Typisch untypisch - Berufsbiografien von Asperger-Autisten -  - E-Book

Typisch untypisch - Berufsbiografien von Asperger-Autisten E-Book

0,0

Beschreibung

Wie gestalten erwachsene Asperger-Autisten ihr Erwerbsleben? Welche Berufswege gehen sie, welche Erfahrungen gesellen sich dabei typischerweise hinzu, und gibt es Faktoren, die sich als förderlich oder hemmend für die Biografie erweisen? Antworten auf diese Fragen geben 22 Berufsbiografien von Asperger-Autistinnen und -Autisten. Die Einblicke in individuelle Werdegänge bilden ein weites Spektrum beruflicher Erfahrungen ab, in denen sich dennoch jeweils autismusspezifische Gemeinsamkeiten finden. Ergänzt durch Interviewskizzen und wissenschaftliche Aussagen entsteht ein Werk mit überindividueller Perspektive und bedeutsamer Aussagekraft. Mit dieser strukturierten Selbstbetrachtung gelingt die Herausarbeitung überindividueller Besonderheiten dennoch ganz untypischer Menschen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 585

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eleonora Kohl

Hajo Seng

Tobias Gatti (Hrsg.)

Typisch untypisch Berufsbiografien von Asperger-Autisten

Individuelle Wege und vergleichbare Erfahrungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032617-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032618-7

epub:   ISBN 978-3-17-032619-4

mobi:   ISBN 978-3-17-032620-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Studie eines Gesichts, Zeichnung von Hajo Seng

 

Inhalt

 

 

Geleitwort

Zum Buchgeläut

Johannes

Johannes: Interview

Seven

Seven: Interview

Benjamin

Benjamin: Interview

Franziska

Franziska: Interview

Annabelle

Annabelle: Interview

Joachim

Joachim: Interview

Sarah

Sarah: Interview

Uli

Uli: Interview

Birgit

Birgit: Interview

Pedro

Pedro: Interview

Hermine

Hermine: Interview

Frank

Frank: Interview

Sonja

Sonja: Interview

Hajo

Hajo: Interview

Jimmy

Jimmy: Interview

Emma

Emma: Interview

Garibaldi

Garibaldi: Interview

Steffi

Steffi: Interview

Jürgen

Jürgen: Interview

Christiane

Christiane: Interview

Thomas

Thomas: Interview

Ulrich

Ulrich: Interview

Sind Asperger-Autisten zu exklusiv für Inklusion?

 

Geleitwort

 

Kaum etwas ist so wichtig wie Erwerbsarbeit: gesellschaftlich, sozial und psychologisch. Vielleicht war sie es schon immer, vielleicht ist sie das auch erst mit der Moderne geworden, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt, soziale Zugehörigkeit und in nicht geringem Umfang auch Sinn und Wert eines Lebens verstärkt über Erwerbsarbeit definiert wurden. Karl Marx wird beispielsweise das folgende Zitat zugeschrieben: »Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht, bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht.« Alles andere im Leben – das wird aus der Metapher deutlich – sind nur Planeten … Man kann sich darüber streiten, ob es so sein und so bleiben sollte, dass sich so vieles im Leben um die Arbeit dreht und die zentralste und kräftigste Zeit des Tages, des Jahres und des Lebens hauptsächlich ihr gewidmet wird. Man kann sich mit Fug und Recht darüber streiten, ob Erwerbsarbeit nicht maßlos überschätzt wird. Dieser Streit ist angemessen und richtig, aber er ändert nichts daran, dass denjenigen, die nicht oder nur prekär am Erwerbsleben teilhaben, die »Sonne« der Arbeit nicht mehr leuchtet oder sie sich dauernd zu verfinstern droht. Ob Erwerbsarbeit nun naturgegeben oder gesellschaftlich bedingt das Zentrum unseres Lebens ist, ist für den einzelnen von Exklusion Betroffenen irrelevant, da kaum ein Mensch – auch nicht die autonom denkenden Autistinnen und Autisten – sich von dieser inneren wie äußeren Vorgabe freimachen können. So wünschenswert Muße als Ergänzung zur Arbeit ist, sie kann unser gesellschaftliches Zentralgestirn nicht ersetzen. Arbeit sollte an für sich niemandem vorenthalten werden.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit dem Thema Erwerbsarbeit bei Menschen mit Asperger-Autismus. Die zentralen Fakten zu diesem Thema sind – aus verschiedenen internationalen Studien – schnell zusammengefasst: Menschen mit hochfunktionalem Autismus sind oft sehr begabt und haben gute Ausbildungsabschlüsse; gleichzeitig gelingt es ihnen häufig nur unter höchsten Anstrengungen – die mit einem guten Leben kaum vereinbar sind –, auf ausschweifenden Umwegen oder gar nicht, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Warum denn das?, fragt man sich. Was sagen diese Statistiken über die Autisten aus? Und was über unsere Gesellschaft? Um hier zu Antworten zu kommen, reicht die Befragung der Statistik nicht aus, dafür braucht es die lebendige Fülle individueller Geschichten, die darin enthaltenen persönlichen Analysen der Problemstellungen und die originellen und kreativen Problemlösungen. Und genau das bietet uns dieses Buch an.

Die biografischen Texte und Interviews zeigen eine bunte Vielfalt autistischen Lebens und lassen verschiedenste Klischees schnell verblassen: zum Beispiel dasjenige, dass annähernd alle Menschen mit Autismus gerne und gut mit Computern arbeiten. Nein, die Begabungen von Menschen mit Autismus können in den unterschiedlichsten Bereichen liegen, auch im Bereich des Sozialen und Mitmenschlichen. Auch mit dem Bild des an Bindung desinteressierten, empathiefreien Autisten räumt das Buch gründlich auf: In den autobiografischen Skizzen wird immer wieder deutlich, dass hier keine isolierten Subjekte sprechen, keine bindungslosen Marktteilnehmer und keine solipsistischen »Kopfgeburten«. Wie alle Menschen brauchen die hier zu Wort Kommenden Bezüge und Beziehungen, in denen sie sich und ihre Begabungen und ihre Berufungen entfalten können. Konkret wird bei der Lektüre immer wieder deutlich, dass eine weniger normierte Gestaltung der Arbeitsplätze, Arbeitszeiten und Arbeitsgruppen dem Wertschöpfungsprozess die großen Potenziale erhalten könnte, die in den Biografien gespiegelt sind.

Der Band ist dabei nicht – oder gar nur im unwesentlicheren Sinne – ein Buch über Autismus, welches das Leben autistischer Menschen für autistische und interessierte neurotypische Leser vielgestaltig beschreibt und autismustypische Schwierigkeiten beim Arbeiten plastisch werden lässt. Es ist vielmehr ein bunter prismatischer Spiegel unseres Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Es zeigt uns, wie wir mit Andersheit umgehen und wie wir sie immer wieder exkludieren; es zeigt uns auch die neurotypischen Ängste vor Menschen, die intuitiv nicht so einfach zu verstehen sind, und die Ängste vor fachlicher Unterlegenheit. Und es zeigt uns – mal explizit, mal implizit – wie es bessergehen könnte.

Die Texte werfen Fragen auf, die weit über das Thema Autismus hinausgehen. Zum Beispiel diejenige, nach der Psychiatrisierung oder des »Labelings« des Normabweichenden als Etikett einer Exklusion. Da es wahrscheinlich in der Natur des Menschen liegt, dass er zuerst einmal davon ausgeht, alle anderen seien so wie er selbst, stolpern die meisten Menschen sehr darüber, wenn jemand nicht so ist wie sie selbst. Dies wendet sich leider immer wieder ins Normative und führt zu der Forderung, dass alle gleich sein sollten. Wie stark diese Ansicht in der Tiefenschicht einer an der Oberfläche liberalen Gesellschaft weiterwirkt, können wir den Reaktionen der Umwelt auf die schreibenden Betroffenen immer wieder entnehmen. Und wir lesen immer wieder davon, dass das Label »Autismus« ein Stück weit Erleichterung brachte, sozusagen den Krampf des »So-wie-alle-sein-Müssens« etwas löste – sowohl innen als auch außen. Es scheint so, als könnten wir alle (Autisten wie Nicht-Autisten) die Besonderheit und Andersheit dann besser so wie sie ist sein lassen, wenn sie einen Namen hat. Auch wenn es aus übergeordneter Perspektive vielleicht besser wäre, dies auch ohne Label zu können, scheint in der jetzigen Realität die Benennung »Autismus« doch zumindest in einigen Fällen zu einem guten Leben beizutragen und damit einen pragmatischen Sinn dieser Praxis zu rechtfertigen. (Damit soll die Frage nach dem »Labeling« keineswegs endgültig beantwortet werden, das genannte ist nur ein Argument unter vielen anderen.)

Auch die Frage, ob die Arbeit so, wie sie aufgeteilt ist, sinnvoll aufgeteilt ist, geht weit über das Thema Autismus hinaus. Ist es sinnvoll, dass einerseits diejenigen, die sich nicht genug »anpassen« können, ihre Begabung gar nicht oder nur marginal ins Erwerbsleben einbringen können und auf der anderen Seite viele Menschen stehen, die viel, oft zu viel, aktuell gerne bis zum »Burnout« arbeiten? Ist es sinnvoll, bis zum 67. Lebensjahr die allermeiste Zeit der Arbeit zu widmen und dann plötzlich gar nicht mehr zu arbeiten? Und was ist mit den Millionen von Arbeitslosen in Südeuropa und den Millionen von Ruhe- und Mußelosen bei uns? Wären wir nicht produktiver, gelassener und glücklicher, wenn wir die Erwerbsarbeit besser verteilen könnten?

Neben der Relevanz des Inhalts möchte ich abschließend noch einen weiteren Punkt nennen, der das Buch wirklich lesenswert macht: Dies ist die in den Bann ziehende, individuell-originelle und zeitlose Sprache selbstdenkender Menschen. In diesem Sinne wünsche ich dem Buch eine breite, geneigte und offene Leserschaft.

 

PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel

 

Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg i. Br.

