Über kurz oder lang - Ernst Strouhal - E-Book

Über kurz oder lang E-Book

Ernst Strouhal

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Beschreibung

Von den Rändern Europas ins Zentrum der Metropolen: In »Über kurz oder lang« erweist sich Ernst Strouhal einmal mehr als brillanter Essayist und kritischer Zeitgenosse. Die Reportagen aus den letzten Jahren entführen uns auf eine Reise durch ein anderes, bislang unentdecktes Europa zum Entmagnetisierungspunkt auf Rügen, ins Schweizer Schattenreich des Geldes, ins Wiener Hotel Kummer oder in Kaffeehausgespräche. Autobiografisches trifft auf unterhaltsam-ironische Einsichten in Politik und Geistesgeschichte, während die Leser:innen dem fliegenden Robert, einer Brückensammlerin oder einem Kunstlutscher begegnen dürfen.

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Seitenzahl: 530

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Ernst Strouhal

ÜBER KURZ ODER LANG

Essays und Reportagen

ERNST STROUHAL

ÜBER KURZ ODER LANG

ESSAYS UND REPORTAGEN

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur

Strouhal, Ernst: Über kurz oder lang. Essays und Reportagen / Ernst Strouhal

Wien: Czernin Verlag 2024

ISBN: 978-3-7076-0847-2

© 2024 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Florian Huber

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Coverabbildung: Brooklyn Museum, Ejiri Station Province of Suruga, Katsushika Hokusai

Autorenfoto: Ingo Pertramer

Druck: Finidr, Český Těšín

ISBN Print: 978-3-7076-0847-2

ISBN E-Book: 978-3-7076-0848-9

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Der fliegende Robert. Geschichten vom Wind

Im Zoo der imaginären Tiere. Vom Projekt einer ästhetischen Menagerie

Der Kunstlutscher

Alle Kunst ist Ornament. Aporien der Sachlichkeit von Loos zu Adorno

Ministerempfang. Großer Bahnhof am Flughafen

Laokoon lakonisch. Zu einer Skulptur von Heimo Zobernig

Wolschebnik 666. Geburtstagsrede für August Ruhs

Der perforierte Zauberzirkel. Zur Aktualität von Johan Huizingas Homo ludens

Falsches Spiel. Notiz zu Harry Houdini und zum illusorischen Glück

Ludische Kartographien. Die Welt der spielbaren Landkarten

»Wingerl, Wangerl, Wuperzu …« Ein Ohrenzeugenbericht

Böse Briefe. Die Unsichtbaren und ihre Gegner[Gemeinsam verfasst mit Christoph Winder]

Falsche Ohren

Die individuelle Uniform. Kleine Erinnerung an die Handschrift

Über das Blättern. Verzetteltes Schreiben, zerstreutes Lesen

Marbot. Wolfgang Hildesheimer erneut gelesen

Gespräch mit einem Esel

Catherine und Alexander. Eine Liebe in Wünschen

Blind Summit

Die Brückensammlerin

Im Schattenreich des Geldes. Einschau in Olten

Am Entmagnetisierungspunkt. Rügen im Regen

Sandiger Schmerz

Hotel Kummer. Spaziergang durch Neubau

»Ich wohn’ nur so da …«. Besuch im Goethehof

Apparent obsolescence. Das Hotel Okura in Tokio schließt

Himalaya. Imaginäre Reisen durch den Prater

Sennett heute. Zu Verfall und Ende des öffentlichen Lebens

Das doppelte Prisma der Erinnerung. Elias Canettis Das Augenspiel und Friedl Benedikt

Mit Rudolf Burger im Café

Engagement und Erzählen. Philippe Sands versus die »geistlose Freiheit des Meinens«

Verleih meine Fehler

Anmerkungen

Textnachweise

Bildnachweise

Danksagung

Über den Autor

Szene aus

The Wind

von Victor Sjöström (Regie) aus dem Jahre 1928 mit Lillian Gish in der Hauptrolle.

Der fliegende Robert

Geschichten vom Wind

I

Als der Frankfurter Arzt, Politiker und Dichter Heinrich Hoffmann (1809–1894) kurz vor Weihnachten 1844 für seinen dreijährigen Sohn Carl den Struwwelpeter zeichnete, hatte er keine Vorstellung vom kommenden Erfolg seines Büchleins.

Der Struwwelpeter erschien ein Jahr später in der »Literarischen Anstalt« von Zacharias Löwenthal und Joseph Rütten in einer ersten Auflage von 1.500 Stück, zwei Jahre danach war bereits die fünfte Auflage erreicht, 1876 war man bei der 100. Ausgabe angelangt. Der Struwwelpeter wurde das bekannteste Kinderbuch seiner Zeit – und der nächsten und übernächsten Generation. Zahllose Übersetzungen, Neudichtungen und Parodien erschienen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, einige Figuren, wie der Zappel-Philipp oder Hanns Guck-in-die-Luft, sind sprichwörtlich geworden, eine Vielzahl der Verse gehört bis heute dem poetischen Volksvermögen an.

Seit den 1960er-Jahren ist der Struwwelpeter politisch in Verruf geraten, die meisten Pädagoginnen und Kinderpsychiater sind nicht gut auf Heinrich Hoffmann zu sprechen: Der Autor lege zwar unbewusste Wünsche und Ängste frei, doch besetze er die Lösung der Konflikte, so die Kritik, letztlich nur mit Angst, Tod und Strafe, statt zu ihrer Bewältigung beizutragen. Von anderer Seite wird der surreale, subversive Witz Hoffmanns akklamiert und die Lust an der radikalen Verneinung gesellschaftlicher Normen, die alle Helden im Struwwelpeter teilen.

Seit der fünften Auflage ergänzte »der fliegende Robert« die Schar der ungezogenen Kinder im Buch. Robert wagt sich bei Sturm und Regen allein nach draußen, während die braven Mädchen und Buben daheim bleiben:

»Robert aber dachte: Nein!

Das muß draußen herrlich sein! –

Und im Felde patschet er

Mit dem Regenschirm umher.«

Sturm kommt auf, Robert wird mitsamt Mütze und rotem Schirm in die Luft gehoben und fliegt davon:

»Seht! den Schirm erfaßt der Wind,

Und der Robert fliegt geschwind

Durch die Luft so hoch, so weit;

Niemand hört ihn, wenn er schreit.«

Der fliegende Robert ist in der Editionsgeschichte des Struwwelpeter die unscheinbarste aller Figuren Hoffmanns geblieben. Sein Bild schaffte es nicht auf den Umschlag der Jubiläumsausgabe zur 100. Auflage von 1876 oder in das Struwwelpeter-Malbuch des Schreiber Verlags von 1930. Nicht einmal auf dem Struwwelpeterspiel ist ihm ein eigenes Feld beschieden, dabei hätte sich das Bild vom schwebenden Kind mit dem Schirm doch hervorragend als Vignette für das Schlussfeld geeignet.

Die Marginalisierung des fliegenden Robert ist nicht zufällig. Sie rührt vielleicht daher, dass die Geschichte die einzige im ganzen Buch mit offenem Ausgang ist. Geht sie schlecht aus oder gut? Es ist einerseits eine Geschichte des Verschwindens, des Herausgerissen-Werdens aus der Geborgenheit, es ist aber auch eine Geschichte des Entkommens, einer Flucht ins Nirgendwo, denn Robert lässt den Schirm nicht aus. Ein Leichtes wäre es gewesen, die Reise dadurch zu beenden und zurückzukehren, doch:

»Schirm und Robert fliegen dort

Durch die Wolken immerfort.

Und der Hut fliegt weit voran,

Stößt zuletzt am Himmel an.

Wo der Wind sie hingetragen,

Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.«

Roberts Fluchthelfer, dem er sich anvertraut, ist der Wind. Er ist der eigentliche Motor der Geschichte, auch wenn er, wie stets in der Bildgeschichte des Windes, auf den drei Bildern, mit denen Hoffmann seine Geschichte illustriert, unsichtbar bleibt. Der Wind wird hier nur durch seine Wirkung auf anderes erkennbar: Er beugt den Baum, der Regen fällt schräg, Roberts Haare werden zerzaust.

Dieser Wind ist schicksalhaft, die Richtung, in die er Robert trägt, ist ungewiss; dennoch gibt sich Robert ihm hin, und er hat dabei eine große Zahl Verwandter und Ahnen. Seine Sippe, die vom Wind Verwehten, ist weitverzweigt. Man denke an Hans Christian Andersens Däumelinchen, Roberts märchenhafte Kusine, der am Ende ihrer Flucht vor dem Maulwurf über das Meer und durch die Wolken Flügel geschenkt werden. Der Stammbaum reicht vom leidgeprüften Odysseus über Rabelais’ Pantagruel und Panurg bis zu Defoes Robinson und Swifts Gulliver, die alle vom Sturm an die Küsten bizarrer Inseln verschlagen werden, vom Mädchen Dorothy und ihrem Hund Toto, die in The Wonderful Wizard of Oz von einem Wirbelsturm aus Kansas gerissen werden und sanft im Zauberland Oz landen, bis zu Walter Benjamins Engel der Geschichte, den der Sturmwind, der vom Paradies her weht, gemeinsam mit uns unaufhaltsam in die Zukunft reißt.

