Über das Schicksal des Leutnant Sauer - Sören Schnaubelt - E-Book

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Sören Schnaubelt

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Beschreibung

Josef Kramer ist bestürzt: Sein ehemaliger Kamerad Ernst Sauer ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Gemeinsam waren sie 1912 in Tsingtau stationiert und kämpften Seite an Seite für die Kaiserliche Armee des Deutschen Reiches. Berichten zufolge war Sauer dem Wahnsinn verfallen und huldigte einer dunklen Gottheit. Schon in Tsingtau übersetzte Sauer wie besessen einen geheimnisvollen Text aus einem verlassenen Tempel, doch für Kramer ist es trotzdem unvorstellbar, dass ein vorbildlicher deutscher Soldat wie Sauer ein Okkultist gewesen sein soll. Er beginnt Nachforschungen zu Sauers Tod anzustellen und nach Hinweisen zu Sauers Machenschaften zu suchen, um die Wahrheit über seinen Freund herauszufinden und ihn ins rechte Licht zu rücken. Auf den Spuren seines verstorbenen Kameraden reist er nach Hamburg, Berlin und England und schnell wird Kramer klar, dass dies eine Suche ist, die er besser nie begonnen hätte.

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Sören Schnaubelt

Über das Schicksal des Leutnant Sauer

Sören Schnaubelt

Über das

Schicksal des

Leutnant Sauer

IMPRESSUM

1. Auflage 2021

© Wortschatten Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Wortschatten Verlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

[email protected]

0049 (0)241 87343400

www.wortschatten.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druckerei und Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Lektorat:

Lena Christine Schulte

Umschlaggestaltung:

Nicole Ganser

Abbildungsnachweise:

https://pixabay.com/photos/abstract-asia-asian-background-3092201/

Print:

ISBN-10: 3-96964-008-3

ISBN-13: 978-3-96964-008-1

E-Book:

ISBN-10: 3-96964-009-1

ISBN-13: 978-3-96964-009-8

Vorwort

Am 14. Mai 1927 versuchte der aus dem Dienst ausgeschiedene deutsche Offizier, Leutnant Ernst Sauer, in London das Britische Museum niederzubrennen. Diese Tatsache hat erstaunlicherweise nie weite Verbreitung gefunden. Natürlich berichteten die Zeitungen über diesen Vorfall, denn dass ein ehemaliger Angehöriger des Kaiserlichen Heeres versucht hatte ein britisches Wahrzeichen zu zerstören, hätte leicht zu einem Politikum werden können. Doch die offensichtliche Tatsache, dass Sauer wahnsinnig war, machte es unmöglich, die Tat als politisch motiviert zu sehen. Sauer wirkte nicht wie ein deutscher Aggressor, sondern wie ein bemitleidenswertes Opfer seiner abstrusen Wahnvorstellungen.

Wäre es zu einer Verhandlung gekommen, wäre es möglich gewesen, dass die Informationen diesen Vorfall betreffend eine breite Öffentlichkeit erreicht hätten. Doch Sauer verstarb noch in der Untersuchungshaft unter grauenerregenden Umständen. Ob es sich um einen Unfall oder Selbstmord handelte, konnte nie abschließend geklärt werden. Genauso wie nie geklärt werden konnte, wie überhaupt so schwere Verletzungen in einer gepolsterten Zelle der Londoner Heilanstalt für psychisch Kranke möglich gewesen waren.

Nach Sauers Tod stellte Scotland Yard die Ermittlungen ein, und da bei Sauers Versuch das Museum anzuzünden, kein allzu großer Schaden entstanden war, ging man schnell wieder zur Tagesordnung über. Und so war der Fall Sauer nie mehr als eine Randnotiz in den deutschen Zeitungen.

Für mich selbst war dieser Vorfall weit mehr als eine Randnotiz. Sauers tragisches Ende hat mich tief getroffen, auch wenn ich erst 1928 mit einem Jahr Verspätung und über Umwege von seinem Tod erfuhr. Deutsche Zeitungen hatten fast nichts berichtet, und ich habe nie die britische Presselandschaft verfolgt. Tatsächlich erfuhr ich erst von Sauers Tod, als mich der Notar aufspürte, der für die Regelung von Sauers Nachlass verantwortlich war. Obwohl Sauer über eine weit verzweigte Familie verfügte, hatte er mir all seinen Besitz vermacht. Dies erstaunte mich, war meine und Sauers Beziehung doch nie so eng gewesen, dass ich so etwas erwartet hätte.

Ich habe Sauer einst 1912 kennengelernt. Wir beide dienten damals in der Kaiserlichen Armee und waren in Tsingtau stationiert. Bei der Belagerung der Stadt durch die Briten und die Armee des japanischen Kaisers, dem Tenno, trennten sich im allgemeinen Chaos unsere Wege. Ich ging in Kriegsgefangenschaft, während Sauer die Flucht zurück ins Reich gelang. Ich traf ihn erst 1923 in Berlin wieder und verlor ihn dann aber auch wieder aus den Augen.

Der Grund, warum ich nun diesen Bericht über meine Erfahrungen und meine Erlebnisse mit Sauer niederschreibe, ist, um in der Öffentlichkeit ein Verständnis für das Schicksal meines Freundes zu erreichen. Sauer hatte in der Armee des Kaisers gedient und bei der Verteidigung des deutschen Schutzgebietes Kiautschou größten Mut und Opferbereitschaft bewiesen. Doch persönliche Schicksalsschläge und die unverdiente Niederlage des Kaiserreiches haben ihn gebrochen. Und so litt Sauer unter grotesken Wahnvorstellungen, die ihn zu seinem verrückten Handeln trieben.

