Tu es. Tu es nicht. - S.J. Watson - E-Book
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Tu es. Tu es nicht. E-Book

S.J. Watson

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Beschreibung

Du bist viel leichter zu manipulieren, als du denkst. Spiegel-Bestseller und subtiler Psychothrill der Extraklasse, das ist der zweite Thriller von S. J. Watson, dem Autor des Welterfolgs ›Ich. Darf. Nicht. Schlafen.‹ Sie liebt ihren Mann. Und ist besessen von einem Fremden. Sie ist eine gute Mutter. Und würde ihre Familie aufgeben. Sie weiß, was sie tut. Und gerät außer Kontrolle. Sie lebt zwei Leben. Und kann beide verlieren. Julia führt ein scheinbar gesichertes Leben mit Mann und Sohn in London. Da wird ihre Schwester brutal ermordet. Julia begibt sich auf eine gefährliche Suche – und gerät unaufhaltsam in den Sog des Verbrechens und der Vergangenheit.

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S. J. Watson

Tu es. Tu es nicht.

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungZitatTeil eins123456789Teil zwei10111213141516Teil drei171819202122Teil vier232425262728Teil fünf2930313233Danksagung

Für Alistair Peacock

und für Jenny Hill

Gott bewahre mich vor jenen Gedanken, die Menschen insgeheim denken.

W.B. Yeats

Teil eins

1

Ich gehe die Treppe hinauf, bleibe aber unsicher vor der geschlossenen Tür stehen. Jetzt, wo ich da bin, will ich nicht mehr hinein. Am liebsten würde ich mich auf dem Absatz umdrehen und nach Hause gehen. Es später noch mal versuchen.

Aber heute ist meine letzte Chance. Die Ausstellung läuft seit Wochen und geht morgen zu Ende. Also jetzt oder nie.

Ich schließe die Augen und atme so tief ein, wie ich kann. Ich konzentriere mich darauf, die Lunge zu füllen, ich straffe die Schultern, ich spüre, wie die Anspannung in meinem Körper beim Ausatmen verfliegt. Ich sage mir, dass ich nichts zu befürchten habe, ich komme regelmäßig her – treffe mich mit Freunden zum Lunch, sehe mir die aktuellen Ausstellungen an, besuche Vorträge. Diesmal ist es nicht anders. Nichts hier kann mir schaden. Es ist keine Falle.

Schließlich fühle ich mich stark genug. Ich drücke die Tür auf und trete ein.

 

Alles sieht aus wie immer – mattweiße Wände, schimmernder Holzboden, Deckenstrahler an Schienen –, und obwohl es noch früh ist, schlendern schon einige Leute umher. Ich schaue eine Weile zu, wie sie vor Bildern stehen bleiben; manche treten ein paar Schritte zurück, um sie besser betrachten zu können, andere nicken bei einer gemurmelten Bemerkung einer Begleitung oder lesen die Broschüre, die sie von unten mitgenommen haben. Es herrscht eine Atmosphäre gedämpfter Andacht, stiller Kontemplation. Diese Leute schauen sich die Fotos an. Sie mögen sie oder auch nicht, dann gehen sie nach Hause, zurück in ihr Leben, und werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach wieder vergessen.

Zuerst riskiere ich nur einen kurzen Blick auf die Wände. Rund ein Dutzend großformatige Fotos sind in Abständen aufgehängt, dazwischen ein paar kleinere. Ich sage mir, dass auch ich ein bisschen herumschlendern und so tun könnte, als würden mich alle interessieren, aber heute geht es mir nur um ein einziges Foto.

Es dauert einen Moment, bis ich es finde. Es hängt an der hinteren Wand, nicht ganz in der Mitte, neben zwei anderen Aufnahmen – einem Ganzkörperporträt von einem jungen Mädchen in einem zerrissenen Kleid und einer Nahaufnahme von einer Frau mit kajalumrandeten Augen, die eine Zigarette raucht. Sogar aus dieser Entfernung sieht es beindruckend aus. Es ist ein Farbfoto, bei natürlichem Licht aufgenommen, die Palette besteht überwiegend aus Blau- und Grautönen, und auf dieses Format vergrößert, wirkt es eindringlich. Die Ausstellung heißt »Nach der Party«, und obwohl ich das Foto erst richtig betrachte, als ich nur noch wenige Schritte entfernt bin, verstehe ich, warum es an einer so zentralen Stelle hängt.

Ich habe es seit über zehn Jahren nicht mehr angeschaut. Nicht richtig. Ich habe es gesehen, das ja – es machte zwar damals nicht unbedingt Furore, war jedoch in ein paar Zeitschriften und sogar in einem Buch abgedruckt worden –, aber ich habe es all die Jahre nicht betrachtet. Nicht von nahem.

Ich nähere mich ihm von der Seite und lese zuerst das Infoschildchen. »Julia Plummer«, steht da. »Marcus im Spiegel, 1997, Cibachrome-Abzug.« Das ist alles, keine biographischen Angaben, was mich erleichtert. Dann traue ich mich, den Blick auf das Bild zu richten.

Es zeigt einen Mann um die zwanzig. Er ist nackt, von der Hüfte aufwärts fotografiert, wie er sich im Spiegel betrachtet. Das Spiegelbild vor ihm ist im Fokus, er selbst jedoch nicht, und sein Gesicht ist schmal. Seine Augen sind zusammengekniffen, und sein Mund steht leicht offen, als ob er seufzt oder gerade etwas sagt. Das Foto hat eine gewisse Melancholie an sich, und es lässt nicht erahnen, dass der Mann – Marcus – bis zum Moment der Aufnahme gelacht hat. Er hat den Nachmittag im Bett mit seiner Freundin verbracht, die er genauso liebt wie sie ihn. Sie haben sich gegenseitig vorgelesen – Isherwoods Leb wohl, Berlin oder vielleicht Der große Gatsby, das sie schon kennt und er nicht – und Eis direkt aus der Packung gegessen. Sie waren entspannt, sie waren glücklich, sie waren geborgen. Ein Radio in ihrem Schlafzimmer auf der anderen Flurseite spielte Rhythm and Blues, und auf dem Foto hat er den Mund geöffnet, weil seine Freundin, die Frau, die auf den Auslöser drückte, mitsang und er gerade mit einfallen wollte.

Ursprünglich war das Foto anders. Die Freundin war mit im Bild, als Reflexion im Spiegel, über der Schulter des Mannes, die Kamera ans Auge gehoben. Sie war nackt, unscharf, verschwommen. Es war ein Porträt von ihnen beiden, damals, als Spiegelaufnahmen noch ungewöhnlich waren.

Ich mochte das Foto so. Sehr sogar. Doch irgendwann – wann genau, weiß ich nicht mehr, aber auf jeden Fall, bevor ich es das erste Mal ausstellte – änderte ich meine Meinung. Ich beschloss, dass es ohne mich besser wirkte. Ich entfernte mich aus dem Bild.

Ich bedauere das jetzt. Es war unehrlich von mir, das erste Mal, dass ich meine Kunst benutzte, um zu lügen, und ich möchte Marcus sagen, dass es mir leidtut. Alles. Es tut mir leid, dass ich ihm nach Berlin gefolgt bin und ihn dort zurückgelassen habe, allein in dem Foto, und dass ich nicht der Mensch war, für den er mich gehalten hat.

Obwohl es so lange her ist, tut es mir noch immer leid.

 

Es dauert lange, bis ich mich von dem Foto abwende. Ich mache solche Porträts nicht mehr. Heute fotografiere ich Familien, Connors Freunde, die zusammen mit ihren Eltern und jüngeren Geschwistern posieren, Aufträge, die ich über die Schule an Land ziehe. Ein Nebenverdienst. Woran nichts auszusetzen ist: Ich gebe immer mein Bestes, ich habe einen Ruf, ich bin gut. Ich werde zu Kindergeburtstagen eingeladen, um von den Partygästen Fotos zu schießen, die dann als Andenken per E-Mail verschickt werden. Ich habe auch schon mal Fotos auf einer Kinderparty gemacht, um Geld für das Krankenhaus zu sammeln, in dem Hugh arbeitet. Die Arbeit macht mir Spaß, ist aber reine Routine, kein Vergleich zum Fotografieren von Porträts wie dem da – sie ist keine Kunst, ein besseres Wort fällt mir nicht ein –, und manchmal fehlt mir das. Manchmal frage ich mich, ob ich das überhaupt noch könnte, ob ich noch das Auge habe, den Instinkt, genau zu wissen, wann ich auf den Auslöser drücken muss. Den entscheidenden Moment zu erkennen. Es ist lange her, seit ich das wirklich versucht habe.

Hugh findet, ich sollte wieder damit anfangen. Connor ist inzwischen älter und wird allmählich unabhängig. Wegen seines schwierigen Starts ins Leben haben wir beide uns voll darauf konzentriert, ihn zu umsorgen, doch er braucht uns nicht mehr so sehr wie früher. Ich habe jetzt mehr Raum für mich.

Ich werfe noch kurz einen Blick auf die anderen Bilder an den Wänden. Vielleicht fange ich wirklich bald wieder an. Ich könnte mich etwas mehr auf meine Karriere konzentrieren und trotzdem noch für Connor da sein. Es wäre machbar.