II

Wind bewegt – die Menschen und Dinge, die wie der fliegende Robert in den Wind geraten, er bewegt aber auch die Gedanken der Menschen. Keine Kultur, die nicht über den Wind nachdachte, keine Epoche, die nicht versuchte, das Phänomen in Worte und in Bilder zu fassen.

Zugleich berührt der Wind – er ist, wenngleich unsichtbar, sinnlich erfahrbar, durch die Berührung schafft er Stimmungslagen: Der Wind verheißt Aufbruch, wenn er aufkommt, er bedeutet Gefahr, wenn er unvermittelt losbricht und sich zum Sturm verstärkt, bedrohlich ist aber auch sein Ausbleiben, der Stillstand, wenn Flaute herrscht. Bertolt Brecht stellte seinem späten, von ihm nicht publizierten Gedichtzyklus Buckower Elegien folgendes Motto voran:

»Ginge da ein Wind

Könnte ich ein Segel stellen.

Wäre da kein Segel

Machte ich eines aus Stecken und Plane.«

Die Sentenz lässt sich auch als politische Metapher verstehen. Der Wind der Veränderung, den die Entwicklung des Sozialismus bringen sollte, ist abgeflaut, kein Fahrtwind kommt auf, aber der Dichter verstummt nicht, er geht an die Arbeit; auf frischen Wind darf er nicht hoffen, doch er vermag, die Windstille selbst zu beschreiben.

In der Kunst- und Literaturgeschichte ist der Wind wie in der Geschichte vom fliegenden Robert mitunter Begleiter oder Protagonist der Handlung, mitunter ist er ein unentbehrlicher Stimmungsmacher. Die Geschichte des Windmotivs ist eine Geschichte unterschiedlicher Ambivalenzen: Der Wind ist unsichtbar und wird zugleich durch seine Kräfte sichtbar, die Konfrontation mit dem Wind bringt einerseits Chaos, andererseits ist sie eine Arena der Bewährung, er weht manchmal in Permanenz und ist dennoch vergänglich. Der Wind ist zugleich Freund, der für Frische, Aufbruch und Bewegung sorgt, und erbitterter, unbarmherziger Feind der Menschen, eine Person mit eigenem Willen oder eine, die einen göttlichen Willen vollstreckt. Oder er ist weder Freund noch Feind, sondern Zeichen für die Kontingenz der Welt. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Erfahrung des Windes spiegeln sich in der Vielfalt der Metaphorik im Alltag: Man spricht von einem windigen Charakter, von einem, der gerne sein Fähnchen in den Wind hängt, von stürmischen Ereignissen, vom Rückenwind, den man erfährt, von der Stille vor dem Sturm oder vom Gegenwind, dem man ausgesetzt ist.

In vielen Kosmogonien steht der Wind am Anfang aller Dinge. In den prähellenischen Schöpfungsmythen der Pelasger tanzt die Urgöttin Eurynome, eine Ahnin der griechischen Rhea, einsam im Nichts, bis der Nordwind Ophion sie umschlingt und befruchtet; danach legt sie nach Verwandlung in eine Taube das Weltei, das Ophion ausbrütet. Aus dem Ei schlüpfen alle Dinge und lebenden Wesen, der Wind aber, der selbstbewusst beansprucht, der eigentliche Weltschöpfer zu sein, wird von Eurynome in die dunklen Höhlen unter der Erde verbannt. Der Mythos setzt sich bei Appolodoros und bei Ovid in den Erzählungen über den stets lüsternen und gewalttätigen Nordwind Boreas fort.

Wer herrscht über den Wind? Nicht immer ist es ein Gott. Aiolos, wie ihn Homer und Vergil beschreiben, hütet auf Wunsch der Hera die Winde; er ist zwar kein Sterblicher, er herrscht als ewiger König in der Höhle der Winde, er ist aber auch kein olympischer Gott, in der Hierarchie der Unsterblichen steht Aiolos auf unterster Stufe.

Auch Hräswelg, der in der Edda »an Himmels Ende« den Wind entfacht, ist kein Gott, er ist ein Gigant wie die Wilden Jäger und wie Rübezahl, der Wetterherr aus dem Riesengebirge. Hräswelg hat Adlergestalt, und wenn er zu fliegen versucht, »facht er den Wind mit seinen Fittichen über alle Völker«. Und so stark er ist, heißt es in der Edda, »kann ihn doch niemand sehen«. Ein zweiter Herr der Winde ist der reiche Wane Njörd. Er beherrscht den Gang der Winde über das Meer und das Feuer und tut allen, die ihn anrufen, nur Gutes. In der nordischen Mythologie bleibt Odin in letzter Instanz (wie Zeus in der griechischen) der Herrscher über alle Winde. Als Windgott haucht er dem ersten Menschenpaar Ask und Embla den Atem ein, als Sturm- und Nachtgott tobt er in dunklem Mantel nach Belieben durch die Lüfte.

Im Taoismus waltet Feng Bo über die Winde, die Inkarnation des Gottes Fūjin in menschlicher Gestalt. In den Bildgeschichten Japans ist er kein mächtiger, furchteinflößender Held, sondern ein älterer, etwas zerstreuter Herr. Wie Aiolos entlässt er die Winde aus einem Beutel, stolpert aber gerne über die Böen. Die Herrschaft über die Winde gelingt hier nur relativ.

In den Mythen der Keilschriftkulturen wurde das allpräsente Naturphänomen Wind ähnlich dem Licht sehr früh deifiziert. Im etwas unübersichtlichen assyrischen, babylonischen und sumerischen Götterhimmel – die Götterlisten des alten Orients umfassen regelmäßig mehrere Hundert Götter – erscheint Ischkur (akkadisch: Adad) als Sturm- und Wettergott, vermerkt werden aber auch das göttliche Paar Enlil (Herr Wind) und Ninlil (Frau Wind). Adad ist ein helfender Gott, denn er bringt Regen und Überfluss; er ist aber auch eine strafende Gottheit, Herr der Stürme und der Zerstörung. Adad kann deshalb auch als Kriegsgott wirken. Im altbabylonischen Kummu-Lied ist sein »Kampfeswunsch wild, er wendet das Land um, nicht lässt er es leben«. »Wie der Wind gehst du vorweg«, wirft ihm der Göttervater vor und befiehlt ihm, statt Zerstörung »Überfluss regnen« zu lassen. Wie in anderen mythischen Systemen bleiben die obersten Götter An, Enlil und nicht zuletzt der Sonnengott Schamasch letztendlich zuständig für die Windverwaltung.

Helfend greifen die Winde im Gilgamesch-Epos ein, dessen altbabylonische und sumerische Ursprünge heute auf das zweite bzw. dritte vorchristliche Jahrtausend datiert werden, und zwar im Kampf Gilgameschs und Enkidus mit Humbaba, dem gewaltigen Wächter des Zedernwaldes. Als Humbaba die Helden emporheben und zu Boden schleudern will, schickt der Sonnengott Schamasch 13 Winde – »Südwind, Nordwind, Ostwind, Westwind, Sturm und Sturmwind, Orkan und Unheilssturm, Unwetter und Teufelswind, Eiswind, Ungewitter und Wirbelsturm« – gegen den Riesen, die ihn blenden und Gilgamesch so zum Sieg verhelfen. In anderen Kontexten, etwa im Ninmescharra-Hymnus, erscheint der Wind dagegen unkontrollierbar und gewalttätig.

Auch in den Frömmigkeits- und Brauchtumsformen im christlichen Europa wurden Winde über Jahrhunderte als eigenständige, höchst eigensinnige und daher gefährliche Wesen gedacht. Die Windteufel, Dämonen oder Luftgeister können durch vielerlei magische Rituale abgewehrt werden, durch Zaubersprüche, Glockenläuten, Schmähreden oder durch Tier- und Menschenopfer. Eine wichtige Quelle für die klandestine Windmagie in Europa sind die Gerichtsprotokolle über Zauberei- und Hexenprozesse. Neben Hagelsiedern, Wetterhexen und Windverkäuferinnen wurden vor allem Windfütterer staatlich und kirchlich verfolgt. Am 21. August 1674 bekannte der Bäcker und Wirt Georg Hollerspacher aus Feldbach dem Gericht unter Folter,

»das er an der h. drei khönig nacht (…), preßl (= Brösel) und andere übergeblibene speißen zusamben in ein neuen topf gethann und selbe deß anderntags frue vor aufgang der sohnen auf der weith auf ein thorseillen (= Torsäule) gesezet, dem windt damit zu fuedern, das selbiger das ganze jahr hindurch seine gründt und sachen kheinen schaden zuefüegen mögen.«

Ein Jahr später wurde Hollerspacher wegen anderer Zaubereien zum Tode verurteilt. Der Brauch des Windfütterns hatte eine lange Tradition und war weit verbreitet, mit Speiseresten oder Mehl sollten vor allem die Winterstürme in den Nächten vertrieben werden. 1546 gestand eine als Hexe angeklagte Frau in Marburg an der Drau, »Stupp«, ein weißes Pulver, in alle Windrichtungen geblasen zu haben, um Wind und Wolken zu vertreiben. In Donnersbachwald im Bezirk Liezen wurde an einem bestimmten Tag im Jahr Mehl in den Wind gestreut mit den Worten »Wind, Wind, sei frei g’schwind. Und pack Dich hoam zu Dein Kind«. Ähnliche Sprüche sind aus dem Erzgebirge und aus dem oberen Murtal bekannt. Der Wind wurde offenbar häufig als Geist mit Familienanhang imaginiert: Dem Speiseopfer wurden manchmal Nadel und Faden für die Frau des Windes beigelegt, damit sie ein gutes Wort für die Spenderinnen einlegt.

Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermag die Erzählung über die Schrecken des Windes und den Brauch des Windfütterns zu beeindrucken, zumindest Kinder und in domestizierter Form. In Friedl Hofbauers viel gelesenen Sagen aus Wien treibt der Sturmwind in einem Lichthof mitten in der Stadt sein Unwesen, er reißt die Fenster auf und rüttelt an den Läden. Eine Frau füttert ihn mit Mehl, die geizige Nachbarin gibt nichts und wirft sogar ein Messer nach ihm. Der Wind in Gestalt eines großen Mannes stößt ihre Türe auf, betritt ihre Wohnung und droht, »sie in Stücke« zu zerreißen. Er lässt sich allerdings mit einer Tasse Kaffee beruhigen und schließt danach sogar höflich die Türe hinter sich.

III

Eine entpersonalisierte, tendenziell materialistische Betrachtung des Windes erkennt den Kampf gegen ihn als aussichtslos. Der Wind ist unbeherrschbar, unzähmbar und schicksalhaft, er ist gleichgültig gegenüber den Objekten, die er bewegt. Dem fliegenden Robert geschieht also, was ihm geschieht, ohne Grund und Zweck. Was man tun kann, ist, sich auf ein Leben in Kontingenz einzurichten. In dieser Sicht verweht der Wind nicht nur Dinge und Personen, sondern letztlich auch die Hoffnung auf Bestand und Sinn und alle geschichtsphilosophischen Heilslehren.

»Windhauch Windhauch, Windhauch«, heißt es im Vorspruch zum Buch Kohelet, »Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch« (Koh, 1,2). Und ganz am Ende wieder: »Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, das ist alles Windhauch« (Koh, 12,8). Wind (hebräisch: hevel) ist das leitende Symbol für die Vergänglichkeit in den wortgewaltigen Sentenzen Kohelets im Alten Testament. Alle Werke sind am Ende eitel und nichtig, sie werden vom Wind wie Seifenblasen verweht, und nichts ist von Dauer:

»Eine Generation geht, eine andere kommt. / Die Erde steht in Ewigkeit. Die Sonne, die aufging und wieder unterging, / atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht. Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. / Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind«

(Koh, 1,4–1,6).

Nichts als ein Windhauch sind die Mühen des Menschen und sein Besitz, das Streben nach Macht und Wissen, ja selbst die Hoffnung auf Glück sind nach Kohelet »Luftgespinste«: »Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne«, lautet die bekannteste Formel aus dem Buch (Koh, 1,9). Der Wind gehört zu den Dingen, auf die die Menschen keinen Einfluss haben: »Es gibt keinen Menschen, der Macht hat über den Wind, so dass er den Wind einschließen könnte« (Koh, 8,8). Es gibt daher keine Unterschiede, alle Wesen sind gleich, gleichermaßen dem schicksalhaften Wind ausgesetzt, Tiere und Menschen:

»Denn jeder Mensch unterliegt dem Geschick, und auch die Tiere unterliegen dem Geschick. Sie haben ein und dasselbe Geschick. Wie diese sterben, so sterben jene. Beide haben ein und denselben Atem. Einen Vorteil des Menschen gegenüber dem Tier gibt es da nicht. Beide sind Windhauch.« (Koh, 3,19).

Die Geschichte der Windsymbolik für Vergänglichkeit und Vergeblichkeit beginnt nicht im Alten Testament, sondern scheint jahrtausendelang zurückzureichen. Im bereits erwähnten Gilgamesch-Epos heißt es, ähnlich wie bei Kohelet, in der Ninive-Fassung: »Die Tage des Menschen sind doch gezählt, all das, was sie tun, ist nichts weiter als Wind«. Melancholie und Skepsis dem Absoluten gegenüber sind die bestimmenden Gefühle, die die Erfahrung des Windes auslöst. Man mag die Weltsicht im Gilgamesch-Epos und im Buch Kohelet pessimistisch nennen (und überrascht sein, dass der Kohelet-Text Einzug in die Bibel fand), resignativ ist sie nicht. Die Unerreichbarkeit des Glücks und die Akzeptanz der Unbeherrschbarkeit des Windes führen zur Freude am Leben: »Da pries ich die Freude; denn es gibt für den Menschen kein Glück unter der Sonne, es sei denn, er isst und trinkt und freut sich. Das soll ihn begleiten bei seiner Arbeit während der Lebenstage, die Gott ihm unter der Sonne geschenkt hat.« (Koh, 8,15) Denn: »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.« (Koh, 9,4) Sein Ratschlag an die Lesenden ist einfach:

»Also: Iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein; denn das, was du tust, hat Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel. Trag jederzeit frische Kleider, und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt. Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch.« (Koh, 9,7–9,9)

Dass es zwar keinen windgeschützten Ort im Leben gibt, aber dennoch Freude und den Genuss des Augenblicks, hat niemand eindrücklicher dargestellt als Buster Keaton. In One Week (1920), einer frühen Slapstick-Komödie, versucht er gemeinsam mit seiner ihm eben angetrauten jungen Frau (Sybil Seely) ein Fertigteilhaus zu errichten. Buster erlebt alle möglichen Stürze und Katastrophen, teils durch Sabotage, teils durch Unachtsamkeit. In One Week wird einer der berühmtesten Stunts der Filmgeschichte vorweggenommen. Wie in Steamboat Bill, Jr. (1928) löst sich die Hausfassade und stürzt auf Keaton, dieser steht jedoch direkt in der Fensteröffnung, sodass er unverletzt aus der auf dem Boden liegenden Fassade steigt. Am Ende der Woche ist trotz aller Fährnisse ein bizarres, wackeliges und doch liebenswertes Gebäude entstanden. Bei der Einweihungsfeier wird der Traum vom kleinen Glück auf groteske Weise zerstört: Das Haus wird von einem Sturm unaufhaltsam in Drehung versetzt, wie aus einem Karussell purzeln die Gäste aus Fenstern und Türen. Als sich der Sturm gelegt hat, müssen Buster und seine Frau entdecken, dass sie das Haus auf dem falschen Grundstück errichtet haben. Das richtige liegt jenseits der Eisenbahngeleise. Sie versuchen, das Haus in die Richtung zu schleppen, bleiben am Geleise stecken, ein Zug rast durch das Bretterwerk. Das Paar bleibt unbehaust, Buster akzeptiert sein Schicksal wie stets ungerührt und hinterlässt am Trümmerhaufen das Schild »For sale« und die Bauanleitung.

Unsere Lust, das Unglück Busters oder das des fliegenden Robert zu verfolgen und es als komisch zu empfinden, hat Lukrez ebenfalls am Beispiel Wind zu Beginn des zweiten Buches von De rerum naturae begründet: »Wonnevoll ist’s bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer / Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht.« Wir lachen nach Lukrez nicht aus purer Bosheit, sondern aus Glück, wenn wir unser Leben mit dem des anderen vergleichen, dem es schlechter geht: Man sieht, »dass man selber vom Leiden befreit ist«. So können wir unser Schicksal, auch wenn wir Gegenwind spüren und den aufkommenden, unvermeidlichen Sturm schon erahnen, zumindest momenthaft als annehmbar empfinden und lachen.

Das Ringen mit der Vergänglichkeit, mit dem Ephemeren, dem Verwehen der Existenz, gelingt mal besser, mal schlechter, selbst nach dem Tod. In The Big Lebowski von Ethan und Joel Coen (1998) schlägt der Wind den Trauernden ein Schnippchen, als er ihnen beim Verstreuen die Asche des verstorbenen Freundes direkt ins Gesicht bläst.

IV

Den alten magischen Praktiken zur Abwehr des Windes hielt auch das Christentum nicht stand. Um 1330 empfiehlt der Karmelitermönch Matthias Farinator, Stürme und Gewitter durch Glockenläuten zu vertreiben. Seine Theorie mutet heute seltsam an – »der Lärm von unten treibe die Luft nach oben« und verhindere so ein Absteigen der Gewittermassen –, doch die Begründung für seine Windabwehr ist nicht länger rein magisch. Farinator argumentiert, wenn auch verquer, auf physikalisch-wissenschaftlicher Basis.

Zu Beginn der Neuzeit wusste man wenig, im Grunde nichts über das Entstehen der Winde. Zwar hatte bereits Aristoteles erkannt, dass Wind aus trockenem Gas entsteht, das sich durch die Sonne erwärmt hat, doch sein Ursprung blieb ein Rätsel. Für Seneca entsteht Wind aus dem Bersten der Wolken, Plinius macht ebenfalls Wolken verantwortlich, für Lukrez sind die Winde ganz unleugbar »Körper«, die zu Land wie am Meer Unheil stiften, obgleich »nichtsichtbare Körper«.