Im Weiteren sind in den letzten Jahren wilde Gerüchte und Spekulationen zum Fall Sauer aufgetaucht. Diese obskuren Thesen und haltlosen Behauptungen, die gerade von theosophischen und metaphysischen Gesellschaften verbreitet wurden, drohen das Andenken meines Freundes zu beschädigen. Diese wirren Theorien, die Sauer als düstere Gestalt porträtieren und ihm Pakte mit dunklen Monstrositäten unterstellen, sind abergläubischer Humbug, der in einem modernen und aufgeklärten Deutschland keinen Platz haben darf. Deshalb möchte ich dem geneigten Leser im Folgenden die Tatsachen – soweit sie mir bekannt sind – so übersichtlich und verständlich wie möglich darlegen.

Zum einen kann ich auf meine Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Sauer in Tsingtau zurückgreifen, zum anderen habe ich selbst einige Nachforschungen angestellt. Aufgrund der dubiosen Umstände von Sauers Tod, spürte ich den starken Drang, mehr über die Geschehnisse herauszufinden. So habe ich in den letzten zwei Jahren Reisen nach Berlin und Hamburg unternommen, wo sich Sauer von 1923 bis 1927 aufhielt, und habe mit einigen Menschen gesprochen, denen Sauer dort begegnet ist. Aus diesen Informationen ergibt sich nun die Schilderung, die ich in diesem Manuskript niederschreiben will. Ich hoffe, damit allen wilden Spekulationen die Grundlage zu entziehen und der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, das Geschehene vernünftig zu beurteilen und einzuordnen.

Josef Kramer Leutnant a.D.

August 1930 / Bochum

Teil I des Berichtes

Kapitel 1: Eine traurige Nachricht /

Drei verstörende Artikel

Der Vormittag des 17. April 1928 unterschied sich nicht wesentlich von jedem anderen Morgen des bereits verstrichenen Jahres. Ich war pünktlich um sechs Uhr aufgestanden, hatte ein einfaches Frühstück eingenommen und mich angekleidet. Gegen sieben Uhr verließ ich mein Haus in Bochum Herne und begab mich auf meinen allmorgendlichen 15-minütigen Fußmarsch. Dieser führte mich zu den Büroräumen der Stahlbaufirma, für die ich damals tätig war. Und so saß ich kurz vor halb acht in meinem Büro in unserer Bochumer Niederlassung. Ich begann sogleich mit der Arbeit und war damit beschäftigt Materiallisten durchzuarbeiten. Die Unterlagen betrafen die Errichtung einer Überdachung für die Wartehalle eines kleineren Nebenbahnhofes in Essen. Ich stellte die Bestellung der Winkelprofile und I-Träger zusammen, die wir noch im Laufe des heutigen Tages von der VESTAG (Vereinigte Stahlwerke AG) bestellen wollten. Meine Laune war nicht besonders gut. Die nach Angabe unseres Statikers notwenigen Profile waren deutlich schwerer als ich bei der Angebotserstellung abgeschätzt hatte. In Anbetracht des jetzigen hohen Stahlpreises würde das unseren Gewinn bei diesem Bauvorhaben deutlich schmälern. Bevor ich die Listen fertig hatte, musste ich noch einmal mit dem Statiker reden. Er würde prüfen müssen, ob er die Profile nicht doch kleiner dimensionieren konnte. Dies war so nicht rentabel.

Als ich mit den vorläufigen Listen fast fertig war, klopfte es an der Tür meines Büros. Herr Braun, der Vorsteher der Konstruktion, grüßte und trat ein. Er war ein pflichtbewusster, gedrungener Mann, der damals im Krieg seine linke Hand verloren hatte. Er trug den weißen Kittel, der Technischen Zeichnern als Berufskleidung dient – den linken Ärmel hatte er von seiner Frau kürzen und zunähen lassen. Er hob die rechte Hand, in der sich ein Brief befand.

»Ein Einschreiben«, erklärte er. Er legte den Brief auf meinen Tisch. »Ich wollte Sie eigentlich holen, aber der Bote hatte es verflucht eilig, also habe ich den Empfang für Sie quittiert. Ich fürchte, ich habe wohl Ihre Unterschrift gefälscht. Nur damit Sie Bescheid wissen.«

»Na, dafür wird man Sie wohl nicht gleich vor ein Standgericht stellen«, scherzte ich.

»Wenn ich mich nicht irre, haben Sie für das Abhalten eines Standgerichts nicht ganz den Dienstgrad, Herr Leutnant«, erwiderte er schmunzelnd.

Als Braun gegangen war, öffnete ich den Brief vorsichtig mit dem Brieföffner in Form eines Miniatur Bajonetts, welchen ein Freund mir einst geschenkt hatte. Erst begann ich damit den Brief zu überfliegen. Nachdem ich ihn das erste Mal flüchtig durchgesehen hatte, las ich ihn noch zwei weitere Male mit größerer Sorgfalt, da ich seine Wichtigkeit erkannt hatte. Im Anschluss daran ging ich als Erstes zum Vitrinenschrank in meinem Büro und schenkte mir einen Schnaps ein. Eigentlich war es nicht meine Art, schon vor dem Mittagessen zu trinken – meine Frau sah dies nicht gerne – angesichts der deprimierenden Nachricht, die der Brief enthielt, wich ich nun jedoch von dieser sonst eisern eingehaltenen Regel ab.

Der Brief stammte von einem Notar mit Geschäftssitz in Hamburg. Der Notar hieß Müller und hatte seine Kanzlei in der Nähe des Doms. Als ich den Schriftkopf mit der Hamburger Adresse sah, musste ich sofort an meinen alten Freund und Kameraden Ernst Sauer denken. Wusste ich doch, dass er sich dort in der Stadt aufhielt, und sonst hatte ich keine Bekanntschaften oder Verwandte in Hamburg.