 

 

 

 

 

Zum Buchgeläut

Alternative zum Fernsehprogramm

Es gibt zahlreiche wichtigste Fragen mit evidenzorientiertem Objektivitätsanspruch, die zu Asperger-Autisten (und ja, auch zu den viel selteneren Autistinnen im Besonderen, z. B. von Preißmann, 2013a; Baldwin & Costley, 2015) gefragt und beantwortet werden möchten – so ist es für Forschende durchaus von Interesse zu wissen, ob AutistInnen annehmen, mehr oder weniger zum favorisierten Fernsehprogramm zu wissen als eine Vergleichsperson (Dritschel et al., 2010). Dies könnte hypothetisch – mit einem Zwinkern in diesen einläutenden Buchraum gestellt – bezogen werden auf die bestens erforschte Problematik von autistischer Einsamkeit und exklusiver sozialer Isolation (z. B. Muller et al., 2008), denn mit etwas muss die Leere ja gefüllt werden. Wenn dem so wäre, könnte dies den Erfolg der gemeinschaftsstiftenden inklusiven Gruppentherapien für Autisten anschaulicher erklären, als es die inhaltlichen Konzepte dieser sozialen und kommunikativen Kompetenztrainings (u. a. Matzies, 2010; Gawronski et al., 2012; Ebert et al., 2013; Freitag et al., 2013, van Elst, 2016) nahelegen. Bölte (2011, S. 593) beschreibt sein Trainingskonzept arztserienreif als den » Versuch des Trainings fehlender μ-Suppression durch Neurofeedback und der Reanimation von Gyrus fusiformis und Amygdala durch Förderung fazialer Affekterkennung«. Derzeit werden im deutschen Fernsehen dreiundzwanzig Arzt-/Krankenhausserien ausgestrahlt, inklusive der herzigwarmen Tierarztserien.

Hat ein, von einigen der Mitautoren absolviertes, therapeutisches Gruppentraining nun beruflich wie privat geholfen, mittels gefilmter Rollenspiele zukünftig ein nicht funktionierendes Fernsehgerät beim Händler reklamieren zu können oder mit dem Chef über Sonderurlaub zum Überstundenabbau zu verhandeln? Gab es in den Videos mehr zu bestaunen als selbst für Privatsender fernsehuntauglichePeinlichkeiten? Oder fand der signifikanzhaschende Weg aus isolierender Fernsehsessel-Depression über den Austausch mit anderen statt? Autistinnen selbst zumindest wundert es nicht, dass Freundschaften und berufliche Zugehörigkeiten auch für Autisten wichtig sind, auch, aber nicht vorrangig, um Einsamkeit zu überwinden. Und auch nicht, um sich über Fernsehserien zu unterhalten, die zumindest niemand aus dieser Autorengruppe je regelmäßig gesehen hat.

Einen Beruf zu erlernen und einem Erwerb nachzugehen ist von selbstverständlicher Wichtigkeit – die Lebenswege von Asperger-AutistInnen in der Ausbildungs- und Berufswelt sind allerdings oft von Verständnislosigkeit, Niederlagen trotz fachlich sehr guter Leistungen sowie von Kompromissen zwischen eigentlichen Interessen und absolvierbaren Möglichkeiten geprägt. Sie gehören zu den unfreiwilligen Berufswechslern, von denen Reutter (2004) spricht: zu der Gruppe mit einem deutlich höheren Diskontinuitätsrisiko in der Erwerbsbiografie, als es die Gesamtheit aufweist.

Als wir mit der Zusammenstellung der Beiträge dieses Buches begannen, war uns bewusst, dass kaum eine Asperger-Autistin/ein Asperger-Autist einen unkomplizierten kontinuierlichen Ausbildungs- und Berufsweg gegangen ist oder einen solchen für die Zukunft antizipiert. Überrascht hat uns dann aber dennoch die Realität, die recht deckungsgleich einen großen Teil der von den Individuen abstrahierten wissenschaftlichen Ergebnisse widerspiegelt; eine Lebensrealität, die sich in vergleichbaren Schwierigkeiten und Erfahrungen sowie auch Reaktionsweisen zeigt. Es finden sich – ganz losgelöst von den individuellen Talenten und damit fachlichen Verortungen – einander ähnelnde Lerngewohnheiten, Entscheidungsgrundlagen zur Berufswahl, Erfahrungen mit Sozialkontakten in der Arbeitswelt, förderliche und hinderliche Faktoren im Arbeitsumfeld sowie aus der Grundkonstitution entstandene gesundheitliche Schwierigkeiten, hier vor allem im psychischen und psychosomatischen Bereich. Und autistische Gendereffekte, die finden sich ebenfalls. Allein dies zu wissen, zu erkennen: da sind andere Menschen mit ähnlichen Berufs- und damit Lebenswegen, mit Talenten und Nichterfüllbarkeiten, das führt zum einen zu einer Erleichterung zur eigenen Person im Sinne einer befriedenden Entschuldung der ganz individuellen Versagtheiten und zum anderen zu einer kooperativen, selbstbewussten Forderung nach einem Arbeitsumfeld, das für AutistInnen, als rund einem Prozent der Mitgesellschaftsbildenden, notwendig wäre, um die Arbeitsinhalte auf Dauer und in guter Qualität zu erfüllen – und das bei einem durchaus eigenen Kompetenzportfolio. Die Berufsbiografien in diesem Buch zeigen eine spannende Bandbreite. Eine Vielfalt von Talenten agiert in oft zufälligen, mehr oder weniger optimalen, beruflichen Kontextbedingungen – die aber dennoch immer wieder entscheidend sind für erfolgreiche, komplizierte oder auch scheiternde Berufswege. Es ist nicht das fachliche Können, sondern es ist das Aushaltenkönnen von reizüberflutenden Situationen, von sozialen Überforderungen und unplanbaren Arbeitsinhalten, das entscheidend für den Berufserfolg ist – und manchmal ist es auch bereits die örtliche Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes, der durch eine verwirrende, übervolle öffentliche Verkehrswelt führt. Oft werden ganz individuelle Tricks (und Tics) entwickelt, um sich in der Berufswelt dennoch zu behaupten; manchmal helfen auch diese nicht, einer Erschöpfungsreaktion bis hin zur Frühberentung vorzubeugen. Immer wieder erweist sich eine erst im Erwachsenenalter, nach einer Berufsodyssee, erhaltene Diagnose »Sie sind Asperger-Autist« als zu spät, um noch einen Berufsweg zu planen, der auch bis zum Ü-60-Rentenalter gegangen werden kann. Dieses Buch gibt Beispiele, zeigt Typisches auf von untypischen Menschen. Die Biografien sind eine Alternative zum Fernsehprogramm, sie sind nicht serienreif und dennoch interessant für Menschen, die Fragen haben zu möglichen und unmöglichen Berufswegen von Autisten.

Umgangsformen kränke(l)n

Es scheint in der IT-Branche chic, sich einen sonderlingigen Autisten zu halten, der als PC-Gräuling informationstechnische Herausforderungen löst, weil er (!) sowieso bereits in binären Codes denkt. IT-Firmen, bis hin zu SAP, die daraus werbewirksame Öffentlichkeitsarbeit machen, stellen Autisten ein, denn » Detailgenauigkeit, Akribie, ein hervorragendes Gedächtnis und eine besondere Art, logisch zu denken, seien häufige Eigenschaften. Was im normalen Umgang nur krankhaft erscheint, ist dasperfekte Profil, um Software zu testen oder technische Geräte« (wirtschaftswoche, IT-Firmen wollen Autisten, 21.06.2013). Was einen nicht krankhaften, also den normalen Umgang mit KollegInnen betrifft, so hätte eine normal-sensible Formulierung durchaus nichtbinäres Feingefühl bewiesen – entsprechend einem respektvollen Umgang der Personalverantwortlichen mit autistischen BewerberInnen. Manchmal ist ein kleiner Wortersatz entscheidend. Sozial und journalistisch krankhaft könnte es sein, nicht mit empathischer Sensibilität beispielsweise »sonderbar«, »ungewohnt« oder »sehr eigen« zur Kennzeichnung autistischer Besonderheiten zu wählen.

Wenn wir in diesem Buch Berufsbiografien von Asperger-AutistInnen beschreiben, dann sind diese im Autismus-Spektrum eher auf der Seite der milden Formen autistischer Merkmalsausprägungen siedelnd. Um dies zu kennzeichnen, haben wir den Begriff »Asperger« beibehalten. Viele Autisten lassen sich nicht gerne den Hans Asperger nehmen, nicht nur, weil er damit dann endgültig gestorben ist, seine Grundlagenarbeit allerdings überlebenswert und alltagstauglich ist. Mit dem DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wurde im Jahr 2013 das Asperger-Syndrom als eigenständige Diagnose gestrichen und fällt seitdem unter die »Autismus-Spektrum-Störungen« (ASS). Im ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) konnte sich der Asperger als eigenständige Form des Autismus unter F84.5 noch halten, soll aber und wird wohl in der Version ICD-11 ebenfalls den Asperger zugunsten eines Spektrums verlieren: 7A20 Spektrum autistischer Störungen (Autism spectrum disorder, ASD). Ob es für die dann ehemaligen »Aspies« beruflich von Vorteil ist, sich nicht mehr von anderen, auch den nicht so funktionalen Formen des Autismus zu unterscheiden, das ist zu bezweifeln. Die Entnamisierung und dann Zuordnung zu einer krankhaften »Störung« bereits im Namen führt weiter weg von der akzeptierenden Sichtweise des Autismus als einer Normvariante der Informationsverarbeitung (Attwood, 2008). »Störung« ist keine gute Selbstwerbung für fitte Employees – es ist einfacher, sich als guter Mitarbeiter zu vermarkten, wenn nicht ein genereller Defekt mitverkauft werden muss. Auch für Personalverantwortliche ist es einfacher, eine präzisierte Asperger-Autistin vor sich zu haben, als einen Menschen irgendwo auf einem sehr weiten Spektrum.

Massen meidende Spektrumsautisten werden so durch DCM-5 und ISD-11 auf fast tragikomische Weise in einer Masse vereint. Es gibt auch massenhaft mehr Autisten. Die sehr deutlich steigenden Zahlen für die Prävalenz der ASS von 0,04 % im Jahr 1965 auf aktuell fast 1 % werden gerne mit den Weiterentwicklungen der Untersuchungsinstrumente, der Klassifikationskriterien sowie mehr Wissen zum Autismus durch wissenschaftliche Untersuchungen erklärt (vgl. Sinzig, 2015, S. 673) – aber gibt es wirklich ein so weites Spektrum, das rund das Fünfundzwanzigfache an Autistinnen dort hineinpasst? Welche Umgangsformen mit Autismus werden sich dann entwickeln?