Das Wissen der Navigatoren war Erfahrungswissen. Erst Ende des 17. Jahrhunderts erstellte Edmond Halley (1656–1742) seine Winddiagramme, und es wurde möglich, Wind im Singular, das heißt, als ein globales Phänomen zu denken. Das komplexe Zusammenwirken von Erdrotation (Corioliskraft), Luftdruck und Erwärmung durch Sonneneinstrahlung war noch unbekannt.

Das nach naturwissenschaftlicher Erklärung strebende Räsonieren über Substanz und Ursprung des Windes ist das zentrale Motiv in Raoul Schrotts historischem Roman Eine Geschichte des Windes. Der Kanonier Hannes aus Aachen umrundet zu Beginn des 16. Jahrhunderts unter Fernando Magellan die Welt, an Deck beobachtet er die unterschiedlichen Windbewegungen und reflektiert darüber. Referiert und bezweifelt werden in inneren Monologen alle damals gängigen Theorien der Windentstehung:

»Wie kam es, dass er, obschon er von allen Richtungen auf uns herabgestürmt war, dieses nie zugleich von allen Seiten tat? Bliesen die unterschiedlichen Winde denn nie gleichzeitig? Warum wechselten sie sich ab? Um nun, da wir uns dem Äquator näherten, ganz auszulassen?«

Hannes fragt sich, stellvertretend für viele seiner Zeit, »wo die Winde letztlich herrühren«. Sind sie »Ausdünstungen der Erde«, die von den Planeten nach oben gezogen werden, oder entstehen sie durch eine »Dreh-Bewegung« der Welt, von der die Lüfte mitgerissen werden? Existiert ein »unsichtbares Mühlwerk« an den Polen, zwei Radgetriebe zur Erzeugung der Winde? Schrott lässt die Vorstellungen zur Windentstehung aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit in den Fragen seines Helden Revue passieren. Vielleicht, vermutet Hannes, ist eine anthropomorphe Explikation wie so oft in der Naturkunde doch die beste, und zwar dass

»alle Winde aus großen Höhlen und Löchern im Bauch der Erde kämen, wo sie kontinuierlich ohne Ende ausgebrütet werden – und sich darin auch nicht bannen lassen, da sie überall Spalten zu finden wüssten, irgendeinen Mund, aus dem sie brächen. Was dem Hannes einleuchtend scheint, weil auch bei ihm aus der Tiefe des Bauchs einem solchen Loch Winde entfahren, welche sich nie zurückhalten lassen. Doch was im Inneren der Erde erzeuge dann die Winde? Was würde dort verdaut?«

Am Ende der Fahrt, Hannes ist einer der wenigen Überlebenden, bleibt die Natur des Windes trotz aller Überlegungen rätselhaft. »Was der Wind wirklich ist, davon hat er selbst wenig Ahnung«, und »woher er rührte«, war »weiterhin unerklärlich«.

Der beständig fragende und zweifelnde Hannes kann als Allegorie auf das heraufdämmernde Zeitalter der Aufklärung verstanden werden, auch wenn Schrott seinen Helden zu keinem Ergebnis kommen lässt: Die Erkenntnis, wird am Beispiel des Naturphänomens Wind klar, liegt wie das Ziel einer endlosen Reise stets voraus. Doch der Prozess der wissenschaftlichen Entzauberung des Windes hat begonnen, er wird einen ersten Höhepunkt ein Jahrhundert später mit den Traktaten Francis Bacons (1622) und René Descartes’ (1637) finden.

Descartes schließt an die aristotelische Meteorologie mit der Grundannahme an, dass Wind Luft in Bewegung ist. Luft besteht für Descartes aus kleinsten Teilchen, kleiner und zarter als Dunst, der aus Wasser entsteht, doch im Prinzip ähnlich. So ist die Bewegung der Luft, der Wind, auch der Bewegung der Dünste ähnlich, »die, wenn sie sich erweitern, sich von ihrem gegenwärtigen Ort zu einem anderen hin bewegen, an dem sie sich müheloser ausdehnen können«.

Der Grund für die Ausdehnung der unsichtbaren Teilchen ist die Erwärmung. Winde sind nach Descartes also »Dünste«, aus einer kleinen Menge Wasser kann durch Erhitzung eine große Menge Dunst entstehen, die Wasserteilchen lösen sich aufgrund der Hitze vom Wasser, steigen auf und werden zu Luftteilchen.

In vielem nimmt Descartes’ Traktat Erkenntnisse der Thermodynamik und der modernen Meteorologie vorweg. Als Heurisma zur Erklärung der Entstehung der Winde dient ihm dabei der Äolsball, eine pneumatische, halb mit Wasser gefüllte Kugel. Deren Inhalt wird erhitzt, der entstehende Wasserdampf entweicht durch eine kleine Öffnung. Wie der Wasserdampf aus der künstlichen Äolskugel bläst und durch seine Expansion Dinge bewegen kann oder die Kugel in Drehung versetzt, so bläst auch der Wind und breitet sich aus. Der Unterschied zwischen dem künstlichen und dem natürlichen Wind besteht nach Descartes darin, dass die natürlichen Winde zum einen auch durch Erwärmung der Erde entstehen können und zum anderen nicht in einer Kugel eingeschlossen sind. Sie tendieren wie der Wasserdampf dazu, sich auszudehnen, können aber einen unvergleichlich viel größeren Raum einnehmen. Gehemmt und gesteuert wird die Bewegung der Winde durch Wolken, durch die Topografie der Landschaft oder durch den Widerstand anderer aufsteigender Winde, der »zusammengepreßte(n) und kondensierte(n) Luft«.

Auch für Francis Bacon ist Wind »bewegte Luft«, wie bei Descartes ist für Bacon die Erwärmung der Luft Hauptursache der Entstehung der Winde, als Leitbild dient ihm wie Descartes die Ausbreitung und das atmosphärische Verhalten des Wasserdampfs. Mehr noch als bei Descartes steht die systematische und möglichst präzise Beobachtung im Vordergrund. Auch wenn er noch kaum über Messinstrumente oder metrische Systeme verfügt, entwirft er über die Sammlung von Daten und durch eigene Experimente mit Wasserdampf ein komplexes taxonomisches System der unterschiedlichen Winde und ihrer Eigenschaften. Über den Gegenstand hinaus ist die Windbeobachtung Paradigma, um über die Methode der wissenschaftlichen Untersuchung zu belehren, der Weg zur Erkenntnis führt »nur über immer klarere Beobachtungen der Winde«.

Im Mittelpunkt steht die praktische Anwendung des aus der Beobachtung abgeleiteten Wissens über die Winde bei der Nutzung der Windkraft – etwa durch Optimierung der Segelflächen oder die Stellung der Flügel für effektivere Windmühlen – und für verlässlichere Wetterprognosen. Diese sollen für bessere Ernteerträge sorgen und die Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten vermindern.

Zuverlässigere Vorhersagen von Stürmen, dies verschweigt Bacon, bilden auch die Grundlage transkontinentalen Handels und der Akkumulation des Kapitals. Tausende Seeleute ertranken Jahr für Jahr bei Stürmen vor der englischen Küste, Tausende Schiffe versanken im Atlantik mit kostbarer Fracht, nicht zuletzt mit der allerkostbarsten: den aus Afrika entführten Sklaven.

Ganz am Ende seines Traktats führt Bacon all jene Anzeichen in der Natur an, die ein Aufkommen des Windes ankündigen: hell brennende, sich kräuselnde Flammen, aus größerer Ferne hörbares Glockenläuten, das veränderte Verhalten der Vögel, Spinnen, die ihre Netze vorsorglich befestigen.

Vielleicht hätte der fliegende Robert mehr auf sie achten sollen.

V

Im Roman des späten 19. und des 20. Jahrhunderts ist der Wind Stimmungsmacher und erzeugt unterschiedliche Stimmungslagen: Er stürzt den Bürger bei Sturm in die Krise der Bewährung (Herman Melville, Joseph Conrad), er ist Bote und Begleiter des Wahns und des Begehrens (Dorothy Scarborough, Bruno Schulz) oder schafft im Existenzialismus einen melancholischen Raum der permanenten Irritation und Nervosität (Claude Simon).

