True Colours: Ben - Die Farbe des Glücks - Sophia Chase - E-Book
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True Colours: Ben - Die Farbe des Glücks E-Book

Sophia Chase

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Beschreibung

Er scheint ihre geheimsten Wünsche zu kennen … Die Spicy Romance »True Colours: Ben« von Sophia Chase jetzt als eBook bei dotbooks. Die junge Londonerin Joanna sieht das perfekte Leben vor sich: Erfolg im Job und Glück in der Liebe. Für ihren Verlobten Kyle ist sie sogar bereit, aufs verschlafene englische Land zu ziehen, schließlich kann sie hier im alten Schloss der Familie York als Reiseführerin brillieren. Doch plötzlich muss Joanna sich fragen, ob Kyle vielleicht ganz andere Zukunftspläne hat als sie … Und dann wäre da noch Ben York, der ebenso arrogante wie gutaussehende Erbe der Adelsfamilie, der sich als Joannas neuer Boss aufspielt – und sie liebend gern zur Weißglut treibt. Zwischen den beiden entbrennt ein Spiel aus Dominanz und dunkler Anziehungskraft … aber darf Joanna dafür alles riskieren, was sie sich aufgebaut hat? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der prickelnde Liebesroman »True Colours: Ben« von Sophia Chase ist bereits unter dem Titel »Die Farbe des Glücks« erschienen und der zweite Roman ihrer »True Colours«-Reihe um drei Londoner Freundinnen, die Fans von Lauren Asher und Ana Huang begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 474

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Über dieses Buch:

Die junge Londonerin Joanna sieht das perfekte Leben vor sich: Erfolg im Job und Glück in der Liebe. Für ihren Verlobten Kyle ist sie sogar bereit, aufs verschlafene englische Land zu ziehen, schließlich kann sie hier im alten Schloss der Familie York als Reiseführerin brillieren. Doch plötzlich muss Joanna sich fragen, ob Kyle vielleicht ganz andere Zukunftspläne hat als sie … Und dann wäre da noch Ben York, der ebenso arrogante wie gutaussehende Erbe der Adelsfamilie, der sich als Joannas neuer Boss aufspielt – und sie liebend gern zur Weißglut treibt. Zwischen den beiden entbrennt ein Spiel aus Dominanz und dunkler Anziehungskraft … aber darf Joanna dafür alles riskieren, was sie sich aufgebaut hat?

Über die Autorin:

Sophia Chase, Jahrgang 1991, arbeitete zuerst im pharmazeutischen Bereich, ehe sie durch ihre Leseleidenschaft zum Schreiben kam. 2011 veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Linz, Österreich, arbeitet als Autorin und studiert Rechtswissenschaften.

Die Autorin im Internet:

www.sophiachase.de/

www.facebook.com/sophia.chase.376

www.instagram.com/sophiachase.autorin/

Sophia Chase veröffentlichte bei dotbooks ihre Romane »Hot Boss Secrets« und »Kissing the Boss« sowie ihre »True Colours«-Reihe mit den Romanen »True Colours – Daniel«, »True Colours – Ben« und »True Colours – Jason«.

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Überarbeitete-Neuausgabe Januar 2024

Dieses Buch erschien bereits 2016 unter dem Titel »True Colours: Die Farbe des Glücks« im Selfpublishing.

Copyright © der Originalausgabe 2017 Sophia Chase

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-810-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Sophia Chase

True Colours:Ben

Roman

dotbooks.

Prolog

April – Joanna

»Nach dem Brand 1849 wurde es von dem englischen Architekten Charles Barry, der unter anderem an der Gestaltung des Big Ben beteiligt war, 1851 neu errichtet. Seit 1890 befindet sich Cliveden im Besitz der Familie York und ist seit Anfang der 1980er-Jahre für Besucher geöffnet.«

Ich lasse die Informationen wirken und bewege mich langsam in Richtung Ostflügel, in dem sich die Porträts der Familie York in der Ahnengalerie befinden. Neben der Tür hängt die Abbildung von König Richard IV. Dem Urvater der Familie. Wie immer rattere ich meinen, seit bereits zwölf Jahren einstudierten, Text herunter. In dem Saal, der für die Familienvorstellung ausgewählt wurde, fanden früher Bälle und Hochzeitsfeiern statt. Heute kann man dort auf eine Zeitreise gehen. Von Richard IV. aus dem Jahr 1480 bis ins Heute zu Eleonora York, Duchess of Westmorland – meiner Arbeitgeberin.

Da ich den Touristen nicht alle Porträtierten vorstelle, gebe ich der Besuchergruppe aus Italien genügend Zeit, damit sie sich auf eigene Faust in den Räumlichkeiten umsehen können. Ich ziehe mich zurück in eine Ecke, blicke aus dem bodentiefen Sprossenfenster und bin mit meinen Gedanken eigentlich ganz woanders. Denn in meinem Kopf erstelle ich gerade einen Plan, wie ich mich dazu motivieren soll, diesen einen – letzten! – dämlichen Karton in meinem Büro im neuen Haus auszuräumen. Seit Tagen steht er dort als einziges Überbleibsel unseres Umzugs von London nach Hayes. Doch seitdem Kyle und ich umgezogen sind, hat eine ziemlich belastende Lethargie Besitz von mir ergriffen. Ich war noch nie in meinem ganzen Leben weg von London gewesen, von meiner Familie oder den mir so gut bekannten Häusern, Straßen und dem so typischen Gewusel der Stadt. Hayes ist dagegen ... darf ich »stinklangweilig« sagen? Denn ja, genau das ist es. Ich fühle mich, als würde ich schon durch mein zu lautes Atmen auf offener Straße negativ auffallen. Die Umgebung dagegen aber ist wunderschön. Das hatte ich auch Dad erzählt, als ich stolz verkündete, dass Kyle und ich uns ein Haus gekauft haben.

Mein Dad rümpfte die Nase, murmelte etwas Unverständliches in sein Glas – und ich wette mein letztes Hemd darauf, dass er in der Zwischenzeit einmal dort hingefahren und sich den Ort und die Umgebung mit eigenen Augen angesehen hatte. So ist mein Dad. Aber hey, ich liebe den Kerl einfach.

Mein Gott, du Freak, musst du eine Träne zurückhalten, nur weil du an deinen Daddy denkst? Ich bin echt ein totales Baby. Ich mag eine große Klappe haben, zähle aber zu denjenigen, die mit Veränderungen oder unbekannten Situationen so überhaupt nicht umgehen können. Frei nach dem Motto »Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht«, bewege ich mich lieber in vertrauten Gewässern, anstatt jede noch so wilde Sache zumindest einmal zu probieren. Vermutlich wurde ich gleich nach meiner Geburt in eine Reha-Klinik für Burn-out-Gefährdete eingewiesen, weil mich die Veränderung, ab sofort nicht mehr im Mutterleib wohnen zu dürfen, total frustriert hat. Außerdem war ich ein Schreibaby, hat mir meine Mum einmal erzählt. Und dann wurde ich erst recht zu einer richtigen Göre, die nicht ganz normal schien.

So habe ich mich also seither durchs Leben gewurstelt. Jede Umstellung war bisher der blanke Horror für mich. Als ich nach der Grundschule auf die Public School kam, konnte ich nächtelang nicht schlafen. Ich aß nichts, trank nichts – und so fiel ich irgendwann einfach um. Es war wie bei einem dieser Kartoffelsäcke: Solange er eine stützende Wand hinter sich hat, steht er, doch ... Nein, ich bin zu müde, um irgendeine großartige Metapher zu entwickeln. Die vergangenen Tage waren total anstrengend. Susy und ich schrubbten das Haus von oben bis unten durch, während die Männer Möbel packten und in die jeweiligen Räume verteilten. Es gleicht einem Wunder, dass beide diese Tage überlebt haben. Denn beinahe wären sie von mir umgebracht worden, weil sie immer wieder mit ihren nassen, schmutzigen Schuhen durch die Räume latschten und meine und Susys Arbeit praktisch zunichtemachten. Ich gebärdete mich daheim wie eine Furie und hetzte jeden Tag frühmorgens in die Arbeit, wo es nicht minder stressig zuging. Ich kam erst spät zurück – nur, um dann weiter zu putzen.

Mittlerweile wissen meine Mitarbeiter zum Glück, dass meine ausgesprochenen Morddrohungen nicht ernst zu nehmen sind und ich keinen ihrer Spinde, Autos oder Häuser abfackle, wenn sie einmal etwas falsch gemacht haben. Ich werde wohl niemals einen von ihnen einmauern oder in den Kerker werfen lassen. Und auch meine Chefin Ellie, der das Anwesen gehört, weiß, wie sie mit mir umgehen muss.