Viele Asperger-Autisten haben hohe kognitive Fähigkeiten oder kreative Talente. Wenn es um berufstätige AutistInnen geht, dann wird das Fähige anschaulich gerne auch als »hochfunktionaler Autismus« betitelt. »Funktional« bedeutet dennoch nicht gleichzeitig auch »funktionierend«, insbesondere wenn es auf die Berufswelt bezogen wird. Ob die normalen und somit gängigen Umgangsformen berufsbereiter Autistinnen siechend sind, wie in der oben zitierten Presse zu lesen, wäre eine Diskussion wert. Der Umgang mit funktionalen AutistInnen ist es jedoch immer wieder. Wie kann es normal sein, dass rund 70 % der Asperger-Autistinnen als Schulabschluss das Abitur vorweisen – der Bundesdurchschnitt liegt bei 30 % – und 35 % der Asperger-Autisten sehr fachkompetent einen Hochschulabschluss erreichen – der Bundesdurchschnitt liegt derzeit bei 27 % –, um dann mit rund 18 % Arbeitslosenquote dreimal so häufig ohne Job zu sein wie der hierlandige Durchschnittsmensch? Etwas funktioniert nicht mit der Integration, denn auch sehr gut ausgebildeten Autistinnen begegnen auf dem Arbeitsmarkt große Schwierigkeiten. Trotz der Qualifizierung wird überdurchschnittlich oft kein Arbeitsplatz auf dem normalen Arbeitsmarkt gefunden oder dieser kann nicht für eine längere Zeit gehalten werden. Wahrscheinlich liegt es nicht allein daran, dass AutistInnen nicht generell Technikfreaks sind oder »allein« in Binärwelten leben.

Dass der Ausgleich zum sozialen Anderssein nicht immer auch den Hang zu abstrakten unbelebten Themengebieten der Technik, Mathematik oder Naturwissenschaft inkludiert, das hat bereits Hans Asperger, in seiner grundlegenden, typologisierenden Abhandlung angemerkt:

»Sie haben, vor allem die intellektuell gut Begabten unter ihnen, ein besonders schöpferisches Verhältnis zur Sprache, sind imstande, ihr originelles Erleben, ihre originellen Beobachtungen auch in einer sprachlich originellen Form auszudrücken – sei es nun durch ungewöhnliche Wörter, von denen man annehmen müßte, daß sie dem Lebenskreis dieser Kinder ganz fernliegen, oder sei es durch neugebiIdete oder wenigstens umgeformte Ausdrücke, die oft besonders treffsicher und bezeichnend, oft freilich auch recht abwegig sind.[…] Hinter der Eigenständigkeit der sprachlichen Formulierung steht die Originalität des Erlebens. […] Als weiterer »aparter« Zug findet sich bei manchen autistischen Kindern eine sonst nicht zu beobachtende Reife des Kunstverständnisses.« (Asperger, 1944, S. 115 f.)

Der kreativen Kunst von AutistInnen wird sogar eine eigene, hohe Qualität zugesprochen, die sich unter anderem in der sehr authentischen, autopoietischen und nicht manipulierbaren Ausdruckweise zeigt. Eine Kunst, die ohne den Paradigmenüberbau der Bildenden Kunst auskommt und dann, losgelöst von zeitgenössischen Gestaltungsprinzipien und Strömungen, ihrerseits andere Künstler inspiriert (Theunissen, 2010).

»Was diese Kunst so ungewöhnlich macht und uns in ihren Bann zieht, sind vor dem Hintergrund besonderer (impliziter) Gedächtnisleistungen […] Entstehungsbedingungen und Darstellungsfähigkeiten […], bestimmte Stilmittel wie Präferenzen für Formalisierung, Schematisierung, Formwiederholung, manieristische Deformation und auffällige Farbigkeit.« (Theunissen, 2010, S. 113).

Die hier versammelten Berufsbiografien bilden es ab, diese weite Spektrumsansiedlung möglicher Talente, vom Künstlerischen über das Sprachliche bis hin, natürlich, auch zum Technischen.

So verschieden damit die »gesunden« Interessen und Begabungen von Asperger-Autisten, und damit ihre beruflichen Themenpräferenzen, sind, es gibt weitere unkränkliche Gemeinsamkeiten, die als Basis für eine zukunftskluge Wahl des Berufs mit dienlich sein können. Neben den flotten kognitiven Fähigkeiten zum logischen und kreativen Denken – was bei fachlichen Problemen zu unkonventionellen Lösungen führen kann – bilden Konzentrationsfähigkeit und hohe Arbeitsmotivation bis hin zum Perfektionismus eine starke Arbeitsfitness. Detailorientiertheit und Sorgfalt lächeln beim Gedanken an nicht benötigte Arbeitspausen und Small-Talk-Ablenkungen, sie machen Autisten, zusammen mit schneller Auffassungsgabe und Merkfähigkeit zu einem effektiven Fachpersonal, das auch noch loyal und gerechtigkeitsliebend ist (Sünkel, 2013). Dieses Profil ist wieder nicht nur für technische Berufe ideal, aber damit diese Stärken genutzt werden können, sollten Arbeitsbedingungen in besonderer Form gestaltet werden – und das meint nicht die Festlegung auf einen durch externe Annahmen bestimmten Berufsinhalt für Kranke, sondern die gemeinsame Gestaltung der Kontextfaktoren im Rahmen eines wertschätzenden und tolerierenden Umgangs mit Eigenarten.

Malemployment unterm Apfelbaum

Die Möglichkeit, einen Beruf gemäß dem eigenen Können zu erlernen und mit diesem dann seinen Lebensüberhalt zu verdienen, ist ein wichtiges, salutogenetisches Element der positiven Selbstsicht sowie Bestandteil der ganz persönlichen Würde und Welthaltung. Wenn das Grundgesetz in Artikel 12 festlegt » Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen«, so meint dies genau diese Möglichkeit, die Option einer, in der Chance gleichberechtigten Teilhabe am Arbeitsmarkt. Den Beruf zur Grundlage der eigenen Lebensgestaltung zu machen, sich im fachlichen Wettbewerb zu behaupten, weil Autistinnen nicht einer sozialen Umwelt gegenüberstehen, sondern ein mitgestaltender Teil derselben sind. Autisten benötigen die Aussicht zum beruflichen Dasein. Das bedeutet, trotz der Eigenarten, das jeweilige fachliche Können in einem Beruf unter Beweis zu stellen. Ein Beruf, für den eine Person sich als geeignet empfindet, in dem die notwendigen Rahmenbedingungen gemeinsam einrichtbar sind und in dem ein Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Leistung erbracht werden könnte. Der Weg dorthin ist oft länger und beinhaltet mehr Umwege für autistische Berufstäter, weil die Lebensphase bis zu einer Diagnosestellung oft weit ins Erwachsenenalter reicht – und bis dahin weder die Person selbst noch die umgebenden Menschen einschätzen können, was es ist, das einen so angreift, wo denn eigentlich die zu lösende Problemlage zu verorten ist. Solange das Seltsame keinen Namen hat, besitzt es keinen nennbaren Umgangscharakter.

Produktiv tätig zu sein ist somit ein Grundrecht, das nicht mit dem Erhalt eines Schwerbehindertenausweises endet, den einige Autistinnen, unter Abwägung des Für und Wider, beantragt und dann auch erhalten haben. Asperger-Autisten benötigen inhaltlich keine »Behindertenarbeit« mit geringstem fachlichen Anspruch, sondern haben stattdessen einen hohen Anspruch an die Umgebungsfaktoren. Benötigt wird ein individuell abzusprechendes Umfeld des Arbeitsplatzes, das gegeben sein sollte, um qualitätsvolle bis exzellente Arbeitsleistung zu erbringen. Autistinnen können arbeiten. Sie können dies aber nicht in jeder übervoll-sozialen oder reizüberflutenden Umgebung. Entscheidend für den beruflichen Erfolg ist nicht die Aufgabe, sondern deren begleitender Kontext. Das wird in diesem Text noch mehrmals betont, denn es ist eine fest zu verankernde Aussage. Was beispielsweise, ohne ein leichtes Spiel zu sein, in einem Einzelbüro gelingt, kann in einem Gruppenbüro zur unlösbaren Qual werden. Diese Erfahrung zieht sich durch alle Erwerbsbiografien: Immer und immer wieder sind es die entscheidenden Kontextfaktoren, die hier und da zufällig ideal sind oder auch ein andermal zufällig – zumeist aus eigenem Unwissen – nicht erfüllbare Hürden beinhalten. Selten jedoch sind diese Arbeitsfeldfaktoren selbstverständlich gestaltbar; Flexibilitätswillen ist nicht allzu oft auf Seiten der Arbeitgeber gepflanzt.

«Work was an important factor in the lived experience of ASD, particularly finding a job that matched their interests and skill sets. In this last theme, we found that individuals with ASD were particularly well suited for some jobs and it is in these jobs that they had the most success. […] That is, visual thinkers with ASD may be well suited for being a photographer, web designer, or auto mechanic, whereas nonvisual thinkers with this disorder may be well suited for being a researcher, engineer, or electrician. […] With respect to the drawbacks associated with work, adults with ASD reported unemployment or under-employment as well as a lack of opportunity for career advancement. The social aspects of a job were also challenging, such as interacting with supervisors and customers, which led to some workers with ASD being fired.« (DePape & Lindsay, 2016, S. 9)

Eine Entrüstung ist nachvollziehbar, wenn begabte und hochqualifizierte Mitautisten der selbstbetrachtenden Erniedrigung ausgesetzt sind, in Behindertenwerkstätten verbannt zu sein, um dort dann promovierte Kugelschreiberzusammenschrauber ohne Weitblicksoption zu sein. Abgesehen von der Abwechslung, dass die Farben der Kugelschreiberhüllen wöchentlich wechseln. Inhaltlich weit unter dem Möglichen zu arbeiten, weil es nicht ermöglicht wird, den regulären Arbeitsplatz von den Kontextbedingungen und Sozialanforderungen her so zu gestalten, dass langfristig dort Leistung erbracht werden kann – das ist das eigentlich Krankhafte an der Vergräulichung von AutistInnen und zudem gesellschaftlich betrachtet eine Talent- und Ressourcenverschwendung.