Ich gehe nach unten, wo ich mit Adrienne verabredet bin. Sie wollte eigentlich mit in die Ausstellung kommen, aber ich habe ihr erklärt, dass ich mir das Foto lieber allein anschauen würde. Sie war nicht gekränkt. »Wir treffen uns dann im Café«, hat sie gesagt. »Vielleicht können wir einen Happen essen.«

Sie ist schon da, sitzt mit einem Glas Weißwein an einem Tisch am Fenster. Sie steht auf, als sie mich kommen sieht, und wir umarmen uns. Sie redet bereits, ehe wir sitzen.

»Wie war’s?«

Ich rücke mit meinem Stuhl näher an den Tisch. »Ein bisschen seltsam, ehrlich gesagt.« Adrienne hat schon eine Flasche Mineralwasser für mich bestellt, und ich gieße mir ein Glas ein. »Es fühlt sich nicht mehr wie mein Bild an.«

Sie nickt. Sie weiß, wie nervös ich vor dem Besuch der Ausstellung war. »Da oben hängen ein paar interessante Fotos«, sage ich. »Willst du sie dir noch ansehen? Später?«

Sie hebt ihr Weinglas. »Vielleicht.« Ich weiß, sie wird es nicht tun, aber das macht mir nichts aus. Sie kennt mein Foto, und die anderen interessieren sie nicht. »Cheers«, sagt sie. Wir trinken. »Du hast Connor nicht mitgebracht?«

Ich schüttele den Kopf. »Wäre eindeutig zu seltsam gewesen.« Ich lache. »Außerdem hatte er was vor.«

»Unterwegs mit seinen Freunden?«

»Nein. Hugh ist mit ihm ins Schwimmbad.«

Sie lächelt. Connor ist ihr Patenkind, und sie kennt meinen Mann fast genauso lange wie ich. »Schwimmbad?«

»Neuerdings. Hughs Idee. Ihm ist bewusstgeworden, dass er nächstes Jahr fünfzig wird, und ihm graut davor. Er will fit werden.« Ich stocke. »Hast du was von Kate gehört?«

Ich blicke nach unten auf mein Glas. Ich hatte die Frage nicht stellen wollen, nicht so früh, aber jetzt ist sie heraus. Ich weiß nicht, welche Antwort mir lieber ist. Ja oder nein.

Sie trinkt einen Schluck Wein. »Schon länger nicht mehr. Du?«

»Vor etwa drei Wochen.«

»Und …?«

Ich zucke die Achseln. »Das Übliche.«

»Mitten in der Nacht?«

»O ja«, seufze ich. Ich denke zurück an den letzten Anruf meiner Schwester. Zwei Uhr morgens, für sie in Paris sogar noch später. Sie klang benebelt. Wahrscheinlich betrunken. Sie wolle Connor wiederhaben. Sie verstehe nicht, warum ich ihn ihr nicht zurückgeben will. Es sei nicht fair, und überhaupt sei sie nicht die Einzige, die Hugh und mich für selbstsüchtig und unmöglich hält.

»Sie hat bloß wieder die alte Leier von sich gegeben.«

»Vielleicht musst du einfach mit ihr reden. Wieder mal, meine ich. Wenn sie nicht so –«

»Wütend ist?« Ich lächele. »Du weißt so gut wie ich, dass das mit ziemlicher Sicherheit nichts bringt, und außerdem kann ich sie nicht erreichen. Sie geht nicht an ihr Handy, und wenn ich die Festnetznummer anrufe, kriege ich bloß ihre Mitbewohnerin, die mir nichts erzählt. Nein, sie hat sich entschieden. Nach all den Jahren hat sie auf einmal nur den einen Wunsch, sich um Connor zu kümmern. Und sie denkt, dass Hugh und ich sie aus rein egoistischen Gründen daran hindern. Sie überlegt nicht mal eine Sekunde, wie das für Connor wäre, was er will. Gefragt hat sie ihn jedenfalls nicht. Es geht wieder mal nur um sie.«

Ich verstumme. Adrienne kennt den Rest. Ich muss nicht ausführlicher werden. Sie weiß, warum Hugh und ich den Sohn meiner Schwester zu uns genommen haben, dass Kate jahrelang auch ganz glücklich mit der Situation war. Uns allen ist schleierhaft, warum sich das geändert hat.

»Kannst du nicht mal mit ihr reden?«, frage ich.

Adrienne holt tief Luft, schließt die Augen. Einen Moment lang denke ich, sie wird mir sagen, dass ich das selbst regeln muss, dass ich mich nicht immer an sie wenden kann, wenn ich Streit mit meiner Schwester habe. So oder so ähnlich hat mein Vater immer reagiert. Aber nein, sie lächelt bloß. »Ich versuch’s.«

 

Wir bestellen unseren Lunch und essen. Wir sprechen über unsere gemeinsamen Freunde – Adrienne fragt, ob ich Fatima in letzter Zeit gesehen habe, ob ich von Alis neuer Stelle weiß, ob ich vorhabe, am Wochenende zu Dees Cocktailparty zu gehen –, dann sagt sie, sie müsse los, sie habe noch ein Meeting. Ich verspreche ihr, mich am Samstag bei ihr zu melden.

Auf dem Weg nach draußen kann ich mir einen Abstecher in den Museumsshop nicht verkneifen. Die Ausstellungsmacher wollten mein Foto von Marcus vorn auf den Katalog drucken, doch da ich auf ihre E-Mail nicht geantwortet habe, prangt da jetzt ein Bild von einem androgyn aussehenden Typen mit einem Lutscher im Mund. Ich habe auch nicht auf Interviewanfragen reagiert, was jedoch eine Zeitschrift – Time Out, glaube ich – nicht davon abgehalten hat, einen Artikel über mich zu bringen. Ich lebte »zurückgezogen«, hieß es darin, und mein Foto sei eines der Highlights der Ausstellung, ein »intimes Porträt«, »anrührend und zart« zugleich. Schwachsinn, hätte ich denen am liebsten geschrieben, tat es aber nicht. Wenn sie mich »zurückgezogen« haben wollen, dann bitte sehr.

Ich schaue mir erneut den Typen mit dem Lutscher an. Er erinnert mich an Frosty, und ich blättere den Katalog durch, ehe ich weiter zu dem Ständer mit den Postkarten gehe. Normalerweise würde ich ein paar kaufen, aber heute nehme ich nur eine, Marcus im Spiegel. Ich bin kurz versucht, der Frau an der Kasse zu sagen, dass es mein Foto ist, dass ich es für mich aufgenommen und dann jahrelang bewusst gemieden habe, jetzt aber froh darüber bin, dass es hier ausgestellt ist und ich die Gelegenheit habe, es wieder zu besitzen.

Aber ich tu’s nicht. Ich sage nichts, murmele bloß ein »Danke«, stecke dann die Karte in die Handtasche und verlasse das Museum. Trotz der eisigen Februarluft gehe ich den ganzen Weg zu Fuß nach Hause – durch Covent Garden und Holborn, die Theobald’s Road hinunter Richtung Gray’s Inn –, und zunächst muss ich immerzu an Marcus denken und an unsere Zeit in Berlin vor so vielen Jahren. Aber als ich die Roseberry Avenue erreiche, habe ich es doch geschafft, mich von der Vergangenheit zu lösen, und denke stattdessen darüber nach, was im Hier und Jetzt passiert. Ich denke an meine Schwester und gebe mich der Hoffnung hin, dass Adrienne sie zur Vernunft bringen kann, obwohl ich weiß, dass ihr das nicht gelingen wird. Ich werde selbst mit Kate reden müssen. Ich werde freundlich, aber bestimmt sein. Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe und sie glücklich sehen möchte, aber ich werde ihr auch vor Augen führen, dass Connor jetzt fast vierzehn ist und dass Hugh und ich alles getan haben, um ihm Halt zu geben und ein Leben in gesicherten Verhältnissen zu bieten, was jetzt keinesfalls gefährdet werden sollte. Ich muss ihr unbedingt begreiflich machen, dass alles am besten so bleibt, wie es ist. Zum ersten Mal gestatte ich mir den Gedanken, dass Hugh und ich uns vielleicht einen Anwalt nehmen sollten.

Ich biege um die Ecke in unsere Straße. Ein paar Häuser von unserem entfernt parkt ein Polizeiwagen, aber ich sehe, dass unsere Haustür offen steht. Ich falle in Laufschritt. In meinem Kopf ist schlagartig nur noch das Bedürfnis, meinen Sohn zu sehen. Ich stürze ins Haus, in die Küche, wo Hugh steht und mit einer Frau in Uniform redet. Mein Blick fällt auf Connors Badehose, die zusammen mit seinem Handtuch auf dem Heizkörper trocknet, dann wenden sich Hugh und die Polizistin mir zu. Im Gesichtsausdruck der Frau liegt eine perfekte, einstudierte Neutralität, und ich weiß, dass Hugh genauso aussieht, wenn er eine schlechte Nachricht überbringen muss. Mir wird eng in der Brust, ich höre mich selbst rufen, wie in einem Traum. »Wo ist Connor? Hugh! Wo ist unser Sohn?« Aber er antwortet nicht. Ich kann nur ihn allein im Raum sehen. Seine Augen sind aufgerissen. Ich weiß, dass etwas Schreckliches passiert ist, etwas Unbeschreibliches. Sag’s mir!, will ich schreien, aber ich bringe keinen Ton heraus. Ich kann mich nicht rühren. Meine Lippen wollen keine Worte formen. Mein Mund öffnet sich, schließt sich wieder. Ich schlucke. Ich bin unter Wasser, ich kriege keine Luft. Ich sehe, wie Hugh einen Schritt auf mich zu macht, versuche, ihn abzuschütteln, als er meinen Arm packt, finde dann meine Stimme. »Sag’s mir!«, flehe ich wieder und wieder, und endlich macht er den Mund auf und spricht.