Trotzdem war ich ziemlich entnervt, als gleich mehrere Kollegen plötzlich krank wurden und ich nun zusätzlich zu meinen Aufgaben noch ein paar der Führungen übernehmen musste. Verkürzt bedeutet das: unzählige Überstunden und das ausgerechnet während des Umzugs. Als unsere Couch letzte Woche vor meinen Augen in eine schlammige, schmierige Pfütze plumpste, war ein Punkt erreicht, an dem ich es für eine ausgezeichnete Idee hielt, mit dem Trinken anzufangen. Denn ich meine, wie verlockend klang in so einer Situation eine Flasche Whisky? Zumindest Kyle behielt die Ruhe, während ich ihn anschrie und fragte, ob ihm jemand ins Hirn geschissen habe, weil er es nicht mal schaffte, das Ding richtig zu tragen. Doch selbst nach dieser brutalen Verbalattacke sagte er nichts. Gar nichts. Das ist seine Art, mit einer Situation, die ihn überfordert, umzugehen – er zieht sich innerlich zurück und hält den Mund.

Außenstehende haben uns bestimmt längst den Titel als das ungleichste Paar der Welt verliehen: Ich, die Quasselstrippe, und Kyle, der Schweigsame. Doch seltsamerweise funktioniert es zwischen uns ganz gut. Ich fühle mich an Kyles Seite wohl und angekommen. Sonst hätte ich ihn ja auch nicht geheiratet.

Nach etwa 15 Minuten trommle ich die Besuchergruppe wieder zusammen und führe sie auf die große Terrasse. Es ist kühl, obwohl die Sonne scheint – der kalte Wind bläst uns um die Ohren. Während ich den Besuchern erzähle, dass die Terrasse 1893 aus Italien importiert und hier wieder aufgebaut wurde, bemerke ich den Hauch, der beim Sprechen aus meinem Mund kommt. Ich ziehe den Gürtel meines Mantels enger zu und deute in Richtung des wundervoll angelegten Gartens, in dem es nun, im Vergleich zum Sommer, leider noch etwas düster aussieht. Ich liebe diesen Teil des Anwesens – den Garten mit dem Blumenmeer im Sommer, dem saftigen Grün der Wiesen, dem Plätschern der Springbrunnen und des kleinen Baches am Grundstücksrand.

Seit ich vor über zwölf Jahren das erste Mal hier war, um mich für den Job als Touristenguide zu bewerben – womit ich versuchte, mein bescheidenes Leben als Studentin etwas aufzupeppen –, habe ich mich regelrecht verliebt in diesen Ort. Ich mag dieses Flair, das Feeling, das mich hier umgibt. Ich mag das Haus, die Räume, die Einrichtung. Nicht zuletzt ist es Ellie zu verdanken, dass ich nach meinem Studium hierher zurückgekommen bin, um die Verwaltung des Anwesens zu übernehmen. Seither bin ich für das Marketing, die Planung sämtlicher Veranstaltungen, für die Einteilung der Mitarbeiter und die Betreuung des Museums verantwortlich. Ich bin im Laufe der Zeit zu Ellies rechter Hand mutiert, und sie wurde zu einer Art Ersatzmutter für mich, die mich mit ihrem losen Mundwerk, ihrer direkten Art und ihrer Herzlichkeit in null Komma nichts für sich gewonnen hatte.

Meine heutige Führung endet im ehemaligen Wintergarten, der heute ein Café beherbergt. Abermals gebe ich einige Fakten zum Besten, ehe ich mich für die Aufmerksamkeit bedanke und verabschiede, um die Reisegruppe in den Souvenirshop zu entlassen.

Es ist kurz vor elf, und ich mache mich daher auf den Weg in mein Büro, um die Arbeit des Vormittags nachzuholen. Der Sommer steht – auch wenn es heute nicht so wirkt – vor der Tür, was mich zwingt, mich fast jeden Tag mit irgendwelchen Frischverlobten zu treffen, die hier auf Cliveden ihre Hochzeit feiern wollen. Um Kosten für das Personal zu sparen, habe ich mich freiwillig zur Verfügung gestellt. Daher durchlebe ich jenen stressigen Albtraum, der vor knapp einem Jahr meiner war, immer und immer wieder. Ich werde gezwungenermaßen Zeugin von wilden Auseinandersetzungen und musste einmal sogar eine Handgreiflichkeit verhindern. Würden wir das Geld, das wir dank Hochzeiten einnehmen, nicht so dringend benötigen, hätte ich das Ganze längst abgeblasen. Aber Ellie liebt Romantik, und nebenbei gesagt, kann sie manchmal ganz schön stur sein. Außerdem ist sie ja die Chefin.

Noch während ich die Tür zu meinem Büro öffne, taucht besagte Person hinter mir auf. Ellie führt das Leben einer alten, zufriedenen Dame. Sie ist 71, liest für ihr Leben gerne kitschige Romane und reitet nach wie vor, auch wenn ihr Arzt es ihr mehrmals verboten hat. Noch immer ist sie ins Tagesgeschäft involviert, hat aber zumindest einige ihrer Aufgaben an mich abgetreten. Doch am liebsten redet sie einfach nur. Daher weiß ich, als sie mit mir in mein Büro kommt, dass ich wohl so schnell nicht dazukommen werde, dem blinkenden Symbol auf meinem Computerbildschirm nachzugehen.

»Du siehst müde aus, Josie. Liegt das an eurem Umzug, oder ist es vielmehr der Tatsache geschuldet, dass du dich eine frisch verheiratete Ehefrau nennen darfst?« Sie schmunzelt, während sie einen Stapel meiner frisch gedruckten Visitenkarten mit meinem neuen Namen darauf geraderückt. Aus Joanna Philips ist Joanna Douglas geworden.

Ich grinse, lasse mich auf meinen ledernen Schreibtischsessel sinken und rolle damit ein paar Zentimeter nach hinten. »Ich wusste, was auf mich zukommt, Ellie. Die Ehe ist nichts für Romantiker oder Träumer. Sie ist stahlharte Arbeit mit viel Stress und Staubwischen.«

»Genau darum bin ich nicht verheiratet. Nicht mehr«, fügt sie achselzuckend hinzu.

Irgendetwas ist heute anders an ihr. Seit ich sie kenne, ist sie immer wunderschön und bezaubernd gewesen, und ich bin überzeugt, sie kann es locker mit jüngeren Frauen aufnehmen. Es ist wohl ihr Charme, der mit den Jahren an Intensität gewonnen hat, der mich so fasziniert. Sie trägt ihr Haar bewusst länger als die meisten Frauen in ihrem Alter. Doch vorwiegend hat sie es zu einem akkuraten Knoten hochgesteckt. Ich habe Ellie noch nie in Hosen gesehen. Ihr Alltagsdress besteht aus einem Kleid. Farben liebt sie ebenso wie Schuhe. Gott, wie sehr ich sie um ihre Sammlung beneide. Erst letzte Woche meinte sie, dass ich nach ihrem Tod all ihre Sachen erben würde. Andere würde so eine Aussage erschrecken, doch da ich schon so lange mit Ellie arbeite, habe ich gelernt, mit ihrer direkt-unverblümten Art umzugehen.

»Gibt es irgendetwas zu verkünden, Ellie? Sie strahlen heute so.«

Meine Frage zaubert ihr eine sanfte Röte auf die Wangen. »Als ich jünger war und mein Mann noch lebte, da habe ich mir geschworen, dass ich ganz anders als meine Schwiegereltern werden würde. Du erinnerst dich, was ich dir über sie erzählt habe?«

Und wie ich das tue. Ihr Schwiegervater war ein Tyrann gewesen, der auf ähnliche Weise wie seine Vorfahren vor 200 Jahren regiert hatte. Ihre Schwiegermutter war launisch, altbacken und konservativ gewesen. Ellie brachte viel Wirbel in den spröden Haushalt, als sie ihren Ehemann heiratete. Sie kämpfte eisern und entschlossen gegen die veralteten Gebräuche an und besserte daneben die Kasse der Familie auf, indem sie das Schloss für die Öffentlichkeit zugängig machte. Sie hat es ganz bestimmt nicht einfach gehabt, und trotzdem hat sie nie vergessen, dass es im Leben nicht immer auf Regeln und Profit, sondern auf Menschlichkeit und Empathie ankommt. Diese Werte gibt sie auch noch heute an ihre Familie, ihre Mitarbeiter und natürlich auch an mich weiter. Von ihr habe ich bereits sehr viel gelernt.