Renty und Roeyers (2006) berichten weitergehend, dass die spezifischen institutionalisierten Unterstützungsstrukturen der Werkstätten die erlebte Lebensqualität nicht steigern, weil diese zumeist nicht die entfaltungswilligen Möglichkeiten und individuellen Bedürfnisse berücksichtigen und erfüllen. Sie ermöglichen im besten Falle ein Einkommen und damit das Gefühl, in nicht vollständiger staatlicher oder familiärer Abhängigkeit zu leben. Diese Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an Würde ist sicher auch ein Wert für sich. Eine Erfahrung, die sich auch in den Biografien der MitautorInnen widerspiegelt, deren Ausweg aus nicht gestaltbaren Berufskontexten in eine Behindertenwerkstatt oder vergleichbare Angebote für psychisch Kranke führte. Als resultierende Forderung – allerdings würden die meisten Autistinnen die im Zitat verwendete Formulierung »mit einer autistischen Behinderung« streichen und gegen ein »Menschen, die behindert werden aufgrund ihres Autismus« austauschen – ausgedrückt:

»Das gern proklamierte integrative Selbstverständnis der heutigen Behindertenpolitik kann nur umfassend gelingen, wenn Menschen mit einer autistischen Behinderung ihre Persönlichkeit in allen Facetten und in allen Lebensbereichen entfalten können. Und wenn ihnen dafür die entsprechenden Unterstützungen und individuellen Begleitungen zugesagt und ermöglicht werden.« (Nolte, 2008, S. 96)

Beim Lesen der Biografien fällt auf: Auch wenn es nicht um Kugelschreiberwerkstätten geht, es ist ein charakteristisches Merkmal der beruflichen Lage, dass Autisten häufig Tätigkeiten ausüben, für die sie überqualifiziert sind. Sie werden zudem oft nicht leistungsgerecht entlohnt für ihre gleichzeitig übergute Joberfüllung und arbeiten eher in Berufen mit einem geringen sozialen Status (vgl. dazu auch Rollet, 2011, S. 11; Barnhill, 2007). Das diesen Zustand treffend bezeichnende Wort »Malemployment« (Romoser, 2000, S. 246) setzt sich aus dem lateinischen »malus« als Attribut des schlechten, unheilvollen, nachteiligen Übels und dem eingedeutschten »Employment« zusammen. Erquicklicher wäre natürlich, wenn hier »malus«, die Pflanzengatttung der Äpfel, bezeichnet würde: Apfelarbeit ergibt zumindest saftigeren Output. Ironiefreie Autisten würden in dem Kontext anmerken, dass zumindest der »malus domestica«, der Kulturapfel, besser sozialisiert sei als man selbst, wobei Autistinnen, zugegeben, ein wütevoller Zankapfel sein können.

Um auch diesen Abschnitt mit einem versöhnlichen Ausblick zu beschließen: Es harrt der Blick auf der sich vollziehenden Veränderung. Vor drei, immer noch mitschwingenden Generationen, als das autistische Sein noch indifferent der Schizophrenie zugeordnet wurde, war ein chancengleiches Grundrecht gänzlich unthematisiert, es ging um berufungslose Arbeit als ablenkende Therapiemaßnahme:

»In Fällen, die ein Bild schizophrener Verödung und lnteressenabstumpfung bieten, kann die Arbeitsfähigkeit manchmal die innere Öde durch einen gewissen formellen Inhalt ausfüllen und auf diese Weise das Gefühl der Langeweile und der Entfremdung von dem Leben herabmindern. Am ausgleichbarsten erweisen sich die autistischen Erlebnisrichtungen […] Die Ablenkung von dem pathologischen Erleben durch Umschaltung der Aufmerksamkeit auf reelle Inhalte bildet den gewöhnlichsten und einfachsten Mechanismus bei dem Ausgleich der genannten pathologischen Erscheinungen durch den Arbeitsprozeß. In gewissen Fällen sieht man, wie die Fähigkeit der Schizophrenen zu sogenannter Doppelorientierung es ihnen ermöglicht, ihre innere autistische Welt neben der praktischen Arbeitstätigkeit aufrechtzuerhalten.« (Kamenewa, 1933, S. 187)

Positiv ist auch: Wenn es überhaupt nicht funktionieren will mit der öden beruflichen Ablenkung, dann gibt es immer noch »Das Ausmalbuch für Autisten« (Myers, 2016), in dem Detailverliebte ihrem Dasein ironiefrei Sinnfarben geben können.

Gedankengängerumweg

In einem Gedankenganz gefasst: Die empfohlenen Behandlungsmöglichkeiten für Asperger AutistInnen reichen von Psychotherapien unterschiedlicher paradigmatischer Richtungen, über Selbsthilfegruppen, Kompetenztrainings zur beruflichen und sozialen Eingliederung bis hin zum medikamentösen Treatment (vgl. Vogeley, 2012), umrahmt von Diätratschlägen zur Vermeidung von glutenhaltigen Getreiden und Milchprodukten, Horch- und Klangtherapie, Ausleitung toxischer Metalle, Einleitung von mehr Sauerstoff ins Blut, Neubalancierung der impfgeschädigten Darmflora und natürlich einer Stammzellentherapie in Bangkok zur Wiederherstellung einer ordnungsgemäßen Hirnfunktion.

Welche Therapien in welchem Umfang und in Kombinationen tatsächlich gesund(heitsfördernd) und damit berufsermöglichend sind, wird hier unbeantwortet bleiben – wichtig ist, sich deutlich zu machen, dass Autistinnen in einem Spannungsfeld von Krankheit und menschlicher Vielfalt arbeitserleben. Und dabei sind Autisten weit davon entfernt, dass sich ihr Umfeld an die individuellen und zusätzlich auch autismusspezifisch gegebenen Stärken und Schwächen anpasst und anpassen kann, um Krankheit zu verhindern. Keine Therapie (egal wie unwirksam!) verhindert die Behinderung der Entfaltung autistischer Möglichkeiten jedoch so effizient, wie die dahinterliegende Zuschreibung von Therapiebedürftigkeit.

Als chronisch therapiebedürftig gesehen zu werden, beinhaltet immer Diskriminierung. Eine pauschaliert zugesprochene Bedürftigkeit des Austherapierens zementiert gesellschaftliche Machtverhältnisse. Es zielt auf eine Normierung und verunmöglicht soziale Enthinderungen. Akzeptanz und Respekt auf Augenhöhe werden durch die Zuschreibung von kranken Kategorien und (un)heilbaren Eigenschaften ebenso verhindert wie auch der selbstbewusste Wunsch vieler Autisten, so zu sein, wie sie sind. Sie wollen nicht »geheilt« werden. Wovon auch? Ohne Umweg gesagt: Das verantwortungsdüngende Argument einer krüppeligen Produktivität als Begründung für eine in Demut anzunehmende Zuschreibung des Behindertseins gilt für Autisten zumindest nicht; anders als bei anderen Gruppen Behinderter, liegt bei Asperger-Autistinnen keine niedrigere berufliche Leistung als im Durchschnitt vor. Arbeitgeber können also doppelte Gewinner sein, wenn sie Autisten als Mitarbeitende einstellen: Erfüllung des Anteils einzustellender Behinderter gemäß dem Behinderteneinstellungsgesetz bei voller Produktivität ihrer Quotenbehinderten. Aber wie werden Autistinnen als Arbeitspersönlichkeit betrachtet – abseits der Betrachtung durch Autismusexperten?

Fragt man, was Mitbürger über Autisten wissen und denken, so findet man zum einen ein verbreitetes Wissen über Grundzüge autistischer Persönlichkeiten, neben koexistenten Vorstellungen, die eher aus Filmen und Fernsehserien zu stammen scheinen. Jensen et al. (2016) haben diese Vorstellungen erhoben, das folgende Vorstellungsbild wird gezeichnet: 40,1 % der Befragten assoziieren Autismus mit einer höheren Intelligenz als bei Normalbürgern und 27,3 % sehen Autisten als sehr kreativ an. Drei Viertel der Befragten nannten die Hauptkriterien des ICD-10 als Kennzeichen von AutistInnen und genauso viele nehmen an, dass Autisten ein ganz normales, erfolgreiches und selbstständiges (Berufs-)Leben führen. Dabei sind sie allerdings Einzelgänger ohne sozialen Kontaktbedarf, welche die Gefühle und Bedürfnisse der Menschen in ihrem Umfeld nicht wahrnehmen. Charakteristisch in der außensichtigen Vorstellung ist der introvertiert-stolze Charakter, der sich mit einem genialen Ausnahmewissen zu einem Spezialgebiet paart. Dazu gehören ein rein sachbezogener Kommunikationsstil mit hundertzehnprozentiger Treffsicherheit, sehr rigide Tagesabläufe und einzelgängerische Eigenheiten, welche Autistinnen ein wenig ruppig und sehr unbeteiligt erscheinen lassen. Das ist durchaus oftmals eine überzogene Typenbildung, aber eine mit sympathisierenden Beiklängen, auf deren Akzeptanzbasis ein berufliches, auf eine Realität bezogenes Miteinander möglich sein könnte. Wenn da nicht der aktuelle Hype der sozialen Kompetenzen wäre. Bei der Allerwelts-Betrachtung des Autismus steht die soziale Kompetenz-Inkontinenz von Asperger-Autisten als herausragende, aber leider nicht hervorragende Schlüsselschwäche im Vordergrund der Gedankengänge, auch von Personalentscheidern.

Social skills kill autistische Psychopathen

»Steht auch in vielen Fällen das Versagen an der Gemeinschaft im Vordergrund, so wird es doch wieder in anderen Fällen kompensiert durch besondere Originalität des Denkens und Erlebens, die oft auch zu besonderen Leistungen im späteren Leben führen. […] In dem Bemühen, jene Grundstörung zu finden und begrifflich zu fassen, […], haben wir die Bezeichnung ›Autistische Psychopathen‹ gewählt.« (Asperger, 1944, S. 84)

 

«The hallmark of Asperger syndrome is a failure to develop social competence despite relatively normal language and cognitive development.« (Gutstein & Whitney, 2002, S. 161)

 

«Although high-functioning people with autism or Asperger syndrome may succeed well as adults, such achievements rarely come easily. […] Above all, there may be constant pressure to ›fit in‹ with the demands of a society that fails to understand their needs or difficulties. Inability to meet these demands may lead to stress and anxiety and even psychiatric breakdown«. (Howlin, 2000, S. 79)

In Zeiten, in denen Netzwerkeln, Teamkompetenzen, Kooperationsbezogenheit, Konfliktmanagment-Fähigkeiten, Gruppeninteraktionsüberblick, einfühlender Umgang mit ad-hoc-emotionalen Situationen in der Kollegen- und Kundenwelt, Supervisionsreflexionswilligkeit, empathieschwingende Perspektivenübernahme, kritikfähigkeitsoptimiertes Teambuilding und Gruppendynamisierung bei der Berufsausübung stolperfrei gefragt sind, ist es schwer für Autistinnen auf dem Arbeitsmarkt.