Ich hatte mich nicht geirrt, der Brief betraf Sauer. Und der Inhalt war eine mehr als nur betrübliche Nachricht. Die Nachricht war so überraschend wie niederschmetternd. Der Notar erklärte bündig und sachlich, dass er beauftragt worden war, den Nachlass des Herrn Sauer abzuwickeln. Ernst Sauer Leutnant a.D. sei 1927 in englischer Haft verstorben. Er hatte ein Schreiben hinterlassen, das zwar kein ordentliches Testament war, aber doch Regelungen zu seinem Nachlass enthielt. Als einziger Erbe und die Person, die über seinen Tod informiert werden sollte, wurde ich genannt. Aus diesem Grund bat mich der Notar, möglichst im Mai seine Kanzlei in Hamburg aufzusuchen. Sollte der Mai nicht machbar sein, so wäre erst wieder ein Termin im August möglich, da ihn in der Zwischenzeit Angelegenheiten außerhalb Hamburgs in Beschlag nehmen würden.

Die Nachricht machte mich sehr betroffen. Sauer und ich waren im Großen Krieg Kameraden gewesen. Wir hatten in China, in Tsingtau, gemeinsam gegen die Japaner und Engländer gekämpft. Ich war damals in Kriegsgefangenschaft gegangen, während Sauer eine abenteuerliche und verwegene Flucht gelang. Und obwohl Sauer und ich damals viel Zeit miteinander verbracht hatten und Kameraden und ja, auch Freunde waren, war ich doch erstaunt, dass er mich als seinen alleinigen Erben eingesetzt hatte.

Nach kurzer Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich es Sauer schuldig war, nach Hamburg zu reisen. Dies war letztendlich der Augenblick, in dem ich begann – wenn ich es damals auch noch nicht realisierte – Nachforschungen zu Sauers tragischem Ende anzustellen.

Nun war Einiges zu tun. Zuerst musste ich Rücksprache mit dem Vorsteher des Büros halten, damit ich einige Tage der Arbeit fernbleiben konnte. Ich erklärte ihm, dass ich persönliche Angelegenheiten zu regeln hätte. Dafür hatte er Verständnis und gab mir im Mai eine Woche frei, um mir dies zu ermöglichen. Nachdem ich nun ein Zeitfenster im Mai hatte, suchte ich die nächste Poststelle auf. Ich schickte ein kurzes Einschreiben an die Geschäftsadresse des Notars Müller. Ich bestätigte, dass ich nach Hamburg kommen würde und bat ihn, mich am 24. Mai in seinen Räumlichkeiten zu empfangen.

Als Nächstes machte ich mich auf den Weg in die Bochumer Innenstadt. Dort saß ein Pressedienst, den ein Bekannter früher einmal mir gegenüber erwähnt hatte. Soweit ich wusste, verfügte er über ein umfangreiches Archiv inländischer und ausländischer Zeitungen – und die ausländischen, vor allem die englischen, waren nun für mich von Interesse.

Ich sprach noch an diesem Nachmittag im Büro des Pressedienstes vor. Ich bat die Verantwortlichen für mich alle Artikel über Ernst Sauer aus dem Jahr 1927 in der englischen Presse herauszusuchen und zu übersetzen. Ich sprach, so muss ich gestehen, nur schlechtes Englisch und so war ich darauf angewiesen für die Übersetzungen zu bezahlen. Man versicherte mir, man würde sich bemühen und gäbe es etwas in der englischen Presse, so würden sie es für mich finden. Dann bat man mich in zwei Wochen wiederzukommen.

Nachdem diese Zeit vergangen war, suchte ich den Pressedienst wieder auf. Ich war positiv überrascht, dass sie mehr als nur einen Artikel gefunden hatten. Tatsächlich hatten sie drei Artikel gefunden, die ihrer Meinung nach für mich von Interesse sein könnten. Sie übergaben mir die mit der Schreibmaschine kopierten Artikel. Die Blätter enthielten zum einen die originalen englischen Artikel und zum anderen die Übersetzung ins Deutsche. Mit den Artikeln kam ein Umschlag mit einer für mein Verständnis unverschämten Rechnung. Diese beglich ich noch vor Ort. Mit den Dokumenten ging ich dann nach Hause, um sie noch an diesem Abend gründlich zu studieren.

Der erste Artikel war in THE TIMES veröffentlicht worden:

Ein deutscher Anschlag auf das Britische Museum?

London, den 16.05.1927

In der Nacht von Samstag auf Sonntag kam es zu einem Zwischenfall im Britischen Museum. Das Wachpersonal wurde alarmiert, als nachts zwischen drei und vier Uhr morgens Flammen hinter mehreren Fenstern des Britischen Museums gesehen wurden. Ein Mann der Wachmannschaft informierte sofort die Männer der nächstgelegenen Feuerwache, während die restlichen vier Beamten ohne zu zögern in den entsprechenden Teil des Gebäudes eilten.

Dort fanden sie zwei Dinge vor. Ein Feuer in der Asiatischen Abteilung und einen offensichtlich verwirrten Mann. Das Feuer konnte durch das beherzte Eingreifen des Wachpersonals schnell eingedämmt werden. Mit Hilfe der kurz darauf eintreffenden Männer der 4. Brandwache konnte es dann endgültig gelöscht werden. Die Männer der Brandwache verdienen für ihr schnelles und professionelles Handeln besonderes Lob.

Die Struktur des Gebäudes wurde wohl nicht schwer beschädigt, auch wenn die Untersuchung des Gebäudes durch die Königlichen Ingenieure noch nicht komplett abgeschlossen ist.

Der verwirrte Mann wurde in Gewahrsam genommen. Nach Informationen, die uns vorliegen, soll es sich um einen deutschen Staatsangehörigen handeln. Der Mann, ein ehemaliger Leutnant namens Ernst Sauer, befand sich offensichtlich in einem zerrütteten Geisteszustand. Er wurde in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert und steht unter strenger Bewachung durch die Polizeibehörde.

Den kursierenden Gerüchten, dass es sich um eine deutsche Aggression handelt – also eine Rache für die deutsche Niederlage im Großen Krieg – muss in jedem Fall widersprochen werden. Es ist zwar richtig, dass Herr Sauer versucht hat eines der wichtigsten britischen Wahrzeichen niederzubrennen, jedoch scheint hier kein politisches Motiv vorzuliegen. Es ist offensichtlich, dass er aus Wahnvorstellungen heraus gehandelt hat, selbst wenn diese ein politisches Element enthalten.