Auf mein Nicken hin fährt sie fort. »Ich wollte niemals als altes Wrack durch die leeren Gänge huschen und die Mitarbeiter belästigen. Und schon gar nicht habe ich vor, irgendwo einmal als steife Leiche gefunden zu werden.«

»Ellie«, unterbreche ich sie mit mildem Tadel in der Stimme, weil sie, seit sie 70 geworden ist, glaubt, jeder Tag könnte ihr letzter sein. Von diesem Gedanken will ich sie abbringen. Nicht zuletzt, weil ich selbst ihren Verlust nicht ertragen könnte. Nach meiner Mum ist sie die einzige Frau in meinem Leben, die ich aus ganzem Herzen lieben kann, der ich vertraue, bei der ich mich verstanden und geborgen fühle.

»Nein, nein Josie«, beharrt sie und deutet mit dem Zeigefinger in meine Richtung. »Ich habe mir vorgenommen, dass ich spätestens mit 70 meinen Ruhestand genießen möchte. Manchmal, da kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als bis Mittag zu schlafen, etwas zu essen und dann im Garten spazieren zu gehen. Ohne all die Leute ringsum, ohne dieses miese, kalte, englische Wetter.«

»Sie wollen wegziehen?«, frage ich skeptisch, während ich die Sammlung an Kulis, von denen bestimmt die Hälfte nicht mehr schreibt, mitsamt dem Becher, in dem sie stecken über die raue Oberfläche meines Schreibtisches schiebe. Der Winzling hatte sie mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt, und über dessen aufgedruckten Spruch kann ich noch immer nicht schmunzeln, während Susy jedes Mal vor Lachen schier krepiert, wenn sie ihn zu Gesicht kriegt.

Ellie beobachtet mein Treiben, holt dann einmal Luft und meint mit todernster Stimme: »Da du kein blaues Blut hast, Schätzchen, wirst du irgendeinen alten Aristokraten heiraten müssen – denn danach gehört der Laden dir. Und ich werde auf Mauritius Sangria schlürfen.«

»Was? Nein, Moment: WAS?«

Mein Gesichtsausdruck muss zum Schreien komisch sein, da Ellie herzhaft zu lachen beginnt. »Meine Familie würde mich umbringen, Schätzchen. Sie hat längst mehr als ein Auge auf das Schloss geworfen.«

»Das mag daran liegen, dass sie noch nie einen Blick in die Abrechnungen geworfen haben«, behaupte ich, da ich ziemlich genau weiß, wie rot die Zahlen darin sind. Wäre ich irgendeine Investmenttussi, hätte ich mir bestimmt schon eine Flasche Whisky geschnappt und säße betrunken, heulend und schreiend in einer Ecke. Das Ding ist ein Fass ohne Boden. Und weder Ellie noch ich besitzen so etwas wie Kalkulationstalent. Ellie noch weniger. Sie dreht schon total durch, wenn sie, wie letztes Jahr, Stoffe für Vorhänge aussuchen muss. Und dabei ist es jedes Mal, als würden sie die teuren Dinge sie magisch anziehen.

»Verzeih mir meinen kleinen Spaß, Josie«, sagt sie jetzt, um mich zu beruhigen. »Aber ich werde definitiv etwas ändern. Noch bin ich annähernd richtig im Kopf. Aber Gott bewahre, ich habe schon Frauen gesehen, die mit dem Alter den Verstand verlieren. Und ist dann keiner hier, der mich bremst ... oh, oh, oh …«

Kopfschüttelnd steht sie auf, rückt den Stuhl zurück und murmelt irgendetwas vor sich hin. »Und was bedeutet das jetzt genau?«, frage ich ihr hinterher, als sie bereits den etwa vier Quadratmeter großen Teppich, auf dem mein Schreibtisch steht, verlassen hat.

Sie dreht sich um und grinst übers ganze Gesicht. »Ben.«

»Affleck?«

»Wer soll das sein, Schätzchen?«

»Ein ... das ist ein Schauspieler. Ein ziemlich ansehnlicher. Zumindest war er das früher mal.«

»Oh, du meinst ein scharfes Gerät?«

Mann, wie schräg ich das immer finde, wenn Ellie irgendwelche Wörter, die sie im Fernsehen aufgeschnappt hat, nachplappert, ohne wirklich zu wissen, was sie bedeuten. Das klingt total ... spooky. »Genau. Aber wer ist jetzt Ihr Ben?«

»Mein Enkel. Du erinnerst dich doch, dass ich ab und an etwas von ihm erzählt habe? Und ich denke mal, dass ihn manche Frauen, oder sogar die meisten, als ansehnlich bezeichnen würden. Ben wird mir helfen, das Unternehmen hier zu führen, weil ich befürchte, Josie, dass es irgendwann stetig bergab gehen wird mit mir.« Ihr Blick verändert sich, sie wird fahler im Gesicht und kommt ein, zwei Schritte zurück zu mir. »Mein Arzt meinte, ich müsse auf mich aufpassen, mein Herz schonen und mein Engagement zurückschrauben. Ich will hier nicht weg, auch wenn es Tage gibt, an denen ich euch alle am liebsten verjagen und mich alleine hier verstecken möchte. Seit über 100 Jahren befindet sich dieser wundervolle Ort in Familienbesitz, und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass sich das in Zukunft ändern wird. Benjamin wird mein Nachfolger werden. Er steht schon lange fest, dass er das Anwesen erben wird. Jedoch haben sich meine Familie und ich dazu entschieden, Ben ab sofort in das Tagesgeschäft zu involvieren, um ihm den Einstieg, und mir den Abschied, so leicht wie möglich zu machen.«

»Ich ...«, beginne ich, springe auf und stolpere beinahe über das Telefonkabel, das, seit ich mich entschieden habe, meinen Schreibtisch mitten in den Raum zu stellen, lose auf dem Boden liegt und das Telefon mit der Wand verbindet. »Ellie, es geht mich zwar nichts an, aber irgendwie doch ... Sie hätten mit mir darüber sprechen sollen.«

»Worüber? Über Ben? Meine Herzschwäche?«

»Über alles, Ellie. Ich dachte, Sie vertrauen mir.« Ich klinge genauso enttäuscht, wie ich mich fühle. Ich war wohl so blauäugig, zu glauben, dass Ellie mich als Teil ihres inneren Kreises sieht. Ich mag ihr wichtig sein, aber trotzdem bin ich nur eine Angestellte. Es ist dumm von mir, dass ich jetzt deprimiert bin, weil sie die Fäden bereits im Hintergrund gezogen hat. Aber verdammt, es fühlt sich einfach nicht gut an.

Ellie scheint zu spüren, dass sie mich auf eine gewisse Art verletzt hat, da sie sanft lächelnd zu mir kommt und eine Hand auf meinen Oberarm legt. »Schätzchen, ich vertraue dir wie keinem anderen Menschen. Du hast mir in all den Jahren bewiesen, dass ich mich auf dich verlassen kann. Selbst wenn es hart auf hart kommt. Aber es gibt Dinge, die ich vor dir genauso wie vor allen anderen verheimliche, weil ich euch nicht beunruhigen möchte.«

»Schon gut«, meine ich und winke ab. »Das Wichtigste ist aber, dass Sie sich schonen. Das meine ich ernst.«

Sie lächelt ihr locker-junges Lachen, und sofort weiß ich, dass sie die Situation nicht annähernd so ernst nimmt wie ihr Arzt oder ich. »Unkraut vergeht nicht. Aber da meine Tochter unglaublichen Druck macht, kann ich es nicht mehr aufhalten. Ich muss Benjamin herkommen und ihn die Tradition unserer Familie fortführen lassen und mich damit abfinden, seine Hilfe anzunehmen.«

Ich kenne Ellies einzige Tochter nur sehr flüchtig. Sie wiederum wird wohl überhaupt keine Erinnerung an mich haben, wozu sie ja auch gar keinen Grund hat, bin ich ja doch nur eine Angestellte der Familie. Ich denke aber, dass jemand, der es wagt, Ellie in die Schranken zu weisen, ziemlich energisch und mit einer großen Durchsetzungskraft gesegnet sein muss. Laut Ellies Erzählungen ist die gesamte Familie eine einzige Brut von Dickköpfen und Schwachsinnigen – so behauptete sie es zumindest einmal. Mit der Beschreibung kommt sie meiner eigenen Familie im Übrigen auch sehr nahe.

»Und bei dir, Liebes? Ebbt der Umzugsstress langsam ab?«

Um mich vor einer Antwort zu drücken, ziehe ich an dem gestärkten Kragen meines weißen Hemdes, das ich unter dem grauen Wollkleid trage. Dabei fällt mir ein, dass ich unbedingt die Heizung zurückdrehen muss. Irgendjemand – entweder die Putzfrau oder der Hausmeister – dreht sie jeden Tag auf die höchste Stufe.