»Connor geht es gut«, sagt er, aber mir bleibt kaum genug Zeit, um die Erleichterung wahrzunehmen, die mein Blut durchströmt, ehe er fortfährt: »Es tut mir leid, Schatz. Kate ist tot.«

2

Ich sitze am Küchentisch. Ich weiß nicht, wie ich dahingekommen bin. Wir sind allein. Die Polizistin ist weg, ihre Arbeit erledigt. Es ist kalt in der Küche. Hugh hält meine Hand.

»Wann?«, sage ich.

»Letzte Nacht.«

Vor mir steht eine Tasse Tee, und ich schaue zu, wie sie dampft. Sie hat nichts mit mir zu tun. Ich kann mir nicht erklären, wieso sie da steht. Ich muss unentwegt an meine kleine Schwester denken, wie sie in einer Pariser Gasse liegt, vom Regen durchnässt und allein.

»Letzte Nacht?«

»Hat die Polizei gesagt.«

Er redet leise. Er weiß, ich werde mich nur an einen Bruchteil dessen erinnern, was er mir erzählt.

»Was wollte sie da?«

»Das weiß man nicht. Eine Abkürzung nehmen?«

»Eine Abkürzung?«

Ich versuche, es mir vorzustellen. Kate, auf dem Weg nach Hause. Wahrscheinlich betrunken. Will ein paar Minuten Fußweg einsparen.

»Was ist passiert?«

»Die Polizei glaubt, Kate kam aus einer Bar. Sie wurde überfallen.«

Dann erinnere ich mich wieder. Ein Raubüberfall, hat die Polizistin gesagt, obwohl noch nicht feststeht, ob irgendetwas gestohlen wurde. Dann schaute sie von mir weg. Sie senkte den Blick und die Stimme und sprach Hugh an. Ich konnte sie aber trotzdem hören. »Anscheinend wurde sie nicht vergewaltigt.«

Irgendetwas bricht in mir zusammen, als ich daran denke. Ich kehre mich nach innen; ich werde winzig, schrumpfe. Ich bin elf Jahre alt, Kate ist vier, und ich muss ihr sagen, dass unsere Mutter diesmal nicht aus dem Krankenhaus zurückkommen wird. Unser Vater findet, ich bin alt genug, um mit ihr zu reden, er traut sich das nicht zu, diesmal nicht, dafür bin ich zuständig. Kate weint, obwohl ich nicht sicher bin, dass sie versteht, was ich ihr gesagt habe, und ich halte sie in den Armen. »Wir schaffen das«, sage ich, obwohl ich irgendwie bereits ahne, was passieren wird. Unser Vater wird nicht darüber hinwegkommen, seine Freunde werden keine Hilfe sein. Wir sind auf uns allein gestellt. Aber das bringe ich nicht über die Lippen, ich muss für Kate stark sein. Für meine Schwester. »Du und ich«, sage ich. »Ich sorge für dich. Immer. Versprochen.«

Aber das hatte ich nicht, oder? Ich war nach Berlin abgehauen. Ich hatte ihr den Sohn weggenommen. Ich habe sie allein sterben lassen.

»Was ist passiert?«, frage ich wieder.

Hugh ist geduldig. »Schatz, wir wissen es nicht. Aber die Polizei tut, was sie kann, um es herauszufinden.«

 

Zuerst hatte ich gedacht, es wäre besser für Connor, nicht zu Kates Beisetzung zu gehen. Er war zu jung, er würde das nicht verkraften. Hugh war anderer Meinung. Er erinnerte mich daran, dass unser Vater Kate und mich nicht zur Beerdigung unserer Mutter mitgenommen hatte, was ich ihm bis ans Ende seines Lebens nicht verzeihen konnte.

Ich musste ihm recht geben, aber den Ausschlag gab das Gespräch mit der Therapeutin. »Sie können ihn nicht in Watte packen«, sagte sie. »Er muss sich seiner Trauer stellen.« Sie zögerte. Hugh und ich saßen in ihrem Büro. Sie hatte die Hände vor sich auf dem Schreibtisch gefaltet. Ich schaute auf die kleinen Kratzer an ihren Händen. Ich fragte mich, ob sie Hobbygärtnerin war. Ich stellte mir vor, wie sie vor Blumenbeeten kniete, mit der Gartenschere Rosen beschnitt. Ein Leben, in das sie zurückkehren konnte, wenn das hier vorbei war. Anders als wir.

»Julia?«

Ich blickte auf. Ich hatte etwas verpasst.

»Möchte er denn hin?«

Als wir nach Hause kamen, fragten wir ihn. Er überlegte eine Weile, dann sagte er, ja, er würde gern mitkommen.

Wir haben ihm einen Anzug, eine schwarze Krawatte, ein neues Hemd gekauft. Er sieht in den Sachen viel älter aus und geht zwischen mir und Hugh, als wir das Krematorium betreten. »Schaffst du das?«, frage ich, sobald wir Platz genommen haben.

Er nickt, sagt aber nichts. Die Kirche ist wie von Schmerz durchflutet, doch die meisten Leute sind still. Unter Schock. Kates Tod war brutal, sinnlos, unbegreiflich. Viele haben sich in sich zurückgezogen, aus Selbstschutz.

Doch ich weine nicht, auch Connor nicht und sein Vater ebenso wenig. Nur Hugh hat den Sarg angeschaut. Ich lege einen Arm um unseren Sohn. »Du bist tapfer«, sage ich.

Es kommen immer mehr Leute herein und nehmen auf den Bänken hinter uns Platz. Leise Schritte, gedämpfte Stimmen. Ich schließe die Augen. Ich denke an Kate, an unsere Kindheit. Das Leben war simpel damals, was nicht heißen soll, dass es leicht war. Nach dem Tod unserer Mutter suchte unser Vater Trost im Alkohol. Seine Freunde – überwiegend Künstler, Maler, Leute vom Theater – verbrachten immer mehr Zeit bei uns, und wir erlebten, wie unser Haus zum Schauplatz einer Nonstop-Party wurde, die gelegentlich schwächelte und ins Stocken geriet, aber nie richtig endete. Alle paar Tage trafen neue Leute ein, wenn andere sich gerade verabschiedeten. Sie brachten noch mehr Flaschen und noch mehr Zigaretten mit, noch mehr Musik, manchmal Drogen. Heute ist mir klar, dass das alles mit der Trauer unseres Vaters zusammenhing, aber damals kam es mir vor wie eine Feier der Freiheit, ein zehn Jahre währendes Besäufnis. Kate und ich fühlten uns wie unliebsame Erinnerungen an seine Vergangenheit, und obwohl er die Drogen von uns fernhielt und uns seine Liebe beteuerte, war er weder willens noch fähig, uns ein Vater zu sein, weshalb mir die Aufgabe zufiel, für uns beide zu sorgen. Ich machte uns Essen, ich drückte Zahnpasta auf Kates Zahnbürste und legte sie ihr hin, wenn sie sich bettfertig machte, ich las ihr etwas vor, wenn sie nachts weinend wach wurde, und achtete darauf, dass sie ihre Hausaufgaben machte und jeden Tag zur Schule ging. Ich nahm sie in den Arm und versicherte ihr, dass Daddy uns liebhatte und alles gut werden würde. Ich merkte, dass ich meine Schwester über alles liebte, und trotz des Altersunterschiedes wurde die Bindung zwischen uns so eng wie bei Zwillingen, fast schon übersinnlich.

Dennoch liegt sie jetzt in dieser Kiste, und ich sitze davor und kann nicht mal weinen. Es ist unfassbar, und irgendwie weiß ich, dass ich sie im Stich gelassen habe.

Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um. Eine Frau, die ich nicht kenne, sagt zu mir: »Ich wollte nur hallo sagen.« Sie stellt sich als Anna vor. Ich brauche einen Moment, bis ich weiß, wer sie ist: Kates Mitbewohnerin. Wir hatten sie gebeten, bei der Trauerfeier etwas vorzulesen. »Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen.«

Sie weint, aber sie hat etwas Stoisches an sich. Eine innere Stärke. »Danke«, sage ich, und dann öffnet sie die Handtasche auf ihrem Schoß. Sie reicht mir ein Blatt Papier. »Das Gedicht, das ich ausgesucht habe … meinen Sie, das geht?«

Ich überfliege das Gedicht, obwohl ich es bereits im Programm für die Trauerfeier gelesen habe. »Für die Zornigen«, beginnt es, »wurde ich betrogen, doch für die Glücklichen habe ich meinen Frieden gefunden.« Ich fand die Auswahl seltsam, wo Zorn doch wohl die einzig mögliche Reaktion ist, aber ich sage nichts. Ich reiche ihr das Blatt zurück. »Es ist schön. Danke.«

»Ich hab mir gedacht, Kate hätte es gefallen.« Ich pflichte ihr bei. Ihre Hände zittern, und obwohl es kein langer Text ist, frage ich mich, wie sie es schaffen will, ihn vorzulesen.

Doch es gelingt ihr. Sie ist tief erschüttert, schöpft aber aus irgendeiner inneren Kraftreserve und spricht deutlich und klar. Connor beobachtet sie, und ich sehe, wie er sich mit dem Handrücken eine Träne wegwischt. Auch Hugh weint, und ich sage mir, dass ich für sie beide stark bin, dass ich mich zusammenreißen muss, dass sie nicht sehen sollen, wie ich zusammenbreche. Und doch frage ich mich unwillkürlich, ob ich mir selbst etwas vormache und in Wahrheit überhaupt keinen Schmerz empfinde.

 

Hinterher gehe ich zu Anna. »Das war perfekt«, sage ich. Wir stehen vor der Kapelle. Connor ist sichtlich erleichtert, dass es vorbei ist.

Sie lächelt. Ich denke an Kates Anrufe in den letzten Wochen und frage mich, was Anna von mir denkt, was meine Schwester ihr erzählt hat.

»Danke«, sagt sie.

»Das ist mein Mann Hugh. Und das ist meine sehr gute Freundin Adrienne.«

Anna wendet sich meinem Sohn zu. »Und du bist bestimmt Connor, ja?«, sagt sie. Er nickt. Er gibt ihr die Hand, und mir fällt erneut auf, wie erwachsen er aussieht.

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagt er. Er wirkt zutiefst verlegen, unsicher, wie er sich verhalten soll. Der unbekümmerte Junge von vor wenigen Wochen, das Kind, das mit ein paar Freunden im Schlepptau ins Haus gerannt kam, um seinen Fußball oder sein Fahrrad zu holen, scheint plötzlich verschwunden zu sein. Der Junge, der sich stundenlang mit Zeichenblock und Stiften beschäftigen konnte, ist nicht mehr da. Ich sage mir, das ist nur vorübergehend, mein kleiner Junge kommt wieder, aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.

Wir unterhalten uns noch ein Weilchen, doch dann spürt Hugh wohl Connors Unbehagen und schlägt vor, schon mal mit ihm zum Wagen zu gehen. Adrienne will mitkommen, und Hugh wendet sich Anna zu. »Danke für alles«, sagt er und schüttelt ihr wieder die Hand, ehe er einen Arm um Connors Schultern legt. »Komm, mein Großer«, sagt er, und die drei gehen davon.

»Ein netter Junge«, sagt Anna, sobald sie außer Hörweite sind. Der Wind hat aufgefrischt, es wird bald regnen. Sie streicht sich eine Haarsträhne vom Mund.

»Ja, das ist er«, sage ich.

»Wie geht’s ihm?«

»Ich glaube, er hat es noch nicht so richtig begriffen.« Wir drehen uns um und gehen auf die Blumen zu, die auf dem Hof vor der Kapelle abgelegt worden sind.

»Es muss schwer für ihn sein.«

Ich frage mich, wie viel sie über Connor weiß. Sie und meine Schwester waren alte Freundinnen. Kate hatte mir erzählt, dass sie sich von der Schule her kannten, wenn auch nur flüchtig, über andere. Vor ein paar Jahren nahmen sie über Facebook wieder Kontakt auf und stellten überrascht fest, dass sie beide nach Paris gezogen waren. Sie verbredeten sich, und als einige Monate später Annas Mitbewohnerin aus der gemeinsamen Wohnung auszog, zog Kate ein. Ich war froh darüber. Meiner Schwester fiel es nicht immer leicht, Freundschaften zu pflegen. Ich stellte mir vor, dass sie viel miteinander redeten, doch Kate konnte sehr verschlossen sein, und ich kann mir denken, dass sie das schmerzliche Thema Connor nicht so ohne weiteres zur Sprache brachte.

»Er schafft das schon«, sage ich. »Da gehe ich von aus.«

Wir haben die Südwestwand des Krematoriums erreicht, die Kränze, die weißen Chrysanthemen und pinkfarbenen Rosen, die weißen Liliensträuße, an denen handgeschriebene Karten stecken. Ich bücke mich, um sie zu lesen, und begreife noch immer nicht ganz, warum da überall Kates Name steht. Genau in diesem Moment bricht die Sonne durch die Wolken, und für den Bruchteil einer Sekunde beleuchtet sie uns hell.

»Bestimmt ist er manchmal ganz schön schwierig«, sagt Anna, und ich richte mich auf. Connor ist ein guter Junge, überhaupt nicht aufsässig. Wir haben ihm die Wahrheit über seine Herkunft erzählt, sobald er alt genug war, das alles zu verstehen.

»Er ist in Ordnung«, sage ich. »Bisher …«

»Versteht er sich mit seinem Dad?«

»Sehr gut.« Ich sage ihr nicht, dass ich mir eher Sorgen darum mache, wie gut er sich mit mir versteht. Ich versuche, eine gute Mutter zu sein, was mir aber manchmal nicht leichtfällt. Jedenfalls nicht so leicht wie Hugh seine Vaterrolle.

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mal mit Adrienne darüber hatte. Hugh war im Krankenhaus unabkömmlich gewesen, deshalb waren Connor und ich mit ihr und ihren Zwillingen in Urlaub gefahren. Sie kam die ganze Zeit erstaunlich gut mit allen drei Kindern klar. Die waren noch viel jünger, hatten Wutanfälle, Connor quengelte wegen jeder Kleinigkeit und weigerte sich zu essen. Ich war völlig überfordert und fühlte mich mies. »Vielleicht liegt’s ja daran, dass er nicht mein leiblicher Sohn ist«, sagte ich, als die Kinder endlich im Bett waren und wir uns entspannten, sie mit einem Glas Wein, ich mit einer Limo. »Verstehst du?« Sie erwiderte, ich würde zu hart mit mir ins Gericht gehen. »Er ist dein Sohn. Du bist seine Mum. Und du bist eine gute Mum. Vergiss nicht, jeder Mensch ist anders, und deine Mutter war nicht lange genug da, um dir etwas vorzuleben. Das ist für niemanden leicht.«

»Vielleicht«, sagte ich. Ich fragte mich unwillkürlich, was Kate wohl gesagt hätte.

»Das ist schön«, sagt Anna jetzt, und ich lächele. »Ja«, sage ich. »Wir sind sehr froh, dass wir ihn haben.« Wir schauen uns weiter die Blumen an. Wir machen Smalltalk, meiden das Thema Kate. Nach ein paar Minuten gehen wir zurück, Richtung Parkplatz. Adrienne winkt mir, und ich sage Anna, dass ich mich verabschieden muss.

»Es war schön, Sie kennenzulernen«, sage ich.

Sie wendet sich mir zu und nimmt meine beiden Hände. Ihre Trauer hat sich erneut Bahn gebrochen, und sie weint wieder. »Sie fehlt mir«, sagt sie schlicht.

Ich halte ihre Hände. Ich würde auch gern weinen, aber ich kann nicht. Die Gefühllosigkeit durchdringt alles. Das ist ein Schutzmechanismus, hat Hugh gesagt. Ich blocke alles ab. Adrienne sieht das auch so: »Es gibt keine richtige Art, um Kate zu trauern«, sagt sie. Ich habe sonst niemandem in meinem Freundeskreis erzählt, wie ich mich fühle, damit keiner denkt, die Ermordung meiner Schwester wäre mir gleichgültig. Ich habe ein schlechtes Gewissen.

»Ich weiß«, sage ich. »Mir fehlt sie auch.«

Sie sieht mich an. Sie möchte etwas loswerden. Die Worte sprudeln heraus. »Könnten wir vielleicht in Kontakt bleiben? Ich meine, ich fände das schön. Sie auch? Sie könnten mich in Paris besuchen kommen, oder ich könnte nach London kommen. Ich meine, nur wenn Sie wollen, Sie sind bestimmt vielbeschäftigt –«

»Anna, bitte.« Ich lege eine Hand auf ihren Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Beschäftigt mit was?, denke ich. Ich hatte ein paar Aufträge im Terminkalender – ein Pärchen wollte sich mit seinem acht Wochen alten Baby fotografieren lassen, die Mutter eines Freundes von Connor wollte Fotos von der ganzen Familie mit ihrem Labrador –, aber die habe ich alle abgesagt. Im Augenblick mache ich nichts anderes als existieren, an Kate denken, mich fragen, ob es wirklich Zufall sein kann, dass der Tag, an dem ich mir das Foto von Marcus angesehen habe, auch der Tag ist, an dem Kates Leben endete.

Ich bringe ein Lächeln zustande. Ich möchte nicht unhöflich sein. »Ich fände das auch sehr schön.«

3

Hugh frühstückt. Müsli. Ich sehe zu, wie er Milch in seinen Kaffee gießt und einen halben Löffel Zucker hineinrührt.

»Meinst du nicht, das ist zu früh?«

Aber genau deshalb will ich ja hinfahren, denke ich. Weil es über zwei Monate her ist und ich laut meinem Mann den Verlust noch immer verdränge. Ich muss es real machen.

»Ich möchte nach Paris. Ich möchte mich mit Anna treffen. Ich möchte mit ihr reden.«

Während ich es ausspreche, wird mir klar, wie wichtig es mir ist. Anna und ich verstehen uns gut. Sie ist herzlich, witzig. Einfühlsam. Sie ist nicht voreingenommen. Und Anna war Kate näher als wir alle – als ich, als Hugh oder Adrienne –, deshalb kann Anna mir auf eine Weise helfen, wie das meine anderen Freunde nicht können. Und vielleicht kann ich ja auch ihr helfen.

»Ich glaube, es wird mir guttun.«

»Aber was erhoffst du dir davon?«

Ich zögere. Vielleicht will ich mich insgeheim auch vergewissern, dass sie nicht schlecht von mir und Hugh denkt, weil wir Connor zu uns genommen haben. »Ich weiß es nicht. Ich hab einfach nur das Gefühl, ich müsste es machen.«

Er schweigt. Es ist genau neun Wochen her, denke ich. Neun Wochen, und ich habe noch kein einziges Mal geweint. Nicht richtig. Wieder denke ich an die Postkarte, die noch immer in meiner Handtasche steckt, seit dem Tag, an dem Kate starb. Marcus im Spiegel.

»Kate ist tot. Ich muss mich dem stellen.« Was auch immer das bedeuten mag.

Er trinkt seinen Kaffee aus. »Ich halte zwar nicht viel davon, aber …« Seine Stimme wird sanfter. »Wenn du dir sicher bist, dann solltest du fahren.«

 

Ich bin nervös, als ich aus dem Zug steige, aber Anna wartet am Ende des Bahnsteigs auf mich. Sie trägt ein blassgelbes Kleid und steht im Sonnenlicht, das durch die hohen Bogenfenster strömt. Sie sieht jünger aus als in meiner Erinnerung, und sie ist auf eine dezente, schlichte Art hübsch, die mir auf der Beerdigung nicht aufgefallen war. Ihr Gesicht wirkt warmherzig und offen, eines, das ich früher gern mal fotografiert hätte. Sie lächelt, als sie mich sieht, und ich frage mich, ob sie ihre Trauer bereits ablegt, während meine mich erst allmählich erfasst.

Sie winkt, als ich näher komme. »Julia!« Sie läuft mir entgegen. Wir küssen uns auf beide Wangen, ehe wir uns einen Moment lang umarmen. »Danke, danke, dass du gekommen bist! Es tut so gut, dich zu sehen …«

»Ich freu mich auch«, sage ich.

»Du bist sicher hundemüde! Komm, wir gehen einen Kaffee trinken.«

Wir gehen in ein Café nicht weit vom Bahnhof. Sie bestellt zwei Espressi. »Irgendwas Neues?«

Ich seufze. Was gibt es da zu sagen? Das meiste weiß sie schon. Die Polizei ist nicht viel weitergekommen. In der Nacht, als Kate überfallen wurde, hat sie in einer Bar etwas getrunken, offenbar allein. Ein paar Leute erinnern sich, sie gesehen zu haben. Sie wirkte gutgelaunt, plauderte mit dem Barmann. Ihre Telefonnachweise haben nichts Hilfreiches ergeben, und Kate verließ die Bar mit Sicherheit allein. Es ist irrational, aber ich werde das Gefühl nicht los, verantwortlich zu sein für das, was passiert ist.

»Eigentlich nicht.«

»Das tut mir leid. Wie geht’s dir?«

»Ich denke einfach ständig an sie. An Kate. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre gar nichts passiert. Dann denke ich, ich müsste bloß zum Telefon greifen und sie anrufen, und alles wäre in Ordnung.«

»Du lässt das noch nicht richtig an dich ran. Das ist normal. Schließlich ist es noch nicht so lange her.«

Ich seufze. Ich will ihr nicht erzählen, wie sehr mir Kate durch den Kopf geistert, wie oft ich ihre Nummer gewählt habe, nur um eine automatische Stimme zu hören, die mir auf Französisch mitteilt, dass die Nummer nicht vergeben ist. Ich will ihr nicht von der Karte erzählen, die ich für Kate gekauft, mit Glückwünschen beschrieben und dann im Schreibtisch unter einem Stapel Papierkram versteckt habe. Ich will nicht gestehen, was für mich am schlimmsten, am schwersten ist, dass nämlich ein kleiner Teil von mir, ein Teil, den ich verabscheue, aber nicht leugnen kann, froh ist über ihren Tod, weil sie mich jetzt wenigstens nicht mehr mitten in der Nacht anruft, um ihren Sohn zurückzufordern.

»Zwei Monate«, sage ich. »Hugh meint, das ist so gut wie nichts.«

Anna lächelt traurig, sagt aber nichts dazu. In gewisser Weise bin ich erleichtert. Es gibt nichts zu sagen, was helfen könnte, alles ist irrelevant. Manchmal ist Schweigen besser, und ich bewundere sie dafür, dass sie Schweigen aushält.

»Wie läuft’s bei dir?«, frage ich.

»Ach, na ja. Ich stürze mich in die Arbeit, das hilft.« Sie ist Anwältin, arbeitet in der Rechtsabteilung eines Pharmakonzerns, hat mir aber nicht gesagt, in welchem. Ich warte, dass sie mehr erzählt, was sie aber nicht tut.

»Wie geht’s Connor?«, fragt sie. Sie scheint aufrichtig besorgt. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich mal gedacht habe, sie könnte meiner Schwester bei dem Versuch geholfen haben, ihn zurückzubekommen.

»Ganz gut. Vermute ich …«

Unsere Espressi kommen, auf jeder Untertasse ein Zuckertütchen, ein Stück Schokolade in Folie.

»Das heißt, sicher bin ich mir nicht. Dass es ihm gutgeht, meine ich. Er wirkt immerzu wütend, knallt Türen ohne Grund, und ich weiß, dass er oft weint. Ich höre ihn, aber er streitet es ab.«

Sie erwidert nichts. Ich würde ihr gern erzählen, dass ich Angst habe, meinen Sohn zu verlieren. Wir sind uns so viele Jahre so nahe gewesen, eher Freunde als Mutter und Kind. Ich habe ihn bei seinen künstlerischen Ambitionen unterstützt, sein Zeichentalent gefördert. Er ist immer zu mir gekommen, wenn ihm etwas auf der Seele lag, genau wie zu Hugh. Er hat mir immer alles erzählt. Wieso hat er jetzt bloß das Gefühl, allein leiden zu müssen?

»Er fragt andauernd, ob die Polizei schon jemanden gekriegt hat.«

»Verständlich«, sagt sie. »Er ist jung. Er hat eine Tante verloren.«

Ich stutze. Sie weiß doch wohl Bescheid?

»Du weißt, dass Kate Connors Mutter war?«

Sie nickt.

»Wie viel hat sie dir erzählt?«

»Alles, denke ich. Ich weiß, ihr habt Connor damals genommen, als er ein Kleinkind war.«

Meine Kehle schnürt sich zusammen, trotzig. Es liegt an diesem Wort. »Genommen.« Ich empfinde die alte vertraute Verärgerung – die umgeschriebene Geschichte, die vergrabene Wahrheit – und versuche, sie hinunterzuschlucken.

»Wir haben ihn nicht genommen. Kate wollte damals, dass er bei uns lebt.«

Auch wenn sie das später nicht mehr wollte, denke ich. Ich frage mich, was für eine Version der Geschichte Kate sich zurechtgelegt hat. Ich stelle mir vor, dass sie ihren Freunden erzählt hat, wir hätten sie überrumpelt und uns Connor geschnappt, obwohl sie prima klarkam. Dass wir ihr Baby nur deshalb haben wollten, weil wir keine eigenen Kinder bekommen konnten.

Wieder sprudelt der winzige Teil in mir hoch, der über ihren Tod erleichtert ist. Ich kann nichts dagegen machen, auch wenn ich mich deshalb gottserbärmlich fühle. Connor ist mein Kind.

»Es war kompliziert. Ich habe sie geliebt. Aber Kate hatte manchmal eine sehr verzerrte Wahrnehmung, wenn es um die Frage ging, wie gut sie ihr Leben meisterte.«

Anna lächelt, als ob sie mich beruhigen will. Ich rede weiter. »Ich weiß, es war nicht leicht für sie. Ihn wegzugeben, meine ich. Sie war sehr jung, als er geboren wurde. Eigentlich selbst noch ein Kind. Sechzehn. Nur wenig älter als Connor jetzt.«

Ich blicke nach unten auf meine Kaffeetasse. Ich erinnere mich an den Tag, als Connor geboren wurde. Ich war erst wenige Monate aus Berlin zurück und kam gerade von einem Treffen. Ich war wieder im Entzugsprogramm und froh darüber. Es lief gut für mich. Als ich nach Hause kam, hatte Hugh eine Reisetasche gepackt. »Wo wollen wir denn hin?«, fragte ich, und er erzählte mir, dass Kate im Krankenhaus war. In den Wehen lag. »Ich hab bei eurem Vater angerufen«, fügte er hinzu. »Aber er geht nicht ran.«

Ich wollte nicht glauben, was ich da hörte, doch ein Teil von mir wusste, dass es stimmte.

»Wehen?«, sagte ich. »Aber –?«

»Haben sie jedenfalls gesagt.«

Aber sie ist sechzehn, wollte ich sagen. Sie hat keinen Job. Sie wohnt zu Hause, mein Vater müsste sich um sie kümmern.

»Das kann nicht sein.«

»Tja, sieht aber ganz so aus. Wir müssen los.«

Als wir eintrafen, war Connor schon auf der Welt. »Mach ihr keine Vorwürfe«, sagte Hugh, ehe wir hineingingen. »Sie braucht unsere Unterstützung.«

Sie saß im Bett und hielt ihn im Arm. Sie gab ihn mir, sobald ich im Zimmer war, und die Liebe, die ich für ihn empfand, war unmittelbar und erschreckend intensiv. Ich hätte ihr keine Vorwürfe machen können, selbst wenn ich gewollt hätte.

»Er ist wunderschön«, sagte ich. Kate schloss die Augen, plötzlich erschöpft, und drehte den Kopf weg.

Später sprachen wir darüber, was passiert war. Sie behauptete, nicht mal gemerkt zu haben, dass sie schwanger war. Hugh meinte, das sei nicht ungewöhnlich. »Vor allem bei jungen Mädchen«, sagte er. »Ihre Hormone haben sich noch nicht stabilisiert, deshalb ist der Zyklus bei manchen ohnehin unregelmäßig. Es mag erstaunlich sein, aber es kommt vor.« Ich versuchte, es mir vorzustellen. Ja, vielleicht war es möglich. Kate war ein molliges Mädchen, mit einem Körper, der ihr auf einmal nicht mehr vertraut war. Ihr konnte durchaus entgangen sein, dass in ihr ein Baby heranwuchs.

»Sie hat versucht, es allein zu schaffen«, sage ich jetzt zu Anna. »Die ersten Jahre. Aber …«

Ich zucke die Achseln. Sie hatte nichts. Connor war drei, als sie mit ihm nach Bristol zog, ohne irgendwem zu sagen, warum. Sie wohnte in einem kleinen möblierten Zimmer mit Gemeinschaftsbad und ohne Küche. Sie hatte eine Kochplatte direkt neben dem Spülbecken, und ein Wasserkocher stand wackelig auf einer umgedrehten Waschschüssel. Das einzige Mal, dass ich sie besuchte, stank das Zimmer nach Urin und dreckigen Windeln, und Kate lag im Bett, während ihr Sohn nackt und hungrig angeschnallt in einem Kindersitz auf dem Boden saß.

Ich blicke Anna in die Augen. »Sie hat mich gebeten, ihn zu nehmen. Nur für ein paar Monate. Bis sie wieder auf die Beine gekommen wäre. Sie hat Connor geliebt, konnte aber nicht für ihn sorgen. Mum war nicht mehr da, und Dad hatte kein Interesse. Aus sechs Monaten wurde ein Jahr und dann zwei. Du weißt, wie das läuft. Connor brauchte Stabilität. Als er knapp fünf war, beschlossen wir – wir alle –, dass es besser wäre, wenn wir ihn adoptieren würden.«

Sie nickt. »Habt ihr nicht versucht, Kontakt zum Vater aufzunehmen?«

»Es war alles ziemlich chaotisch. Kate hat uns nie gesagt, wer der Vater ist.« Eine Pause entsteht. Ich empfinde stellvertretend für Kate große Scham und Mitleid für Connor. »Ich glaube, sie wusste es gar nicht.«

»Oder vielleicht war er jemand, von dem sie keine Hilfe annehmen wollte …«

»Nein.« Ich schaue durchs Fenster auf den Verkehr, die Taxis, die vorbeiflitzenden Fahrräder. Die Stimmung ist bedrückt. Ich möchte sie aufhellen. »Aber er hat jetzt Hugh. Die beiden verstehen sich unglaublich gut. Sie sind sich sogar sehr ähnlich.«

Ich sage das irgendwie überstürzt. Es ist absurd, denke ich. Hugh ist im Gegensatz zu mir nicht blutsverwandt mit Connor, trotzdem orientiert sich Connor an ihm.

»Jedenfalls«, sagt Anna, »hat Kate mir oft erzählt, dass sie erleichtert war, als du angeboten hast, dich um Connor zu kümmern, auch wenn es sehr schmerzhaft für sie war, ihn herzugeben. Sie hat gesagt, in gewisser Weise hast du ihr das Leben gerettet.«

Ich frage mich, ob sie das bloß sagt, damit ich mich besser fühle. »Ehrlich?«

»Ja. Sie hat gesagt, wenn du und Hugh nicht gewesen wärt, hätte sie zurück zu eurem Vater ziehen müssen …«

Sie verdreht die Augen, sie hält das für einen Witz. Ich schweige. Ich bin eigentlich nicht bereit, sie schon in die Familiengeschichte einzuweihen. Nicht so weit, noch nicht. Sie spürt mein Unbehagen, greift über den Tisch und nimmt meine Hand.

»Kate hat dich sehr geliebt, weißt du?«

Ich spüre eine jähe Erleichterung, doch sie weicht sogleich einer Traurigkeit, die so tief ist, dass ich sie körperlich spüre, wie einen Takt, der in mir schlägt. Ich starre auf meine Hand in Annas und denke daran, wie ich früher Kates Hand gehalten habe, als sie noch ein Baby war, wie ich jeden winzigen Finger einzeln bestaunte, weil er so zart, so vollkommen war. Sie kam zu früh zur Welt, war so zerbrechlich und doch so voller Energie und Lebenslust. Ich war noch keine sieben, liebte meine Schwester aber bereits mit aller Inbrunst.

Und doch nicht genug, um sie zu retten.

»Das hat sie gesagt?«

Anna nickt. »Oft.«

»Ich wünschte, sie hätte mir das gesagt, als sie noch lebte. Aber das hätte sie wohl nicht, was?«

Sie schmunzelt. »Nee …«, sagt sie lachend. »Auf keinen Fall. Das wäre nicht ihr Stil gewesen.«

 

Wir trinken unseren Kaffee aus und fahren mit der Metro bis zur Rue Saint-Maur. Von da gehen wir zu Fuß zur Wohnung. Sie liegt in einem Altbaublock, über einem Waschsalon. Anna probiert erst mal, ob die Haustür sich einfach aufdrücken lässt, muss aber dann doch einen Zahlencode in das Tastenfeld neben der Tür eintippen. »Das Ding ist die halbe Zeit kaputt«, sagt sie. Wir gehen die Treppe hoch in den ersten Stock. Auf dem Flur steht ein kleiner Schreibtisch, der mit Werbeprospekten übersät ist, und Anna zieht eine der Schubladen auf und tastet die Unterseite ab. »Hier ist ein Ersatzschlüssel versteckt«, sagt sie. »Das war Kates Idee. Sie hat dauernd ihre Schlüssel vergessen. Außerdem ist das ganz praktisch für meinen Freund, wenn er mal vor mir ankommt.«

Aha, sie hat also einen Freund, denke ich, stelle aber keine Fragen. Wie bei jeder neuen Freundschaft werde ich solche Einzelheiten peu à peu erfahren. Wir gehen hinein, und sie nimmt meine Reisetasche und stellt sie neben die Tür. »Und du willst wirklich nicht hier übernachten?«, sagt sie. Ich versichere ihr noch mal, dass ich lieber in dem Hotel ein paar Straßen weiter wohne, wo ich ein Zimmer gebucht habe. Wir haben darüber gesprochen. Ich müsste in Kates Zimmer schlafen, umgeben von ihren Sachen. Dafür ist es zu früh. »Wir trinken was, dann gehen wir essen, und auf dem Weg dahin kannst du im Hotel einchecken. Ich kenn da ein tolles Restaurant. So, hier geht’s lang …«

Es ist eine hübsche Wohnung, mit hohen Decken und Fenstern bis zum Boden. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll, aber wenig originell möbliert. An den Wänden hängen gerahmte Poster, Les Folies Bergère, Le Chat Noir, Drucke, die man eben so aussucht, wenn man’s eilig hat. Es ist nicht mit Liebe eingerichtet worden.

»Hast du die Wohnung gemietet?« Sie nickt. »Sehr hübsch.«

»Eine Weile kann man’s hier aushalten. Möchtest du was trinken? Gläschen Wein? Ich hätte auch Bier da.«

Kate hat ihr also nicht alles erzählt. »Hast du Saft? Oder Wasser?«

»Klar.« Ich folge ihr in die Küche. Sie liegt nach hinten raus, ist sauber und ordentlich – anders als meine, als ich heute Morgen abgereist bin –, doch Anna entschuldigt sich trotzdem. Sie räumt rasch ein Stück Brot weg, das noch auf dem Tisch liegt, ein Glas Erdnussbutter. Ich lache und gehe zum Fenster. »Ich lebe mit einem Teenager unter einem Dach. Das hier ist nichts dagegen.«

Ich denke an meine Familie. Ich frage mich, wie Hugh mit Connor zurechtkommt. Er hat gesagt, er würde heute Abend irgendwas mit ihm unternehmen – ins Kino gehen oder vielleicht Schach spielen. Entweder sie holen sich was vom Imbiss oder gehen aus essen. Ich weiß, ich sollte sie anrufen, aber im Moment tut es gut, mal nur an mich selbst zu denken.

Anna grinst und reicht mir ein Glas Apfelsaft. »Du willst wirklich nichts anderes?«

»Nein, danke.« Sie nimmt eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. »Ich kann dich nicht in Versuchung führen? Letzte Chance!«

Ich lächele, versichere ihr, dass mir der Saft lieber ist. Ich könnte ihr sagen, dass ich keinen Alkohol trinke, möchte das aber nicht. Womöglich stellt sie dann irgendwelche Fragen, und ich habe keine Lust, darüber zu reden. Jetzt nicht. Ich möchte nicht beurteilt werden.

Anna setzt sich mir gegenüber und hebt ihr Glas. »Auf Kate.«

»Auf Kate«, sage ich. Ich trinke einen Schluck Saft. Ganz kurz habe ich den Wunsch, dass mein Glas auch mit Wein gefüllt wäre, aber ich verdränge den Gedanken gleich wieder, wie jedes Mal.

»Möchtest du ihr Zimmer sehen?«

Ich zögere. Ich will es nicht, aber ich komme nicht drum herum. Schließlich bin auch deshalb hergekommen. Um mich der Realität ihres Lebens zu stellen und damit auch der ihres Todes.

»Ja«, sage ich. »Am besten sofort.«

Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Ich sehe eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon führt, ein breites Bett mit einer cremefarbenen Tagesdecke, eine Frisierkommode mit einem CD-Player neben den Parfüms. Es ist aufgeräumt, alles an seinem Platz. Ganz anders, als ich mir Kates Leben vorgestellt habe.

»Die Polizei hat das Zimmer durchsucht«, sagt Anna. »Die haben alles einigermaßen ordentlich hinterlassen.«

Die Polizei. Ich stelle mir vor, wie sie mit Pulver und Pinseln nach Fingerabdrücken suchen, Kates Sachen in die Hand nehmen, ihr Leben katalogisieren. Meine Haut ist weißglühend, tausend winzige Schockdetonationen. Es ist das erste Mal, dass ich den Ort, an dem ich bin, emotional mit dem Tod meiner Schwester verbinde.

Ich hole tief Luft, als ob ich Kate einatmen könnte, aber sie ist fort, nicht mal ihr Geist ist noch da. Das Zimmer könnte irgendwem gehören. Ich wende mich von Anna ab, gehe zum Bett und setze mich. Auf der Kommode liegt ein Buch.

»Das ist für dich.«

Es ist ein Fotoalbum, die Sorte mit Kartonseiten und selbstklebenden Plastikfolien, damit die Fotos nicht verrutschen. Noch ehe ich es aufschlage, ahne ich, was drin ist.

»Kate hat die Bilder allen Leuten gezeigt«, sagt Anna. »›Die hat meine Schwester gemacht‹, hat sie gesagt. Sie war so stolz, ehrlich.«

Meine Fotos. Anna setzt sich neben mich aufs Bett. »Kate hat gesagt, euer Vater hatte das Album. Sie hat es bei ihm gefunden, als er starb.«

»Mein Vater?«, sage ich. Ich hätte nie gedacht, dass er sich auch nur ansatzweise für meine Arbeit interessiert hat.

»Hat sie jedenfalls gesagt …«

Es ist auf der ersten Seite. Marcus im Spiegel.

»Mein Gott«, sage ich. Ich muss den Schock niederringen. Es ist das ursprüngliche Foto, unbearbeitet, unbeschnitten. Ich bin da, stehe hinter Marcus, die Kamera ans Auge gehoben. Nackt.

»Bist du das?«

»Ja.«

»Und wer ist der Typ? Den ich seh zurzeit überall.«

Ich spüre einen unerwarteten Anflug von Stolz. »Das Foto war vor kurzem in einer Ausstellung. Es ist ziemlich bekannt geworden.«

»Und wer ist das?«

Ich schaue wieder auf das Foto. »Ein Ex. Marcus.« Ich stolpere über seinen Namen. Ich frage mich, wann ich ihn zuletzt laut ausgesprochen habe. Ich rede weiter. »Wir haben zusammengelebt, eine Zeitlang. Vor Jahren. Ich war … wie alt? Zwanzig? Vielleicht nicht mal. Er war Künstler. Er hat mir meine erste Kamera geschenkt. Das Foto hab ich in unserer Wohnung gemacht. Na ja, in einem besetzten Haus. In Berlin. Wir haben da mit ein paar anderen zusammengewohnt. Überwiegend Künstler. Es war ein einziges Kommen und Gehen.«

»Berlin?«

»Ja. Marcus wollte dahin. Das war Mitte der Neunziger. Die Mauer war weg, die Stadt fühlte sich irgendwie neu an. Als wäre sie saubergefegt worden, verstehst du?« Sie nickt. Ich bin nicht sicher, ob sie das besonders interessiert, aber ich erzähle weiter. »Wir haben in Kreuzberg gewohnt. Marcus wollte das. Ich glaube, das war so ein Bowie-Ding.« Sie blickt verwirrt. Vielleicht ist sie zu jung. »David Bowie. Der hat da mal gelebt. Oder Platten aufgenommen, keine Ahnung …«

Ich lege die Finger auf das Foto. Ich denke daran, dass ich meine Kamera überallhin mitnahm, genau wie Marcus seinen Skizzenblock und unser Freund Johan sein Notizbuch. Diese Gegenstände waren nicht bloß Werkzeuge, sie gehörten zu uns, sie waren Ausdruck unserer Sicht auf die Welt. Ich fing an, obsessiv zu fotografieren, vor allem, Leute zu porträtieren, wenn sie sich ausgehfertig machten, sich anzogen, Make-up auflegten, ihre Frisur im Spiegel überprüften.

Anna blickt von mir auf das Foto. »Er wirkt …«, setzt sie an, verstummt dann aber. Als hätte sie irgendetwas in dem Bild gesehen, etwas Beunruhigendes, das sie nicht richtig benennen kann. Ich betrachte es wieder. Es hat so eine Wirkung auf Leute. Es geht ihnen unter die Haut.

Ich beende den Satz für sie. »Unglücklich? Das war er. Nicht immer, ich meine, kurz nachdem ich auf den Auslöser gedrückt habe, hat er einen Song mitgesungen, der im Radio lief, aber ja. Ja, manchmal war er unglücklich.«

»Weshalb?«

Ich will ihr nicht die Wahrheit sagen. Nicht die ganze Wahrheit.

»Er war einfach … ich glaube, er war ein bisschen verloren, zu der Zeit.«

»Hatte er keine Familie?«

»Doch. Er stand ihnen sehr nahe, aber … na ja. Drogen machen so was schwierig.«

Sie schaut zu mir hoch. »Drogen?«

Ich nicke. Das muss sie doch sehen?

»Hast du ihn geliebt?«

»Ich habe ihn sehr geliebt.« Ich hoffe inständig, dass sie nicht fragt, was passiert ist, und ich hoffe auch, dass sie nicht fragt, wie wir uns kennengelernt hatten.

Offenbar spürt sie meine Zurückhaltung. »Es ist ein tolles Foto«, sagt sie. Sie legt eine Hand auf meinen Arm. »Sie sind alle toll. Du hast großes Talent. Sollen wir uns noch welche anschauen?«

Ich blättere eine Seite weiter. Da hat Kate ein Bild eingeklebt, das viel früher entstanden ist; schwarzweiß und an den Rändern absichtlich verwischt. Frosty, geschminkt, aber ohne Perücke, zieht ihre Stöckelschuhe an. Sie sitzt auf einer Couch, ein übervoller Aschenbecher zu ihren Füßen, daneben eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. Es war schon immer eins meiner Lieblingsfotos.

»Wer ist das?«

»Das ist Frosty.«

»Frosty?«

»Den richtigen Namen weiß ich nicht mehr. Sie konnte ihn sowieso nicht ausstehen.«

»Sie?« Anna blickt verblüfft, und ich kann verstehen, warum. Auf dem Foto hat Frosty kurzgeschorene Haare. Selbst mit Make-up sieht sie eher männlich als weiblich aus.

»Ja. Sie war eine Frau.« Ich lache. »Eigentlich war sie weder noch, aber sie sprach von sich immer als ›sie‹. Sie sagte: ›Du musst dich entscheiden in dieser Welt. Es gibt in Kneipen nur zwei Toiletten. Es gibt auf Formularen nur zwei Kästchen zum Ankreuzen. Männlich oder weiblich.‹ Sie hatte entschieden, dass sie eine Frau war.«

Anna schaut wieder auf das Foto. Ich erwarte nicht, dass sie es versteht. Menschen wie Frosty – oder auch Menschen wie Marcus – sind nicht Teil ihrer Welt. Sie sind nicht mal mehr Teil meiner Welt.

»Was ist aus ihr geworden?«

»Keine Ahnung!«, sage ich. »Wir haben alle gedacht, dass Frosty nicht alt wird. Sie war zu zerbrechlich für diese Welt … Aber vielleicht haben wir uns auch nur in irgendwas Melodramatisches reingesteigert. Ehrlich gesagt, bin ich überstürzt aus Berlin weg. Ich hab die anderen zurückgelassen. Ich habe keine Ahnung, was danach passiert ist.«

»Du hast nicht zurückgeschaut?«

Es ist ein merkwürdiger Ausdruck. Ich denke an Lots Frau, die Salzsäule. »Ich konnte nicht.« Es war zu schmerzhaft, möchte ich sagen, verkneife es mir aber. Ich klappe das Fotoalbum zu und will es ihr zurückgeben.