Wie es dem Mann gelingen konnte, in das Britische Museum einzudringen, muss noch geklärt werden. Wir haben mit einem Mitarbeiter des Wachpersonals gesprochen, der anonym bleiben will. Dieser geht davon aus, dass Herr Sauer das Museum als regulärer Besucher betreten hat, um sich dann dort zu verstecken bis das Museum seine Türen schloss und alle anderen Besucher das Gelände verlassen hatten.

Wir werden selbstverständlich weiter über den Vorfall berichten.

Der zweite Artikel war ebenfalls in THE TIMES veröffentlicht worden:

Einziger Verdächtiger für den Brand im Britischen Museum in Haft verstorben

London, den 25.05.1927

Wie in unserer Ausgabe vom 16.05.1927 berichtet, wurde Herr Sauer als einziger Verdächtiger im Falle des Brandes im Britischen Museum noch am Tatort festgenommen. Aufgrund seines offensichtlich zerrütteten Geisteszustandes wurde er jedoch nicht in einem regulären Gefängnis, sondern in der Londoner Psychiatrischen Heilanstalt untergebracht.

Herr Sauer, der im Großen Krieg ein Leutnant des deutschen Heeres war, ist nun am vergangenen Wochenende in der Haft verstorben. Dass dies geschehen konnte wirft kein gutes Licht auf unsere Polizeibehörde, denn mit dem Tod Sauers werden die Aufarbeitung des Falls und die Klärung der Hintergründe des Brandes wohl kaum noch möglich sein. Er verstarb nach Verlautbarung der Heilanstalt an selbst zugefügten Verletzungen. Allerdings war Sauer in einer gepolsterten Zelle untergebracht und sollte unter strenger Beobachtung stehen. Diese Darstellung der Behörden kann also nicht vollständig den Tatsachen entsprechen.

Unserer Redaktion liegt eine Berichtsabschrift des Leichenbeschauers vor. Dieser Bericht zeichnet ein grausiges und abstoßendes Bild, das nicht mit den Angaben der Behörden in Einklang zu bringen ist.

Laut dem Bericht wies Sauers Körper eine große Zahl von schweren Verletzungen auf. Acht seiner Rippen waren gebrochen. Ein Oberschenkel und ein Schienbein waren geradezu zertrümmert. Ebenso lag ein Bruch des Schädels vor. Todesursache war letztendlich der Schädelbruch und die daraus resultierenden Blutungen.

Der Leichenbeschauer vermerkte, dass die Verletzungen zu einem Zusammenprall eines Mannes mit einem schnellen und schweren Auto oder mit einer Straßenbahn passen würden. Wir haben diesbezüglich bei Scotland Yard nachgefragt, jedoch wurde uns erklärt, dass man sich hierzu nicht äußern wolle.

Die Untersuchung der Gebäudestruktur des Britischen Museums durch die Königlichen Ingenieure ist mittlerweile abgeschlossen. Der Schaden, der durch den Brand entstanden ist, ist zwar nicht katastrophal, aber doch größer als gedacht. Laut dem uns vorliegenden Bericht war das Feuer zwar lokal begrenzt, aber wesentlich heißer als zuerst angenommen, sodass einige der Stahlträger in den unteren Etagen zum Teil in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Die Gefahr des Einsturzes besteht aber nicht. In den nächsten Wochen wird mit der Instandsetzung begonnen. Die Arbeiten werden vermutlich zwei Monate in Anspruch nehmen, und bis zum Abschluss dieser Arbeiten wird die Asiatische Abteilung der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein.

Wir werden selbstverständlich weiter über den Vorfall berichten, falls wir noch neue Informationen erhalten.

Der dritte Artikel war im Berliner Magazin Asiatische und Persische Mythen in Vergangenheit und Gegenwart veröffentlicht worden, welches von der Berliner Gesellschaft der Metaphysik herausgegeben wurde. Dies verwunderte mich, hatte ich doch keine Artikel in der Deutschen Presse erwartet, und wenn doch vielleicht eine kurze Notiz in einer der allgemeinen Tageszeitungen. In einer so speziellen Fachzeitschrift hätte ich sicherlich nichts zu Sauers tragischem Ende erwartet, hatte sein Tod doch nichts mit diesen recht speziellen Themen zu tun. Es war erstaunlich, dass der Pressedienst diesen Artikel überhaupt finden konnte. Eventuell hatte ich ihre großzügig bemessene Rechnung etwas zu hart bewertet, hatten sie doch hervorragende Arbeit geleistet.

Ernst Sauer in London verstorben, Tod vermutlich im Zusammenhang mit der Anrufung einer dunklen Gottheit.

Berlin 28.08.1927

Am 21.05.1927 ist Herr Ernst Sauer in London in Polizeigewahrsam verstorben.

Der Name Sauer ist vermutlich einigen unserer Leser bekannt, wenn auch sicherlich nicht der Mehrzahl. Er war in Hamburg ansässig und hatte sich mit Studien zu alten vorderasiatischen Kulten befasst. Die Schüler des Metaphysischen, die ihn kennengelernt haben, wissen um Sauers umfängliches Wissen über alte Kulte. Doch nicht sein angesammeltes theoretisches Wissen hat Sauer von allen anderen Gelehrten seines Fachgebietes unterschieden, sondern das Wissen um die praktische Anwendung. Er war bewandert in der Durchführung von Ritualen aus der finsteren Vergangenheit.

Er huldigte einer Gottheit, die in Vorderasien einst verehrt wurde, doch glücklicherweise schon vor langer Zeit wieder in Vergessenheit geriet. Diese groteske und bösartige Entität wird mit Feuer und Vernichtung assoziiert. Ich habe vor vielen Jahren selbst gesehen, wie Sauer seine dunkle Gottheit angerufen hat. Es war für jeden mit Erfahrungen im Metaphysischen offensichtlich, dass Sauer nicht nur leere, hohle Riten durchführte, sondern dass ihm etwas antwortete. Und so muss ich sagen, dass Sauer mich ängstigte. Weniger seine Person selbst, sondern was er mit seinen Fähigkeiten auf unseren unwissenden Planeten herabrufen könnte.