Doch da Ellie mit ihren Augenbrauen zu zucken anfängt, seufze ich schließlich und verschränke meine Hände vor meinem Bauch. »Jeder Umzug ist chaotisch. Aber manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich das Privileg, von nervigen Dingen am häufigsten heimgesucht zu werden, für mich gepachtet. Mein Mann hält sich sowieso aus allem raus und ist den ganzen Tag im Büro. Sie dürfen mich natürlich gerne einmal besuchen kommen, Ellie, aber damit müssen Sie bestimmt noch ein Jahr warten. Ich will nämlich nicht, dass Sie mich für einen Messie halten.«

Sie lächelt. Sie hat aber auch wirklich überhaupt keine Ahnung, wie es im Moment bei mir zu Hause aussieht. Hätte sie sich nämlich bereits ein Bild von meiner Küche oder von meinem Bad machen dürfen, hätte sie sofort die Hände über den Kopf zusammenschlagen.

»Ich werde mich wohl nach einer Haushaltshilfe umsehen müssen«, denke ich laut und versuche, mich zu erinnern, wer von uns beiden – also Kyle oder ich – die Idee gehabt hat, in ein gottverdammtes Haus mit Garten zu ziehen.

 »Du hast in den letzten Tagen sehr hart gearbeitet, Josie. Warum gehst du heute nicht früher nach Hause, überraschst deinen Mann mit einem guten Essen und gönnst dir einfach einmal etwas Ruhe?«

Der Vorschlag klingt ... verlockend. Doch beim Anblick der Arbeit, die sich auf meinem Schreibtisch türmt, bleibt es fraglich, ob es vernünftig ist, Ellies Angebot anzunehmen. »Ich fürchte, das geht nicht«, sage ich daher und lasse die Schultern hängen. »Ich habe zu viel zu tun.«

»Ach was«, widerspricht mir Ellie und schnappt sich meine Jacke, die ich über die Lehne meines Schreibtischsessels geworfen habe. »Wenn ich in meinem Leben eins gelernt habe, dann das: dass man ab und zu einfach mal Ruhe geben und die Arbeit Arbeit sein lassen muss.«

Nur eine Sekunde später hängt meine dünne dunkelblaue Wolljacke über meinen Schultern, und ich blicke in Ellies entschlossenes Gesicht. »Das ist eine überaus schlechte Idee.«

»Ja, ja. Geh jetzt. Ich will nichts mehr hören.«

Ganze 30 Minuten später parke ich meinen Audi in unserer Einfahrt. Wir haben zwar eine Garage, doch dort befindet sich momentan ein Möbellager, bestehend aus verschiedenen Stücken, für die Kyle und ich noch nicht den passenden Platz gefunden haben. Das wiederum hängt wohl auch damit zusammen, dass unser Geschmack mehr als unterschiedlich ist. Während ich es liebe, auf Flohmärkten nach alten Schränken und Stühlen zu stöbern, kann es Kyles Meinung nach nicht modern genug sein. Er meint, ich selbst sollte einen Flohmarkt in unserer Garage veranstalten, damit wir ein Problem weniger hätten.

Im Augenblick sind mir die Möbel egal, ich freue mich ganz einfach nur, daheim zu sein. Es ist gerade einmal zwei Uhr nachmittags, dank Sonne offenbart sich mir ein wundervoller Frühlingstag, und ich habe vor, mich mit einer Kanne Tee, meinem neuen Buch und einer Decke, auf die Couch zu schmeißen. Kyle wird überrascht sein, mich zu Hause vorzufinden, wenn er später von der Arbeit kommt.

Während ich den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger drehe, hole ich die Post aus dem Briefkasten, klemme sie mir unter den Arm und schließe die Haustür auf. Noch immer riecht es nach frischer Farbe, neuen Möbeln, und ich fühle mich wie berauscht, sicher zu wissen, dass – zumindest im Augenblick – hinter keinem Bett oder Sofa Wollmäuse leben. Das Haus wurde in den Fünfzigerjahren erbaut. Zu dieser Zeit wurde der gesamte Stadtteil modernisiert. Wo früher alte Fabriken standen, die dem Stadtbild einen schäbigen Touch verpassten, wurde also alles plattgemacht und neu aufgebaut. Unser Haus ist gemütlich, mit kleinen Räumen – es gibt genügend Platz, um eine ganze Schar Kinder einzuquartieren. Der Flur wird im vorderen Eingangsbereich durch eine kleine Mauer zu jeweils beiden Seiten begrenzt. Weiße Säulen bilden die Ecken, und über drei Stufen gelangt man nach oben in den langen, hellen Gang. Von dort geht die Treppe ins obere Stockwerk ab. Rechts daneben befindet sich die Tür zum Büro – das ist der Raum, den ich zu meinem eigenen Wohlwollen nicht mehr betreten will.

Die erste Tür links ist die zur Küche, danach kommt jene zum Esszimmer, und am hinteren Ende befindet sich das Wohnzimmer. Ich steuere die erste Tür an, weil ich Durst habe und etwas trinken möchte, bevor ich mich umziehe, um meinen Allerwertesten auf die Couch zu pflanzen.

Gemeinhin sagt man ja, dass Menschen tief in sich drin spüren, wenn sie sich in einer Ausnahmesituation befinden. Irgendein Impuls in unserem Inneren muss dafür verantwortlich sein. Er hat die Funktion, uns innerhalb weniger Augenblicke, Millisekunden, tausende Gedanken fassen zu lassen; abzuwägen, was Einbildung, Täuschung oder Fehlinterpretation sein könnte. In Filmen erklingt dafür eine bedeutungsvolle Melodie, der Held oder die Heldin verweilt mit der Hand an der Türklinke, und alles spielt sich in Zeitlupe ab, während lediglich bestimmte Bilder von Gesichtspartien, den Augen oder zitternden Fingern gezeigt werden.

Während ich plötzlich aus meiner gemütlichen Wolke plumpse, scannt mein Verstand die Szene, die sich mir gerade bietet: Da steht Kyle, dessen oberste Knöpfe an seinem Hemd geöffnet sind, außerdem trägt er weder Sakko noch Krawatte; und da steht eine Frau neben ihm, mit dunkler Wallemähne, die ihren Mund seltsam verzogen geöffnet hat.

Wären das nicht meine Küche, mein Mann und mein Weinservice, würde ich mich wohl mit leiser Stimme entschuldigen und verschwinden. Doch dieses spezielle Gefühl in mir sagt, dass hier irgendetwas auf keinen Fall mit rechten Dingen zugeht.

Ich mache einen Schritt nach vorne, muss daher die Tür loslassen, und fühle, wie meine Knie kurz nachgeben. »Du bist heute schon da?«, ist das Einzige, was mir einfällt. Ich wage nicht einmal, zu atmen, bin wie erstarrt.

Ich weiß, dass Kyle, wenn er anfängt, die Gründe zu erläutern, weshalb er eine für mich wildfremde Frau in unserer Küche geküsst hat, unserer Ehe mit einem Vorschlaghammer beenden wird. Ich muss zugeben, dass der Kuss, den ich soeben habe beobachten müssen, zivilisiert gewesen ist – kein stürmischer Überfall ihrerseits. Ich kenne Kyles Küsse, die sind immer vorsichtig, zurückhaltend. Nie hat er seiner Begierde deutlich nachgegeben. Das mag an seinem guten Elternhaus liegen. Seine Mutter hat immer mehr Wert auf Etikette als auf Gefühle gelegt. Er und sein Bruder wurden zu Gehorsam und Perfektion trainiert. Das Resultat dieser Erziehung ist, dass er bis heute nicht über seine Emotionen sprechen kann. Ich habe das nie als derart störend oder schlimm empfunden. Immerhin habe ich ihn mir ja freiwillig ausgesucht; ich wusste sozusagen, auf welchen Typ Mann ich mich einlasse. Doch heute, da er diese Frau direkt vor meinen Augen geküsst hat und ich mich plötzlich unweigerlich mit der Frage nach seinem Charakter auseinandersetzen muss, ist wohl unsere Beziehung auf einen Schlag in Frage gestellt.

»Ich ... Joanna, Schatz«, beginnt er zu stottern und windet seine Hand aus ihrer. »Es ist nicht ... ich kann alles erklären.«

»Ach ja?«, fahre ich ihn an, da ich langsam meine Fassung wiedergewinne.