Social skills, soziale Kompetenzen, sind der zusammenmenschliche Holperbereich der ansonsten durchaus von Asperger-Autisten normerfüllbaren Soft-skills-Flutung; unter anderen gehören im soften Bereich dazu: Einsatzbereitschaft, Neugierde, Zivilcourage Gerechtigkeitssinn, Verantwortungsbewusstsein, Eigenverantwortung, Kreativlogik. Der Fokus auf ebbende Sozialkompetenzen ist für die meisten Asperger-Autistinnen befremdlich und bleibt es zumeist auch. Ausweg ist oft ein geselliges Anpassungstheater mit Mundwinkel-nach-oben-Ziehen – dabei nicht vergessen die Augenmuskeln zu Krähenfältchen zusammenzuziehen, damit das Lächeln authentisch wirkt – und dann bis drei zählen vor dem erlösenden Wieder-Wegschauen.

Die sozialen der umfassenderen soft skills bilden die eigentlichen hard skills für AutistInnen – es ist extrem unsoft, und damit schwierig, mit den sozialen Anforderungen umzugehen: die Erwartungen an eine vorgenormte Gesellschaftlichkeit zu erfüllen und faktisch oft auch genau an diesen zu scheitern. Die Fähigkeit zur angemessenen Gestaltung sozialer Situationen im Berufsumfeld, beispielsweise durch Kooperation und Teamarbeit, durch eine gezähmte soziale Interaktion mit Kollegen und Kunden, zudem mit einem empathischen Verständnis für die Bedürfnisse und Erwartungen der anderen und auch von einem selbst. Integriert werden möchte das alles auch noch miteinander – das ist Autisten nicht gegeben.

Der Mangel an sozialen Kompetenzen ist ein Aspekt, der teilweise dazu führt, dass auch eine fachlich sehr gute Qualifizierung, eine erkennbar hohe Motivation sowie Einsatzbereitschaft nicht ausreichen, um in der Berufswelt einen erfolgreichen Weg gehen zu können. In diesem Buchprojekt finden sich erstaunlich viele Autistinnen (!), die sich für einen Beruf im sozialen oder medizinisch-pflegerischem Bereich entschieden haben – insgesamt scheint es so, dass bei Autistinnen die soziale Wahrnehmung und das Interesse an Themen des Mitmenschseins im Schnitt stärker ausgeprägt ist als bei Autisten. Doch dessen ungeachtet, führt das nicht zu einem stärkeren Erfolg im Beruf: » Die Tatsache, dass Mädchen und Frauenmit Autismus über mehr soziale Kompetenzen verfügen als betroffene Männer, bedeutet nicht, dass sie weniger Schwierigkeiten haben.« (Preißmann, 2013b, S. 19)

Das Ausmaß des beruflichen Stolperns über die sozialen Erwartungen des Arbeitsumfeldes mag beim Lesen der der Biografien erstaunen – oft wird diese Schwäche erst im Laufe des Lebens und/oder mit der Auseinandersetzung mit der Autismus-Diagnose benennbar und wechselt das unbestimmte Gefühl ab, irgendwie anders zu sein, ein Außerirdischer vielleicht oder eine im Kreißsaal versehentlich ausgetauschte Katze, die dann unter vielen Hunden aufwächst und sich über deren fortgesetztes sinnfreies Bellen wundert. Sind die schwachen social skills erst einmal bewusst als Problemlage erkannt, entwickeln sich oft individuelle Umgangsweisen mit dieser Schwäche. Neben einem kompensierenden Ausgleich, beispielsweise durch die sehr häufige Sozialimitation, findet sich auch eine Reihe an pfiffigen Ausweichstrategien bis hin zum erklärten Anderssein. Dies wäre nicht die erste Katze mit extradichten Hörstöpseln, die ihren Ghettoblaster mit einer Endlosschleife von Hundegebellaufnahmen dröhnen lässt.

Humorvoll klappt es nicht immer, vor allem nicht das mit der Kompensationsstrategie des willentlich gespielten Sozialtheaters: Bereits der alltägliche Umgang mit Kolleginnen und Kunden benötigt dann eine anstrengende Mimikri, ein mühsames und hochkonzentriertes »Handeln als ob« wie ein Schauspieler. Daraus folgen Händeschütteln, Blickkontakt, Small Talk, Nichtauthentizität (in klarem Deutsch: rollengeschuldete Verlogenheit), Wettbewerb und Ellenbogenhetzereien, genauso wie das antrainierte Erhören der vier Seiten einer Nachricht (gemäß dem gequälten 4-Ohren-Modell-Monster von Schulz von Thun) und die korrekte Interpretation botoxzahmer Gesichtsmimik bei gleichzeitig so herzlich aktivierendem Balzverhalten. Das alles bleibt im Weltempfinden verwunderlich und teilweise auch nicht erstrebenswert. Einstudierte und bewusst angebrachte Verhaltens-, Handlungs- und Sprachsegmente werden dennoch oft der kraftraubende Ersatz für fehlende soziale Kompetenzen und empathische Reaktionen – und das kann, als dauernde Überforderung sowie sich immer neu füllende Quelle von Misserfolgen, vorzeitig aufgrund steter Belastung psychosomatisch krank machen. Und diejenigen, die sich entscheiden, das soziale Theater nicht zu spielen? Die haben entweder eine berufliche Nische gefunden, die Authentizität ermöglicht, oder geben sich mit einem sehr bescheidenen Lebensstil außerhalb des ersten Arbeitsmarktes zufrieden. Frauen bleibt zumindest der Ausweg, ein Kind zu gebären – oder auch mehrere aufeinanderfolgend – zur Sicherung des Rückzugs. Das ist der kalte Fakt der berufserfolgstötenden social skills.

Typisch untypisch

Fehlende hard skills sind es nicht, die den Weg durch eine kontinuierliche Berufsbiografie falllöchrig machen – der Erwerb von fachlichen Kenntnissen und Qualifikationen ist zumeist einfach möglich. »Wenn diese Autisten also gutes Können haben«, so fragen sich Außenstehende, »sind denn dann diese Schwierigkeiten mit den sozialen Anforderungen, der Reizüberflutung und was da sonst noch so hakt, nicht handhabbar? So mit ein wenig Zusammenreißen, weil: gestresst ist ja jeder mal!«

Eine bessere Verständigungsgrundlage als die vergleichende Sicht auf einen selbst kann ein Blick auf das Symptombild des Asperger-Autismus aus medizinisch-objektiver Perspektive als objektive Antwort dienen. Van Elst et. al. (2014, S. 51, Tab. 1) beschreiben fünf Bereiche, in denen typische Schwierigkeiten oder zumindest Besonderheiten auftreten, die sich als Herausforderung für Autisten, wie auch für deren Berufswelt, erweisen können. Die medizinische Symptomatik konkretisiert sich und wird hier konkretisiert in einigen Problemlagen berufstätiger Asperger-AutistInnen. Die Bedeutungen und Konsequenzen, die sich aus dem autistischen Typus entwickeln, können allerdings sehr unterschiedlich sein, je nach Persönlichkeit und individuellen wie sozialen Ressourcen – das wird in den Biografien dann deutlich. Diese individuelle Ausgestaltung, das, was aus dem typischen Untypischsein für einen selbst und in der Gesellschaft gemacht wird, das ist nicht vorherbestimmt durch eine Symptomatik. So wie bei der Katze aus dem vorherigen Abschnitt. Sie setzt sich inzwischen krallenwetzend dafür ein, Bäumeklettern als special skill zu etablieren.

Bereich 1 des Typischen ist die qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion.

Diese Besonderheit zeigt sich in Schwierigkeiten bei basalen sozialen Wahrnehmungen, wie dem Erkennen und korrekten Deuten von Gesichtsmimik, Körpergestik, Sprachmelodien und dahinterliegenden Emotionen. Komplexe Situationen mit einer Vielzahl von Menschen, und damit konfligierenden Reizen, erschweren die soziale Interaktion zudem – eine adäquate Reaktion auf soziale Stimuli ist dann kaum mehr möglich. Beeinträchtigt sind oft auch die sozialen Kognitionen, wie die Fähigkeit, den mentalen Zustand des Gegenübers, wie auch den eigenen, zu erkennen. Wenn die Bewusstseinsvorgänge, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen, ihre Bedürfnisse, Ideen, momentanen Absichten, Erwartungen und Einstellungen nicht ausreichend erkennbar und damit handhabbar sind, so sind Konflikte, Distanzierungen, negative Zuweisungen oder schlicht kopfschüttelndes Unverständnis eine logische und zugleich nicht vermeidbare Folge. Die soziale Sehschwäche entzieht den beruflich erwünschten Kompetenzen zu viel ihrer Verhaltensgrundlage: In einem Team konfliktarm zu agieren, mit schwierigen Kunden lösungsorientiert umzugehen und Patientinnen die erwartete Allroundzuwendung geben zu können, benötigt diese erkennenden Fähigkeiten, sonst bleibt jede Aktion und jede Reaktion ein blindes Tappen. Ein aktives Handeln begründet sich dann nur in einer rein logischen Situationsanalyse, nicht in einem Wahrnehmen der vielschichtigen Beweggründe des Gegenübers. Und nicht zu vergessen, es wäre auch wichtig, sich selbst wahrzunehmen, die eigenen Bedürfnisse in die Interaktion einzubringen.

Bereich 2 des Typischen ist die qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation.

Nicht nur das Erkennen von den inneren Zuständen, von Intentionen und Bedürfnissen des Gegenübers, sondern auch die Wahrnehmung und die eigene Umsetzung von Kommunikation und deren Begleitverhalten sind teilweise beeinträchtigt. Viele Autisten lernen sehr früh und selbsttätig Lesen und Schreiben. Aus noch nicht bekannten Gründen verweigern einige gleichzeitig das Sprechen in den ersten Kindheitsjahren, die sich äußernde Sprachentwicklung ist dann verzögert – sie beherrschen die Sprache aber perfekt in Struktur und Wortwahl, was spätestens beim Schreiben deutlich wird. Während rund 20 % der Autisten jenseits des Aspergers nonverbal bleiben, bildet sich die Sprachwilligkeit bei Asperger-Autistinnen im Laufe der Zeit, sie kommen auch noch ausführlich zu Wort. Nur die Aussprache bleibt manchmal auch im Erwachsenenalter eher gleichförmig moduliert, wirkt dann wenig empathisch.