Die wohl eindrücklichste Konfrontation eines Bürgers mit dem Sturm gelingt Joseph Conrad 1902 in seinem Roman Taifun. Mac Whirr, der Kapitän des Frachtschiffes Nan-Shan, ist ein stiller, solider Seemann, der von den Reedern gerade wegen seiner Durchschnittlichkeit für die wenig bedeutsame Fahrt ausgewählt wurde. Conrad verzögert die Wahrnehmung des Sturms, zunächst bringt der Wind das Schiff leicht ins Schlingern, dann wird Mac Whirr in seiner Kabine auf ihn aufmerksam:

»Kapitän Mac Whirr öffnete die Augen. Er glaubte geschlafen zu haben. Was war das für ein Lärm? Wind? Warum hatte man ihn nicht gerufen? Die Lampe wurde kräftig hin und her geworfen, das Barometer schwang sich im Kreise, die Tischplatte wechselte fortwährend die Richtung; ein paar alter Wasserstiefel mit zusammengedrückten Spitzen glitt an dem Sofa vorbei. Augenblicklich streckte der Kapitän die Hand aus und fing einen davon ein.«

Mac Whirr eilt an Bord, nun hört er ihn kommen:

»Dabei lauschte er angestrengt, als erwarte er jeden Augenblick, in dem Aufruhr, den sein Schiff umringte, seinen Namen rufen zu hören. Das Getöse wurde immer stärker, während er sich bereit machte, hinauszugehen und dem Kommenden, was auch sein mochte, die Stirn zu bieten. Das Heulen des Windes, das krachende Brechen der Wogen vermischte sich mit jenem andauernden dumpfen Dröhnen in der Luft, das wie ein Laut einer ungeheuren, weit entfernten Trommel klingt, die zum Angriff des Sturmes geschlagen wird.«

Im Laufe der nächsten Stunden rückt der Sturm rasch näher, er bleibt jedoch vor allem ein bedrohliches akustisches Phänomen:

»Man unterschied zunächst ein schläfrig erwachendes Klagen und weiterhin das Anschwellen eines vielfachen Getöses, das, immer stärker werdend, näher und näher kam. Es war, als würden viele Trommeln gerührt oder als hörte man den Lärm eines anmarschierenden Heeres.«

Dann bricht der Taifun – »… von einer unendlichen Gewalt, einem maßlosen Grimm – einer Wut, die sich nie besänftigt, sondern nur erschöpft« – endgültig los. Die Mannschaft kämpft ums Überleben, doch »wilder Haß, tückische Bosheit schienen gegen sie anzukämpfen«. Der Sturm erscheint »wie ein lebendes Wesen«, sein Anblick ist der »eines ungezügelten Ausbruchs roher Leidenschaft«. Er ist, konstatiert Mac Whirr, Feind des Menschen, indem er »die Schiffsordnung verweht«, denn er

»… reißt den Menschen fort von seinesgleichen. Ein Erdbeben, ein Erdrutsch, eine Lawine überfallen den Menschen sozusagen zufällig – leidenschaftslos. Der Sturm dagegen greift ihn an wie ein persönlicher Feind, lähmt seine Glieder, betäubt seine Sinne, sucht ihm die Seele aus dem Leib zu reißen.«

Der Sturm ist Labor der Bewährung für den neuen, die Herrschaft über die Welt anstrebenden Bürger. Im Kampf gegen den Chaosbringer Sturm erweist sich die vermeintliche Beschränktheit Mac Whirrs als stoische Umsicht, sein Schweigen erscheint den Matrosen in der Krise als Kaltblütigkeit. Es gelingt ihm, die Nan-Shan heil in den Hafen Futschou zu bringen. Wie fast zwei Jahrhunderte vor ihm Robinson Crusoe, das Urbild des Bürgers, hat sich Mac Whirr durchgesetzt, gegen die unbändige, kreischende Natur und gegen die eigene.

In Melvilles fünfzig Jahre vor Conrads Taifun erschienenem Moby Dick ist der Sturm ebenfalls von todbringender Gewalt, aber sein Ausbrechen ist zugleich ein letzter Hoffnungsschimmer auf Entkommen vor dem Untergang. Die Mannschaft der Pequod ist schon eingeschworen auf den bevorstehenden Kampf gegen den weißen Wal, die See ist ruhig vor der Küste Japans, man bereitet sich vor, doch unvermittelt bricht ein Taifun über das Schiff herein, gleich einer »höheren Macht«, die aus wolkenlosem Himmel »wie eine Bombe auf stille, verträumte Gassen« niederfällt.

Mit allen Mitteln kämpft die Mannschaft gegen den Sturm und zugleich gegen die Unvernunft ihres Kapitäns Ahab: »Der Sturm, der uns jetzt alle Planken einschlagen will«, ruft Starbuck, der stets Vernünftige, der den sinnlosen Feldzug gegen den Wal fürchtet, dem zweiten Steuermann Stubb zu, »er könnte uns auch nach Hause bringen. Dort in Luv ist Finsternis und Verzweiflung; aber leewärts, heimwärts – dort hellt es auf, wie ich sehe, und nicht von Blitzen.«

Der Taifun, die bösartige Natur, wird besiegt, doch nicht Ahab, gegen sein Charisma ist die Vernunft Starbucks machtlos. Ahab treibt das Schiff luvwärts in den bevorstehenden Kampf mit Moby Dick. Mitten im Sturm erscheint Ahab an Deck und ergreift, während der Taifun am heftigsten wütet, den Blitzableiter. »Du kannst mich blenden«, ruft er in den Sturm, »aber auch blind taste ich mich weiter. Du kannst mich verzehren, aber auch als Asche bin ich noch.« Die Reise »in Tod und Verderbnis hinein« nimmt ihren Lauf. Starbuck, der noch auf Rückkehr hoffte, unterliegt der Gewalt des Ahab und muss bekennen: »… für Moby Dick ist der Wind günstig, aber sonst für keinen.«

VI

Eine Atmosphäre des Wahns verbreitet der Wind in Dorothy Scarboroughs The Wind aus dem Jahr 1925. »The wind was the cause of it all« – so beginnt die Autorin, die an der Columbia University Literatur lehrte, ihren zunächst anonym publizierten Westernroman. Scarborough führt durch eine raue Landschaft voll permanenter Gewalt und unterdrückter Sexualität. Ihr Buch und die Verfilmung von Victor Sjöström mit Lillian Gish in der Hauptrolle lösten einen Skandal aus.

Letty, eine junge Waise aus Virginia, besucht ihren Cousin Beverly, der mit seiner Familie auf einer einsamen Ranch in West Texas lebt. Der wilde, geisterhafte Nordwind, der über das Land fegt, ist ständig präsent, niemand kann sich seiner erwehren:

»Früher waren die Winde die Feinde der Frauen. (…) Wie konnte eine zerbrechliche und empfindsame Frau gegen den Wind kämpfen? Wie könnte sie sich einer wilden, schreienden Stimme widersetzen, die sie nie den Frieden der Stille spüren ließ – einer unwiderstehlichen Kraft, die den ganzen Tag auf sie einwirkte, einem nackten, körperlosen Wind – wie ein Geist, der umso schrecklicher war, weil er unsichtbar blieb –, der ihr in der Nacht über verlassene Orte heulte und sie wie ein dämonischer Liebhaber rief.«

Der Wind erscheint in der bedrohlichen Gestalt eines schwarzen Hengstes, »übernatürlich, satanisch, der Wind des Nordens …«, er erzeugt Lust ebenso wie Angst. Obwohl Letty den unheimlichen Viehzüchter Wirt Roddy begehrt, heiratet sie den freundlichen Cowboy Lige und führt mit ihm eine Josefsehe, doch der Wind – ein fernes, aber deutlich wahrnehmbares Echo des lüsternen Ophion im pelasgischen Mythos – weht und lässt sich auch nach der Hochzeit mit Lige nicht beherrschen. Im Spätherbst wird der Nordwind noch stürmischer, er schlägt Fenster ein, dringt durch alle Ritzen des Farmhauses und verbreitet Schrecken und Angst wie die Gedanken an Wirt Roddy:

»Aus den Rissen im Boden, aus den Fugen in den Wänden, aus den Spalten unter den Fenstern fegte ein Windwirbel in den Raum. Die Flamme in der Kerosinlampe leuchtete einen Augenblick lang doppelt hell auf, flackerte, erlosch. Ihr Schrecken war so groß, dass jeder Muskel, jeder Nerv wie bei einer Gewaltaktion angespannt war. Ihre Angst, ihre wilde Wut gegen den Wind, gegen diesen Mann, straffte ihren Körper in einer Anspannung wie bei einem tödlichen Kampf.«

Während des Sturmes dringt Wirt Roddy in Lettys Haus ein und vergewaltigt sie. Am nächsten Morgen erschießt sie ihren Peiniger und vergräbt die Leiche im Sand, doch der Wind öffnet das Wüstengrab, er bringt gleichermaßen die Wahrheit ans Licht, wie er in einer unauflöslichen Mischung aus Schuld und Scham den Wahnsinn bringt. Am Ende gibt Letty ihren Kampf gegen den Wind auf und läuft in den Sandsturm hinaus, in den sie schreiend eintaucht und verschwindet.

The Wind ist eine Erzählung über weibliche Sexualität und männliche Gewalt in einer puritanischen, patriarchalen Kultur. The Wind ist aber auch ein amerikanischer Heimatroman über eine Landschaft, die Verlassenheit der Menschen, die in ihr leben, und ihr Scheitern. Der Wind verbindet beides und lässt die politische Topografie des Landes sichtbar werden, in der Verschmelzung beider Aspekte liegt der Skandal, den Scarboroughs Roman noch Jahre nach seinem Erscheinen in eben ihrer Heimat auslöste.