Die Frau, die mit ihrer bloßen Anwesenheit in unserem Haus nun den kümmerlichen Anfang von so etwas wie dem Gefühl, daheim zu sein, zerstört hat, blickt unsicher zu meinem Mann – ja, meinem Mann! –, ehe sie ihre Handtasche an sich nimmt und dabei ist, zu flüchten. Vermutlich will sie nicht Teil unserer Unterredung werden, obwohl sie der Auslöser dafür ist. Sie sieht blass aus, als sie näher kommt und mich vorsichtig ansieht, als sei ich ein wildes Tier, das man ablenken muss, um sich an ihm vorbeischleichen zu können. Und tatsächlich würde ich am liebsten die Zähne fletschen oder knurren, um ihr ein akustisches Echo meiner unglaublichen Wut zu geben. Doch kaum hat sie die Tür, die ich nun nicht mehr blockiere, im Visier, stürmt sie davon und hinterlässt lediglich eine süßlich duftende Parfümwolke.

Zurück bleiben Kyle und ich. Er ist mein Mann. Meine bessere Hälfte. Der Mensch, der mir am Tag unserer Trauung schwor, mich für immer und ewig zu lieben, mir treu zu sein und meine Sorgen, zu seinen werden zu lassen. Kyle ist ... oder war, das trifft es wohl besser, der Mensch, der mich vollkommen gemacht hat. Er hat es geschafft, die Lücke, die meine Mum hinterlassen hat, zu füllen. Mein Leben war, bevor meine Mum so plötzlich verstorben ist, geregelt, erfüllt und glücklich. Ich hatte Träume und Ziele. Ich war ein Kind, vielmehr schon ein Teenager, und brauchte nichts so dringlich wie eine Mum, die für mich da ist, wenn sich die ersten körperlichen Veränderungen des Erwachsenwerdens bemerkbar machen. Aber gerade dann hat sie uns verlassen. Ich schäme mich, das zu sagen, aber ich war in den Tagen nach ihrem Tod so furchtbar wütend auf sie. Ich erinnere mich noch, wie mein Dad sie, also vielmehr ihren Leichnam, aus der Klinik nach Hause bringen ließ. Sie lag in einem Sarg, trug ihr hübsches weißes Kleid, das sie nur wenige Tage zuvor zu Susys Geburtstag angehabt hatte. Ihr Haar, an dessen Geruch ich mich selbst heute noch erinnere, war offen und hing ihr in sanften Wellen über die Schultern. Ich stand also vor ihrem Sarg und betrachtete die Frau, die aussah wie die leere Hülle meiner Mutter. Die Frau, mit der ich nur vier Tage zuvor einen heftigen Streit gehabt hatte, in dem es darum gegangen war, wer für die Fütterung des Kaninchens verantwortlich war. Ich schrie sie an, tobte wie eine Wilde und knallte schlussendlich die Tür meines Zimmers zu. Ich hatte sie eine dumme, engstirnige Frau, die nichts zustande gebracht hat, als drei Kinder zu kriegen, genannt. Das hatte sie tief verletzt, und ich habe mich nie dafür entschuldigen können.

Aber als ich vier Tage später vor ihrem offenen Sarg stand, da war ich einfach nur wütend. Ich hätte mich entschuldigen, hätte schluchzen können, wie Martin es tat. Ich hätte vielleicht auch genauso steif wie Dad dastehen können. Susy verstand das alles gar nicht. Sie war viel zu klein. Doch während um mich herum die Welt aus den Fugen geriet, stand ich trotzig da und war nur stinksauer auf sie. Als wäre das ihre Retourkutsche für das von mir Gesagte gewesen. Ich erinnere mich, dass ich zu ihr, ihrem Leichnam sagte, ich würde genauso gut ohne sie zurechtkommen, und sie solle da oben im Himmel, oder wo auch immer sie ist, ihren verdammten Spaß haben.

Heute schäme ich mich dafür, aber ich war ein unreifer Teenager, der natürlich völlig unter Schock stand. An diesem Tag aber, da verlor ich schlagartig die Leichtigkeit in meinem Leben und fand sie, glaube ich, erst wieder, als ich Kyle Jahre später traf.

Doch nun, in meiner neuen Küche, gerät meine solide verankert geglaubte Welt erneut ins Wanken. Wie bei einem Gewitter erwarte ich, dass die Wände zu wackeln beginnen und der Putz herabfällt. Doch nichts passiert. Gar nichts.

Da steht nur Kyle, der mich mit angehaltenem Atem ansieht.

»Na gut«, sagt er schließlich, steht auf und nestelt an seinem von mir so akkurat gebügelten Hemdärmel herum. »Es ist vorbei, Joanna. Ich will die Scheidung.«

»Wie bitte?!« Ich bin völlig entrüstet, weil Kyle, seitdem ich ihn kenne, noch niemals etwas so bestimmt, mit solchem Nachdruck, gesagt hat wie gerade eben.

Er nickt, als brauche er diese Bestätigung selbst. »So ist es, ja. Ich empfinde nicht mehr dasselbe für dich wie früher. Es tut mir leid, dass es so brutal passieren muss, aber ich kann einfach nicht mehr so weitermachen.«

»Wir haben vor einem Jahr geheiratet ... hast du den Verstand verloren?!«

Gut, ich brülle ihn an. Es geht in solchen Situationen einfach völlig mit mir durch, weil ich das Gefühl habe, durch meine freigelassene Wut, eine Verletzung von mir selbst zu verhindern. Das ist so ein Tick, den ich an mir hasse, weil ich andere Menschen damit schier überfahre und eigentlich eh keinen Nutzen davon habe.

Kyle scheint das ähnlich zu sehen, denn er schließt die Augen, als ich nach Luft schnappend kurz innehalte und meint nur kühl: »Du wolltest die Hochzeit, vergiss das nicht.«

»Du hast mir einen verdammten Antrag gemacht, Kyle.«

»Ja, weil du es so wolltest. Genauso wie du in diesem kitschigen Schloss heiraten, ein Häuschen und darin grüne Wände haben wolltest. Alles dreht sich immer nur um dich, um deine Wünsche, deine Sorgen, deine Ängste. Joanna dies, Joanna das. Joanna und ihr Job, der sie so fertigmacht, dass sie es nicht schafft, für uns zumindest jeden zweiten Abend Essen zu machen. Joanna und ihre nervige Launenhaftigkeit – einmal will sie zurück nach London, dann wieder doch nicht. Ich habe es satt, habe dich satt, so leid es mir tut.«

Völlig sprachlos und mit großen Augen starre ich ihn an. Für Kyles Verhältnisse war dies ein epochaler Gefühlsausbruch. So etwas erlebt man wohl nur einmal in seinem Leben und eigentlich wäre ich froh, hätte ich auf dieses Erlebnis verzichten dürfen.

»Oh, und aus diesem Grund dachtest du, es sei auch nur ein kleines bisschen hilfreich, mich mit irgendeiner blöden Schlampe in meinem Haus zu betrügen, anstatt einfach einmal, rechtzeitig deinen Mund aufzumachen. Wie unendlich weise von dir, du Mistkerl!«

»Ich weiß, es hätte alles anders laufen sollen«, erklärt er zu meiner Überraschung und hebt beschwichtigend beide Hände, da ich tatsächlich kurz vorm Durchdrehen stehe. »Ich will mich auch gar nicht streiten oder meine Handlungen beschönigen. Es war falsch von mir, dich so zu hintergehen, aber ich brauchte wohl so etwas wie diesen Befreiungsschlag, um zu merken, dass ich nicht glücklich bin.«

»Nicht glücklich?«, wiederhole ich mit tonloser Stimme und fange an, meine Erinnerungen nach irgendwelchen prägnanten Ereignissen, die mich eigentlich in Alarmbereitschaft hätten versetzen sollen, abzusuchen. Man wird nicht von einem Tag auf den anderen unglücklich oder wacht morgens auf und denkt sich, dass man ausgerechnet heute, etwa an diesem warmen Frühlingstag, seine Frau betrügen will. Das alles entwickelt sich langsam, von Tag zu Tag. Kyle und ich, so war zumindest meine Empfindung, haben nie schwerwiegende Probleme gehabt. Wir haben uns, so wie viele andere Paare, mit Kleinigkeit herumgeschlagen. Der Unordnung des anderen, verpassten Terminen oder wenn einer von uns vergessen hatte, Milch zu kaufen. Alltäglicher Kram, der mich zumindest niemals veranlasst hätte, Kyle zu verteufeln oder gar zu betrügen.

Was also ist geschehen, dass Kyle diesen Weg eingeschlagen hat? Worin habe ich versagt?

Und als würde mir das Schicksal den Stinkefinger zeigen, schafft es Kyle, selbst in dieser Situation, höflich und sachlich zu bleiben, während ich ihn sogleich einen Mistkerl genannt und losgeschrien habe.