Sauer war in London in Gewahrsam genommen worden, als er neben einem Brandherd im Britischen Museum in London aufgefunden wurde. Die englischen Behörden und die Presse gehen davon aus, dass Sauer versucht hat, das Museum niederzubrennen. Eine Schlussfolgerung, die die Ahnungslosigkeit der britischen Behörden und Presse beweist.

Tatsächlich dürfte Sauer im Museum seiner dunklen Gottheit gehuldigt haben. Es ist davon auszugehen, dass Sauer sich ins Museum geschlichen hatte, um an einem der zahlreichen dort ausgestellten Altäre oder Schreine ein Anrufungsritual durchzuführen. Das Ritual muss jedoch misslungen sein, was zu dem Feuer und Sauers Wahnsinn führte, der laut den englischen Behörden offensichtlich war.

Sauers Tod war wohl der Preis, den er dafür zahlen musste, sich mit Dingen einzulassen von denen der Mensch so viel Abstand halten sollte, wie nur irgendwie möglich. Die Anbetung dieser dunklen Gottheit hat vermutlich mit Sauers Tod geendet, was ein Segen für die geistige Gesundheit der Welt sein mag.

Dieser Artikel irritierte und erzürnte mich. Dass es solch einen verrückten, okkulten Aberglauben innerhalb der Reichsgrenzen gab, war natürlich an sich schon ein Ärgernis. Dass hier jedoch auch der Name meines Freundes und Kameraden Sauer von abergläubischen Okkultisten mit ihren verrückten Theorien in Verbindung gebracht wurde, war nicht zu akzeptieren. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, warum jemand solch eine Unmenge von lächerlichen Anschuldigungen gegen meinen Freund Sauer erheben sollte. Mit dieser Sache musste ich mich in jedem Fall noch beschäftigen.

Ich entschied jedoch die Angelegenheit bis zum Besuch bei Sauers Nachlassverwalter ruhen zu lassen. Somit ging ich dann erst einmal wieder zur Tagesordnung über – auch wenn mir die Sache selbstredend nie ganz entfiel und ich oft an Sauer denken musste.

Kapitel 2: Ein Besuch bei Sauers

Nachlassverwalter

Im Mai begab ich mich nun, wie dem Notar gegenüber angekündigt, nach Hamburg. Für die Reise von Bochum nach Hamburg nutzte ich selbstverständlich die Eisenbahn, ermöglicht die Deutsche Reichsbahn mit ihren modernen Zügen und dem hervorragend ausgebauten Schienennetz doch ein leichtes und komfortables Reisen.

Ich erreichte Hamburg am frühen Abend des 23. Mai 1928 und quartierte mich in einem respektablen Gasthaus ein, in dem vor allem deutsche Handlungsreisende und Geschäftsleute abstiegen. Es lag weit weg von den verruchten Vierteln, in denen sich die Herumtreiber, Ausländer und leichten Damen aufhielten.

Nach einer ruhigen und ereignislosen Nacht suchte ich am Morgen die Räumlichkeiten des Notars auf. Sein Büro befand sich im zweiten Stock in einem großen Geschäftshaus in der Nähe des Doms. Das Gebäude befand sich in einer Nebenstraße, die etwas ruhiger war als die benachbarte, belebtere Hauptstraße.

Ich klopfte an und wurde vom Bürovorsteher, einem müde aussehenden Mann in einem einfachen und etwas abgetragenen Anzug, eingelassen. Er ließ mich in einem kleinen Salon Platz nehmen, wo ich einen Moment warten sollte. Dort nahm ich mir eine Ausgabe des Hamburger Anzeigers von einem kleinen Beistelltisch und begann darin zu blättern.

Was ich dort las, gefiel mir nicht. In Hamburg und Berlin war es wieder zu Zusammenstößen zwischen den Deutschnationalen und den Kommunisten gekommen. Wenn ich nun auch schon acht Jahre in der Republik lebte, konnte ich mich nicht daran gewöhnen. Das Land war aus den Fugen geraten – alles war unklar und unordentlich seitdem der Kaiser abgedankt hatte. Von ungebildeten Arbeitern gewählte Zivilisten bestimmten das Schicksal unseres Reiches. Anfänglich hatten ich und viele andere kaisertreue Offiziere gehofft, Wilhelm II. würde eines Tages aus seinem Exil in den Niederlanden zurückkehren und die von Gott gewollte Ordnung wiederherstellen. Mittlerweile hatte ich diese Hoffnung schon fast aufgegeben. Wahrscheinlich würden wir noch eine lange Zeit in einer Republik leben müssen.

Nach vielleicht 20 Minuten Wartezeit kam der Bürovorsteher wieder und führte mich in das Arbeitszimmer des Notars. Der Notar war ein kleingewachsener, kräftiger Mann mit grauen Haaren und einen silbergrauen vollen Bart. Trotz seiner grauen Haare schien er nicht viel älter als 50 zu sein. Die Schmisse auf seiner Wange verriet, dass er in seiner Studentenzeit in eine schlagende Verbindung eingetreten war. Er begrüßte mich mit meinem Namen und schüttelte mir dabei kräftig die Hand. Danach bat er mich ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Er nahm eine Mappe mit einigen Papieren vom Tisch und überflog sie noch einmal kurz.

»Hier wären wir also«, begann er. »Ich wurde von der Deutschen Botschaft in England, also der in London, gebeten mich um den Nachlass des Leutnant a.D. Ernst Sauer zu kümmern. Ein wirklich tragischer Fall, gerade weil Leutnant Sauer ja durchaus eine ordentliche Karriere in unserer Kaiserlichen Armee hingelegt hatte. Dabei muss ich sagen, dass mich einige Tatsachen doch sehr verwirren. In seiner Militärakte wurde Sauer immer noch als vermisst geführt. Als ›in Tsingtau vermisst‹, wie ich betonen möchte. Ich hatte gehofft, dass Sie mir hier vielleicht weiterhelfen könnten. So wie ich es verstanden habe, waren Sie doch ein Kamerad von Sauer, damals in China?«

»Er hat sich nach seiner Rückkehr nicht beim Militär gemeldet? Ich muss sagen, dass mich das erstaunt. Er war spätestens 1920 schon wieder zurück in Deutschland. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass er sich nicht zurück gemeldet hat. Es kann natürlich auch sein, dass er sich zurückgemeldet hatte und die Information einfach untergegangen ist«, mutmaßte ich. Erklärend fuhr ich fort: »Sauer ist beim Fall von Tsingtau entkommen. Ich bin damals in Kriegsgefangenschaft gegangen. Es ist ihm gelungen, sich alleine bis nach Deutschland durchzuschlagen, auch wenn er dafür fast sechs Jahre benötigt hat. So oder so war es eine beindruckende Leistung von ihm.«

»Alleine von China bis nach Deutschland?«, fragte der Notar interessiert. »Das erinnert mich an den Herrn Plüschow, dieser hatte es doch nach dem Fall von Tsingtau auch von China bis nach Deutschland geschafft. Er hat ja auch ein Buch über seine Flucht geschrieben. Ich kam aber noch nicht dazu, mir ein Exemplar zu besorgen und zu lesen, aber ich habe es schon seit einer Weile vor.«

»Nun, ich denke, Sauers Flucht war etwas anders als die von Plüschow – Plüschow reiste ja über Amerika. Sauer ist im Gegensatz zu ihm durch Asien gereist. Allerdings kam er wohl ab einem gewissen Punkt nicht weiter, weil er Angst hatte in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Ich muss gestehen, dass ich auch nicht allzu viel über seine Rückkehr in die Heimat weiß.«

»Sehr interessant. Ich würde gern einmal noch mehr über Sauers Reise hören. Aber jetzt sollten wir uns mit dem Grund für ihren Besuch beschäftigen, Herr Kramer.«

Nun wandte sich der Notar wieder seinem Dokument zu während er weiter mit mir sprach. »Sie wissen sicherlich, was dem armen Herrn Sauer in London widerfahren ist?«

»Leider nicht zur Gänze. Ich habe mir durch einen Pressedienst einige Artikel heraussuchen lassen. Alles relativ traurig oder beunruhigend. Sauers Geisteszustand muss sich massiv verschlechtert haben, seit ich ihn vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen habe. Laut einem Artikel war er geradezu wahnsinnig, als die Engländer ihn im Museum gefunden haben.«

»Ich fürchte, so könnte sein Zustand beschrieben werden. Anscheinend war Sauer kurz vor seinen Tod kaum noch ansprechbar. Allerdings weiß ich auch nicht viel mehr als das, was die englische Presse berichtet hat. Die deutsche Botschaft in London hat mir zwar einen kurzen Bericht zukommen lassen, aber dieser enthielt kaum weitere Informationen. So oder so ist es ein tragischer Fall«, erklärte der Notar.

»Was mich am meisten irritiert hat, ist die deutsche Presse. Haben Sie diesen Artikel der verdammten Okkultisten aus Berlin gelesen?«, fragte ich nach.

»Oh, tatsächlich gibt es nicht nur einen Artikel dieser Art. Ich weiß von mindestens drei Artikeln in der deutschen und vier Artikeln in der englischen Presse. Aber gerade die Artikel in der deutschen Presse sind beunruhigend, sind sie doch teilweise von Personen geschrieben worden, die Sauer kannten oder vorgeben ihn gekannt zu haben.«

Das überraschte mich, so viele ... Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

»Warum sind diese verrückten Okkultisten so sehr an Sauer interessiert?«

»Ich fürchte, Sauer war vor seinem Tod hier in Hamburg mit einigen dieser Gruppen bekannt – auf jeden Fall so wie ich es verstanden habe.«

Das schien gar nicht zu meinem Freund zu passen. Doch bedachte man seinen zerrütteten Geisteszustand – wer konnte es schon mit Sicherheit sagen?

»Nun«, fuhr der Notar fort. »Wie dem auch sei, Sauer hat kein Testament im eigentlichen Sinne verfasst. Allerdings wurden seine Unterlagen und Besitztümer gesichtet und an einer Stelle in seinen Aufzeichnungen vermerkte er die Hoffnung, dass all seine irdischen Besitztümer im Falle seines Todes an Sie gehen würden.«

»Aber wenn es kein vor Zeugen aufgesetztes Testament war, ist es dann gültig? Sollten seine Besitztümer nicht an seine Familie gehen?«, fragte ich erstaunt. Dieser Punkt hatte mich seitdem ich den Brief erhalten hatte beschäftigt. Wusste ich doch, dass Sauer über eine weit verzweigte Verwandtschaft verfügte. Und egal, was Sauer verfügt hätte, wäre doch natürlicherweise seine Familie erbberechtigt gewesen.

»Ja, das ist richtig«, hier blickte der Notar an die Decke. »Ich habe seit knapp einem Jahr versucht, den Nachlass Sauers zu regeln. Aber niemand in Sauers Verwandtschaft war bereit, sich mit mir zu treffen. Alle haben, sobald ich sie anschrieb – oder in einem Fall sogar, als ich einen Cousin Sauers aufsuchte – sofort und unmissverständlich das Erbe ausgeschlagen. Eigentlich hätte ich Sauers Nachlass auch vernichten lassen können, aber das wäre entschieden zu würdelos für einen Mann, der im Großen Krieg gedient hat. Also habe ich mich entschlossen, Sauers Vermerk, Sie betreffend, als Testament anzusehen – auch wenn es eigentlich nicht den formalen Anforderungen genügt.«

Dass dieser Anwalt sich solch eine Mühe machte, das Andenken eines deutschen Soldaten zu ehren, den er nicht einmal gekannt hatte rührte mich. Also dankte ich ihm für seine Mühen. Er winkte ab und erklärte mir, dass dies doch selbstverständlich wäre. Danach entschuldigte er sich für einen Moment und verließ das Büro.