In ähnlicher und doch völlig unterschiedlicher Weise ist auch Claude Simons früher existenzialistischer Roman Le Vent aus dem Jahr 1957 eine Zeitdiagnose. Auch wenn er in einer gänzlich anderen erzählerischen Tradition steht, der des Nouveau Roman, könnte er sein Themenzitat von Paul Valéry mit Scarboroughs Western teilen. »Zwei Gefahren«, schreibt Valéry, »bedrohen unaufhörlich die Welt: die Ordnung und die Unordnung.«

Simon, der 1985 den Nobelpreis erhielt, erzählt vom Aufenthalt des Fotografen Antoine Montès in einer südfranzösischen Provinzstadt. Der Held, ein Sonderling, soll eine Erbschaft antreten und gerät in schwierige und unübersichtliche Zusammenhänge. Der Wind ist wie bei Scarborough das tragende und zermürbende Ostinato hinter den Ereignissen und charakterisiert das Leben in der Provinzstadt: Er irritiert und verstört, in seiner Diskontinuität wie in seiner Permanenz lässt er keine Hoffnung auf Veränderung. »Es war Frühling«, erzählt der Chronist.

»Ich erinnere mich, daß der Wind drei Monate lang fast ununterbrochen blies, so daß man, wenn er zufällig einmal aussetzte (für ein paar Stunden oder ein paar Tage – aber nie mehr als zwei oder drei), den Eindruck hatte, ihn noch immer zu hören, stöhnend und tobend, nicht draußen, sondern gleichsam innen im Kopf.«

Alle Ereignisse stürzen, beschreibt Montès den Aufenthalt später, »mit der Gewalt dieser Gegend, dieses Windes« auf ihn ein, »maßlos und aggressiv« wie das Licht. Die Bewegung des Windes ist vom ersten Tag an für den Fremden allgegenwärtig: Der Wind »durchfegt die Straßen«, feindlich, aber auch (wie Montès selbst) von »eigentümlicher Beharrlichkeit«, »ziellos« und »wütend« in alles eindringend. Entlang der Windbeschreibungen entfaltet Simon die ganze Topografie der »verfluchten Stadt« und ihrer Bewohner. Der Wind fährt durch Platanen, Laub, Esplanaden, Straßen, Schürzen, durch zerzaustes Haar, er entblößt dabei »eine Leere, ein Nichts, eine Art blendendes Vakuum«, in dem »hohlen, nur mit Licht und Wind gefüllten Gehäuse« der Stadt. Durch seine Permanenz wird die Ordnung der zeitlichen Abfolgen und ihre Kohärenz zu einem Tableau, einem Stillleben im Wortsinn, in dem keine Veränderung mehr möglich ist.

Am Ende streift der Wind nach Montès’ Abreise durch die verlassene Stadt: »eine entfesselte Kraft ohne Ziel, dazu verurteilt, sich ohne Ende, ohne Hoffnung auf ein Ende zu erschöpfen«. Das einzige Vorrecht der Menschen, um das der Wind sie beneidet, ist ihre Vergänglichkeit: »das Privileg zu sterben«.

VII

In Simons Roman weht von der ersten bis zur letzten Seite ein harter, existenzialistischer Wind, doch ist der Wind hier nicht nur Element der mise en scène, sondern auch das Formprinzip des Romans. Die Syntax der häufig durch mehrere Seiten mäandernden Sätze Simons ist schwebend, böig, die Handlungsstränge lösen sich unversehens auf, erzählt wird bruchstückhaft und diskontinuierlich. Ein ähnliches konstruktives Prinzip wird in Claude Debussys La Mer aus dem Jahr 1905 hörbar. Thema des letzten Satzes der drei symphonischen Skizzen ist ein Dialog des Windes und des Meeres (Dialogue du vent et de la mer). Debussys La Mer ist keine Programmmusik, in der Windbewegung mimetisch nachgebildet und, wie in vielen Sturmmusiken vor ihm, der Mensch im Ringen mit der Natur dargestellt wird. In Debussys Zwiesprache des Windes und des Meeres spielen die beiden Elemente jenseits menschlicher Präsenz klanglich mit- und ineinander und treiben die Komposition und die Orchestrierung voran. Die Klangmalerei von Debussy, der 1902 die Meeres- und Wolkenbilder von William Turner – »den wunderbarsten Schöpfer von Mysterien, die es in der Kunst gibt!« – in London genau studierte und bewunderte, ist menschenleer.

Zum Herrscher über den Erzähler wird der Wind in Andrej Bitows Das Puschkinhaus aus dem Jahr 1971. Im Prolog übernimmt der launische Gastello die narrative Führung:

»Das Kinderwort ›Gastello‹ ist der Name des Windes. Er berührte die Straßen der Stadt wie eine Landebahn, hüpfte noch einmal hoch beim Aufprall auf der Strelka der Wassil-Insel und jagte heftig und lautlos weiter zwischen den durchfeuchteten Häusern, genau auf der Route der gestrigen Demonstration. Als er Öde und Menschenleere solchermaßen überprüft hatte, stürmte er auf den Paradeplatz, griff im Flug nach einer seichten, breitflächigen Pfütze und klatschte sie voll Verve gegen die Spielzeugwand der gestrigen Tribünen; mit dem gezielten Plantschen zufrieden, flog er unterm revolutionären Torbogen durch, riß sich wieder los vom Boden und stieg breit und steil höher und höher …«

Mit neuem Schwung rast Gastello die Newa entlang, um schließlich durch ein kaputtes Fenster in ein altes Palais zu gelangen, wo ein Toter liegt – neben ihm eine Pistole, in deren Lauf erstaunlicherweise ein Zigarettenstummel steckt. Der Erzähler, Teil der Diegese, kann jedoch nicht bleiben, denn der Wind will weiter und saugt ihn (und uns Leser) weg vom Ort des Geschehens, dem Ort des geheimnisvollen Verbrechens, wieder auf die Straße:

»Ich kann nicht sagen, warum dieser Tod mich zum Lachen bringt. Was tun? Wo melden? Ein neuer Windstoß schlug kraftvoll das Fenster zu, eine spitze Glasscherbe riß sich los und bohrte sich in die Fensterbank, Kleinteile rieselten in die Pfütze unterm Fenster. Dies vollbracht, raste der Wind weiter über die Uferstraße. Für ihn war es keine ernsthafte Tat, nicht einmal eine nennenswerte. Er raste weiter, um die Transparente und Fahnen zu zausen, um die Angestellten der Flußfähren, die Lastkähne, die schwimmenden Restaurants ins Schaukeln zu bringen. (…) Der Wind raste weiter wie ein Dieb, und sein Umhang wehte.«

Der Wind, der den Leser wie den fliegenden Robert hochhebt und vom Ort der Ereignisse fortzieht, ist Metapher für die narrativen Abschweifungen, die sich Bitow leistet, sie lassen an die Tradition der nicht linearen Erzählweise in Tristram Shandy und vor allem an Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr denken. Die Sprunghaftigkeit und Diskontinuität der Narration ist die adäquate, gleichsam windige Entsprechung für das Objekt der Darstellung: die nachgerade surreale Stimmung und das Chaos in der Sowjetgesellschaft, einer Gesellschaft, die sich anmaßte, die Gesetze der Geschichte erkannt und dadurch den Zufall aus ihr gebannt zu haben.

Der Wind ist bei Bitow nicht tödlich oder verbreitet Wahnsinn, aber er ist mit eigenem Willen versehen, ärgerlich, er wirbelt Leningrad lustvoll durcheinander wie vor ihm Woland, der »Professor für Schwarze Magie« in Bulgakows Meister und Margarita, die Moskauer Nomenklatura. In Louis Buñuels früher Kurzgeschichte Ein ungeheuerlicher Verrat aus dem Jahr 1922 ist der Wind ein surrealistischer Magier, der die Welt verzaubert:

»Der Wind, der vor Freude heulte, riß zwei Bäume aus, kippte einige Häuser in einem Winkel von fünfundvierzig Grad und vereinte alle Glocken in der Stadt in einem Triumphgeläut. Damit nicht zufrieden, spielte er sich als Schwarzkünstler auf. Drei auf der Straße entlangschleichende Priester verwandelte er in ebenso viele invertierte Regenschirme. Aus den Straßen und Häusern machte er in Wolken gehüllte Himalayas, und auf den Caféhaustischen tauchten auf seine Beschwörungen Lumpen, Papier, Stroh und andere Gegenstände aus der Großen Bijouterie der Müllhalde auf.«

Ein junger und eitler Dichter lässt unvorsichtigerweise den Wind durch das Fenster in seine Stube, um ihn sein jüngstes, aus Tausenden Zetteln bestehendes Werk lesen zu lassen. Der Wind ist daran wenig interessiert (er zieht das Spiel mit den Papieren im Ablagekorb vor). Erst als ihn der Autor auf sein Manuskript hinweist, wird er aufmerksam:

»Erst dann (…) sah er die Tausenden Zettel durch, wobei er ihnen einen Laut entlockte wie ein Taschenspieler den Karten. Auf einmal, mit einem einzigen Wurf, schleuderte er sie durch das staunende Fenster in den Raum, und das Fenster öffnete vor Erstaunen seinen Mund und stürzte hinterher. Ich blieb zurück, niedergeschmettert, benommen, auseinandergenommen für immer. Er hatte mein Werk, mein endgültiges Werk entwendet, das in Möwen verwandelt am Horizont dahinflog.«

Bei Buñuel bestimmt der Wind nicht nur die Syntax oder die Erzählperspektive eines Werkes, sondern er entführt es, bevor es überhaupt gelesen werden kann; ein wahrhaft surrealistischer Sturm, der die alte Welt der Poesie zerzaust und fortträgt.