»Viele sagen, die Ehe sei ein Fluch«, fährt er ziemlich kryptisch fort. »Ich habe mich mein Leben lang von Frauen unterdrücken lassen. Das ist mir jetzt auch bewusst.«

Als er das sagt, beginne ich, wie eine Verrückte zu lachen. Ich lache so stark, dass mir vereinzelt Tränen über die Wangen laufen und ich meinen Bauch halten muss. Kyle sieht mich fragend an.

»Was ist daran witzig?«, kann ich ihn durch meinen Lachanfall fragen hören.

Ich wedle mit einer Hand ab und versuche, mich irgendwie wieder zu beruhigen. »Nichts, Kyle. Gar nichts.«

Er seufzt. »Sag schon. Warum lachst du?«

»Weil du der wohl größte Schlappschwanz aller Zeiten bist und es gerade laut und deutlich eingestanden hast.«

»Ich verstehe nicht ...«, spielt er den Unwissenden.

»Du hättest, wenn ich nicht gerade hier hereingeplatzt wäre, niemals die Eier gehabt, mich zu verlassen.« Doch während meines nächsten Satzes wird meine Stimme wieder ernst. »Du bist jämmerlich, Kyle. Ein widerlicher kleiner Spießer mit einem Stock im Arsch. Anstatt dich einmal mit mir über die Dinge, die dich ganz offensichtlich stören, zu unterhalten, gehst du einfach fremd. Für jemanden, der derart wohlerzogen zu sein scheint, hast du dich wie ein absolutes Arschloch verhalten.«

»Gut«, schnaubt er und klingt wie ein beleidigtes kleines Kind, das akzeptieren muss, doch nicht ins Schwimmbad fahren zu dürfen.

Mein anfänglicher Schock ebbt schlagartig ab, als ich seinen Gesichtsausdruck sehe. »Du packst sofort deine verfickten Sachen, siehst zu, dass du so schnell wie möglich Land gewinnst, und Kyle: Ich schwöre dir, ich werde dich fertigmachen – jedes verdammte Mal, wenn wir uns sehen.«

»Mir war klar, dass du austicken wirst. Das ist ja schließlich mehr oder minder immer deine Art gewesen, mit mir zu kommunizieren.«

»Bist du noch bei Trost?«, schnauze ich ihn unwirsch an und bestätige damit vermutlich nur seine Anschuldigung. Doch im Augenblick ist mir das und Kyles Meinung über mich herzlich egal. »Wie hätte ich mich denn sonst verhalten sollen?«

»Du könntest an dir arbeiten, Joanna.«

»Danke, das habe ich auch vor, jetzt, da ich wieder Single bin. Ich werde mein Leben in vollen Zügen genießen – ohne dich.«

Er schüttelt verächtlich den Kopf. »Du willst also nicht einmal versuchen, unsere Beziehung wieder zu kitten?«

»Nein«, brülle ich und spüre regelrecht das Platzen feinster Äderchen in meinem Gehirn. »Ich bin womöglich offen und kann über gewisse Dinge hinwegsehen. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann das: dass ich nicht mit hintertriebenen Menschen zusammen sein will. Es gibt nichts, gar nichts mehr, an dem wir arbeiten könnten. Wenn je etwas da war, dann hast du es in dem Moment, als du diese Tussi da in unsere Küche geschleppt hast, vernichtet.«

Eine halbe Minute sehen wir uns gegenseitig an, während ich zunehmend fühle, wie mein Körper kribbelig wird. Als würden Beine und Arme ein Eigenleben entwickeln oder von winzig feinen Stromstößen durchzogen werden. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen und das Ticken der Wanduhr hinter Kyle. Als er schließlich den Kopf senkt und die Fliesen unter seinen Füßen betrachtet, atme ich tief ein.

»Ich habe sie vor unserer Hochzeit kennengelernt«, murmelt er in Richtung seiner Schuhe, die wie immer auf Hochglanz poliert sind. Wahrscheinlich kann er sich selbst darin sehen. Und für jemanden, der sogar bei einem simplen Schnupfen glaubt, er hätte Leukämie im Endstadium, muss sein Gesichtsausdruck fürchterlich mitleiderregend wirken. Vermutlich fragt er sich, warum ich, die böse, knallharte Joanna, ihn nicht schon längst in die Arme genommen und ihm dabei überschwänglich verziehen habe.

So denkt er wirklich. Das hat er schon immer getan. Er kann nicht mal etwas dafür, weil seine Eltern jeden seiner Wünsche erfüllt haben, um ihn bei Laune zu halten, während er dem straff getimten Wochenplan seiner Mutter verhaftet war. Er hatte andauernd Folge zu leisten, und wenn er einmal auszubrechen versuchte, bekam er etwas geschenkt, das ihn wieder zu »Vernunft« brachte, wie er mir einst erzählte.

Doch bei mir zieht die Masche nicht, und darum will er mir jetzt entweder endgültig das Herz brechen, indem er mir berichtet, dass er mit dieser Schnalle schon vor unserer Hochzeit was am Laufen hatte, oder er will tatsächlich einfach nur reinen Tisch machen.

»Sie kam in unsere Kanzlei, weil sie jemanden brauchte, der sie im Streit mit ihrem Ex um ihren Sohn unterstützt. Ich habe sie vor Gericht vertreten, und wir haben gewonnen. Letzte Woche habe ich sie zufällig in der Bäckerei, in die ich morgens immer gehe, wiedergetroffen. Wir haben einen Kaffee getrunken und uns auf Anhieb gut verstanden ... es tut mir leid«, schließt er seine Ausführung ab und erspart mir somit all die verletzenden, hässlichen Details.

Dennoch hilft mir das alles nicht wirklich, um zu begreifen, was im Laufe unserer Ehe und Beziehung passiert ist, damit eine Frau, die er in einer verschissenen Bäckerei trifft, was faktisch täglich vorkommt, sein sexuelles Interesse weckt. »Ich begreife es nicht«, sage ich daher. »Ich begreife nicht, wie unser beider Auffassungsvermögen über die Gesundheit unserer Ehe so unterschiedlich sein kann. Denn ich war glücklich.«

Langsam schüttelt er den Kopf. »Das warst du nicht, Joanna. Spätestens, wenn du alles einmal hast verarbeiten können und über uns nachgedacht haben wirst, wirst du das begreifen.«

Und dann, zum ersten Mal seit Jahren, lässt Kyle mich nicht nur sprachlos, sondern auch alleine zurück. Mit Schrecken stelle ich fest, dass wir in der ganzen Zeit kaum je einen Abend getrennt voneinander verbracht haben. Er war immer da. Und jetzt ... ist er weg.

Für immer.

Kapitel 1

September – Joanna

Da ich wenig bis gar nichts von Frauenzeitschriften, aber noch sehr viel weniger von ewig dauernden Wartezeiten bei Fachärzten halte, kann man sich vorstellen, wie mies meine Laune ist, nachdem ich eine Stunde lang durch sämtliche Schmierfetzen geblättert habe, um schlussendlich bei einer dieser feldstudienhaften Typbestimmungen zu landen. Alleine, um mir selbst zu beweisen, wie immun ich gegen solch wohlgemeinte Ratschläge bin, habe ich diesen Test gemacht, während Dr. Canto hinter der weißen Tür im Schneckentempo die Patienten abgefertigt hat. Wie sich herausstellt, bin ich eine mit Komplexen beladene Bitch – zumindest laut diesem Test und dank meiner Posttrennungsmelancholie.

Selbst nach der Untersuchung bei Dr. Canto und während ich nach Hause fahre, zermartere ich mir mein Ach-so-gebildetes-Gehirn darüber, wie viel Wahrheit wohl in diesem Testergebnis stecken mag. Ich mag schon fast glauben, eine, weltoffene und glückliche Persönlichkeit in der Blüte ihrer Jugend zu sein, als es, während ich eine Flasche Wein entkorke, an der Tür klingelt. Ich entscheide mich, schnell noch einen kräftigen Schluck zu nehmen, da Gespräche mit meiner Nachbarin, die seit der Trennung von Kyle epische Längen annehmen können und etwas Rotwein im Blut dabei bestimmt nicht schaden kann. Sie ist ja nett, aber ... ich mag nette Menschen nicht. Vor allem jene, die glauben, mich mit Apfelkuchen, Schokokuchen und selbst gebackenem Brot von ihrer Empathie gegenüber der ganzen verdammten Welt beglücken zu müssen. Mrs O’Shannon versucht mich, abhängig von ihren Backkünsten zu machen.

Als ich jedoch mit einer vorbereiteten Entschuldigung auf den Lippen, weshalb ich heute unmöglich auch nur länger als eine Millisekunde in der offenen Tür stehen kann, öffne, ist meine Reaktion in Anbetracht des Essens in weißen Taschen und des freudigen Grinsens auf dem Gesicht der mir gegenüberstehenden Personen die, dass ich einfach die Tür vor ihrer Nase zuschlage.

»Ich will nichts von euch. Verschwindet«, schimpfe ich durch die geschlossene Tür hindurch.

»Wir haben asiatisches Essen. Ich weiß, dass du das magst.«

Verdammt, und wie ich das tue. In mir drin findet ein epochaler Kampf statt. Asiatisches Essen versus diese Schachtel – meine Schwester –, die mich mit ihrem nervigen Small Talk aufmuntern möchte und die ihren scheißmegaheißen Typen dabei hat, der höchstwahrscheinlich dazu gezwungen wurde, seiner verrückten Schwägerin Gesellschaft zu leisten.

Ich hake die Kette ein und öffne die Tür lediglich einen Spaltbreit. »Warum gerade heute?«, frage ich mit spitzer Stimme und versuche, in die Augen meiner Schwester anstatt auf den weißen Papiersack zu blicken.

»Einfach so ... weil wir in der Gegend waren.«

»Aha, wo denn bitte?«

»Ich dachte, wir sind hier, weil heute ihr Jahrestag wäre«, meldet sich Dan an Susy gewandt, von einem Fuß auf den anderen tretend, zu Wort.

Prompt kassiert er einen Rippenboxer.

»Kommt gut nach Hause«, wünsche ich ihnen und schließe die Tür wieder.

Während ich mich mit dem Rücken dagegen lehne, kann ich sie gedämpft diskutieren hören. Bestimmt bekommt Dan einen Vortrag von Susy, weil er ihren Plan durchkreuzt hat. Auf eine gewisse Art finde ich es ja sogar rührend – nicht nur die beiden zusammen, sondern ihre Fürsorge mir gegenüber. Nach unserem Hochzeitstag ist unser ehemaliger Jahrestag jener von mir mit größtem Schrecken erwartete Tag. Um nicht wie ein gruseliger Zombie durch die Gegend zu laufen, habe ich mir freigenommen, und es kann durchaus sein, dass ich Susy gegenüber ein- oder zweimal erwähnt habe, wie wenig Lust ich darauf habe, in das wohlbekannte schwarze Loch zu fallen. Genau aus diesem Grund ist sie wohl an diesem grausigen Mittwochabend extra von London hierhergekommen.

Sie tut es für mich, denke ich, und beschließe, mich nicht mehr länger, wie ein Arsch zu verhalten. Ich ziehe die Kette aus der Verankerung und öffne die Tür gerade in dem Augenblick, als Dan meiner kleinen Schwester den Vogel zeigt. »Kommt rein, bevor meine Nachbarn euer präsexuelles Geplänkel miterleben und ich unweigerlich da mit reingezogen werde.«

»Tut mir echt leid«, meint Dan, als er an mir vorbei in mein Singlehaus tritt.

»Ach ...«

»Du brauchst dich überhaupt nicht zu entschuldigen, Daniel«, unterbricht Susy uns aus der Küche. »Sie hat den Tisch immer noch nicht aufgestellt. Was ist mit dem Bett?«

Das Bett ... dieses blöde Bett. Wie sehr ich dieses Bettthema hasse. »Es ist ... nun ja.« Meine Erklärungsversuche geraten ins Stocken, während ich, gefolgt von Daniel, die Küche, in der Susy das Essen auf Teller verteilt, betrete. Ich weiß, dass ich, seit Kyle weg ist, wobei ich ihn ja vor die Tür gesetzt habe, in einer Art tiefer Unausgeglichenheit feststecke. Ich bin lethargisch, unmotiviert, müde und antriebslos. Dinge, die mir früher Freude gemacht haben, interessieren mich nun kaum bis gar nicht. Dabei geht es nicht einmal so sehr um Kyle. Klar vermisse ich ihn und die Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Aber viel häufiger beginne ich, mich zu fragen, ob ich nicht vielmehr meinen positiveren Allgemeinzustand, den ich mit Kyle an meiner Seite hatte, vermisse.

»Joanna, du schläfst seit Wochen auf einer ausklappbaren Couch im Gästezimmer.«

Wie kleinkariert. »Du hast wochenlang im Gästezimmer unseres Bruders geschlafen.«

»Ja, aber das hier ist dein Haus.«

In mir drin murrt die dunkle, rechthaberische Stimme: Nicht mehr lange. Aber ich weiß mit einhundertprozentiger Sicherheit, dass ich das Haus, in das ich mich verliebt habe, nicht wegen Kyle oder unserer Trennung verkaufen werde.

»Wir müssen im Wohnzimmer essen«, erkläre ich sinnloserweise, als wäre es nicht offensichtlich, dass anstelle eines intakten Tisches ein halb aufgerissener Karton vorzufinden ist. Ich habe alle Dinge, die unmittelbar mit Kyle und dieser Frau zu tun hatten, also den Tisch und mein verdammtes Weinservice, weggeworfen. Wobei zwischen dem allgemeinen Wegwerfen, also dem Abbau und Vor-die-Tür-Stellen, und dem Wegwerfen unter Tränen während eines Wutanfalls Welten liegen. Denn bei letzterem habe ich Dinge zertrümmert und vor die Tür geschleudert und dabei nur knapp die Nachbarin verfehlt, die zu dieser Zeit dabei war, ihren verblühten Lavendel abzuschneiden.

»Du musst auf die Beine kommen. Ich weiß, dass es schwer ist, Joanna, aber das Leben geht weiter«, plaudert meine Schwester munter fort, und ich frage mich, wieso sie plötzlich so tut, als sei sie im Besitz des verdammte Steins der Weisen. »Nicht wahr?!«

Dan bekommt, begleitet von einem unübersehbaren Augenrollen, einen leichten Stupser gegen die Schulter. »Genau.«

Ich sehe ihn stirnrunzelnd an, während Susy die Augen verdreht und seufzt. »Was er und ich sagen wollen: Wir werden immer für dich da sein, aber du musst anfangen, deine Wut und deine Trauer zu überwinden.«

»Ich kann dir, während ihr esst, den Tisch zusammenbauen«, schlägt Dan vor und sieht nun erstmals ehrlich motiviert aus.

Auch wenn ich mir das niemals eingestehen würde – sogar ich bin auf die Tatkraft eines Mannes angewiesen. Vor allem in meinem Haus. Es gibt so viele Dinge, die ich mich nicht traue oder die ich nicht kann. Dass Dan diesen Tisch nun zusammenbauen wird, ist tatsächlich befreiend. Ich sehe den Karton jeden Tag, doch immer wieder schiebe ich die Aufgabe vor mir her.

»Das wäre so toll«, antworte ich daher und lächle ihn gerührt an.

Er lächelt zurück. »Dafür sind wir ja da. Kapiert!«

Einmal mehr kann ich verstehen, weshalb Susy diesen Mann so sehr liebt. Ich habe ihre Liebesgeschichte zwar nicht von Anfang an bewusst miterlebt, weil sie ein derartiges Geheimnis daraus gemacht haben. Aber ich weiß trotzdem, wie schwer es für beide war, Gefühle zuzulassen, die sie eigentlich nicht haben dürften. Bei ihnen scheint die Mischung aus Freundschaft und Leidenschaft zu stimmen. Immer, wenn ich sie sehe, stelle ich fest, dass sie beste Freunde und doch auch ein Liebespaar sind. Wahrscheinlich hat Kyle und mir diese Essenz gefehlt.

Während Dan meinen neuen Tisch zusammenbaut, essen Susy und ich im Stehen das von ihnen mitgebrachte Essen. Dan stellt sich gar nicht einmal so ungeschickt an, muss sich aber dennoch die ein oder andere Bemerkung meiner Schwester gefallen lassen. Und anders als erwartet, lenkt mich die Anwesenheit der beiden tatsächlich ab. Ich vergesse zunehmend, dass heute dieser eine spezielle Tag ist. In den Jahren zuvor sind Kyle und ich an unserem Jahrestag immer ausgegangen. Wir waren essen, gingen ins Kino, und ganz am Anfang sind wir sogar für ein Wochenende weggefahren. Wir mieteten uns ein Ferienhäuschen, und obwohl wir fest vorhatten, wandern zu gehen, verbrachten wir die meiste Zeit im Bett. Mit einem wehmütigen Lächeln muss ich an diese Leichtigkeit zurückdenken, die ich damals empfand. Während man in einer bestimmten Situation ist, scheint alles wie in einem Film abzulaufen, ganz problemlos. Doch erst, wenn man sich später darüber Gedanken macht, merkt man, wie perfekt alles damals war.

Als ich Dan dabei beobachte, wie er den Tisch auf die Beine stellt und den Stuhl, den Kyle und ich auf einem Flohmarkt in Notting Hill gekauft haben, näher rückt, bricht der Damm, den ich mir Stück für Stück aufgebaut habe. Ich stelle meinen Teller laut klirrend in die Spüle, schluchze einmal auf und flüchte aus der Küche, nicht wissend, wohin ich mich verkriechen soll.

Denn alles, einfach alles erinnert mich an die wohl schönste Zeit meines Lebens, die endgültig vergangen ist. Ich stelle fest, dass es verdammt scheiße ist, verlassen zu werden. Es ist wie eine offene Wunde auf der Haut. Kaum bildet sich eine Kruste, bricht sie bei der geringsten Bewegung wieder auf und blutet. Am Treppenabsatz holt Susy mich ein. Wie ein Sack Kartoffeln sinke ich zusammen, reiße meine Schwester dabei mit und beginne, wie ein kleines Baby zu weinen.

Sie gibt mir Zeit und bleibt einfach bei mir sitzen, während in mir meine Gefühle eine rasante Achterbahnfahrt hinlegen. Irgendwann bricht es aus mir heraus. »Es ist falsch, alle Fehler bei mir zu suchen, das weiß ich. Aber ich tue es, weil ... weil ich nicht verstehe, wieso ich so blind sein konnte.«

Susy war in den letzten Monaten immer mit einem offenen Ohr und einer ehrlichen Meinung zur Stelle. Seit ich mich von Kyle getrennt habe, sehe ich sie in einem völlig anderen Licht. Vorher war sie meine kleine Schwester, die als Teenager ein totaler Nerd war, kaum Freunde hatte und dauernd Bücher las. Sie war wie ein Wesen von einem anderen Stern für mich. Ich habe sie immer schon geliebt und mich ihr verbunden gefühlt, weil ich früh für sie sorgen musste, doch mein Beziehungsende hat das Band zu meiner Schwester intensiviert. Vielleicht klammere ich mich zu sehr an sie. Sollte sie das stören, ist sie wenigstens so lieb und zeigt es zum Glück nicht.

»Menschen entwickeln sich«, höre ich sie sagen, während mein Kopf auf meinen Knien ruht. »Manchmal in unterschiedliche Richtungen. Kyle war immer still. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nie einen ganzen Satz von ihm gehört. Bis vor kurzem hat er deine, na ja, Offenheit hingenommen ... und jetzt eben nicht mehr.«

Ich stöhne, weil mich ihre Worte beinahe erdrücken. »Es ist meine Schuld«, jammere ich wie ein kleines Kind.

»Erinnerst du dich an den Vorabend eurer Hochzeit? Ich war am Boden zerstört, weil mich dieser miese Scheißer Daniel abblitzen ließ. Ohne erfindlichen Grund. Aber tief in mir wusste ich, dass ich nicht ehrlich zu Daniel und mir gewesen war. Jedenfalls hast du in dem Augenblick das einzig Richtige getan.«

»Ich habe dir in den Arsch getreten und gedroht, dich umzubringen, wenn du meine Hochzeit versaust«, antworte ich, blicke Susy dabei an und kann mir den Zerknautschungsgrad meines Gesichtes deutlich vorstellen. »Hättest du es doch getan ... meine Hochzeit manipuliert. Dann müsste ich mich jetzt nicht durch Scheidungspapiere quälen. Was nicht schlimm wäre, wäre mein Ex-Ehemann nicht Anwalt.« Diese Tatsache ist so frappierend-witzig, tragisch und schräg, dass ich jedes Mal, wenn ich daran denke, lachen muss.

»Was ich sagen will«, fährt Susy ungerührt fort. »Dein Arschtritt hat mir geholfen, mehr, als wenn du mich bemitleidet hättest. Ich verstehe dich, Joanna, deinen Schmerz, deine Wut und deine Enttäuschung. Aber immer, wenn ich dich sehe, bekomme ich Aggressionen.«

»Im Ernst?«

»Ja. Ich würde am liebsten deinen Schädel gegen irgendetwas schlagen, damit du zur Vernunft kommst.«

»Das wäre eine Straftat und denk daran, ich bin ... oh.« Und so zieht meine alte Drohung, mit einem Anwalt verheiratet zu sein, nicht mehr. Wie oft habe ich das meiner Familie gegenüber erwähnt? Tausend Mal – zu wenig. ›Ich will das letzte Stück Kuchen – denk daran, mein Mann ist Anwalt.‹

»Willst du ihn denn zurück?«, möchte Susy nach einer längeren Pause wissen.

Wie oft habe ich mir diese Frage gestellt? Ich gelte als selbstbewusste Frau und dachte eigentlich, dass ich zu klug wäre, um mich an der Nase herumführen oder verarschen zu lassen. Doch in meinem jetzigen Zustand befürchte ich, dass ich Kyle, sollte er nur lieblich genug betteln, durchaus eine zweite Chance geben würde. »Ich weiß es nicht ... ja ... nein ... kommt darauf an.«

»Auf was?«, blafft sie. »Darauf, wie tief oder wie lange er vor dir kniet? Wie rührend seine Worte sind, wenn er denn welche rauskriegt? Er ist ein Arschloch, Joanna, das dich betrogen hat – im ersten Ehejahr. Würde mir das passieren, würdest du mir, sollte ich so etwas nur denken, ordentlich den Kopf waschen.«

»Es ist nur ... du bist jung! Selbst wenn du wieder Single bist, hast du mehr als nur eine Chance, jemand anderes zu finden, bevor du deine Menopause erreichst. Ich wollte Kinder, eine Familie – all das ist nun in solch weite Ferne gerückt, dass ich nicht einmal mehr daran glaube, diesen Wunsch irgendwann tatsächlich erleben zu dürfen.«

»Du bist 30, Joanna.«

»Ja«, bestätige ich, auch wenn wir beide diese Tatsache unterschiedlich sehen. »Selbst wenn ich jetzt, hier und heute, einen Mann kennenlerne, dauert es Jahre, bis wir eine solide Beziehung aufgebaut haben, um Kinder zu haben. Dann bin ich 35 – Gott, ich werde eine dieser Schizo-Mütter, die wegen jeder Kleinigkeit in die Notaufnahme fahren, und deren Kinder Doppelnamen kriegen.«

Susy runzelt die Stirn und wirkt mehr als verwirrt. »Ich habe das Gefühl, wir driften langsam, aber sich ab. Das Grundthema war, ob du Kyle eine Chance gibst, und plötzlich hängt hier das Wort Familiengründung im Raum. Mir scheint, als würdest du als Nächstes verkünden, dass du vorhast, ein Kind zu adoptieren.«

Das wäre doch eine Möglichkeit, die ich ernsthaft überdenken sollte.

»Denk nicht mal daran«, weist mich Susy zurecht und streckt ihren Zeigefinger in meine Richtung. »Da draußen gibt es zig Männer, die nur so auf scharfe 30-jährige abfahren. Und selbst wenn du noch fünf Jahre Single bist – wen kümmert’s?«

Ja, wen kümmert’s? Während ich den Kopf drehe und an die Wand lehne, entfährt mit ein leiser, aber trotzdem undamenhafter Rülpser. »Vielleicht sollte ich mich echt mal betrinken.«

»Wann, bitte, habe ich davon gesprochen, dass du dich betrinken sollst? Außerdem finde ich rülpsen in Gesellschaft mehr als unhöflich.«

»Das stand doch zwischen den Zeilen.«

»Ah, nein. Sich zu betrinken ist immer falsch. Im betrunkenen Zustand macht man Dinge, die man spätestens am nächsten Tag fürchterlich ber–«

»Dan«, unterbreche ich die Weisheiten meiner Schwester mit lauter Stimme.

Als habe Dan die ganze Zeit nichts anderes getan, als auf irgendein Signal aus dem Flur zu warten, taucht er prompt auf. Aber nein, er hat inzwischen auch gegessen, wie ich feststelle, als er näherkommt und sich Reis vom Shirt wischt. »Ja?«, fragt er mit angebrachter Vorsicht.

»Wollen wir uns besaufen?«

»Daniel muss morgen arbeiten«, meint Susy und zieht die Augenbrauen hoch. Spießerin.

»Wer bist du, seine Mutter?« Und zu Dan gewandt: »Wollen wir? Bitte, bitte, bitte.«

Ich habe den Kerl längst in meinem Boot sitzen, aber weil in dem anderen seine Freundin das Ruder hält, tut er zumindest kurzzeitig so, als könne er sich nicht dafür entscheiden. »Ein Bier«, antwortet er zurückhaltend, doch weil ich sehr viel Zeit mit ihm und meinem Bruder verbracht habe und somit den internationalen Code der männlichen Sprache zu verstehen weiß, wird es nicht bei diesem einen Bier bleiben.