Viele AutistInnen haben Schwierigkeiten, sich Gesichter zu merken und somit auch darüber Personen wiederzuerkennen. Das betrifft nicht nur Menschen, die selten einmal wieder getroffen werden – es kann auch sein, dass ein jahrelanger Kollege außerhalb der Firma nicht erkannt wird, weil er dann nicht seinen Helm mit GRÜNE-Aufkleber trägt; oder ein Physiotherapie-Patient wird auf der Straße nicht wiedererkannt, weil sein Muttermal auf der Schulter nun verdeckt ist. Dies erschwert die Qualität einer Kommunikation für beide Seiten: der Nichterkennende weiß nicht, wo er thematisch anknüpfen soll, und der Nichterkannte ist zumindest erstaunt bis beleidigt und wird dies auch zeigen.

Zudem ist die zutreffende Interpretation von Gesichtsmimik jenseits eines Erkennens der Grundgefühle Freude (Mundwinkel nach oben) und Ärger (Mundwinkel nach unten) deutlich erschwert. Differenzierte Gefühlszustände können nicht »abgelesen« werden – entsprechend sind Kommunikationsabläufe von Missverständnissen und nicht erfüllten Erwartungen bezüglich einer adäquaten Reaktion bedroht. Gespräche werden gerne sachbezogen sowie auf Logik basierend geführt – das reicht für viele Gesprächsanlässe nicht. Wird ein Gegenüber schon nicht als bekannt erkannt (»Ich bin doch Ihre Chefin!«), so könnte und wird durch das nicht Ablesenkönnen der emotionalen Reaktion die Situation ungut eskalieren oder gleich enden.

Bei der qualitativen Beeinträchtigung der Kommunikation ist das Miteinander sowohl in dem Verstehen des anderen, in dessen gestischem und gesprochenen Ausdruck, wie auch in der Reaktion, dem eigenen kommunikativen Ausdrücken, erschwert. Es ist unklar, wann ein Lächeln Worte begleiten muss, was eine angemessene Sozialdistanz sein könnte, wie eine Sprachmelodie entsteht. Es ist für Asperger-AutistInnen oft schwer zu erkennen, wann jemand (endlich) ausgesprochen hat oder wie lange es danach angebracht ist, selbst zu reden, bis dann wieder ein Sprecherwechsel ansteht.

In Gruppen ist das Erkennen einer angemessenen Redeübernahme und Sprechdauer noch schwieriger umzusetzen. Spätestens bei drei Gesprächspartnern werden selbst die ausgefeiltesten Kompensationsstrategien wegrutschen – dann gelingt die kognitiv geleitete, analysierende Interpretation der Intentionen der Gegenüber, parallel zum eigentlichen Gesprächsinhalt, nicht mehr. Was die Einzelnen für Stimmungen, Ziele und Informationen außerhalb der Sachinformation sprachlich und gestisch verpacken, bleibt dann ungewiss. Gewiss ist nur, es geht eine Menge an nicht wahrgenommenen Metainformationen verloren – und damit ist eine adäquate Reaktion in Gesprächssituationen kaum mehr möglich. Verständlicherweise steigert sich über das eigene Wissen um das kommunikativ Außenstehende das Stressempfinden – die Erfahrung sagt zu Recht, die eigene Kommunikation wird nicht den Erwartungen entsprechen.

Beim Telefonieren zeigen sich die qualitativen Beeinträchtigungen ebenfalls deutlich: weil bei der synchronen und spontanen Fernkommunikation alle Metainformationen und sonstige bewusst angewendete Ausgleichstrategien wegfallen. Viele Asperger-Autisten telefonieren darum nicht gerne, sie wissen nicht, ob der Gesprächspartner eine Denkpause macht oder auf eine Reaktion wartet oder interessiert oder doch gelangweilt klingt. Wann ist die eigene Aussage angekommen? Ironie, Metaphern, Alltagswitz werden oft wörtlich genommen, das sorgt für Verwirrung. Nicht einmal die visuelle Interpretation der auswendig gelernten Gesichtsmuskelmuster ist möglich. Und wer legt eine Projektskizze schon auf Eis, wenn doch gar keine Gefriertruhe im Büro steht.

Bereich 3 des Typischen sind die sich wiederholenden oder gleichen Abläufe bei gern fokussierten Interessen.

Routinen und in sich geschlossene Themenflows sind die Festen im Tagesablauf. Sie schützen vor der Chaotisierung durch ein Zuviel an Veränderungswahrnehmung, schützen auch vor zu vielen neuen Details, die sich in den Fokus drängen und einen Handlungs- oder Denkablauf verunmöglichen. Nur wenn es »still« ist, nichts Neues ruft, ist ein konzentriertes Denken möglich. Das oft ausgeprägte Bedürfnis nach Planbarkeit von Tagesabläufen, Arbeitsinhalten, Reisen und Zusammentreffen liegt konträr zur Arbeitswirklichkeit der meisten Berufe. Sich wiederholende Tagesabläufe geben allerdings nicht nur Sicherheit, sie befreien die Gedankenressourcen zum Wohle der sehr effektiven Arbeitsleistung. Sich nicht auf die Frage konzentrieren zu müssen, wer mit wem wann in die Mittagspause geht, befreit zu sein von den verwirrenden Eventualitäten einer Reise oder nicht »mal eben« zu einer anderen Tätigkeit rübergerufen zu werden, ermöglicht das Schöpferische wie auch das schnell und konzentriert Abarbeitende. Und wenn dann die Arbeitsinhalte mit den eigenen Interessensgebieten übereinstimmen, ist eine Struktur willkommen, die den störungsfreien Raum ermöglicht, sich intensiv in ein Thema oder eine Herausforderung zu vertiefen.

Einmalige wie auch spontane Aktivitäten hingegen bedeuten, wie alles Neue und Unvorhergesehene, erst einmal Ablehnung, Verwirrung und Stress. Sie bergen eine innere Chaotisierung, einen Verlust an Orientierung und der Sicherheit, nichts erheblich Überforderndes aushalten zu müssen. Aus der Überlast werden schnell Angst und Ermüdung (Gillott & Standen, 2007), die sich beim Versuch der Konzentration auf vieles Gleichzeitige und nicht mehr eines Details, einer umrissenen Arbeitsaufgabe, ergeben. Der Hang zu einem sich wiederholenden Grundtakt eines Tages, der wie ein Bordun durch die Herausforderungen führt, wirkt oft rigide. Diese Routinen erscheinen für Kollegen sicher auch zugleich seltsam, freut mensch sich doch immer über Abwechslung und neue Erfahrungen – und was macht dieser Asperger? Zumindest freut er sich nicht. Wenn der dann ein bevorstehendes Ereignis, wie eine Reise, ein Gruppentreffen, eine Feier, bis ins Detail durchplant, im Vorweg durchlebt, bis an alles gedacht wurde, … ist es mit der Geduld der Umgebenden nicht mehr weit bis zu deren Erliegen.

Wird ein zu flexibles Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse oder auf ein Wegfallen von Erwartetem gefordert, wird diese Forderung nicht selten nicht nur nicht erfüllt, sondern mit sehr negativen Reaktionen quittiert. So kann eine kurzfristige Dienstreise ein Fiasko werden, weil es nicht möglich war, sich im Internet zumindest Bilder des Hotels und der Zimmer anzusehen, in das am Abend eingecheckt werden soll. Auch ist Google Maps hilfreich, um sich über die zu überbrückenden Wege und die Lage des Gebäudes zu informieren. Wie kommt man um die übervolle U-Bahn zur Rushhour herum? Wie kann ich verhindern, mich orientierungslos zu verirren? Was, wenn der Besprechungsraum so klein ist, dass Berührungen nicht ausbleiben? Vielleicht gibt es auch keine geschnittenen drei Sorten Äpfel zum Frühstück, wie man es jeden Tag zu Hause gewohnt ist, was also einen guten Tagesstart ausmacht. Dann ist die Konzentration auf die berufliche Sache nur schwerlich möglich, selbst das eigentlich Interessierende rückt bei solch unplanbar unstrukturierten Tagesabläufen in konzentrativ unerreichbare Fernen. Das Abgehaltenwerden von der eigentlichen Arbeitsaufgabe durch die Eigenheiten ist extrem frustrierend und wird von AutistInnen durchaus als Niederlage verbucht. Wie viel einfacher ist es da, auf einen redundanten, planbaren Tagesablauf zu beharren.

Was als eingeengtes Interessensgebiet, als eine Spezialisierung auf ein Thema in beliebige, befreite Tiefen bezeichnet wird, beinhaltet auch eine enorme Expertise genau für diesen Bereich. Das macht die Kommunikation mit anderen teilweise einseitig – es gibt sehr wenige Gesprächspartner, die sich für die Anzahl der Haare auf dem Kopf asiatischer Mückenarten interessieren, auch wenn das zu deren differenzierter Kennzeichnung dient. Und auch das Lächeln über deren durchaus variierende Penisformen erstirbt, wenn dem Gegenüber klar wird, das hier nun ausweglos der Inhalt eines vierundzwanzigbändigen Buchwerkes zu den Culicidae rezitiert wird. Die Eigenschaft des Themenvertieftseins kann im Berufsleben allerdings auch von Vorteil sein, wenn eine Berufswahl sehr bewusst so getroffen wurde, dass die Spezialinteressen störfrei zur Anwendung kommen, quasi ein profilgebendes Alleinstellungsmerkmal bilden: » The repetitive and restrictive interests displayed by those with ASD also shaped their identity. Critically, making use of these interests in the workplace was identified as a success factor for adults with ASD who were involved in employment« (DePape & Lindsay, 2016, S. 8).

Bei milderen Formen des Autismus erfolgt die Diagnosestellung oft erst im Laufe des Erwachsenenalters, nach einigen Misserfolgen oder nach einem Zusammenbruch. Daher haben viele Asperger-Autistinnen nicht die Möglichkeit, ihre Berufswahl gemäß Interessen, Möglichkeiten und bewusstgewordenen Grenzen getroffen zu haben. Sie scheitern dann aufgrund der zuvor nicht nutzbaren, aber benötigten Hilfssysteme sowie an einer passenden Gestaltbarkeit der Umfaktoren. Oft war es der Zufall, der in einen Beruf geführt hat, in dem sich die Eigenarten nicht als hinderlich erweisen und die Interessensgebiete keine unlösbaren Kommunikationshindernisse bei der beruflichen Umsetzung beinhalten.