»Nein. Die gehören dir.«

Ich zögere.

»Behalt sie. Und das hier auch.«

Sie hebt eine Dose vom Fußboden neben Kates Bett auf und reicht sie mir. Es ist eine größere Blechdose. Auf dem Deckel sind ein Bild von einer Frau in einem roten Kleid und der Schriftzug Huile d’olive.

»Die ist für dich.«

»Was ist da drin?«

»Persönliche Sachen von Kate. Ich fand, du solltest sie haben.«

Das ist also alles, was von meiner Schwester geblieben ist. Was ich mit nach Hause nehmen kann. Für ihren Sohn.

Ich bin angespannt, als könnte in der Dose eine Falle sein, eine Ratte oder eine giftige Spinne.

Ich nehme den Deckel ab. Die Dose ist voller Notizbücher, Fotos, Papierkram. Ihr Reisepass liegt ganz oben, und ich schlage die Seite mit ihrem Foto auf. Es ist jüngeren Datums, eins, das ich noch nie gesehen habe. Ihr Haar ist kürzer, und sie hat abgenommen. Sie sieht fast aus wie jemand anders.

Ich lese das Ablaufdatum. Der Pass ist noch acht Jahre gültig. Acht Jahre, die sie nicht mehr brauchen wird. Ich klappe ihn zu und lege ihn zurück, schließe die Dose.

»Den Rest seh ich mir später an«, sage ich. Ich merke, dass ich begonnen habe zu weinen, das erste Mal seit Kates Tod. Ich fühle mich nackt, wund. Es ist, als wäre ich aufgeschnitten worden, wie eine Patientin von Hugh, vom Hals bis zur Leistengegend. Ich bin gehäutet, mein Herz eine schartige Wunde.

Ich stelle die Dose wieder auf den Boden. Ich will weg, irgendwohin, wo es still und warm ist, wo ich für immer bleiben kann und an gar nichts denken muss.

Aber bin ich nicht deshalb hergekommen? Um die Erinnerung an meine Schwester auszugraben, dafür zu sorgen, dass ein kleiner Teil von ihr für Connor weiterlebt? Um etwas zu empfinden, mich zu entschuldigen, zu verabschieden?

Ja, denke ich, genau deshalb bin ich hier. Ich tue das Richtige.

Wieso also hasse ich mich selbst?

»Ist ja gut«, sagt Anna. »Wein dich aus. Ist ja gut.«

4

Wir fahren mit dem Taxi zum Restaurant. Wir bekommen einen Tisch draußen im Freien. Weiße Tischdecke, mit Plastikklammern festgehalten, ein Korb mit Brot. Der Abend ist warm und mild, die Luft still, voller Verheißungen.

Wir plaudern. Nachdem ich mich wieder eingekriegt hatte, beschlossen wir, heute Abend nicht nur Kates Tod zu betrauern, sondern auch ihr Leben zu feiern. Wir lachen, die Stimmung zwischen uns ist unbeschwert. Anna holt sogar ihr Handy hervor und macht einen Schnappschuss von uns beiden mit dem Fluss im Hintergrund. Die Gegend gefällt ihr, erzählt sie, und sie würde gern hier wohnen, irgendwann mal. »Die Lage ist sehr zentral«, sagt sie. »Direkt am Fluss …« Sie bestellt eine Karaffe Wein. Als der Kellner mir einschenken will, halte ich die Hand über mein Glas und schüttele den Kopf.

»Keinen Wein?«

»Nein«, sage ich. Ich denke an die Ausflüchte, die ich in der Vergangenheit gemacht habe – ich nehme gerade Antibiotika, ich bin auf Diät oder ich muss noch fahren –, doch dann geschieht das Unvermeidliche. Andere Ausflüchte drängeln sich vor, solche, die mir einreden wollen, warum ich diesmal, dieses eine Mal, ruhig einen Schluck trinken kann. Es war ein aufwühlender Tag, ich bin gestresst, es ist fünfzehn Jahre her und wird schon nicht so schlimm sein.

Meine Schwester ist umgebracht worden.

»Ich möchte nicht.«

Ich denke an das, was ich gelernt habe. Ich kann der Verlockung, Alkohol zu trinken, nicht ausweichen, ich muss mir das Verlangen eingestehen. Ich muss mir klarmachen, dass es normal ist und nicht von Dauer. Ich muss mich ihm widersetzen oder warten, bis es abebbt.

»Ehrlich gesagt, ich trinke keinen Alkohol. Schon länger nicht.« Anna nickt und trinkt einen Schluck Wein, während ich Mineralwasser bestelle. Sie blickt interessiert, stellt aber keine Fragen, was mich erleichtert. Als sie ihr Glas abstellt, sehe ich, dass sie fahrig ist, unruhig. Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, spielt mit ihrer Serviette.

»Ich wollte mit dir über was reden.«

»Schieß los.«

Sie zögert. Ich frage mich, was sie sagen wird. Ich weiß, dass die Polizei sie ausgiebig vernommen hat. Die Bar, in der Kate an dem Abend war, ist auch ein Stammlokal von ihr. Ich mache mich auf irgendeine Enthüllung gefasst.

»Es geht um das Geld …«

Ich lächele. Kates Testament muss sie überrascht haben, und Hugh hatte mich vorgewarnt, dass Anna es wahrscheinlich ansprechen würde.

»Das Geld, das Kate dir hinterlassen hat?«

»Ja, es war ein Schock …« Sie nimmt sich ein Stück Brot. »Damit hab ich echt nicht gerechnet. Ehrlich, ich hatte keine Ahnung, dass sie überhaupt so viel Geld hatte, um etwas zu vermachen, geschweige denn, dass sie auf die Idee kommen könnte, mir was davon zu hinterlassen … Und ich hab sie auch nicht darum gebeten. Mir ist wichtig, dass du das weißt.«

Ich lächele wieder. Ich erinnere mich, dass es Hugh war, der Kate überhaupt erst dazu überredete, ein Testament aufzusetzen, und wir waren beide erleichtert, als sie es später änderte, um auch Anna als Erbin zu berücksichtigen. Das bedeutete, dass sie Freunde hatte, dass sie allmählich Wurzeln schlug.

»Ich weiß. Kein Problem.«

»Warst du überrascht? Dass sie mir Geld vermacht hat?«

»Nein. Ich find’s naheliegend. Du warst ihre beste Freundin. Kate war ein großzügiger Mensch. Sie muss gewollt haben, dass du es bekommst.«

Sie wirkt erleichtert. Ich frage mich, ob wegen des Geldes oder weil dieses Gespräch nicht so unangenehm verläuft, wie sie befürchtet hat.

»Woher hatte sie so viel Geld?«

»Von unserem Vater. Er ist vor zwei Jahren gestorben und hat sein Geld Kate hinterlassen. Alles, was auf seinem Konto war, plus den Erlös aus dem Verkauf seines Hauses. Das war mehr, als wir gedacht hatten.«

Einiges mehr, denke ich. Fast eine Million Pfund. Aber das sage ich nicht.

»Hat er dir auch was davon vererbt?«

Ich schüttele den Kopf. »Er hat wohl gedacht, ich brauche nichts.«

Oder vielleicht hatte er Schuldgefühle. Er wusste, dass er seine jüngere Tochter vernachlässigt hatte. Er wollte es wiedergutmachen.

Anna seufzt.

»Es ist okay so«, sage ich rasch. »Hugh kommt aus einer wohlhabenden Familie, und Kate konnte es gebrauchen.«

»Aber sie hat es nicht ausgegeben.«

»Nein. Hugh hat ihr geraten, einen Teil davon auf die hohe Kante zu legen, für schlechte Zeiten. Aber wir hätten nicht gedacht, dass sie wirklich auf ihn hören würde.«

»Ich würde dir meinen Anteil ohne weiteres geben. Wenn du willst?«

Sie meint das ernst. Ich lege eine Hand auf ihren Arm. »Auf keinen Fall. Außerdem hat sie den Rest Connor vermacht. Und das ist ziemlich viel.« Wesentlich mehr, als du bekommen hast, denke ich, doch auch das sage ich nicht. »Ich bin seine Treuhänderin, und er bekommt es erst, wenn ich sicher bin, dass er nicht alles für Computerspiele und neue Sportschuhe ausgibt.«

Sie sagt nichts. Sie wirkt skeptisch.

»Kate wollte offensichtlich, dass du das Geld bekommst. Freu dich dran …«

Ein erleichtertes Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit. Sie dankt mir, und gleich darauf kommt der Kellner, und wir sind ein Weilchen damit beschäftigt, die Speisekarte zu studieren und zu bestellen. Sobald er wieder gegangen ist, tritt Schweigen ein. Die Sonne gießt ihr goldenes Licht über den Fluss. Pärchen schlendern vorbei, Arm in Arm. Der Schleier meiner Trauer hebt sich kurz, und ich erahne Ruhe und Frieden. Ich habe beinahe das Gefühl, mich entspannen zu können.