm, ja, vielleicht hast du recht.» Er dreht sich wieder zu mir um. «Wie du weißt, wurde Millas letzter Berater, Robert Riverholt, vor einem halben Jahr auf offener Straße von seiner Exfrau erschossen. Milla Lind hat das schwer mitgenommen, sie hat seitdem nicht mehr gearbeitet. Über eine Fortbildung zum Thema Trauertherapie in Fornebu bin ich mit ihrer Psychiaterin in Kontakt gekommen. Milla und ihr ehemaliger Berater hatten gerade erst mit den Recherchen für ein neues Buch angefangen, als Robert starb, und jetzt braucht sie Hilfe dabei, sie zu beenden, bevor sie das letzte und entscheidende Buch über August Mugabe in Angriff nimmt. Leser auf der ganzen Welt warten auf dieses Buch, Aske.»

«Und hier komme ich ins Spiel?», folgere ich. «Als Krimiberater, was auch immer das nun ist.»

«Zehn Tage mit der besten Krimiautorin des Landes, für 3500 Kronen am Tag», fügt Ulf hinzu und hebt das Glas zu einem stillen Prost.

«Lieber das als Kerzenziehen in einer Fabrik in Auglendsmyrå unter der Aufsicht der Arbeitsvermittlung», antworte ich.

«Es sind sowieso noch ein paar Wochen, bis du zur neuropsychologischen Untersuchung musst, und einen ruhigeren und sichereren Job als diesen gibt es gar nicht. Eine Rundreise mit Milla Lind höchstpersönlich – so ein Rezept kann ich wahrlich nicht all meinen Patienten ausstellen.»

«Danke», antworte ich trocken und leere das Weinglas. «Ich brauche das Geld.»

«Ja verdammt, das brauchen wir alle», stimmt Ulf mir zu und wendet sich an Doris: «Ich glaube übrigens, dass Gjertrud im letzten Teil noch einen finalen Versuch wagen wird, August Mugabe zu töten. Und dass das Buch damit endet, dass sie es schafft. Oder? Wäre das nicht was?»

«Auf jeden Fall.» Doris nimmt sich eine neue Zigarette. «Alles andere wäre eine Enttäuschung.»

Ulf lehnt sich demonstrativ auf seinem Stuhl zurück, nimmt den Suppenteller in die Hände und schlürft den Rest der Suppe direkt aus der Schüssel. «Du triffst sie morgen um ein Uhr im Bristol», sagt er, als er endlich fertig ist. Er kramt eine Packung Nikotinkaugummis aus der Hosentasche und drückt zwei, drei Stück heraus, die er sich in den Mund steckt. «Der Flug nach Oslo geht um halb neun, also denk dran und stell dir einen Wecker. Ich rufe trotzdem an, um zu hören, ob du fertig bist. Wir können außerdem noch deine Medikamentenliste durchgehen, wenn du magst. Falls da etwas ist, worüber du mit mir sprechen willst.»

«Du weißt, was ich will», sage ich kalt und stelle das Glas ab.

«Die Zeiten sind vorbei», erwidert Ulf, während er seinen Mund von innen mit der Zunge säubert und mit den Fingerspitzen auf das Porzellan trommelt. «Für uns beide.» Dann steht er auf und fängt an, den Tisch abzuräumen. «Das hast du dir da oben in Tromsø selbst eingebrockt. Aber wenn du noch nicht bereit für so etwas bist, dann habe ich allen Respekt davor, es ist trotz allem weniger als ein halbes Jahr her, dass du durchs Feuer gehen musstest, und wir können das auch gerne …»

«Nein, ich will», antworte ich. «Ich dachte nur, dass es gut wäre, etwas in der Hinterhand zu haben, zumindest vielleicht ein Blister OxyNorm, oder …»

«Vergiss es. Neurontin, Risperdal und Cipralex gegen die Angst. Kein Sobril, keine Oxys. Das ist die Abmachung.»

«Cipralex ist was für Kinder.»

Ulf zieht eine Grimasse und spuckt die Kaugummis ins Spülbecken, dann drückt er zwei neue aus der Packung. «Na, was zur Hölle glaubst du denn, was DAS ist?» Er hält mir die Kaugummis auf seiner Handfläche entgegen. «Wir haben uns beide entschieden, unserer Gesundheit zuliebe Opfer zu bringen. Wenn ich das schaffe, dann bekommst du es ja wohl auch hin.»

«Und wenn ich nicht schlafen kann?»

«Dann trinkst du eine Tasse Kamillentee und schreibst ein Gedicht darüber.»

Doris löscht die glühende Zigarette wieder in der Suppenschüssel. «Ist das nicht ein bisschen gefährlich, Ulf, ihn ohne etwas anderes als Cipralex dahin zu schicken?»

Schnaubend wirft sich Ulf die Kaugummis in den Mund. «Überhaupt nicht. Genau wegen dem, was beim letzten Mal passiert ist, bekommt er doch keine von den Pillen, die er haben will.»

Deprimiert schüttele ich den Kopf und stehe auf, um zu gehen. Doris kommt zu mir und legt mir eine Hand auf die Schulter. «Was unser vorheriges Gespräch angeht … Du solltest die Zeit nutzen, um herauszufinden, ob du nicht einen Weg zurück zu deiner eigenen Sexualität finden kannst, solange du unterwegs bist. Vielleicht traust du dich ja, ein bisschen neugieriger zu sein, deine Phantasie spielen zu lassen und das anschließend zu reflektieren.» Sie hält kurz inne und schaut mich mit einem schiefen Lächeln an, ehe sie mich fragt: «Glaubst du, du hättest Lust dazu?»

«Ulf sagt, dass Phantasien gefährlich für mich sind», erwidere ich.

«Na dann.» Sie schürzt ihre Lippen so, dass sich die Falten in den Mundwinkeln ein winziges bisschen zusammenziehen. «Man muss sich immer bewusst machen, wohin einen die Phantasie bringt, und nicht zuletzt, welchen Phantasien man sich hingibt. Aber man darf sie auch für sich selbst behalten, im Inneren, weißt du. Solange du fühlst, dass sie dir etwas geben und dir und anderen keinen Schaden zufügen.»

«Du hast recht.» Ich ringe mir eine Art Lächeln ab und drücke kurz ihre Hand. «Solange sie niemandem schaden.»