Den Bereich 4 des Typischen bilden die sensorischen Besonderheiten.

Diese drücken sich zumeist in einer hohen Sensibilität bis hin zu Überempfindlichkeiten gegenüber Reizen beim Sehen, Hören Riechen, Schmecken oder Fühlen (z. B. von Wärme, Kälte oder Berührungen) aus. Eine Lichtstärke, die andere als angenehm hell bis erhellend empfinden, mag bereits blenden und Kopfweh hervorrufen – was in Büros mit heller Neonbeleuchtung ein Aus bedeutet für die Produktivität. Ein Haarfön im Hotelzimmer, der in den Obertonbereichen unharmonisch zu dem Grundgeräusch des Motors summt, wird als so unerträglich wahrgenommen, dass ein resultierendes Erscheinen mit nassen Haaren beim internationalen Meeting für deutliche Befremdung sorgen wird. Diese steigert sich, wenn der Nasskopf das Meeting dann nach einer halben Stunde plötzlich verlässt, denn der penetrant empfundene Geruch des Parfüms des Nebensitzers war nicht mehr erträglich, blockierte sämtliche Gedankenmitgänge. Das mag übertrieben klingen, sensorischer Terror ist für viele Autisten allerdings tägliche Realität.

Die Empfindlichkeit und das starke Reagieren auf Reize führen zu Stress und quälender Reizüberflutung, auch weil es keine ausreichenden Reizfilter gibt, die das Außen auf ein erträgliches Maß an Wahrnehmung reduzieren und so durch gnädige Sinnesscheuklappen die Aufmerksamkeit fokussieren lassen. Jedes Geräusch, jeder Geruch, jedes Detail drängt sich gleichberechtigt und massiv in die Wahrnehmung, auch das Gespräch, das am anderen Ende des Großraumbüros geführt wird. Was wichtig ist und was unwichtig, unterscheidet sich nicht, es gibt keine Nebengeräusche, es gibt kein Ausblenden in der autistischen Wahrnehmung. Diese Empfindlichkeit gegenüber einer Überreizung hat seine Verbindung zu dem Wunsch der Planbarkeit des Arbeitstages. Spontanität und Flexibilität sind schwer zu realisieren, wenn immer auch ein Schutz gegen Überreizung mitgedacht werden muss Wenn das Erleben der Welt zu intensiv, zu überlastend ist, bis hin zu einem vegetativen Zusammenbruch, braucht es eine schützende Struktur als Prävention.

Autistinnen werden verschlungen von Sinneseindrücken, die nicht miteinander integrierbar erscheinen und bei einigen auch Synästhesien hervorrufen. Eine fast romantische Vorstellung von Ganzheitlichkeit und dennoch trügerisch wie die friedlich zwitschernde Waldlichtung am sonnigen Morgen, denn dort wird gerade ein Hase erlegt: Wenn eine Sinneswahrnehmung automatisch eine andere auslöst, können gelesene Buchstaben zu begleitenden Farben werden, kann Musik ein Geschmackserleben hervorrufen oder Zahlen unterschiedliche Temperaturen haben. Bei einer Synästhesie löst ein angeregter Sinn automatisch einen anderen mit aus. Rund 20 % der Autisten haben entsprechende Empfindungsübersprünge, erfreuen sich an den Klangbildern und Wortfarben im wahrsten Sinne – und dennoch wird es immer wieder ein Zuviel der Eindrücke. Die anderen 80 % haben eh übergenug damit zu tun, die sonstige Reizüberflutung zu kanalisieren, und sind froh, wenn die Stimmlage des Chefs die Welt nicht in ein Veilchenlila taucht, denn der ist nicht Mitglied im gut gestimmten Symphonieorchester. Sinnesübersprünge sind anstrengend.

Eine weitere schräg wahrgenommene Eigenart einiger AutistInnen: das periphere Sehen aus dem Augenwinkel heraus, und damit das eher seitliche Schauen mit einem Auge beim Betrachten. Das ist für diese Autisten angenehmer als ein beidäugiges, frontales Ansehen des Anzublickenden. Teilweise funktioniert die Koordination zwischen dem linken und rechten Auge nicht optimal, was beim eher einäugigen Fokussieren weniger Probleme bereitet, das Sehen also angenehmer macht. Aber welcher Kunde freut sich schon über ein Beäugen aus dem Augenwinkel heraus, es sei denn, er ist gerne eine dann empfundene Nebensache und das ist selten. Dafür sind komplizierte Muster zumeist gut durchschaubar und auch kleinste Veränderungen eines gewohnten Bildes fallen direkt ins Auge. Details werden mit Vorrang gesehen und sind konkurrenzlos vorne bei der somit erschwerten Wahrnehmung eines großen Ganzen. Diese Details müssen allerdings nicht immer dem Gegenüber genannt werden. Wobei es für viele authentisch-offene AutistInnen unklar ist, was im Rahmen der Datailwahrnehmung gesagt werden sollte und was besser nicht. Und manche haben auch einfach ihren eigenen Humor daraus entwickelt und sagen es, trotz besseren Wissens.

Es mag daher vorkommen, als Kollege mit dem freundlich interessierten Satz im Montagsteam begrüßt zu werden »Guten Morgen, Sie haben also das genetische Glück, zu den vierzig Prozent der hiesigen Menschen zu zählen, welche die schwefelhaltigen Eiweißverbindungen des Spargels, vor allem die Asparagusinsäure, zu S-Methyl-thioacrylat und S-Methyl-3-thiopropinat und dann weiter zu Methandiol, Dimethylsulfid, und -disulfid abbauen können. Das ist dem Geruch und der Chemie des Analsekrets eines Skunks durchaus ähnlich. Wobei Stinktiere davon ja nur gezielt, im wahren Sinne des Wortes, Gebrauch machen und wir die Abbauprodukte über den Urin und die Haut ganz ungezielt an die Allgemeinheit ausscheiden. Welche Zubereitungsart haben Sie denn für den Spargel beim gestrigen Abendessen gewählt? Ich mag gebackenen Spargel am liebsten.«

Das im Rahmen der allgemeinen Sensitivität ebenfalls leicht zu überreizende vestibuläre Gleichgewichtssystem macht manche Autistinnen empfindlich gegenüber zu schnellen Bewegungen und Lageveränderungen. Diese werden nach Möglichkeit entsprechend gemieden, um das unangenehme Gefühl des Schwindels oder einer empfundenen Tappigkeit zu vermeiden. Die räumliche Wahrnehmung ist zudem in einigen Fällen erschwert bis nicht vorhanden, augenscheinliche Informationen zu Bewegungen und Entfernungen werden nicht fehlerfrei verarbeitet, was weitere Auswirkungen auf Körperhaltung und Bewegungsabläufe hat. Ungeschickt und langsam zu wirken, ist dann ein des Öfteren resultierendes Problem – teilweise können auch motorische Tätigkeiten, wie das Schreiben, nicht gut von der Hand gehen.

Es gibt auch das sensorische Gegenteil: Einige Autisten besitzen sensorische Unterempfindlichkeiten. In dem Fall ist die Wahrnehmung von Temperatur und Schmerz beispielsweise gedämpft, was dazu führt, dass die Kleidung nicht angemessen ausgewählt oder das Spülwasser zu heiß eingestellt wird (Häußler, 2015, 28 ff.). Dies bedeutet bei Berufen, die mit Hitze, Kälte oder Chemikalien verbunden sind, eine Gefahrenquelle und ist nur bei der Forschung zu Mephitidae (das sind die zwölf Arten der Stinktiere in vier Gattungen) oder auch wahlweise zum genannten Spargelstoffwechsel von geruchsfestem Vorteil.

Für alle gilt: Zu viele konkurrierende, neben den gegebenenfalls ganz fehlenden Informationen können nicht adäquat integriert und hierarchisiert werden, so dass das Erleben schnell chaotisiert und an Struktur verliert, geordnete Handlungsabläufe sind dann schwierig beizubehalten. Stress, Angst, Wut oder Rückzug sind Folgen dieser Reizüberflutung und zugleich Zeichen einer Überlastungsreaktion.

Ein sensorisches Praliné ist die bei vielen AutistInnen ausgeprägte räumlich-bildliche Vorstellung, das Denken in Bildern und ein intuitives Hineinfühlen in Strukturen – auch Erinnerungen und Wissen sind eher in einer räumlich-bildlichen Vorstellung organisiert. Das Bildhafte hat den Vorrang. Dieses Eingedachtsein in die Struktur verschiedenster Phänomene ersetzt gerne auch das neuroübliche zeitliche Bezugssystem. Ein Bild, eine Struktur ist im Jetzt, Vergangenes wird nicht alt, es ist ein Agieren in Gleichzeitigkeit. Dieses Nichtgeprägtsein auf ein zeitliches System zur Einordnung des Erlebten erlaubt viele, sich anhäufende Details. Das hat Vorteile für Berufe, bei denen es um das Verstehen komplexer Zusammenhänge geht, und Nachteile, wenn es um die Organisation von Arbeitsabläufen geht, die in viele kleine, verteilte und unzusammenhängend erscheinende Elemente einer Abfolge zergliedert sind (vgl. Häßler, 2015, S. 31).

Kurz noch zum Typischen des 5. Bereichs, zu den motorischen Besonderheiten.

Diese ergeben sich zum Teil aus den sensorischen Eigenheiten, wurden also bereits als Besonderart genannt. Motorische Ungeschicktheit kann, muss aber nicht, einiges von der Teilnahme am Sportunterricht bis hin zum Event-Rafting der Manageretage erschweren – zumeist ist bei Asperger-Autisten eher die Grobmotorik beeinträchtigt.