Als er wieder in den Raum kam, brachte er ein längliches Bündel mit sich.

»Hier sind die wenigen Sachen, die in Sauers Besitz waren. Einiges trug er am Mann, als er aufgegriffen wurde, anderes wurde in seinem Hotelzimmer in London sichergestellt und der Rest stammt aus seiner Unterkunft hier in Hamburg«, erklärte er, während er das Bündel auf den Tisch legte und dann dort öffnete. Das Bündel enthielt einige Papiere, Bücher und einen Degen, den ich sofort als Sauers Degen wiedererkannte.

Es handelte sich mit Sicherheit um den Degen, den Sauer bei sich trug, als ihm in Tsingtau die Flucht gelang und ich in Kriegsgefangenschaft geriet. Ich war mir dessen sicher, da es sich nicht um den üblichen IOD 89 handelte, sondern um eine chinesische Ausführung.

Wie dem Leser mit Sicherheit bekannt ist, wurde der Infanterie-Offiziersdegen Modell 1889 in verschiedenen Versionen gefertigt. Je nach Standort des Regiments gab es eine bayrische, preußische und württembergische Version. Der einzige Unterschied zwischen den Modellen sind das Staatswappen und das Monogramm des jeweiligen Königs auf dem Stichblatt.

So befand sich auf dem Degen, den ich damals führte, der preußische Adler. Auf Sauers Degen hätten sich üblicherweise die drei württembergischen Löwen befinden müssen, war sein Regiment doch in Stuttgart ansässig.

Sauer allerdings hatte sich eine chinesische Version des IOD 89 beschafft.

Dabei handelte es sich um eine von der Firma WKC in Solingen um 1900 produzierte Version, die als Auftragsarbeit für die Truppen des chinesischen Kaisers gefertigt wurde. Ein Teil der Degen wurde dann aber nie nach China geliefert. Warum das geschah, vermag ich nicht zu sagen. Einige dieser Degen zirkulierten danach bei deutschen Waffenhändlern. Diese Version hatte auf dem Stichblatt kein deutsches Wappen, sondern einen chinesischen Drachen.

Mir war nie ganz klar gewesen, wie Sauer damit durchgekommen war, diesen Degen zu tragen. Eigentlich war es nicht zulässig, einen nicht regulären Degen als Teil der Uniform zu verwenden. Vermutlich war es in Deutschland einfach keinem von Sauers Vorgesetzten aufgefallen und fernab der Heimat, in Tsingtau, hatte es vermutlich niemanden interessiert. Ich muss hier einräumen, dass die Kleiderordnung in den deutschen Schutzgebieten meistens nicht so streng gehandhabt wurde, wie auf Kasernenhöfen in der Heimat.

Der Degen, den der Notar mir nun übergab, war diese chinesische Version. Er war in einem extrem abgetragenen und ramponierten Zustand. Damit schien es sicher zu sein, dass es der Degen war, den Sauer auf seiner Reise von Tsingtau nach Deutschland mit sich geführt hatte.

Der Notar händigte mir ein Formular aus, auf dem ich abzeichnete, dass ich Sauers Besitz erhalten hatte. Im Weiteren gab mir der Notar einen Umschlag mit 2847,30 Mark. Ich muss gestehen, dieses Geld war eine Überraschung, die mir nicht unwillkommen war. Hatte ich doch schon einiges an Geld aufwenden müssen, um den Pressedienst zu bezahlen und nach Hamburg zu reisen.

Das Geld glich das natürlich mehr als aus, verdiente ich doch selbst nur 250 Mark im Monat. Es war erstaunlich. Wie kam es denn, dass Sauers Verwandtschaft unter keinen Umständen Sauers Erbe antreten wollte, gab es doch ein Jahreseinkommen zu erben? Es musste zu einem Zerwürfnis zwischen Sauer und seinen Angehörigen gekommen sein, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war. Die ganze Angelegenheit war ausgesprochen merkwürdig.

Nachdem ich alle Sachen an mich genommen hatte, erklärte der Notar: »Damit wäre Sauers Nachlass geregelt. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie nach Hamburg gekommen sind. Jetzt, da die Angelegenheit abgeschlossen ist, fühle ich mich gleich deutlich wohler. Seit einem Jahr hatte ich das im Hinterkopf und ich mag es nicht, wenn etwas nur halb erledigt ist. Wir müssen jetzt aber auch zu einem Abschluss kommen. Ich habe noch ca. 15 Minuten und dann wird ein anderer Klient kommen. Bitte haben Sie dafür Verständnis.«

Ich beeilte mich, dem Notar zu versichern, dass ich ihm zu Dank verpflichtet sei. Dann packte ich Sauers Nachlass zusammen und schickte mich an, mich zu verabschieden.

Ich wollte dem Notar eigentlich die Hand geben, aber als ich ihm die meine hinhielt, ignorierte er sie und salutierte stattdessen. Nicht wirklich verwundert erwiderte ich den Salut.

Kapitel 3: Ein unerwarteter abendlicher

Besucher

Gegen Mittag trat ich aus dem Büro des Notars auf die Straße. In meinen Händen ein Bündel mit Sauers Besitz und seinem Degen. Den Umschlag mit der nicht unerheblichen Menge an Geld, hatte ich sicher in der Innentasche meines Mantels verstaut.

Mit diesen Dingen beladen machte ich mich nun auf den Weg zurück in meine Unterkunft. Da es nicht weit war, konnte ich die Strecke leicht zu Fuß zurücklegen. Zwar fiel ein leichter Regen, aber dies war kaum ein Ärgernis.

Ich war in einer merkwürdigen Stimmung, als ich durch die fast leeren Straßen schritt. Einerseits war ich sicherlich traurig, hatte mein guter Freund doch ein tragisches Ende gefunden, andererseits war ich auch irgendwie aufgeregt. Ich dachte an die Zeit zurück, als ich als junger Mann im Kaiserlichen Heer diente, und ich brannte darauf Sauers Unterlagen durchzuarbeiten. Dabei konnte ich nicht sagen, was ich genau zu finden hoffte.

In der Unterkunft angekommen, nahm ich ein einfaches Essen im Schankraum ein. Danach begab ich mich auf mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir, legte den Riegel vor und begann dann mit der Durchsicht der Unterlagen. Es waren verschiedene Bücher und Papiere. Die Bücher waren die folgenden: eine Bibel – stark zerlesen, der Widmung im Einband zufolge musste Sauer diese schon seit seiner Jugend besessen haben –, ein weiteres Buch war Der Goldene Zweig von James Georg Frazer. Das Buch beschäftigte sich mit Volkskunde, Magie und frühen europäischen Religionen. Das war mir bekannt, allerdings hatte ich es nie gelesen, sondern nur davon gehört.

Im Weiteren waren auch ein chinesisches Wörterbuch und ein Buch über die altgriechische Sprache vorhanden. Außerdem enthielt das Paket mehrere Dutzend lose Papiere. Die Papiere schienen nicht geordnet zu sein, vielleicht hatten sie nie eine Ordnung gehabt, oder aber sie waren durcheinander geraten.

Willkürlich nahm ich eines der Papiere aus dem Stapel. Auf diesem Papier hatte Sauer in seiner peniblen Handschrift fast die ganze Seite gefüllt. Ganz oben in einen separaten Abschnitt standen die folgenden Zeilen niedergeschrieben:

Das Ritual funktioniert nicht, warum nicht? Die Hinweise sind zu vage, und die Aufzeichnungen des alten Liu sind kaum verständlich. Ein Teil des Textes fehlt, oder ich habe ihn falsch angeordnet. Ich habe es mit einer Katze probiert, funktioniert das Ritual nur mit Menschen? Es muss noch andere Quellen geben, die den richtigen Ritus beschreiben. Natürlich könnte ich versuchen, die große Monstrosität zu beschwören und zu befragen, aber das Risiko ist zu groß. Liu hatte versucht das Ding von außerhalb zu rufen, er hat es mit dem Leben bezahlt, und ich wäre auch beinahe gestorben.

Was kann ich noch tun? Liu meinte, dass für manche Rituale das richtige Gefäß notwendig ist. Er hatte in Tsingtau das Bronzebecken, das er verwendete, doch dieses ist sicherlich verloren. Aber ohne das Becken mag es nicht gelingen. Kann ich ein ähnliches Becken finden? Vielleicht kann ich selbst ein Becken anfertigen!

Diese Notizen waren wirklich verstörend. Sauers Geisteszustand befand sich offensichtlich im Niedergang, als er diesen Text verfasst hatte. Er hatte wirklich, den Verstand verloren. Leider hatte ich keine Möglichkeit, die Seiten zeitlich einzuordnen. Aus welchem Jahr stammten sie? Waren sie kurz vor Sauers Tod verfasst worden oder schon Jahre davor? Als ich ihn 1923 in Berlin das letzte Mal gesehen hatte, machte er keinen verrückten Eindruck. Es war kaum vorstellbar, dass er diesen wirren Text schon damals geschrieben hatte.

Dann stieß ich auf ein paar Seiten die ich sogar kannte. Sauer und ich hatten damals in Tsingtau eine Inschrift in einem Tempel übersetzt oder angefangen zu übersetzen. Die Inschrift war erstaunlicherweise auf Griechisch verfasst worden, sodass wir sie für historisch bedeutsam hielten. Ab einem gewissen Punkt hatte ich jedoch das Interesse verloren, während Sauer sich in die Arbeit hineingesteigert hatte. Besonders nach Sauers tragischem Verlust, von dem er damals in Tsingtau erfuhr, fixierte er sich ungesund auf diese Arbeit. Dem Umfang nach hatte Sauer damals noch viel mehr übersetzt als die paar Zeilen, die wir gemeinsam bearbeitet hatten. Ich hatte schon davor den Verdacht, dass diese Übersetzungsarbeit der Keim für Sauers geistige Zerrüttung gewesen war. Dass er die Blätter nach all den Jahren immer noch besaß, schien dies zu bestätigen.

Die weiteren Seiten, die mir vorlagen, schienen kein Teil der Übersetzung zu sein. Ein Großteil der Blätter war mit Notizen oder kurzen Vermerken übersäht. Einige Blätter enthielten jedoch auch bildliche Darstellungen. Die Zeichnungen waren von einer skizzenhaften technischen Art. Man konnte sehen, dass Sauer versucht hatte sachlich und detailliert zu zeichnen. Es war offensichtlich, dass die Zeichnungen mit einem feinen Bleistift und Lineal erstellt worden waren, aber die dargestellten Dinge waren so irritierend wie beunruhigend. Es waren groteske Kreaturen halb Mensch und halb Tier. Oder verschlungene Strukturen, die an Ranken oder Tintenfische erinnerten.

Ein Ding, das er gezeichnet hatte, empfand ich als besonders verstörend. Eine Gestalt mit einem großen Kopf und einem fratzenartigen Gesicht. Lange Arme, die fast über den Boden schleiften. Sauer hatte die Haut der Kreatur schraffiert, als wolle er Fell oder etwas Ähnliches andeuten. Es war geradezu unangenehm, das Ding anzusehen. Die Proportionen waren einfach falsch. Die langen Arme und der große Mund, und die Zähne ... Nichts und niemand konnte so große Zähne haben. Während die Skizze mit Bleistift angefertigt worden war, hatte Sauer zusätzlich mit einem roten Stift acht Kreuze auf die Kreatur gemalt; vier in seinem Gesicht und vier über den Oberkörper verteilt. Ich legte das Blatt mit dem Bild nach unten zur Seite, dann nahm ich mir die nächsten Zeichnungen vor.