Kapitel 3

Der Bus 9 nach Tananger ist leer bis auf mich und den Fahrer. Draußen ist es dunkel, gelb leuchtende Straßenlaternen gleiten an den Fenstern vorüber, und der Bus schaukelt leicht hin und her, wie ein Schiff, das durch den milden Frühlingsabend treibt. Die Bäume haben neue Blätter bekommen, und der Huflattich sprießt zwischen Asphalt und Bordstein hervor, als wir aus der Stadt hinaus in Richtung Westen rollen.

Ich steige an der Haltestelle direkt vor der alten Kapelle aus. Der Parkplatz ist leer, durch die Hecken hindurch sieht man kleine Kerzen flackern.

Sobald ich an dem Pfad ankomme, der zum Friedhof führt, bleibe ich stehen. Vor mir sehe ich frische, braune Erdhügel mit Blumengestecken, Grabsteine mit goldener Aufschrift und von Grablichtern und Fackeln schwach beleuchtete Engel und Vögel. Am mondlosen Himmel treiben in hastigem Tempo grauschwarze Wolkenbänke vom Meer heran. Ich bin oft hier gewesen, seit ich aus Tromsø zurückgekommen bin. Das erste Mal bin ich an dieser Stelle stehen geblieben, ohne den eigentlichen Friedhof zu betreten.

Ich halte mich am Rand und folge dem Pfad zwischen den Gräbern, bis ich zur richtigen Seite komme. Ein leichter Luftzug lässt mich innehalten, als ich ihren Grabstein erblicke. Es ist vom Weg aus gesehen der vierte, auf beiden Seiten steht eine Kerze. Nur eine von ihnen brennt. Ich bleibe reglos stehen und starre den schwarzen Stein an.

«Im Dunkeln ist er am schönsten», sagt plötzlich eine Stimme hinter mir.

«Wie bitte?» Ich drehe mich abrupt um und schaue in die schmalen Augen eines älteren Herrn mit braunem Mantel und Hut. Er steht ein paar Schritte hinter mir und hält einen struppigen Hund an der Leine. «Entschuldigung, was haben Sie gesagt?»

«Der Friedhof», antwortet er ruhig. «Ich komme auch am liebsten abends hierher. Im Dunkeln kommt er einem nicht mehr so kahl vor. Außerdem finde ich ihn bei Kerzenschein besonders schön, selbst wenn es windig und regnerisch ist.»

«Ja.» Ich ziehe den Jackenkragen enger um den Hals. «Die Kerzen sind schön.»

«Haben Sie Familie hier?»

«Nein, sie …», beginne ich, stocke dann aber.

«Meine Frau.» Der Mann deutet mit dem Kopf auf eine der Gräberreihen auf der anderen Seite. «Bin seit bald sieben Jahren Witwer. Meine Tochter hat mir vorgeschlagen, mir einen Hund anzuschaffen.» Er lächelt das Tier zu seinen Füßen an. «Als Gesellschaft. Es ist gut, jemanden zu haben, der die Leere füllt, bis zu dem Tag, an dem wir uns wiedersehen.» Sein Blick strahlt eine fromme Gewissheit aus. «Im Paradies.»

Ich nicke schwach.

«Haben Sie einen Hund?»

«Was?»

«Einen Hund. Haben Sie …»

«Nein, ich versuche es mit Glückspillen.»

«Oh? Hilft das?»

«Weiß ich nicht genau», murmele ich, während meine Augen nach Freis Grab suchen.

«Also dann», sagt der Mann, als der Hund an der Leine zerrt. Im nächsten Moment verschwinden beide in der Dunkelheit.

Ich warte einen Augenblick, bevor ich auf das weiche Gras trete. Mit einem Mal fühlt sich der Boden viel kälter an, als hätte der Winter seinen Griff hier immer noch nicht richtig gelockert, und ich eile wieder auf den Weg. Und haste zurück zum Parkplatz.

Kapitel 4

In Oslo ist es feucht, die Frühlingsluft ist aber kälter als zu Hause in Stavanger, wo sich das Aroma des Kuhmists von Jæren aus schon langsam über der Stadt ausbreitet. Im Restaurant des Hotel Bristol werde ich zur Garderobe dirigiert, wo eine Frau meinen Mantel entgegennimmt und mir einen Zettel zum Abholen gibt. Ich gehe zurück zum Eingang. Der Wintergarten und die Bibliotheksbar sind voller Leute, im Hintergrund läuft Klaviermusik, und es riecht stark nach gerösteten Kaffeebohnen und Frikadellen mit gebratenen Zwiebeln. Ich lasse den Blick über die Menschenmenge schweifen, bis ich an einem Tisch, der teilweise von einer Reihe Topfpflanzen verdeckt wird, eine Frau und zwei Männer entdecke. Die Frau lächelt und winkt in meine Richtung, während die beiden Männer mich mit verhaltener Neugier betrachten.

Ich winke linkisch zurück und gehe ihnen entgegen.

«Sie müssen Aske sein», sagt die Frau und steht auf, als ich an ihrem Tisch angekommen bin. «Wir haben auf Sie gewartet.»

Ich nicke und schüttele ihre Hand.

«Eva», sagt sie. «Ich bin Millas Lektorin im Verlag.»

«Thorkild Aske.»

«Pelle Rask», sagt der jüngere der beiden Männer, ohne aufzustehen. «Ich bin Millas Agent. Wir sind bei Gustavsson für die Auslandslizenzen zuständig.»

«Halvdan», sagt der andere Mann und steht auf, um mich zu begrüßen. «Verleger.»

«Sie fahren nachher weiter nach Tjøme?», will Eva wissen, nachdem wir uns alle gesetzt haben.

«Ja …», antworte ich. «Das ist der Plan.»

«Schön, schön.» Halvdan nimmt seine Gabel und macht sich an einem zweistöckigen Sahneschnittchen zu schaffen. «Sie werden sehen, das wird gut laufen.»

«Ich glaube, sie freut sich, Sie kennenzulernen», sagt Eva. «Aber ich dachte trotzdem, es wäre besser, wenn wir vier ein paar Dinge besprechen, bevor Sie sich treffen.»

Der Kellner serviert mir ein kleines Kännchen Kaffee und eine Tasse.

«Nun denn», fängt Halvdan mit vollem Mund an. «Sie waren früher also Vernehmungsleiter bei der Spezialeinheit für interne Ermittlungen der Polizei.» Er hält die Gabel in der Luft und sieht mich unter seinen buschigen Augenbrauen in der Erwartung an, dass ich etwas dazu sage.

«Das stimmt. Aber jetzt nicht mehr», erkläre ich. Alle drei schauen mich prüfend an und nicken. Anscheinend sind sie über meine Vergangenheit informiert. «Ich wurde nach einem Zwischenfall vor ein paar Jahren entlassen und musste etwas mehr als drei Jahre im Gefängnis von Stavanger verbüßen.»

«Und jetzt sind Sie Freiberufler», schließt der Verleger und widmet sich wieder der Sahneschnitte. Er füllt seinen Mund und deutet mit der Gabel auf Eva. «Hat nicht Viknes-Eik ein Essay darüber geschrieben, dass man für seine Sünden büßen muss?»

«Ja, In Ungnade gefallen», antwortet Eva und nippt an einem Glas Wein. «Packend.»

«In Ungnade gefallen, genau. Aufreibende Lektüre.» Wie ein Zepter schwingt er die Gabel zwischen uns. «Haben Sie es gelesen?»

Ich schüttele den Kopf. Ich hätte zwar sagen können, dass ich das eine oder andere darüber weiß, wie man auf die Schnauze fliegt und sowohl seine Karriere als auch sein Seelenleben zerstört. Oder dass ich daheim in Stavanger einen Psychiater habe, der meint, dass ich immer noch falle, aber ich bin nicht in der Stimmung, schon beim ersten Date ungesellig zu wirken. Und noch weniger finde ich, dass der Wintergarten und die Bibliotheksbar der richtige Ort für als trockener Smalltalk getarnte, schonungslose Ehrlichkeit sind.

Der Verleger dreht die Gabel vorsichtig um ihre eigene Achse und schließt die Augen. «Er erklärt sein grundlegendes Misstrauen gegenüber Strafe und Sühne und romantisiert eine Gesellschaft, in der der Verbrechensbegriff von innen kommt.»

«In den Augen sollst du meine Grenzen erkennen», ergänzt Eva.

«Ja, ja», sagt der Verleger freudig. «Genauso ist es, ja.»

«Sie werden eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben müssen», erklärt Milla Linds schwedischer Agent. «Sie umfasst nicht nur die volle Verschwiegenheit über alles, was Sie über Millas nächstes Buch erfahren werden und worum es darin geht, sondern auch Stillschweigen über alle Informationen, die Sie über sie und ihr Privatleben sammeln werden.»

Ich nicke. «Erzählen Sie mir etwas über Robert Riverholt», sage ich und trinke einen Schluck Kaffee. «Milla Linds letzten Berater. So wie ich es verstanden habe, wurde er …»

«Erschossen», unterbricht mich der Verleger. «Schlimme Sache. Hat uns alle sehr getroffen.»

«Riverholt war ein ehemaliger Polizist mit einem schwierigen Privatleben.» Pelle streicht mit einem Finger über den Henkel seiner Kaffeetasse. «Seine Frau war krank, sie hat ihn auf offener Straße erschossen, bevor sie sich auf einem Parkplatz am Maridalsvannet selbst umgebracht hat.»

Behutsam legt Eva ihre Hand auf meine. «Die Tragödie hatte nichts mit dem Verlag oder Milla zu tun. Aber ich verstehe, dass Ihnen das Sorgen macht. Milla hat das auch sehr mitgenommen, sie hat seitdem keine einzige Seite …»

«Nun gut», Pelle zieht einen Haufen Papiere hervor und schiebt sie über den Tisch. «Wenn Sie die einfach schnell durchsehen und unterschreiben würden, bevor wir weitermachen …»

Ich nehme die Blätter und lese, während der Verlagschef einer Gruppe von Männern zunickt, die gerade vorbeigehen.

«Es geht erst einmal um eine Woche», sagt Pelle, als ich fertig bin, und gibt mir einen Stift. «Wir bezahlen die Hälfte des Honorars als Vorschuss und den Rest, wenn der Vertrag erfüllt ist. Sollten sich Verzögerungen ergeben oder Milla Sie länger benötigen als geplant, machen wir mit den gleichen Bedingungen weiter, wenn das für Sie in Ordnung ist. Reisekosten werden auch gedeckt, heben Sie also die Quittungen auf.»

«Also gut.» Der Verleger legt die Gabel auf seine Untertasse, nachdem ich die Verschwiegenheitserklärung unterschrieben und zurückgegeben habe. «Sie sind sicher gespannt, worum es bei der ganzen Sache eigentlich geht?»

Ich nicke. Ich bin tatsächlich gespannt, wobei sich diese Milla Lind eigentlich Hilfe von mir erhofft. Aber am meisten bin ich auf das gespannt, was, so meine Hoffnung, im Anschluss an diesen Job passiert. Insgeheim hoffe ich, dass Ulf mich mit offenen Armen am Flughafen begrüßt, die Hosentasche voller Rezepte, und sagt: Ja so was, da ist er ja, der kleine Thorkild, so ein braver Junge, hier hast du dein Sobril und deine Oxys wieder, mach dich locker, grüß mir Frei und deine Wohnung, ich seh dich dann im Jenseits. Denn das ist der einzige Grund, warum ich zugestimmt habe, meine Wohnung zu verlassen. Ich glaube nämlich, dass es tatsächlich etwas verändern wird.

«Kennen Sie die Bücher über August Mugabe?»

«Nein, eigentlich nicht.»

«Also. Milla Lind ist eine unserer erfolgreichsten Autorinnen, ihre Bücher sind in über dreißig Ländern erschienen, weltweit hat sie etwas mehr als zehn Millionen Bücher verkauft. Bei der Veröffentlichung ihres letzten Krimis, Schwalbenherz, haben wir vom Verlag eine Pressemitteilung herausgegeben, dass Milla mit der Arbeit am letzten Teil der Reihe um August Mugabe angefangen hat. Sie war gerade erst mit dem Projekt in Gang gekommen, als Robert starb.»

«Seitdem hat sie nichts mehr geschrieben», sagt Eva. «Milla ist in eine schwere Depression gefallen und hat sich erst in letzter Zeit wieder stark genug gefühlt, um das Projekt in Angriff zu nehmen.»

«Milla und Robert waren auf einen realen Vermisstenfall gestoßen», sagt Pelle. «Sie wollten ihn als Vorlage für das Buch benutzen.»

«Welchen Fall?», frage ich.

«Letzten Herbst verschwanden zwei fünfzehn Jahre alte Mädchen aus einer Einrichtung für Jugendliche außerhalb von Hønefoss. An einem Morgen stiegen sie vor dem Wohnheim in ein Auto, und seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Die Polizei glaubt, sie wollten nach Ibiza, weil sie im Jahr zuvor schon einmal dorthin abgehauen waren.»

«Das ist eigentlich ganz pfiffig», sagt der Verleger und schmunzelt. «Es stellt sich nämlich heraus, dass dieser Fall in Millas Buch direkt mit dem Plot um August Mugabe und seine Frau verknüpft ist, die zweimal versucht hat, ihn zu ermorden.»

«Waren es nicht dreimal?», frage ich.

«Sie haben sie also doch gelesen», sagt der Verleger und lacht schallend. «Wie Sie wissen, will Milla selbst weder bestätigen noch dementieren, dass es seine Frau ist, die hinter dem Schuss in Ein Bett aus Veilchen steht.»

«Seit Robert ermordet wurde, liegt alles auf Eis», sagt Eva, um das Gespräch wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. «Und es ist wichtig, dass Milla die Arbeit wieder aufnimmt.»

«Genau da kommen Sie ins Spiel», ergänzt Pelle. «Sie übernehmen Roberts Rolle. Es geht darum, Polizeiberichte zu interpretieren, bei technischen Fragen zu helfen und so weiter. Ich will aber darauf hinweisen, dass das keine Ermittlungen sind, sondern lediglich Nachforschungen für Millas Buch.»

«Das hört sich wahnsinnig spannend an», lüge ich.

«Ja, nicht wahr?», antworten alle drei im Chor, bevor sich der Verleger erhebt. «Pelle, Eva, Sie beide kümmern sich um den Rest. Ich habe um zwei Uhr ein Meeting.» Er lehnt sich über den Tisch. «Viel Glück, Aske!» Mit einem festen Händedruck verabschiedet er sich von mir und geht.

Kapitel 5

Die Busfahrt nach Tjøme dauert zweieinhalb Stunden. Es ist vereinbart, dass ich dort abgeholt und zu Milla Linds Sommerhaus gebracht werde, das irgendwo weit südlich zwischen den Felsen dieser Inselgemeinde auf der Westseite des Oslofjords steht. Ich nutze die Zeit im Bus, um eines von Milla Linds Büchern zu lesen. Es heißt Tintenfischarme und handelt von dem tief melancholischen, pensionierten Polizisten August Mugabe und seiner Frau, die es liebt, ihn zu hassen.

Als wir im Zentrum von Tjøme ankommen, habe ich ungefähr die Hälfte des Buchs geschafft und schon eine Art Beziehung zu dem abgehalfterten Ermittler aufgebaut, der mit krummem Rücken durch das mit Holzhäusern bebaute Sandefjord wandert und den Mann jagt, der die einzige Tochter des Reeders verführt und gekidnappt hat.

«Neimen, hejsan!», sagt ein Mann auf Norschwegisch, dieser besonderen Mischsprache aus Norwegisch und Schwedisch, im selben Moment, in dem ich aus dem Bus steige. In der einen Hand hält er zwei Einkaufstüten voller alkoholischer Getränke. Er entblößt zwei Reihen gebleichter Zähne, die einen Kontrast zur sonnengebräunten und botoxbehandelten Gesichtshaut bilden. «Sind Sie … Thorkild? Der Polizist?»

«Expolizist.» Ich ergreife die freie Hand und drücke sie schwach. «Angenehm.»

«Joachim», sagt der Mann enthusiastisch. «Joachim Börlund. Ja, Millas Lebensgefährte.»

Wir bleiben stehen und schauen uns einige Sekunden lang an, er immer noch glucksend und lächelnd, während ich mein Gesicht zu dem entgegenkommenden Halblächeln verziehe, das ich mir in der letzten Zeit antrainiert habe.

«So», sagt Joachim und zögert, als wäre seine Energie plötzlich verpufft. «Wir werden nur zu dritt sein», fährt er fort, als er seine innere Glut endlich wiederfindet. «Leider ist es noch zu früh, um Netze für die Taschenkrebse auszulegen. Vor Mittsommer fängt man meistens nur Wasser und ekliges Zeug. Aber ich habe stattdessen ein paar gute, richtig saftige Biester aus dem Laden besorgt», sagt er und deutet mit dem Kopf auf ein Geschäft in der Nähe. «Man kann ja nicht ohne frische Krebse und Weißwein ins Sommerhäuschen fahren, oder?»

«Das wäre unerhört», sage ich.

Joachim hebt die Tüten zwischen uns hoch und sieht aus, als wollte er etwas Lustiges über den Alkohol sagen, lächelt dann aber nur angestrengt, bevor er sich umdreht und auf das Auto zeigt. Es ist ein roter SUV von Volvo mit strahlend sauberen Felgen und glänzendem Lack.

«Bis Verdens ende ist es nur eine kurze Tour», sagt Joachim, nachdem wir uns ins Auto gesetzt haben.

«Wie bitte?» Ich drehe mich zu ihm um. «Bis Verdens ende?»

«Ja.» Joachim drückt auf einen Knopf, und das Auto springt an. «Die Hütte liegt an der Südspitze von Tjøme. Der Ort heißt tatsächlich so. Ende der Welt.»

«Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?»

«Nein.» Joachim sieht aus, als hielte er die Luft an, während er bemüht lächelt und das Lenkrad mit den Fingern knetet. Es scheint, als wäre er dauerhaft nervös, aber vielleicht ist er das nur in meiner Nähe. «Das stimmt wirklich», fährt er angestrengt fort. «Ich schwör’s.»

«Komischer Name», sage ich und schaue wieder nach vorne.

«Ja, vielleicht.» Joachim atmet schwer aus, nimmt die eine Hand vom Lenkrad, um einen Gang einzulegen, und fährt vorsichtig vom Parkplatz.

«Und was machen Sie so beruflich?», frage ich, als wir auf der rechten Straßenseite einen Golfplatz passieren. Das Gras auf der Anlage ist grün, die Bäume rundherum auch. Es wirkt, als wäre der Sommer in diesem Teil des Landes schon längst angekommen.

«Ich?» Er schielt kurz zu mir herüber, bevor er antwortet. «Im Moment helfe ich zum Großteil dabei, Millas Karriere zu organisieren. Interviews, Pressetermine, Lesungen, Reisen, Fan-Mails aus der ganzen Welt und eine ganze Menge andere Drecksarbeit. Vorher hatte ich ein Reisebüro in Stockholm. Rucksacktouren nach Asien und Südafrika. Auf einer solchen Tour habe ich Milla vor fünf Jahren kennengelernt.»

«Liebe auf den ersten Blick?»

«Auf jeden Fall. Milla ist das Beste, was mir je passiert ist.» Er nickt vor sich hin, als wolle er das Gesagte zusätzlich unterstreichen.

«Erzählen Sie mir etwas über meinen Vorgänger, Robert Riverholt», sage ich im selben Augenblick, in dem Joachim abbremst und den Blinker setzt. Er erinnert mich an eine alte Oma in einem viel zu großen Auto, die sich beim Fahren vor Angst am Lenkrad festklammert.

«Milla hat der Verlust von Robert schwer getroffen», sagt Joachim. «Sie hat es seitdem nicht geschafft, zu schreiben oder überhaupt irgendetwas zu tun, und ich musste den Laden am Laufen halten.» Er holt tief Luft: «Aber jetzt sind Sie ja da. Jetzt sind wir wieder bereit.»

 

Das Ferienhaus ist eine riesige Villa im Schweizerstil, umgeben von einem großen Garten und hohen Bäumen. Durch das Blattwerk erahne ich Felsen und Meer.

«Kommen Sie», sagt Joachim, als ich vor der Steintreppe, die zum Haupteingang hinaufführt, stehen bleibe. «Mal sehen, ob wir Milla finden.»

Der Boden besteht aus Steinfliesen, und die Wände sind zur Hälfte holzvertäfelt. Weiter innen kann ich mehrere große Räume erkennen, die alle durch die großen Fenster von Licht durchflutet werden. Die Möbel sind teils neu und weiß, teils alt und unbehandelt; jedes Zimmer verströmt eine derartige Rustikalität, wie man sie nur für Geld kaufen und von einem Einrichtungsdesigner zusammenstellen lassen kann.

Ich folge Joachim durch das Wohnzimmer mit Esstisch, Kamin und Glastüren bis in die Küche, die einen eigenen Ausgang zur Hinterseite der Villa hat. Er legt die Tüten mit dem Essen auf die Sitzbank und stellt die Weinflaschen daneben auf den Boden.

«Da bist du ja», sagt eine sanfte Stimme hinter mir. Ich drehe mich zur Tür nach draußen um und blicke in das Gesicht einer Frau in meinem Alter, die schlank und schön ist und frisch blondiertes Haar hat. Doch irgendetwas in ihrem Blick, in ihren Augen passt nicht zum Rest ihrer Erscheinung. Sie blickt mich an, als würde sie durch mich hindurchsehen.

«Ja.» Joachim nimmt ihre Hand in seine. «Das ist Thorkild Aske.» Behutsam führt er sie in meine Richtung.

«Hei, Thorkild», sagt sie und nimmt eine der Weißweinflaschen, um das Etikett zu studieren. «Alle warten auf ein Buch», fährt sie fort. «Aber mir geht es schon so lange schlecht, und ich finde einfach keine Kraft, irgendetwas zu Ende zu bringen.»

«Ich verstehe, was Sie meinen», sage ich.

Milla sieht mich neugierig an. «Tun Sie das?»

Ich nicke. «Manchmal passieren Dinge, die die Zeit verlangsamen oder sie ganz anhalten, und man findet nur schwer heraus, wie man die Uhren wieder zum Ticken bringt.»

Sie schüttelt leicht den Kopf, ohne den Blick von mir abzuwenden. «Und was kann man da machen?»

Ich zucke die Achseln. «Einen Weg finden, die Wartezeit herumzubringen.» Ich merke, wie sich der Geschmack von Gelatine auf meiner Zunge ausbreitet, wenn ich bloß an die Tabletten denke, die ich einmal hatte. Ich hätte noch hinzufügen können, dass nur wenige Dinge besser dazu geeignet sind, die Wartezeit herumzubringen, als Psychopharmaka, aber ihre verengten Pupillen, ihre verlangsamten Bewegungen und der Ton ihrer Stimme verraten mir, dass sie das schon längst weiß.

«Wenn ich es richtig verstanden habe», Milla stellt die Weinflasche wieder zurück und stützt sich an der Kücheninsel ab, «waren Sie wegen einer Frau krank, die gestorben ist?»

«Ja.»

«Vielleicht glauben die anderen deshalb, dass mit Ihnen jetzt alles anders wird. Two wrongs will make a right? Oder was glauben Sie?»

Ich will etwas antworten, aber Milla hat sich bereits umgedreht. Sie zeigt auf eine der Weinflaschen und sagt zu Joachim: «Den kannst du zurückbringen. Der schmeckt nicht.» Dann wendet sie sich wieder mir zu, nimmt meinen Arm und führt mich durch die Glastür auf eine geräumige Terrasse. «Alle diese Menschen, die auf ein Buch warten, um zu erfahren, was am Ende mit einer Figur geschieht, die ich erfunden habe … In der Zwischenzeit liegt Robert auf einem Friedhof, keinen halben Meter von der Frau entfernt, die ihn auf dem Gewissen hat. Niemand versteht das», sagt sie und lässt meinen Arm los. «Aber ich werde ihnen das geben, worauf sie warten», fährt sie fort. «Ich werde die Arbeit zu Ende bringen, das Buch fertig schreiben. Und dann, danach …» Sie hält kurz inne, und ihr Blick wandert an den hohen Bäumen vorbei, zum unruhigen Wasserspiegel weiter draußen. «Ist es genug …»

Milla geht zu einem Nebengebäude, das Wand an Wand mit dem Haupthaus steht. Ihr Blick ist jetzt offener. Als habe der kleine Spaziergang das vertrieben, was noch vor kurzem zwischen uns lag. «Kommen Sie», sagt sie. «Dann erzähle ich Ihnen, woran Robert und ich gearbeitet haben.»

Kapitel 6

Milla schiebt die Glastüren zur Seite und winkt mich in ihr Büro im Anbau. «Die Schreibwerkstatt ist mein ganz eigener Ort.» Sie schließt die Türen, setzt sich an den Schreibtisch und richtet mit der einen Hand ihre Frisur, während sie mit der anderen den Computer einschaltet. «Robert und ich hatten gerade erst mit den Recherchen für das neue Buch angefangen.» Sie beugt sich vor und tippt das Passwort ein. «Wir sind auf einen Vermisstenfall gestoßen, den wir als Vorlage für das Buch verwenden wollten.»

«Ist an diesem Fall denn etwas besonders außergewöhnlich?»

Milla schüttelt kurz den Kopf, ohne vom Bildschirm aufzusehen. «Er war in den Medien, zwei junge Mädchen, die vor sieben Monaten aus einem Jugendheim außerhalb von Hønefoss abgehauen und bis heute verschwunden sind. Irgendwie stach der Fall heraus, als Robert und ich nach aktuellen Fällen suchten, die wir für die Recherche gebrauchen konnten. Weil die Mädchen so jung waren, erst fünfzehn Jahre alt.»

«Und wie soll ich dabei helfen?»

«Wir werden mit den Angehörigen und der Polizei reden, und Sie können mir dabei helfen, mir den Ablauf in einem solchen Fall erklären. Ich weiß, dass Sie früher als Vernehmungsleiter gearbeitet haben. Das ist im Hinblick auf den psychologischen Aspekt bestimmt nützlich, denke ich.»

«Was sagen die Angehörigen dazu, dass wir mit ihnen sprechen wollen?»

«Robert hatte die Eltern des einen vermissten Mädchens schon getroffen. Sie wissen jede Hilfe zu schätzen und sind froh, dass der Fall nicht in Vergessenheit gerät.»

«Und das andere Mädchen?»

Milla schüttelt den Kopf. «Sie hat keine Angehörigen.»

«Niemanden?»

«Nein. Ich habe übrigens ein paar Unterlagen für Sie.» Millas Gesicht verschwindet hinter dem Bildschirm, und ich höre sie in einer Schreibtischschublade wühlen, bevor sie wiederauftaucht. Sie zögert einen Augenblick, dann schiebt sie einen Ordner zu mir herüber.

«Warum hat sie ihn getötet?», frage ich und nehme mir den Aktenordner mit der Aufschrift Robert Riverholt. «Roberts Frau. Warum hat sie ihn erschossen?»

Milla will etwas sagen, schüttelt dann aber doch nur den Kopf. Sie zwirbelt ein paar Haarsträhnen zwischen den Fingerspitzen. «Camilla war krank», sagt sie schließlich.

«Krank?»

«ALS, das ist eine degenerative Erkrankung, die die Nerven im Rückenmark und im Gehirn lähmt. Sie hatte die Diagnose erhalten, als Robert noch bei der Polizei war. Robert hat erzählt, dass sie schon damals dabei waren, sich zu trennen, aber er ist bei ihr geblieben, solange er konnte. Zum Schluss hat er es nicht mehr ausgehalten.»

«Sie hat ihn also umgebracht, weil er sie verlassen wollte?»

«Ja», antwortet Milla, bevor sie sich halb von mir abwendet und betroffen auf die Bücher im Regal an der Wand starrt. «Sie konnte ohne ihn nicht leben.»

«Warum glaubt die Polizei, dass die vermissten Mädchen nach Ibiza geflohen sind?», frage ich und blättere in Roberts Ordner über den Vermisstenfall.

«Sie sind schon früher einmal abgehauen.» Milla räuspert sich, als sich unsere Blicke schließlich wieder treffen. «Damals waren sie auf Ibiza.»

«Okay.» Ich blättere weiter in den Unterlagen. «Wie sieht der Plan aus?»

«Morgen fahren Sie und ich nach Hønefoss und statten der Kinder- und Jugendeinrichtung einen Besuch ab, wie auch der Mutter von Siv, so heißt das eine Mädchen. Wir werden erwartet.»

«Warum?» Ich lege den Ordner zwischen uns auf den Schreibtisch.

«Wie bitte?»

«Ich meine, wenn es gar nichts zu ermitteln gibt und wir nur in der Vergangenheit dieser beiden Mädchen herumschnüffeln sollen, warum brauchen Sie mich dann eigentlich, und warum haben Sie Robert gebraucht? Kann eine Schriftstellerin so etwas nicht selbst machen, hier in ihrem Büro?»

Milla sieht mich lange an, bis ihr Blick zum Schluss an der vernarbten Linie in meinem Gesicht hängenbleibt, die am Auge anfängt und kurz zwischen Kieferknochen und Jochbein verweilt, bevor sie in einer gespaltenen Oberlippe endet, die die Unterlippe nie ganz berührt, selbst wenn der Mund geschlossen ist. «Woher haben Sie die?»

«Die stammt von dem Unfall.» Ich wende die entstellte Seite meines Gesichts von ihr ab. «Ulf sagt, ich brauche nicht mehr darüber zu reden.»

«Tut es weh?»

«Nur wenn ich alleine bin. Oder mit anderen zusammen.»

Endlich lächelt sie. «Sie haben recht», sagt sie und lehnt sich auf dem Stuhl zurück. «Eigentlich hätte ich das alles hier schreiben können. Mich im Internet in ein paar Vermisstenfälle einlesen und dann aus dem Unterbewusstsein ein paar passende Schatten hervorholen und ihnen Namen, Gesichter und eigene Geschichten geben können. Aber dieser Fall ist anders.» Sie will eigentlich noch etwas sagen, holt stattdessen aber Luft und schaut aus dem Fenster, wo sich die Baumkronen draußen leicht im Wind wiegen, der vom Meer hereinweht.

«In welcher Weise ist er anders?»

«Er ist es einfach», sagt Milla und blinzelt mehrmals angestrengt. «Joachim hat übrigens das Bootshaus für Sie hergerichtet.» Sie deutet auf den Wald unten vor der Schreibwerkstatt, wo ich bei den Felsen die Konturen eines weißen Gebäudes erkennen kann. «Morgen früh fangen wir an zu arbeiten.»

Kapitel 7

Das Zimmer im Bootshaus besteht aus einer Gruppe von Korbsesseln, die um ein riesiges Panoramafenster mit Aussicht aufs Meer platziert sind. Die einzige Bootsausrüstung sind ein paar maritime Dekorationsgegenstände, die an den weißen Wänden oder von den freiliegenden Dachbalken hängen. Ich habe mich in einen der Korbsessel gesetzt und blättere den Aktenordner durch, den ich von Milla bekommen habe. Darin befinden sich mehrere Zeitungsausschnitte, Fotos von den vermissten Mädchen und einige Ermittlungsunterlagen.

Siv und Olivia waren beide fünfzehn Jahre alt, als sie am 16. September des letzten Jahres vor einem Jugendheim außerhalb von Hønefoss verschwanden. Zuletzt wurden sie gesehen, als sie sich an einer Bushaltestelle gegenüber der Einrichtung in ein unbekanntes Auto setzten. Die Polizei hatte zuerst angenommen, die Mädchen seien nach Ibiza gereist, da sie schon einmal dorthin abgehauen und von der Polizei und den Verantwortlichen im Jugendheim eine Woche später wieder nach Hause geholt worden waren. Aber seit sie sich am Morgen ihres Verschwindens in dieses Auto gesetzt hatten, fehlte jede Spur von ihnen.

Ich schaue mir die Fotos der beiden Mädchen an. Siv hat schulterlange, blonde Haare und ein schmales, überschminktes Gesicht. Olivias Haar dagegen ist dicht, rabenschwarz und kurz geschnitten, sie hat markante Wangenknochen und schöne Augen, die von einem dicken Strich Eyeliner betont werden. Alle Bilder von Siv und Olivia sehen nahezu identisch aus: zwei Teenagermädchen mit tonnenweise Make-up im Gesicht, die ihre Null-Bock-Einstellung zur Schau tragen und ungeschickt versuchen, ihre Idole zu imitieren, natürlich mit weit aufgerissenen Augen und obligatorischem Kussmund. Einzig ihre Blicke scheinen nicht dazu zu passen: Sie sind zu kalt, zu leblos, Blicke von Mädchen, die zu viel gesehen, erlebt und verloren haben.

Zu wissen, dass wir in diesem Fall nicht einmal ermitteln sollen, macht alles nur noch schlimmer. Ebenso, dass ich jetzt dazu degradiert bin, auf der Suche nach einer guten Geschichte in den Schicksalen anderer Menschen wühlen zu müssen. Mir wird schlagartig klar, dass das alles ist, was diese Woche mit Milla Lind mir bringen wird: eine Verlängerung meiner Unglücksserie.

Ich lege die Fotos auf den Tisch und sinke tiefer in den Sessel. Frei hat mich nicht wieder besucht, nicht einmal, nachdem ich aus dem Krankenhaus in Tromsø entlassen worden und zurück nach Stavanger gefahren bin. Ulf sagt, das sei ein Zeichen dafür, dass sich der Hirnschaden in der Amygdala nicht verschlimmert habe, und dass sie nun endgültig in ihrem Grab liege und ich sie nicht mehr mit Oxycodon und Benzodiazepinen heraufbeschwören könne. Er meint, die fehlenden Pillen und die Abwesenheit von Frei hätten mich einsam gemacht, und ich würde aufgrund des Mangels an zwischenmenschlicher Interaktion verrosten. Ich hätte sagen können, ich sei zwar alleine, aber nicht einsam, und das wäre durchaus ein Unterschied, aber wir wissen beide, dass das eigentliche Problem woanders liegt.

Als ich mich im Korbsessel aufrichte, fällt mein Blick wieder auf die Fotos von Siv und Olivia auf dem Tisch. «Wo wolltet ihr an dem Tag hin?», murmele ich und schließe die Augen.

Kapitel 8

Auf diesen Tag habe ich gewartet, seit ich drei Jahre alt war. Siv ist unruhig, sie steht neben mir, raucht und umklammert das leere Zigarettenpäckchen, während sie ununterbrochen redet. Die Sonne ist schon aufgegangen und lässt den Frost schmelzen, der sich im Gras auf den Wiesen unterhalb der Bushaltestelle festgebissen hat. Bald wird sie auch auf den Parkplatz auf der anderen Straßenseite scheinen, wo unter den Fenstern des Gemeinschaftsraums das Auto des Nachtwächters steht.

Ich öffne meinen Rucksack. Er ist beinahe leer. Siv hat ihren mit Kuscheltieren, Schminkzeug und Klamotten vollgepackt. In meinem ist dagegen fast gar nichts, denn ich weiß: Wenn heute Abend die Sonne untergeht, wird all der alte Scheiß nicht mehr wichtig sein. Dieser Herbsttag ist das Einzige, was etwas bedeutet, denn er ist gleichzeitig der erste und der letzte.

«Da.» Siv drückt die Zigarette am Haltestellenhäuschen aus, als ein schwarzes Auto um die Kurve biegt und auf uns zufährt. Sie wirft das leere Zigarettenpäckchen weg und hebt ihren Rucksack auf.

«Bist du so weit?»

«Ja», sage ich und werfe einen letzten Blick auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite. «Ich bin so weit.»

Kapitel 9

Ich muss im Sessel eingeschlafen sein. Als ich aufwache, ist die Sonne verschwunden. Das Meer kräuselt sich und rollt auf die Felsen zu. Die Bäume knacken und rascheln mit den belaubten Ästen. Mir ist kalt, ich habe schlechte Laune und vermisse Stavanger und meine Wohnung.

Ich ziehe meine Schuhe an, gehe nach draußen und nehme Kurs auf das Haupthaus. Als ich das Ende des Waldstücks zwischen dem Bootshaus und dem Grundstück erreicht habe, entdecke ich plötzlich Milla in ihrem Büro in der Schreibwerkstatt. Sie lehnt über dem Schreibtisch, das Gesicht zur Tischplatte und die Arme nach vorne gestreckt. Ihre Augen sind weit aufgerissen, und sie schnappt augenscheinlich nach Luft.

Ich will gerade zwischen den Bäumen hervortreten, da sehe ich einen Mann hinter ihr. Er zieht sie an den Haaren nach oben, hält sie für ein paar Sekunden so und stößt sie dann wieder auf die Tischplatte. Millas Gesichtsausdruck wechselt zwischen Panik und Ekstase. Als er sie erneut nach oben zerrt, reißt ihre Bluse so, dass eine Brust herausfällt. Joachim ergreift sie mit der freien Hand und drückt zu.

Mit einem Mal ist es so, als ob Milla mich direkt ansieht. Joachim lässt die Brust los und packt ihren Hals. Milla öffnet den Mund, und ihr Körper versteift sich. Kurz bevor sie das Bewusstsein zu verlieren droht, löst Joachim den Griff um den Hals. Mit der anderen Hand hält er ihre Haare, sodass Milla mit dem Kopf voran über dem Schreibtisch hängt.

Erst jetzt wird mir klar, dass sie nicht mich ansieht, sondern dass sie durch mich hindurch in die Dunkelheit hinter mir starrt. Joachim lässt ihre Haare los, und sie fällt schwer auf den Schreibtisch, während Joachim nach hinten in den Schatten verschwindet.

Ich bleibe einen Moment stehen, ehe ich schließlich auf das Haus zugehe. Durch die Glastür zur Schreibwerkstatt erblicke ich Milla. Sie ist dabei, ihre Bluse zuzuknöpfen, und wendet sich ab, als sie mich sieht.

«Brauchst du etwas?» Joachim fährt sich mit den Fingern durch das dünne, frisch gebleichte Haar, als er in der Türöffnung auftaucht.

«Den Koffer», antworte ich. «Ich habe ihn im Flur vergessen.»

«Warte hier.» Er verschwindet durch die Küchentür ins Haupthaus.

Ich gehe hinüber zur Schreibwerkstatt, bleibe aber stehen, als ich Milla in der Glastür stehen sehe. Sie lässt die Rollos herunter, und ich höre, wie die Tür abgeschlossen wird. Kurz darauf kommt Joachim mit meinem Koffer zurück.

«Tut mir leid», entschuldige ich mich. «Ich wollte nicht …»

«Ihr wisst nicht, wie sie ist», sagt Joachim. «Was sie braucht.»

«Was braucht sie denn?», frage ich, als wir die Bäume zwischen der Villa und dem Bootshaus erreichen.

Joachim bleibt vor mir stehen und stellt sich auf einen Grashügel, sodass er beinahe so groß ist wie ich. Er lächelt. Seine Zähne leuchten im Halbdunkel. «Kontrollverlust.»

Er schüttelt den Kopf, als ich nichts erwidere, und steigt wieder vom Grashügel. «Jemand wie Milla braucht einen bestimmten Typ Mensch. Einen bestimmten Typ Mann, keinen …»

«Ja, ich verstehe schon», sage ich. «Keinen wie mich.»

Joachim geht weiter durch das Waldstück, ohne zu antworten.

«Oder Robert», füge ich hinzu.

«Bitte?» Er bleibt stehen. Diesmal findet er keinen Hügel zum Draufstellen, aber er weicht einen großen Schritt zur Seite, als wolle er den Größenunterschied durch den Abstand ausgleichen. «Was hast du gesagt?»

«Du hast ‹ihr› gesagt», antworte ich. «Ihr wisst nicht, wie sie ist. Ich nehme an, du meintest solche wie Robert und mich?»

«Ich habe auf Anhieb gesehen, was für ein Typ Robert war. Habe ihn direkt durchschaut.»

«Mit anderen Worten: Du bist ein richtiger Menschenkenner?»

«Um das herauszufinden, wirst du nicht lang genug hierbleiben, Kumpel. Da.» Joachim lässt den Koffer auf den Boden zwischen uns fallen. «Den Rest kriegst du alleine hin», sagt er und geht zurück zum Haus.

Kapitel 10

Beim Frühstück am nächsten Morgen wechseln Joachim und ich kein Wort miteinander, nur einen kurzen Blick und einen Handschlag im Flur, als Milla und ich losfahren wollen.

«Jetzt sind wir beide also allein, Thorkild, du und ich», sagt Milla, nachdem wir uns in ihr Auto gesetzt haben, um nach Hønefoss zu fahren.

«Ja.» Ich umklammere das Lenkrad. Ich bin nicht mehr Auto gefahren, seit mir vor über drei Jahren der Führerschein entzogen wurde, habe es aber nicht über mich gebracht, Milla davon zu erzählen, als sie mir nach dem Frühstück die Schlüssel gab.

«Früher bin ich wirklich gern gereist», sagt Milla und lächelt mich an. «Auf die Buchmessen überall auf der Welt, Shoppingtrips und Großstadtwochenenden.»

«Erzähl mir von deinem Buch.» Ich habe schon beschlossen, dass ich Millas Stimme mag. Sie ist mild und gelassen, und sie dominiert das Gespräch nicht. Milla wirkt auf mich nicht wie jemand, der die volle Aufmerksamkeit braucht, wenn sie spricht. Irgendwie reicht es, dass man da ist und auf seine eigene Weise zuhört.

«Es soll von dem jüngeren August Mugabe handeln», beginnt Milla. Die Straße schlängelt sich unter einer grauen Wolkendecke durch alte Wälder und kahle Weizenfelder. «Ich will meinen Lesern den Mann zeigen, der er war, bevor er Gjertrud traf. In der Zeit, die er mit einer anderen Frau verbrachte, mit der er auch ein Kind bekam, die ihn aber nicht haben wollte. Sie nahm das Kind und verließ ihn, ehe er ihr einen Antrag machen konnte.»

«Interessant», murmele ich.

«Ich glaube, ich werde ihn ein bisschen wie dich sein lassen.» Sie mustert die zerstörte Hälfte meines Gesichts in Erwartung einer Reaktion.

«Oh», sage ich, ohne die Augen von der Straße abzuwenden.

«Allerdings in einer jüngeren Ausgabe.» Milla schmunzelt unbefangen. «Mit kurzen Haaren und mit Augen, so grau wie die Regenwolken da draußen.» Sie kichert. «So wie ich mir deine vorstelle. Bevor es Ernst wurde.»

«Vor den Narben?»

Ihr Blick verharrt auf den Furchen mitten in meinem Gesicht. «Ich mag Narben», sagt sie, streckt die Hand aus und berührt mit den Fingerspitzen leicht die gezackte Linie in meinem Gesicht. «Sowohl die, die alle sehen können, als auch die inneren.»

«Auf ein paar davon könnte ich gut verzichten», entgegne ich trocken.

«Ach ja?» Sie zieht die Hand wieder zurück. «Auf welche?»

«Camilla, Roberts Frau», sage ich, um das Thema zu wechseln, und merke, wie Millas Blick hart wird und sie sich von meinem Gesicht abwendet. «Kanntest du sie?»

«Ein bisschen.» Milla sieht aus dem Seitenfenster. «Wir haben Camilla ein paarmal getroffen, Robert brachte sie mit hierher, aber ich kannte sie nicht näher.»

«Du hast gesagt, dass sie ohne ihn nicht leben konnte.»