Viele AutistInnen sind nicht gleichmütig und reagieren auch nicht so, wenn Stress und muskuläre Anspannung in reizlastigen Situationen die motorische Ungeschicklichkeit sowie Koordinationsprobleme verstärken. Denn aus den massiven vegetativen Aktivierungsreaktionen resultieren immer wieder auch urig wirkende Körperhaltungen und Ausgleichshandlungen, die bewusst oder unbewusst eingesetzt werden, um mit der Überspannung umzugehen. Hier ergeben sich vielerlei, teilweise sehr kreative Eigenarten. Das Tragen einer gut gefüllten Tasche, auch beim kürzesten Weg zur Firmentoilette, erlaubt beispielsweise das Abreagieren des Adrenalins, das sich durch unterwegige Flurgespräche und andere Unvorhersehbarkeiten summiert. Das ständige Laufen auf Zehenspitzen ist auch kein Hype aus dem Fitnessstudio zur Erlangung von knackigen Waden, sondern der Versuch, die körperliche Anspannung zu kanalisieren und sich aufrecht zu halten, eine Gegenspannung zu erzeugen. Und wenn motorisch total verkrampfende Orientierungslosigkeit in menschenvollen Räumen, bereisten Zügen oder auf dem Berufsweg drohen, kann das Schlagen einer taktgebenden kleinen Trommel oder der Einsatz eines anderen konstanten Impulsgebers den sich verungeschicklichenden Bewegungen den notwendigen Halt geben. Halt gibt auch das Mitführen eines Begleithundes, der dann zusätzlich – bei genügender Größe und kämpferischer Verwegenheitsästhetik – auch einen größeren und damit angenehmeren Sozialabstand in einer Menschentraube garantiert. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den Möglichkeiten, die zeigen, wie AutistInnen mit motorischer Ungeschicklichkeit, vegetativer Überspannung und deren Alltagszähmung umgehen. Was das für den Berufsalltag bedeutet, das mag noch mit einer großen Portion an Toleranz im Kollegenkreis mit einem leicht spöttischen Grinsen handhabbar sein. Wenn da nicht auch die selbstberuhigenden Bewegungsmuster wären, das Stimming. Einige AutistInnen reagieren bei hohem Stress in nicht ausweichbaren Situationen mit monotonen, sich wiederholenden Bewegungen, wie dem Vor- und Zurückschaukeln des Körpers, Wippen auf den Zehen oder mit dem Stuhl, starkem Händegestikulieren oder auch mit sich wiederholenden Geräuschen, intensiven Gesichtsmimikbewegungen oder anderen Formen des Sich-selbst-Beruhigens, beispielsweise über das Streicheln des immer mitgeführten Stofftiers – was spätestens beim Rang einer Professorin seltsam unwirklich wirkt. Stimming – Self-stimulatory behavior – ist eine Form der monotonen Selbsteinschläferung in einer Reizkakophonie.

Der spontan zugefügte 6. Bereich des Typisch-Untypischen widmet sich den nicht gleichgestellten Besonderheiten von Autistinnen ().

Bei Mädchen und Frauen wird typischerweise weit weniger oft das Asperger-Syndrom diagnostiziert, die Zahlenverhältnisse schwanken zwischen 1:9 für Autistinnen ohne intellektuelle Beeinträchtigung und 1:4 für das gesamte Spektrum an Ausprägungsformen – und das dann auch erst später im Lebenslauf. Je klüger die Damen sind, desto seltener wird ihr Autismus anscheinend entdeckt. Vielleicht ist dieser so gut versteckt und/oder Autistinnen sind so selten, dass das typische Weibliche durch die Wissenschaft noch nicht in objektiv valider Weise und mit verlässlicher Methodik beschrieben werden konnte – für Effekte, die als gesichert evident gelten, werden eine bestimmte Anzahl an »Untersuchungsobjektinnen« benötigt. So betonen Grove et al. (2016): » In addition, research may not capture the full range of women on the spectrum, given the delay in diagnosis experienced by autistic females […] and few studies to date evaluating sex differences in adult samples.«

Die wenigen wissenschaftlichen Studien, die es gibt, liefern aktuell noch widersprüchliche Ergebnisse. Und weil Grove et. al. das kompakt gut formulieren, kommen sie hier nochmals direkt zitiert zu Wort (2016, S. 1–2):

«For example, some studies have indicated that autistic females display more severe social and communication difficulties compared to autistic males (Hartley and Sikora, 2009), while others have indicated that these difficulties are less severe in autistic women (McLennan et al., 1993), or report no sex differences (Wilson et al., 2016). Likewise, some studies suggest that autistic males show more stereotyped and repetitive behaviours than females (Hartley and Sikora, 2009; Hattier et al., 2011; Van Wijngaarden-Cremers et al., 2014) and that females on the spectrum display more socially acceptable special interests.« (Gould and Ashton-Smith, 2011).

Das Folgende bezieht sich daher vornehmlich auf das durch Erfahrung basierende Wissen von Experten im Autismusbereich, auf Selbstaussagen und auf kleine, eher qualitative angelegte Untersuchungen. Dort ist man sich sicher:

»We have a stereotype of typical female and male behaviour. Girls are more able to verbalise their emotions and less likely to use physically aggressive acts in response to negative emotions […] We do not know whether this is a cultural or constitutional characteristic but we recognise that children who are aggressive are more likely to be referred for a diagnostic assessment to determine whether the behaviour is due to a specific developmental disorder and for advice on behaviour management.« (Attwood, 1999, S. 1)

Neben dem Diagnoseeilzug für aggressive Autisten mag das Nichtauffallen von Autistinnen auch daran liegen, dass das »zurückgezogene« Verhalten dem erwarteten und damit akzeptierten Klischee eines ruhigen, schüchternen Mädchens, so einem Girl mit ein paar Seltsamkeiten, entspricht (Preißmann, 2013a, b); bei Autistinnen ist angepasster Rückzug somit ein Merkmal, das sich im Austausch der Revolte bei Autisten symptomatisch präsentiert. Rückzug und (der Versuch einer) Angepasstheit zeigen sich bereits in der Schule und sind auch hier in den Biografien bis weit in die Erwerbstätigkeit hinein zu entdecken. Im autistischen Rückzug liegen dennoch ständige Missverständnisse, wenn sich dieser mit dem Typischen der vorher geschilderten Bereiche paart. Blickkontakt zu meiden und ein vermeintlich neckischer Blick aus dem Augenwinkel heraus, das kann in diesem Kontext beispielsweise als quasi urweibliches Flirtverhalten missverstanden werden, ist es doch der Blick eines fliehenden Rehs, das vor dem männlichen Wollen keusch davonhüpft und »Fang mich« kichert. Bei Prosopagnosie kann sich das wöchentlich wiederholen.

Interessanterweise bleiben erwachsene Autistinnen oft »mädchenhaft jung« im Klang ihrer Stimme (Attwood, 1999) – aber nicht in der Wortwahl, die kann durchaus eine jahrelange Berufsexpertise auf Professorinnenniveau beinhalten. Es scheint, als ob das einmal kopierte jugendliche Sprachverhalten, dessen Sprachmuster und Sprachmelodie beibehalten werden wie ein eingeübtes Gedicht. Das mag im beruflichen Kontext verwirrend wirken, denn gerade Autistinnen fallen durch ihr logikbetontes Denken auf – viele sehen sich selbst im Denken und Handeln als eher männlich an, sind sehr akkurate Problemlöserinnen. Autistinnen setzen ihre sensible Sinneswahrnehmung, das durchstrukturierte Fachwissen und oft auch eine hohe intuitive Kreativität beruflich ungeschminkt und gezielt ein. Das wirkt dann wie eine verrutschte Camouflage, wenn sie auch mit bereits grauen Haaren und in Doktorwürden stimmlich noch wie ein Mädchen reden (und ihren Stimming-Teddy dabei haben).

Asperger-Autistinnen zeigen insgesamt nicht nur sehr häufig ein eher passives Persönlichkeitsprofil, sie können ihre Emotionen zugleich besser wahrnehmen und teilweise auch äußern (Attwood, 1999). Sie versuchen, sich an die gesellschaftlichen Konventionen anzupassen, entschuldigen sich für soziale Patzer, lernen Verhaltensweisen auswendig und erstellen lange Gefühlsausdruckstabellen, in denen neben den Gesichtern von Menschen jeweils der dazugehörige Gefühlsausdruck und seine Erkennungsmerkmale notiert sind: als Vorlage adaptierten Sozialverhaltens mit maximaler Differenzialität. Eine Mitautorin dieses Buches erstellte im Laufe des Erwachsenenalters eine Tabelle zum Verstehen der sozialen Welt, die weit über 200 Gefühlsausdrücke beinhaltet. Leider findet dieses Werk keinen Raum in diesem Buch, aber dafür Beachtung hier im Buchgeläut. Es ist ein Beispiel für den immer wieder sehr engagierten Einsatz, die Welt dieser anderen zu verstehen und korrekt zu agieren. Auch das hilft beruflich wenig weiter, hier gibt es eine deutliche Geschlechtsdisparität: Autistinnen verlieren und wechseln häufiger als Autisten ihre Berufstätigkeit (Taylor et al., 2015).

Das eher Angepasste besiedelt sogar die Wahl der Spezialinteressen. Diese sind oft nicht so exotisch und damit aus dem Rahmen fallend, da wird nicht nach der () Weltformel gesucht, aber das Interesse an Hunden, das bedeutet für sie die ganze Welt. Zugleich schaffen es Autistinnen im hochfunktionalen Bereich leichter als Autisten (und machen davon rege Gebrauch), die Schwächen erfolgreich und sehr kreativ, aber unglücklich, zu maskieren (Kreiser & White, 2014); so haben viele Autistinnen die Fähigkeit, gut und differenziert zu beobachten und soziales Verhalten recht perfekt zu kopieren. Selbst einem Studium im psychologischen oder sozialen Bereich liegt oft das Interesse, und die innere Not, zugrunde, die Menschen und die umzingelnde Gesellschaft in einer Weise zu verstehen, dass sie selbst unauffällig und funktionierend darin agieren können. Leider führt gerade der weibliche Versuch des Verstehens, Leistens und Anpassens immer wieder zu extremen, vorher nicht erwarteten oder symptomatisch falsch assoziierten Erschöpfungssituationen bis hin zur Berufsunfähigkeit.

Allerdings benötigt es keinen überzogenen Gedanken eines »Oh weh, das arme Kind« zu dem weiter oben erwähnten strategischen Ausweichberuf der hausfraulichen Mutter als Wahl-Reaktion auf die berufliche Erschöpfungssackgasse. Diese Aufgabe wird in der Regel gut erfüllt: » […] in general, mothers with Asperger’s Syndrome appear to have more ›maternal‹ and empathic abilities with their own children than men with Asperger’s Syndrome« (Attwood, 1999, S. 2–3)

In Folge der weiblichen Bedecktheit folgen typischerweise entsprechend sekundäre Diagnosen aus dem komorbiden Bereich – wie Angststörung, Essstörung, verzögerte Sprachentwicklung –, welche die eigentliche Ursache des Asperger-Autismus jedoch nicht treffen. Diagnostisch sind Autistinnen insgesamt also oft schwer zu fassen, da sie ein etwas unterschiedliches autistisches Erscheinungsbild zeigen: