Trost - Hanna Engelmeier - E-Book

Trost E-Book

Hanna Engelmeier

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Beschreibung

Dass Lesen weit mehr ist als das sinnstiftende Erfassen von Buchstaben, zeigen die vier Übungen, die dieser Essay versammelt. Sie führen das Lesen zusammen mit dem Schreiben, dem Hören, dem Beten und dem Genießen: Der heute nur wenigen bekannte Franz Xaver Kappus regte Rilke durch seine Briefe zu einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Dichtens an, die bis heute Schreibende (und Lesende) inspiriert. Die Tonaufnahme von David Foster Wallaces Rede »This Is Water« und ein Hörspiel zu Walt Disneys Aristocats zeugen von einem Lesen, das Hören ist. Eileen Myles findet als Kind ein Rollenmodell in der Lektüre eines Johanna-von-Orléans-Comics und Adorno gönnt sich neben Kritik auch mal Eiscreme. In dieser Engführung von Kritik und Enthusiasmus, Kanon und Pop, Alltag und Ästhetik, Persönlichem und Theoretischem offenbart sich mit jedem weiteren Kapitel genau das, was der Titel verspricht: vier Übungen, die klug, voller Witz und doch mit Ernsthaftigkeit Text und Nebentext feiern und sich zu einer leisen, aber unbedingten Leseempfehlung für schwere und nicht ganz so schwere Zeiten fügen.

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Hanna Engelmeier

Trost

Vier Übungen

Für Tante Hety

Inhalt

Keine große Sache

Auf Abruf

Alles muss man selber sagen

Zwei Kugeln im Hörnchen

Zum SchlussEin Dackel irrt sich

Anmerkungen

Literatur

Keine große Sache

Der Leutnant Franz Xaver Kappus hat schon seit einiger Zeit Kummer, unter anderem, weil er lieber ein Dichter wäre. Seit 1902 steht er deshalb in Kontakt mit dem zu diesem Zeitpunkt schon für seine gefühlvolle Dichtung berühmten Rainer Maria Rilke, dem er sein Herz ausschüttet: »Ich habe oft diese stillen Stunden, die ungerufen kommen und sich nach der Sonne sehnen, die ihnen so fern ist. Und dann, nach solchen Nächten stehe ich müd und hoffnungslos vor der letzten Consequenz meines Denkens: Wer bin ich? Woher? Wohin? Und dann entstehen Worte, halb unfreiwillig, wie Erlösungen. Ist das Notwendigkeit?«1

Zu Beginn des Briefwechsels ist Kappus knapp zwanzig Jahre alt, unglücklich verliebt ist er auch. Außerdem schämt er sich, weil er sich als »Knabe mit den unsinnigsten Träumen, Sehnsüchten und Regungen, […] mit der ganzen Kraft meiner 13 Jahre dem gleichaltrigen Freunde hinwarf und ihn liebte und küßte, wie kaum nachher ein Mädchen«.2 Neuerdings quält ihn sein unerfülltes Begehren nach einer Opernsängerin: »Sie spuckt in meinen Träumen und beengt mich wie ein zu enges Kleid. Sie steigt mir des Abends in die Schläfen und färbt alle Dinge blutig rot.«3 Vor allem aber möchte er dichten, vielleicht sogar über sein Begehren, und so schickt er Rilke mit der Bitte um Beurteilung auch eigene Verse. Dass diese Briefe sein Hauptwerk sein könnten, glaubt er zu dieser Zeit nicht.

»Do you know what that is, sweat pea? To be humble?« Cheryl Strayed richtet knapp hundert Jahre später eine rhetorische Frage an die junge Autorin Elissa Bassist, die ebenfalls schon seit einiger Zeit Kummer hat, weil sie es nicht schafft, das Buch zu schreiben, das sie ihrer Meinung nach schreiben sollte. Genau genommen schafft sie es überhaupt nicht, ein Buch zu schreiben. Sie schämt und quält sich, sie ist gekränkt von ihren Hemmungen. »The word [humble] comes from the Latin words humilis and humus. To be down low. To be of the earth. To be on the ground. That’s where I went when I wrote the last word of my first book. Straight onto the cool tile floor to weep.«4 Cheryl Strayed hat zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon Bücher geschrieben, sondern diese auch veröffentlicht. Aber nicht primär als erfolgreiche Autorin antwortet sie Bassist, sondern als Wärterin des Kummerkastens der Webseite The Rumpus, auf der sie lange Zeit nur als »Sugar« und Autorin der Ratgeberkolumne »Dear Sugar« bekannt war.

Rilke zeigt sich gerührt von den Nöten des jungen Mannes und antwortet ihm mit mehr oder weniger langen Abständen, aber meist ausführlich von dem Ort aus, an dem er sich gerade befindet, Viareggio, Rom, Paris. Kappus sitzt derweil in unterschiedlichen Kasernen der k.-u.-k.-Monarchie. Am 4. November 1904 schreibt ihm Rilke aus Jonsered/Schweden. Immer wieder rät er Kappus zu mehr Gelassenheit, dazu, die Dinge geschehen zu lassen, sich nicht so aufzuregen: »Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle.« Er schreibt weiterhin noch etwas über den Zweifel, den man sich als dienliche, und nicht zermarternde Eigenschaft anerziehen solle, und schließt den Brief mit einem Hinweis auf den beigefügten Sonderdruck einer seiner eigenen Dichtungen, »die jetzt in der Prager ›Deutschen Arbeit‹ erschienen ist. Dort rede ich weiter zu Ihnen vom Leben und vom Tode und davon, daß beides groß und herrlich ist.«5 Die Struktur des Austauschs zwischen Kappus und Rilke besteht in der immer wieder wiederholten Antwort auf eine immer wieder wiederholte Frage: Wie soll man leben, um ein guter Autor zu werden? Die Antwort lautet: lesen, schreiben, weiterschreiben. Rilkes Übersendung eines Textes aus eigener Hand ist eine recht freigiebige Geste. Zuvor hatte er in einem Brief vom 23. April 1903 aus Viareggio noch betont, sehr arm zu sein, sodass er Kappus keine seiner eigenen Bücher schicken könne. Er empfahl ihm aber, sie zu lesen, wie auch und insbesondere Niels Lyhne von Jens Peter Jacobsen.

Strayed empfiehlt Bassist keine Bücher, sie empfiehlt ihr nicht einmal zu lesen. Sie zitiert an einer Stelle Emily Dickinson (»if your Nerve deny you – / go above your Nerve«), um zu akzentuieren, worum es ihr in ihrer Antwort an eine junge Autorin in erster Linie geht: Durch Quengelei ist noch kein Text fertig geworden. Der demutsfördernde Boden, der irgendwo in dem englischen Wort »humble« noch angedeutet ist, ist vor allem jener, auf den Bassist aus den Höhen ihrer Selbstgeißelung zurückkehren soll, um endlich an die Arbeit zu gehen. »Writing is hard for every last one of us – straight white men included. Coal mining is harder. Do you think miners stand around all day talking about how hard it is to mine for coal? They do not. They simply dig.«6 Es braucht keine Erfahrung im Bergbau, um dieses Bild zu begreifen, es reicht zu wissen, dass es Bergbau und Bergleute gibt, und vielleicht reicht es auch, ein Foto von den Ketten gesehen zu haben, an denen sie ihre Straßenkleidung aufhängen und unter die Decke ihrer Umkleide ziehen, kurz bevor sie in den Stollen einfahren. All das reicht, um ein Denkbild zu formulieren, das gut genug ist, um über zwei Dinge zu sinnieren: Tiefe und Arbeit. Damit ist ein Raum geschaffen, den sich Strayed und Bassist für eine Weile teilen können. Die Verräumlichung von Texten und Lektüren ist gut eingeübt, close und distant readingsind nur die bekanntesten Namen von Umgangsweisen mit Text, die darin bestehen, ganz und gar in die Literatur einzufahren oder sie sich aus größtmöglicher Ferne genauer anzuschauen.

Meine erste Ausgabe von Rilkes Briefe an einen jungen Dichter ist 7,5 mal 11,5 Zentimeter groß, und sie enthält nur die Briefe von Rilke.7 Das Buch ist so klein, dass man es ab einer bestimmten Körpergröße nur schlecht in den Händen halten kann. Nimmt man es in nur eine Hand, muss man überlegen, wie man die Seiten des kleinen Taschenbuchs aufspannen möchte.

Der Diogenes Verlag meldete 1997 zu Rilkes 70. Todestag und mit dem Erlöschen des Urheberrechts an Briefe an einen jungen Dichter für diese Miniaturausgabe das Copyright an. Produziert wurde das Buch in einer Größe und zu einem Preis, die es zur idealen Quengelware an den Kassen von Buchhandlungen machte: Haribo Roulette für Menschen, die nur offiziell nicht Leseratten genannt werden möchten. Vielleicht hat sich aber auch jemand aus der Lizenzabteilung daran erinnert, dass ein anderes Buch Rilkes, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, im Ersten Weltkrieg ein gern gelesenes Buch unter deutschen Soldaten war. Der Vorteil auch dieser, bereits 1906 zuerst veröffentlichten Erzählung war es, recht kurz zu sein, ein zu Herzen gehender Text zum Mitnehmen.a Vor allem aber konnte sich der Diogenes Verlag darauf verlassen, einen sehr gut verkäuflichen Titel ins Repertoire aufzunehmen: Die Briefe an einen jungen Dichter erschienen als Nr. 406 in der »Insel-Bücherei«, die 1912 mit Rilkes Cornet eröffnet worden war, und verkauften sich danach dauerhaft, und zwar auch und besonders in der englischen Übersetzung.8

Bis 2019 fehlten in all den Ausgaben, die danach folgten, Kappus’ Briefe. Die Neuveröffentlichung erfüllt also sowohl einen philologischen Zweck als auch eine historische Funktion. Sie macht endlich sichtbar, durch welche Anregungen Rilkes Schreiben in Gang gesetzt wurde, und benennt damit die Rolle des Autors Franz Xaver Kappus in der Literaturgeschichte. Kappus ist schließlich (vielleicht unter anderem durch den Briefwechsel mit Rilke weniger unglücklich) ein ganz erfolgreicher Autor und Journalist geworden. Er konnte seinen Traum vom Leben als Autor verwirklichen, setzte dabei jedoch offensiv auf das Unterhaltungsgenre und produzierte zahlreiche in Folgen erscheinende Romane für den Ullstein Verlag. Einen späten Erfolg erzielte er 1967 mit 83 Jahren, als das von ihm geschriebene und von Oskar Schima vertonte Lied »Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen« in der Interpretation des kindlichen Herzensbrechers Heintje ein großer Erfolg wurde. Die Verse des Liedes eröffnen vielfach mit »und« – einem Stilelement, das insbesondere Rilke (zuvor allerdings auch schon der von Rilke selbst wiederum nicht hoch geschätzte Richard Dehmel) popularisiert hatte. Nachdem ein kleiner Junge auf seinen sehnlichsten Wunsch hin ein Marzipanpferdchen anstelle des erhofften Rosses von »Mamatschi« erhalten hat, heißt es bei Kappus: »Und viele Jahre sind vergangen / Und aus dem Jungen wurd’ ein Mann / Da hielt, die Fenster dicht verhangen, / Vorm Haus ein prächtiges Gespann / Vor einer Prunkkarosse steh’n / Vier Pferde reich geschmückt und schön / Die trugen ihm sein armes Mütterlein / Da fiel ihm seine Jugend ein.«b

Keines seiner Werke aus der Zeit nach dem Briefwechsel mit Rilke ist jedoch zu einem Vademekum und Handorakel geworden. Abgesehen von »Mamatschi« sind seine erfolgreichsten Texte solche, die lange nicht publiziert wurden, und solche, in denen er nur implizit und ohne scharfe Konturen erkennbar ist, als Empfänger einer Poetik, die eher zufällig auf ihn als Empfänger zu treffen scheint. Wie liest man so was eigentlich, wie liest man Handorakel?c Liest man es überhaupt, oder schleppt man es eher mit sich herum wie einen Glücksbringer?

Die Ecken meiner stark beanspruchten Ausgabe der Briefe an einen jungen Dichter sind vom Rumpeln in der Tasche rundgestoßen, die Seiten vergilbt. Das Problem ist bekannt: »Jedes solcher Bücher hat […] seine Geschichte. Doch die werden älter und nutzen sich ab, je fleißiger sie gebraucht werden. Die Bücher an sich sind, obgleich das Papier in alter Zeit dazu derb und gut war, vergänglich. So geschieht es, daß sie fortgethan und vernichtet werden.«9 Bei mir nicht: Der Buchrücken ist offenbar schon einmal abgefallen, sodass ich ihn mit Tesafilm wieder ankleben musste. Das Buch enthält keine Anstreichungen, keine Klebestreifen zur Markierung wichtiger Stellen. Es ist das Äquivalent zu Texten, in denen die nicht unterstrichenen Sätze auffallender sind als die unterstrichenen. Alles war wichtig.

Die Kleinheit des Buches ist kein Zufall. »Charakteristisch auch das kleine Format der Taschenbüchlein bei ihrer relativ großen Drucktype, die nicht nur Leseschwäche (der älteren Leser) ausgleicht, sondern auch Lektüre abseits des Schreibpultes bzw. der sitzenden Lesehaltung ermöglicht – Lesen zwischendurch, Lesen, wo es sich gerade ergibt, okkasionelle Erbauung während des Tagesablaufs.«10 Ich weiß nicht, an welche Orte ich das Buch überallhin mitschleppte, verschwommen ist die Erinnerung an eine lange Wartezeit auf einem Flughafen, während derer ich in dem kleinen Band las. Sein jetziger Zustand erzählt keine Leseszenen, die ich schon längst vergessen habe, er weist nur allgemein heftigen Gebrauch durch seine Schrabbeligkeit nach.

Schon länger trägt man sowohl das Bedürfnis nach Erbauung als auch die Literatur, die Erbauung verspricht und sich selbst sogar Erbauungsliteratur nennt,d stets mit sich herum. Einerseits hat man sie dann immer schnell zur Hand, andererseits kann man sie auch gut vor missbilligenden Blicken verstecken. Trostsuchendes Lesen hat eine lange Geschichte, die vor allem davon handelt, dass man es trotzdem tut. »Wer sind die ›Alten Tröster‹? Der Ausdruck wird gebraucht für die Gebet- und Erbauungsbücher der gläubigen Väter unserer evangelisch-lutherischen Kirche, die noch heute die Gläubigen trösten; für die Erbauungsschriften, daraus nicht bloß der Schriftsteller und seine Zeitgenossen Trost gesucht und gefunden haben, sondern die solchen Wert haben, daß viele Geschlechter bis heute durch sie erbaut worden sind und noch erbaut werden. Alte Tröster hießen sie ursprünglich vielfach spottweise […].«11 Schon 1900 muss auf Seite eins klargestellt werden, dass man sich der potenziellen Peinlichkeit bewusst ist, die es bedeutet, nicht nur eine trostbedürftige Person zu sein, sondern vor allem, sich als solche ausgerechnet an ein Büchlein zu wenden, dessen ästhetischer Wert weit hinter seiner Funktionalität für seelische Belange zurückbleibt. Es sei aber, so wird weiter ausgeführt, kein Wunder, dass Die Alten Tröster von Leserinnen und Lesern angesteuert würden, denen der ästhetische Wert eines Textes, worin auch immer er bestehen möge, ziemlich egal war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten die Kirchen erbauungssuchenden Personen »Steine statt Brot« angeboten.12 Aus Steinen kann man zwar eine Kirche erbauen, nicht aber die trostbedürftigen Gläubigen bei der Stange halten. Sie wollen einen Text. Das gilt auch zu Zeiten, in denen Gläubige schon solche sind, die allein mit einem spirituellen Restbedürfnis durchs Leben gehen und sich um den Glauben (an sich) vorerst keine größeren Gedanken machen, sondern andere Probleme haben.

Meine kleine Ausgabe von Rilkes Briefen an Kappus stammt aus dem Jahr 1997, ich glaube aber, dass ich sie mir erst deutlich später gekauft habe. Meine Erinnerung behauptet, dass ich sie seit 2004 mit mir herumgetragen habe, weil ich mich an die Anschaffung einer Umhängetasche erinnere, die ein Spezialfach hatte, in dem ich das Buch versenken konnte. Und so ist es wahrscheinlich auch gedacht: dass man diese Ratschläge Rilkes, seine Versuche, einem ihm unbekannten Mann Trost zu spenden, in die Tasche stecken kann. Zu wissen, dass dieses Buch überall hinpasst und immer mitkommen kann, ist vielleicht schon selbst Trost genug. Mit dem Buch in der Tasche war ich immer schon zwei. Vielleicht war genau das Effekt einer gelungenen verlegerischen Suggestion, die darin besteht, Leserinnen und Leser glauben zu lassen, dass es ein Kunstwerk gibt, das für sie jeweils ganz allein da ist. Der Preis dafür war die Ausblendung des eventuell doch einfach zu schmuddeligen Kappus’. Durchgezogen wurde vor allem der Triumph des Deutschunterrichts: Unsere Großen, immer dabei – spürt ihr es nicht auch?

Ursprünglich sollte meine Ausgabe fünf D-Mark kosten, wie man über dem ziemlich abgeschabten Barcode noch erkennen kann. Was ich tatsächlich bezahlt habe, weiß ich nicht. Die Rückseite enthält keine Hinweise zum Inhalt der Briefe oder zum Empfänger, dafür aber ein Zitat von Paul Valéry, den Rilke seinerseits in Deutsche übersetzt hat. »Teurer Rilke! … Ich liebte in ihm den zartesten und geisterfülltesten Menschen dieser Welt, den Menschen, der am meisten heimgesucht war von all den wunderbaren Ängsten und all den Geheimnissen des Geistes. Paul Valéry«.

Es hat bis 2017 gedauert, bis ich einmal etwas anderes von Paul Valéry als diesen Blurb gelesen habe. Ängste kannte ich nur als Ängste, also waren sie schrecklich, nicht wunderbar. In einem Aufsatz von Carlos Spoerhase fand ich einen Verweis auf Die beiden Tugenden des Buches,13 der mir gerade recht kam, direkt daneben ging es noch besser weiter, hier also noch mal Paul Valéry: »Der Geist des Schriftstellers betrachtet sich in dem Spiegel, den die Druckerpresse ihm liefert. Wenn Papier und Druckfarbe zueinander passen, wenn die Letter angenehm für das Auge, wenn der Satz sorgfältig, die Justierung ohne Makel, der Druck vorzüglich ist, so empfängt der Autor einen frischen Eindruck von seiner Sprache und seinem Stil. Beschämung und Stolz streiten in ihm. Er sieht sich mit Ehren bekleidet, die ihm vielleicht nicht zustehen. Ihm ist, er vernehme eine sehr viel entschiedenere und festere Stimme als die seine, höre eine unerbittlich reine Stimme seine Worte aussprechen, jedes einzelne seiner Wörter mit drohender Deutlichkeit. Alles, was er je Schwaches, Nachgiebiges, Willkürliches, Unelegantes niedergeschrieben hat, spricht nun allzu klar und vernehmlich. Ein schreckliches Urteil, und ein höchst kostbares zugleich, wird da über einen gefällt, wo man sich prächtig gedruckt sieht.«14

Meine Ausgabe der Briefe spottet selbstredend diesem Anspruch. Sie ist nicht prächtig, sondern so gerade eben nicht kaputt, in keiner besonderen Type gesetzt und auf billigem Papier gedruckt. Es kann sein, dass die Briefe in einer anderen Ausgabe auf eine jüngere Version meiner selbst noch größeren Eindruck gemacht hätten, ich glaube aber vor allem, dass die Rilke-Briefe deshalb lange Zeit mit mir wanderten, weil sie sich hier so bescheiden ausgaben. Nur ein paar Briefe an einen jungen Dichter, von Schreiber zu Schreiber. Keine große Sache. Die »drohende Deutlichkeit« einer festen und entschiedenen Stimme vernahm ich sehr wohl. Aber aus einem anderen Buch sprechend hätte ich sie wohl eher nicht hören wollen. Schwach, nachgiebig, willkürlich, unelegant: So darf man nicht schreiben, so steht es in Rilkes Briefen an Kappus. Ohne die wenig beeindruckende, aber eben auch wenig einschüchternde Materialqualität der billigen Diogenes-Ausgabe wäre diese Ansage eher nicht zu mir durchgedrungen.

Das armselige Äußere des zerliebten kleinen Bandes, der in überhaupt keiner besonderen Weise gesetzt ist, sondern nur so, dass er eben auf den geringen Platz der 121 Textseiten passt, schmiegt sich dafür aber an die Erfahrung dessen an, der hier eine Leerstelle bleibt. Franz Xaver Kappus, der in dieser Ausgabe nicht zu hören ist, braucht einen Text, den er achten und an den er sich immer wieder wenden kann: ganz so, als wäre der Absender dieses Textes bei ihm. In einem der letzten vollständig erhaltenen Briefee an Kappus gesteht Rilke am Ende: »Glauben Sie nicht, daß der, welcher Sie zu trösten versucht, mühelos unter den einfachen und stillen Worten lebt, die Ihnen manchmal wohltun. Sein Leben hat viel Mühsal und Traurigkeit und bleibt weit hinter Ihnen zurück. Wäre es aber anders, so hätte er jene Worte nie finden können.«15

Unter den vielen – sie sagt: Tausenden – Briefen, die Cheryl Strayed erreicht haben, fällt einer auf, dessen anonyme Absenderin oder anonymer Absender nur eine Frage hat: »WTF? I’m asking this question as it applies to everything everyday.«16 Mehr Informationen enthält dieser Brief nicht. Der Einfachheit halber wird die Absenderin oder der Absender von Strayed WTF genannt. Ihre Antwort auf diese Frage enthält zwei Geschichten, die aufeinander aufbauen. Mit der ersten steigt sie in ihre Antwort ein, sie handelt davon, wie sie als kleines Kind ihrem Großvater einen runterholen musste: »My father’s father made me jack him off when I was three and four and five«, lautet der erste Satz ihrer Antwort. »That particular fuck would not be shook. Asking what the fuck only brought it around.« Strayed geht nicht weiter ins Detail. Warum ihre Mutter oder ihr Vater nicht dabei helfen konnten, ihr Schweigen zu brechen und davon zu erzählen, was ihr widerfahren war, bleibt offen. Es bleibt auch offen, WAS ZUM TEUFEL UND WARUM ihr dieser Missbrauch geschehen ist, der nicht Missbrauch genannt wird. Manche Dinge, so Strayed, seien so falsch und traurig, dass jede Frage an sie unbeantwortbar bleibt: Diese Erlebnisse steckten wie ein Speer im Schlamm. Ein Speer, der geworfen wird, vibriert vielleicht noch eine Weile nach, wenn er im Schlamm steht. Wenn der Schlamm trockener wird und der Speer tief eingedrungen ist, ist er vermutlich nur mit sehr großer Kraftanwendung aus dem Schlamm herauszuziehen. Strayed hat ihren Speer in den Nebel geworfen, der die Frage »WTF« umgibt, irgendeine fremde Person will sie nichts anderes wissen lassen, als dass sie sehr wütend ist, die Wut bezieht sich auf alles, dementsprechend auf nichts Bestimmtes.

Die zweite Geschichte, die Strayeds Antwort enthält, handelt von einem Vogeljungen mit gebrochenem Hals, das Strayed an einem Tag findet, an dem ihr nicht nur die Erinnerung an ihr fünfjähriges Selbst wie ein Sack Blei auf der Seele liegt, es ist auch sonst nichts gut. Sie versucht den Vogel zu beruhigen, aber er wird nur ängstlicher, als sie ihn in die Hände nimmt, wissend, dass er nicht mehr lange überleben kann. Der Vogel wird immer panischer und Strayed sieht ein, dass er nun entweder noch über längere Zeit qualvoll sterben wird oder dass sie nun zur Abkürzung des Leidens seinen Tod herbeiführen kann. Das tut sie, indem sie ihn in einer Papiertüte erdrückt: »Nothing that has died in my life has ever died easily, and this bird was no exception. This bird did not go down without a fight.« Sie spürt den Puls des Vogels noch eine ganze Weile gegen ihre Hände schlagen, »flaccid and ferocious beneath its translucent sheen of skin, precisely as my grandfather’s cock had been«.17

Beide Geschichten reagieren auf das Trauma, das Strayed niemals verlassen hat. Der Körper des Vogels mag in ihren Händen und ihrem Willen nach sterben, die Erinnerung bleibt. So auch das Trauma. Diese Einsicht befreit sie schließlich von der schwersten Last, die darin besteht, über das Ausbleiben der Antwort auf die immer wieder gestellte Frage »What the fuck?« nicht hinwegzukommen. WTF solle sich angewöhnen, bessere Fragen zu stellen, schreibt Strayed. Vielleicht ist WTF schlicht ein Troll, der die ausführlichen Darlegungen haarsträubenden und gewöhnlichen Kummers verspotten möchte, die Strayed für gewöhnlich beantwortet. Ihre Reaktion darauf ist sowohl in Länge und Direktheit selbst dazu geeignet, den zu narren, der sich vielleicht nur über sie lustig machen wollte. Nach all dem, dem Missbrauch und dem Tod des Vogels in der Papiertüte, war ja gar nicht gefragt worden. Das Übermaß an Information über das Leben Strayeds, das dieser Brief enthält, ist nicht nur deshalb unangenehm zu lesen, weil es einen so wunden Punkt ihrer Kindheit enthält, sondern auch, weil es alle möglichen Formen des alltäglichen »What the fuck?«-Sagens und -Denkens zurechtschrumpft.

Rilke spricht von sich in der dritten Person, um bei Kappus zu hinterlegen, dass auch das, was er ihm schreibt, durch »viel Mühsal und Traurigkeit« gedeckt ist. Heutzutage ist leicht nachzulesen, was damit gemeint sein könnte. Rilkes Sonderbegabung lag wie bei Kappus nicht allein im Feld der Dichtung, sondern auch im Betreiben von allzu intensiven Beziehungen (die daran Beteiligten haben allerdings sein Leben als Dichter zum Teil auch finanziell abgesichert). Auch er hätte vielleicht einen Briefkontakt so weich und süß wie Zuckerwatte gebraucht. Die Erwähnung seines eigenen Gefühlshaushaltes ist jedoch einer der ganz wenigen Momente in seinen Briefen an Kappus, in denen Rilke als Person mit einem eigenen Innenleben auftritt. Dabei bleibt er immer noch auf Abstand: Er hält Kappus, dem er in großen Zeitabständen von vielen Monaten antwortet, am ausgestreckten Arm. Natürlich siezt er ihn weiterhin, aber das allein ist nicht auffällig, allgemeines Durchduzen beginnt historisch betrachtet erst später.

Vor allem aber drückt Rilke Kappus mit der ganzen Kraft seiner poetischen Reflexion an die Wand: »Die Stille muß immens sein, in der solche Geräusche und Bewegungen Raum haben, und wenn man denkt, daß zu allem noch des entfernten Meeres Gegenwart hinzukommt und mittönt, vielleicht als der innerste Ton in dieser vorhistorischen Harmonie, so kann man Ihnen nur wünschen, daß Sie vertrauensvoll und geduldig die großartige Einsamkeit an sich arbeiten lassen, die nicht mehr aus Ihrem Leben wird zu streichen sein; die in allem, was Ihnen zu erleben und zu tun bevorsteht, als ein anonymer Einfluß fortgesetzt und leise entscheidend wirken wird […].«18

Es ist eigentlich eine Drohung: Ab jetzt ist jeder Tag das Erbe von tiefster innerer Einsamkeit, aus einem Brunnen ohne Boden sollst Du schöpfen. Beispiel dafür ist Rilke selbst, seine Dichtung wird unmissverständlich als Belegstelle zur Umsetzung dieses Programms an Kappus mitgeschickt, der seinerseits Sonette verfasst hat, Reimschema: Klage/Tage, Weh/Schnee, Frage/wage usw., die Rilke dezent beschweigt oder umschifft. Rilke hat keinen Rat zu Versen, er hat nur einen Rat zur inneren Einstellung zum Verfassen von Versen. »Sie sehen nach außen und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt wäre zu schreiben.«19 Das einsame Herz als Forschungsfeld für Selbsterkenntnis hat sich Rilke weder selbst ausgedacht, noch hat er es behauptet. Es war ja auch um 1900 schon lange und gut bekannt, ganz ohne weiteres Quellenstudium. Es ist auch der Zeitpunkt, als das Herz gewissermaßen ins Hirn wandert und als Teil der Psyche Gegenstand einer eigenen Wissenschaft von den Leidenschaften, Trieben usw. wird. Doch egal von welcher Seite man auch schaut: Nie hat jemand behauptet, dass es nicht ein gehöriges Stück Arbeit sei, dahin zu gelangen, wo die Sonne nicht scheint, die Selbsterkenntnis aber blüht: »Vom selbst-Erkäntnüs. Seltsam und doch nötig. Schwer und doch nützlich. […] Der Grund ist tief / niemand will sich hinein wagen: mancher schäwt sich und schämt sich hinein zu gehen / daß ihm der Greuel der Verwüstung nicht vor Augen komme: mancher hat mit andern so viel zu thun / daß er sein selbst vergißt. Ich will auf meine eigene Brust schlagen / und nicht auf andere den Finger strecken.«20

Strayed schreibt Bassist, dass sie mit der gleichen Attitüde schreiben solle wie die Bergleute, die einfach graben. »That you’re so bound up about writing tells me that writing is what you’re here to do. And when people are here to do that, they almost always tell us something we need to hear. I want to know what you have inside you. I want to see the contours of your second beating heart. So write, Elissa Bassist. Not like a girl. Not like a boy. Write like a motherfucker.«21

Knapp 120 Jahre später möchte ich Rilke ein paar Anführungszeichen reichen, die er nach Belieben in seinen Sätzen verteilen könnte, um etwas Gewicht der bleischweren Vokabeln abzufangen, mit denen er Kappus zur Prüfung seiner dichterischen Ambitionen aufruft. Anfangen könnte man vielleicht mit »sterben«. Mir erscheint der Anspruch, die eigene schreiberische Motivation solle entweder existenziell oder wertlos sein, in seinem Pathos mittlerweile leicht bedrohlich. Was ist mit denen, die zwar darauf brennen, zu schreiben (und vielleicht vor allem darauf, dann auch gelesen zu werden), aber auch dann gern leben wollen, wenn die Umstände genau das nicht erlauben?

Lange Zeit wollte ich die Möglichkeit haben, das Pathos immer dann wieder neu anzufachen, wenn seine Flamme vielleicht allzu klein brannte. So trug ich das Buch mit mir herum, um mir im Zweifelsfall Rilkes Worte leihen zu können, als Ersatz für all die, die mir selbst nicht einfielen. Ich konnte so stumm bleiben wie der Leutnant Kappus in meiner Ausgabe und war doch bei großer Dichtung dabei, ich schien kurz davor, selbst welche zu produzieren. Rilke war als »zartester, geisterfülltester Mensch der Welt« mit »all den wunderbaren Ängsten und allen Geheimnissen des Geistes« (Valéry) das Idol, dem sich anzuverwandeln nicht unmöglich sein sollte, bei all den Ängsten und Geheimnissen des Geistes, die ich an mir selbst bemerkte und in zarte und geisterfüllte Texte hineinzuschreiben gedachte.

Aus dieser Hoffnung heraus hat auch Kappus an Rilke geschrieben. Kappus identifizierte sich mit Rilke unter anderem aus dem Grund, dass auch Rilke zunächst eine Militärlaufbahn angestrebt, dann jedoch zugunsten eines Lebens als Dichter aufgegeben hatte. So wollte Kappus es ebenfalls machen. Nach einem Vortragsabend in der Wiener Buchhandlung Heller am 8. November 1907 folgte Kappus Rilke in ein Restaurant: »In dem Lokal ließ er Rilke seine Visitenkarte überreichen, und der Dichter kam auch sofort an seinen Tisch, um sich lange und eingehend zu unterhalten.«22 Kurze Zeit später sandte Kappus seine Verse an den Insel-Verlag, bei dem Rilke publizierte. »Innerhalb einer Woche kam die Absage mit einem Standardschreiben, das auf den Verlagslektor Adolf Hünich zurückgehen dürfte. Dies dürfte auch die Kontakte mit Rilke gedämpft haben.«23

All das wusste ich nicht, als ich wieder und wieder mein Büchlein aufschlug und las: »Das Mädchen und die Frau, in ihrer neuen, eigenen Entfaltung, werden nur vorübergehend Nachahmer männlicher Unart und Art und Wiederholer männlicher Berufe sein. Nach der Unsicherheit solcher Übergänge wird sich zeigen, daß die Frauen durch die Fülle und den Wechsel jener (oft lächerlichen) Verkleidungen nur gegangen sind, um ihr eigenstes Wesen von den entstellenden Einflüssen des anderen Geschlechts zu reinigen. Die Frauen, in denen unmittelbarer, fruchtbarer und vertrauensvoller das Leben verweilt und wohnt, müssen ja im Grunde reifere Menschen geworden sein, menschlichere Menschen als der leichte, durch die Schwere keiner leiblichen Frucht unter die Oberfläche des Lebens herabgezogene Mann […].«f

Ich hatte lange keine Sprache und vielleicht auch von daher kein Bedürfnis, diese Einschätzung anzuzweifeln, ich wünschte mir, meine Sprache so benutzen zu können wie der, der so über Frauen schrieb.

»The truth: I am sick with panic that I cannot – will not – override my limitations, insecurities, jealousies, and ineptitude, to write well, with intelligence and heart and lengthiness. And I fear that even if I do manage to write, that the stories I write – about my vagina, etc. – will be disregarded and mocked. How do I reach the page when I can’t lift my face off the bed?«24 Als Bassist Strayed im August 2010 schrieb, gab es sowohl die Ratgeberkolumne als auch die Webseite, auf der sie zu finden ist, noch nicht sehr lang. The Rumpus war 2009 die Idee eines Autors namens Stephen Elliott, der seinen Autorinnen- und Autorenfreunden, die genauso arm wie er waren, Gelegenheit geben wollte, Teil eines literarischen Zirkels zu sein. Zunächst übernahm sein Freund Steve Almond die Ratgeberkolumne, und weil er von Elliott »Sugar Butt« (Zuckerarsch) genannt wurde, setzte sich der Name Dear Sugar für den Kummerkasten der Webseite durch.

Almond selbst setzte sich als Ratgeber nicht durch: Er sei kläglich gescheitert an dem Versuch, sich in diejenigen hineinzuversetzen, die irgendwie den Weg auf die Webseite gefunden und sich dann auch noch entschlossen hatten, einer ihnen unbekannten Person namens »Sugar« ebenda ihre Sorgen zu gestehen. Wo sein Herz scheiterte, habe er versucht, mit Witz darauf zu reagieren.25

An seiner statt fragte Elliott die ihm unbekannte Autorin eines Romans namens Torch an, den er sehr schätzte. Er nahm nicht an, dass sie Zeit haben würde: Almond erwähnt, dass er über Strayed wusste, dass sie ein loses Mundwerk, viele Schulden aus dem Studium, kein regelmäßiges Einkommen als Dozentin an einem Literaturinstitut und zwei kleine Kinder habe, mehr nicht. Doch sie sagte zu. All das ist die Story von »Sugar«, wie sie später in der Einleitung zu der Sammlung ihrer Briefe an Fremde erzählt werden wird, die ihr ihre intimsten, teilweise aber auch alltäglichsten Sorgen schilderten. Mit der Publikation ihrer Kolumnen unter ihrem eigenen Namen stellte Strayed klar, dass nicht »Sugar«, sondern eigentlich Rilke die Kolumnen geschrieben hat: Aus der Einleitung zum Buch und den Interviews mit seiner Autorin geht hervor, dass Cheryl Strayed nicht nur der Name einer Autorin von Ratschlägen, sondern auch der einer Romanschriftstellerin ist.g Als solche spricht sie dieser Tage für die New York Times im Podcast Sugar Calling mit anderen berühmten Autorinnen und Autoren darüber, was sie in Zeiten emotionaler Not tun. Die meisten zitieren wiederum andere Schriftstellerinnen, an deren Texte sie sich wenden. Ein Netz, gewebt aus Zuckerwatte, das sich immer weiter ausdehnt.

Eine Kultgefolgschaft besitze »Sugar«, so Almond, und zwar, weil sie etwas anbiete, was in der amerikanischen Gesellschaft, die derzeit an Einsamkeit krepiere, dringend fehle. Diese Fehlanzeige läuft bei ihm unter »radikale Empathie«, die Strayed in ihren Briefen anbiete. Diese Empathie besteht nicht allein in einem mitfühlenden Tonfall und der Anrede »sweet pea«, mit der die auch Strayed unbekannten Briefautorinnen und -autoren belegt werden. Sie besteht vor allem immer wieder in einem Arbeitsauftrag. »Nicht nur die sprachlichen Mittel tragen dazu bei. Betrachtet man den Text inhaltlich, so fällt eine Forderung ins Auge, die genauso deutlich wie die in der Erbauungsliteratur übliche nach Passivität und Unterwerfung zutage tritt – die Forderung, Sorge um sich selbst zu tragen.«26 Wenn du dich nicht von Gott beim eigenen Namen rufen lassen kannst, weil du nicht oder nicht mehr glauben kannst, dann reicht es vielleicht aus, wenn dich wenigstens eine anonyme Autorin bei einem Kosenamen ruft.

Als Elissa Bassist an Strayed schreibt, läuft die Kolumne schon eine ganze Weile, niemand weiß, wer »Sugar« ist. Bassist fängt ihren Brief damit an, dass sie sagt, sie schreibe wie ein Mädchen. Sie wolle aber nicht wie ein Mädchen schreiben, sondern lieber wie David Foster Wallace, und dies nicht nur deshalb, weil sie glaube, dass ihre Themen (unerwiderte Liebe, ihre Vagina, ungefilterte Emotionen) vielleicht nicht so gut ankämen, sondern auch, weil sie damit ja eine Frauenschriftstellerin würde. Und Frauenschriftstellerinnen endeten meist schlimm, das wisse man, das sei bekannt; dass es mit Wallace auch ein schlimmes Ende genommen habe, das sei weniger relevant angesichts seines Genies. Was genau an seinem Schreiben das Geniale für sie ausmacht, steht leider nicht in dem Brief. Er geht noch eine Weile weiter und enthüllt »Sugar« auch die Depressionen der Absenderin, gegen die sie verschreibungspflichtige Medikamente nimmt. Getrieben wird ihr Brief aber von dem einen verzehrenden Wunsch: Bassist möchte so gern ein Buch schreiben. Dieses Buch, so ist dem Brief zu entnehmen, ist nichts weniger als eine Art Zaubermittel, denn es soll ihr erlauben, anders zu werden: »it’s not that I want to die so much as have an entirely different life«27. Dieses andere Leben ist das einer Autorin.

Meine Ausgabe von Tiny Beautiful Things habe ich mir nicht gekauft, sondern von meinem ehemaligen Kollegen Peter Praschl als .mobi-Datei erhalten. In seinem Blog Vague