VIII

Vom Wind verweht werden auch die Blätter auf Katsushika Hokusais (1760–1849) Holzschnitt Ejiri in der Provinz Suruga, gezeichnet zwischen 1830 und 1832. Zu sehen sind sieben Reisende, die auf einem Pfad durchs Schilf in den Wind geraten: Ein Hut wird vom Kopf gerissen, eine Person, die sich gegen den Wind stemmt, verliert ein ganzes Papierbündel an ihn, die einzelnen Zettel vermengen sich mit losgerissenen Blättern eines Baumes und verschwinden am Horizont.

Der Holzschnitt ist Blatt 18 in Hokusais berühmtem Zyklus 36 Ansichten des Fuji. Auch wenn der Wind nicht zu den drei schönsten Erscheinungen der Natur zählt – das sind Mondlicht, Schnee und die Kirschblüte –, ist er auf mehreren Bildern der Serie ausdrückliches Thema; Hokusais Winddarstellungen reichen von der kaum wahrzunehmenden Brise auf Blatt 11 und 21, wo ihn Flugdrachen am Himmel sichtbar werden lassen, bis zum tosenden Sturm auf dem wohl bekanntesten Blatt 1, Die große Welle vor Kanagawa.

In Ejiri in der Provinz Suruga dominieren wie bei den anderen Holzschnitten klare Linien und Konturen. Die Gegenstände und Reisenden sind deutlich abgegrenzt, die Formen stilisiert und stark vereinfacht. Die Figuren, Objekte und die Landschaft erscheinen dabei flächig, ohne Volumen, die Perspektive und Tiefe des Bildes werden einzig durch das Kleinerwerden der Figuren erreicht. Hokusai gelingt ein zeichnerisches Paradox: Durch den fliegenden Hut und die Zettel erscheint das Bild einerseits wie eine fotografische Momentaufnahme mit kurzer Belichtungszeit, andererseits aber, da weder Licht noch Schatten auf dem Bild dargestellt werden, wirkt die Szene wie außerhalb der Zeit.

In einigen Details entspricht das comicartige Tableau erstaunlicherweise der zwölf Jahre später gezeichneten Bildfolge im fliegenden Robert. Natürlich wusste Hoffmann aus Frankfurt nichts von Hokusais Holzschnitt, aber die Darstellung des Windes und auch der kulturelle Kontext sind ähnlich: Wie der Struwwelpeter aus dem deutschen Vormärz gehörte der vierfarbig kolorierte Holzschnitt Hokusais aus der späten Edo-Zeit der Popularkultur an. Er gehört zum Genre der Ukiyo-e, zu den »Bildern der fließenden Welt«, die vom Alltag der Menschen mit aus dem Westen übernommenen neuen Perspektiven und Farben erzählen. Die dekorativen Holzschnitte konnten in großer Auflage gedruckt werden und waren erschwinglich; sie adressierten ebenso wie Hoffmanns Kinderbuch das neue, aufstrebende Bürgertum, beide waren Bestseller.

Das Windmotiv hatte nicht nur in Europa, sondern auch in der japanischen Kultur eine lange Tradition. Im Kopfkissenbuch der Sei Shōnagon, das die Hofdame in Kyoto um das Jahr 1000 verfasste, findet sich der Wind auf der Liste jener Dinge, die ihr »Herz anrühren«, wenn er sanft am Dach rüttelt, während sie auf ihren Geliebten wartet; »entzückt« ist Sei Shonagon auch über den »sachten Windhauch nach Sonnenuntergang«.

Auch der Haiku ist ohne das Motiv des Windes nicht denkbar. Im dreizeiligen Gedicht werden Naturerfahrungen in möglichst unmittelbarer, deskriptiver und klarer Form dargestellt. Der Haiku verfolgt weder symbolische noch allegorische Ziele, sein Stilideal ist die bis zum Äußersten verknappte Form (wabi) wie etwa im Wintersturm des Haiku-Meisters Yosa Buson (1716–1784):

Der Wintersturm

Bläst kleine Steine

Gegen die Tempelglocke

Die Winderzählung hat im Haiku keine Temporalität, beschrieben werden Momente, die Erzählung scheint eingefroren zu einem Standbild, wie etwa im Gedicht des Matsuo Basho (1644–1694):

Allein im Winter, ach –

Durch eine Welt aus einer Farbe

Bläst der Wind

Die Tatsache, dass der Wind bläst, »bedeutet« im gelungenen Haiku nichts über das Ereignis Hinausgehendes. Alles wird gezeigt, nichts gesagt, zwischen den Zeilen des Haikus steht nichts. In einem Gedicht von Takai Kito (1741–1789) werden die Elemente eines Geschehens beobachtend registriert (ein Bote, ein Brief, der Frühlingswind) und parataktisch angeordnet:

Ich habe den Boten

Unterwegs getroffen, öffne den Brief –

Der Frühlingswind

Die Kausalität der Ereignisse bleibt im Haiku lose, dem Ich als interpretierende Instanz ist keine Rolle zugedacht. Warum verwenden »manche Leute das Wort ›ich‹?«, fragt Sei Shonagon im Kopfkissenbuch keck und konfuzianisch. »Bringt es irgendwelche Nachteile, wenn man auf dieses Wort einfach verzichtet?«

Man könnte Hokusais Holzschnitt als Haiku lesen und ebenso den lautlosen Aufstieg des fliegenden Robert. Natürlich ist es möglich, allerlei religiöse, politische oder psychologische Register der Deutung an die Bildfolgen Hokusais und Hoffmanns anzulegen und sie damit in die Welt der Sinnproduktion einzugemeinden. Aber vielleicht ist gerade der Status des Nicht-Bedeutens, die zen-artige Ungerührtheit und Askese gegen den Sinn die eigentliche Provokation des Gedichts: keine Allegorie, keine Symbolik, nur der präzise poetische Blick auf ein plötzliches Verschwinden. Kinder und Surrealisten haben damit keine Probleme.

Windstoß

Hut und Schirm im Fluge

Ein Kind über den Wolken

IX

Im Erzählband Die Zimtläden von Bruno Schulz (1892–1942), 1933 erschienen, ist der aufkommende Sturm Bote des aufkommenden Wahnsinns, in den die Familie stürzt:

»Im Zimmer schwebte ein zarter, nach Harz duftender Rauchschleier. Der Ofen heulte und pfiff, als wäre eine ganze Meute von Hunden oder Dämonen darin angebunden. Das riesige, auf seinen gewölbten Bauch gepinselte Kitschbild verzerrte sich zu einer bunten Grimasse und phantasierte mit geblähten Backen. Ich lief barfuß ans Fenster. Der Himmel war kreuz und quer von Winden aufgeblasen. Silbrigweiß und ausladend, von kraftvollen, aufs Äußerste gespannten Strichen gezeichnet, von strengen, erstarrten Furchen, die Zinn- und Bleiadern glichen. Er war in Energiefelder aufgeteilt und bebte vor Spannung, erfüllt von verborgener Dynamik. Die Diagramme des Sturmes zeichneten sich an diesem Himmel ab, der, seinerseits unsichtbar und unfaßbar, die Landschaft mit seinem Potential auflud.«

Zusehends dissoziiert die Wahrnehmung des jungen, hypersensiblen Erzählers. Er sieht den Wind, visualisiert in Diagrammen und in expressiven Strichen am Himmel.

Für das Sichtbarmachen des unsichtbaren Windes hat sich über Jahrhunderte eine eigene Ikonografie entwickelt. Der Wind wird entweder allegorisch (etwa als Person), diagrammatisch (durch konventionalisierte Symbole) oder indexikalisch (anhand der Dinge, die er bewegt) dargestellt. In den naturkundlichen Illustrationen des 17. Jahrhunderts, zum Beispiel Edmond Halleys Karte der Passatwinde von 1686, werden Luftströme, die bereits als Bewegungen von Luftpartikeln begriffen werden, durch kurze Striche symbolisiert, die in bestimmte Richtungen weisen. In Descartes’ Die Meteore aus dem Jahr 1637 wird der jeweilige Aggregatzustand durch den Übergang von Strichen in gepunktete Kreise (Wasser) dargestellt, auch Formen des schrittweisen Übergangs (Dunst) können auf diese Weise visualisiert werden. Die gleichermaßen diagrammatischen wie mimetischen Bilder haben sich bis heute in den meteorologischen Berichten gehalten, sie liefern zwar keine Beweise für eine Theorie, aber sie machen den textuellen Zusammenhang anschaulich.

In den allegorischen Bildern, wie Botticellis Die Geburt der Venus (ca. 1485) oder Joachim von Sandrarts Kupferstich Die vier Hauptwinde aus dem Jahr 1680, dominieren bei der Darstellung der Winde geflügelte, pausbäckige Göttergestalten, aus deren Mündern Linien (Windstriche) hervorbrechen. In vielen wissenschaftlichen Buchillustrationen und Landkarten des 17. Jahrhunderts werden allegorische und abstrakt-diagrammatische Darstellungen mitunter noch miteinander verbunden, allerdings sind die windblasenden Götter nur noch Dekor.

Die Darstellung des Windes als sichtbarer Atem der Götter ist ein visuelles Spiel mit einem animistischen Verständnis der Welt. Dem Wind wird Bewusstsein und Willen zugesprochen: Wenn er bläst, weiß er, was er tut; seine Bewegung ist zwar spontan, aber jede Aktivität ist mit dem Wissen um das eigene Tun verbunden.

Ein Urbild des anthropomorphen, mit menschlichen Launen ausgestatteten Windes ist der Zephyr im Märchen »Amor und Psyche«, das der römische Schriftsteller Apuleius (um 123–nach 170 n. Chr.) in seinen Roman Metamorphosen oder Der Goldene Esel einbettet. Zephyr trägt die Heldin Psyche über den Abgrund eines Felsen ins Schloss ihres Geliebten Amor und legt »sie sanft in den blumigen Schoß eines weichen Rasens« im Tal. Ihre mörderischen Schwestern aber, die sich beim Sprung in den Abgrund auf den Wind und »seinen milden Odem« verlassen, lässt Zephyr im Stich. Die eine wie die andere »stürzt sich, mit tollkühner Wut, ohne den Wind zu erwarten, der sie hinabtrüge, sogleich von da in die Tiefe hinunter (…), ganz blind vor ungeduldiger Hoffnung«. Der launische Zephyr, Urahn der Sylphiden und des Ariel, bleibt freilich aus, und »an den hervorragenden Klippen zerschmetterte und zerstückelte sich im Fallen ihr Leib«. Auch im modernen Roman und in der modernen Erzählung gibt es zahllose animistische Darstellungen des Windes. Bei Oskar Panizza beobachtet ein Hund den Wind im November in der Großstadt: »… der Wind«, vertraut er angstvoll seinem Tagebuch an, »kommt Abends hereingestürzt mit einer Angst, als käm hinter ihm der Schrecken, der Hunger und der Tod. Es muss Was [sic] los sein in der Welt!«

Der Wind wird märchenhaft belebt und mit Geist aufgeladen, zugleich wird in dem Maße, in dem die Materie (Luft) spiritualisiert wird, das Lebendige materialisiert und somit tendenziell die Differenz zwischen dem Toten und dem Lebendigen eingeebnet. Ein magischer Rest des Animismus, der bis in die Gegenwart reicht, ist die Personifizierung der Winde durch ihre Benennung. Nur Stürme werden mit eigenen Namen versehen und damit in die Nähe einer eigenständig handelnden Person gebracht, andere, nicht minder bedrohliche Naturereignisse wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche bleiben dagegen dinghaft und namenlos.

X

In einer nicht-symbolischen Form der Visualisierung kann der Wind nur indexikalisch, das heißt nur indirekt durch die Dinge, die er bewegt, erfasst werden. Auch die drei Kader des fliegenden Robert stehen in dieser indexikalischen Tradition. Der sich im Wind neigende Baum am linken unteren Rand und der Regen zeigen ohne Bewegungslinien die Windrichtung an, die Haare des fliegenden Kindes, Hut und Schirm lassen die Windstärke erahnen. Fehlten diese Hinweise, so schwebte Robert in die Luft, sein Verschwinden wäre eine (wind)stille, wohl christlich grundierte Himmelfahrt.

Die Schwierigkeiten der Transparenz des Windes bietet Künstlern und Künstlerinnen auch neue Möglichkeiten. In der romantischen Malerei gelingt es, Atmosphäre im doppelten Wortsinn ins Bild zu setzen. Bei Caspar David Friedrich (1774–1840), William Turner (1775–1851) und John Constable (1776–1837) übersetzt das Bild die objektive Wetterlage in einen subjektiven Stimmungsraum und verwandelt die Erfahrung des Windes in eine Empfindung.

In der Skulptur des 20. und 21. Jahrhunderts wird Wind Material, um Bewegungen darzustellen. Sie müssen nicht mehr durch Ausdruck oder Geste einer Figur imaginiert werden, sondern können durch Wind sichtbar gemacht werden. Die Differenz zwischen performativer und bildender Kunst wird dabei zusehends eingeebnet, die Illusion (von Bewegung) wird zugunsten der Inszenierung realer Bewegungen aufgehoben.

Grundlage vieler Werke heutiger Künstler und Künstlerinnen, die Wind auf unterschiedliche Weise nützen, sind neben den Mobiles von Alexander Calder (1898–1976) die Arbeiten von Marcel Duchamp (1887–1968), Man Ray (1890–1976) und Yves Klein (1928–1962). 1961 überließ Klein die Endfertigung eines Bildes (Le Vent du voyage) dem (Fahrt)wind, indem er mit der halb fertigen, noch feuchten Leinwand auf dem Autodach von Paris nach Nizza fuhr, ebenso wie Man Ray vierzig Jahre zuvor die Arbeit des Künstlers der Luft und der Zeit überantwortet hatte: Für seine »Staubzucht« (Dust Breeding) fotografierte er den Staub, der sich während eines Jahres auf Duchamps Large Glass abgelagert hatte und nun das Bild einer Landschaft aus großer Höhe zeigte. In diesem Kontext sind die vielen Windzeichner, windbetriebenen Strickmaschinen, Meeres- und Windorgeln zu verstehen, bei denen die Produktion eines Werkes an den Wind delegiert wird.

Die Windkunst steht allerdings einer animistischen Auffassung der Beziehung von Kunst und Natur vielleicht näher als einer avantgardistischen, auf die sie sich beruft. Die Erzeugung der Formen und Klänge ist weitgehend kontingent, verzichtet wird tendenziell auf die Intervention des Künstlers, der sich auf das Erstellen eines Konzeptes oder einer Konstellation zurückzieht; was bleibt, ist die Fixation des schicksalhaften Wirkens des Windes. Dem Wirken wird aber im Moment des Festhaltens im künstlerischen Werk Bedeutung und Wert zugeschrieben. Nicht immer ist daher eine Unterscheidung zwischen Kunstwerk und Kunststück, zwischen dem Hang zur Magie und Mantik und dem augenzwinkernden Vorführen eines magischen Effekts einfach. »Kunst ist Magie«, heißt es in einer Notiz Adornos in den Minima Moralia 1951, »befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein«. Mit Adorno ließe sich fragen, ob der Befreiungsversuch vom Wahrheitsanspruch hier immer erfolgreich ist, ob dem Beschwörungsversuch der Kontingenz des Windes nicht auch ein versteckt religiöses Element innewohnt, das Wirken einer höheren Macht, die den fliegenden Robert in den Himmel reißt und seiner Himmelfahrt einen naturgemäß unergründlichen Sinn verleiht.

XI

Wind bewegt in der Natur wie in der Kulturgeschichte, aber es ist nicht immer der göttliche Odem, der die Dinge antreibt. In Gargantua und Pantagruel, 1532 bis 1564 erschienen, beschreibt François Rabelais eine weitere Möglichkeit. In Kapitel 27 des zweiten Buches feiert, säuft und schnabuliert man wie so oft. Zunächst prostet Panurge dem Riesen Pantagruel zu, dann furzt er. Pantagruel will es dem Freund nachmachen, aber

»mit dem Furz, den er fahren ließ, bebte die Erde neun Meilen in der Runde, und mit dem Klapf samt der Stinkluft erzeugte er mehr denn dreiundfünfzigtausend zwergkleine und mißgestaltete Männerchen und mit dem Fist, den er streichen ließ, ebenso viele winzige verhutzelte Weiberchen, wie ihr sie hier und dort zu Gesicht bekommt, die nimmer wachsen, es sei denn erdwärts wie die Kuhschwänze oder rundum in die Breite wie die Limousiner Rüben.«

Der Darmwind des Riesen erzeugt eine Art negative Schöpfung, er ist das Gegenstück einerseits zur Stimme, die Menschen »mündig« macht, andererseits zum Atem Gottes, der Sinn und Ordnung verspricht. Dem heiligen Ernst der geistigen Schöpfung setzt Rabelais das Lachen und die Leiblichkeit entgegen. Der Weg in die entkörperlichte, courtoise Welt, den Rabelais früh parodiert, blieb nie unwidersprochen, der Einspruch reicht vom Grobianismus der Frühen Neuzeit bis zum sowjetischen Proletkult und zum Wiener Aktionismus der 1920er- und 50er-Jahre. Flatulisten wie Joseph Pujol (1857–1945), Le Pétomane, der hoch bezahlt und umjubelt im Pariser Kabarett die Marseillaise ertönen lassen konnte, oder der eher plebejische Mr. Methane (geb. 1966), der gerne als Pausenattraktion bei Speedway-Rennen gebucht wird, fanden und finden bis heute ihr Publikum, auch wenn das Lachen über die Verletzung der Anstandsregeln nun eher verschämt hinter vorgehaltener Hand erfolgt.

Eine ultimative Steigerung der Rabelais’schen Tradition der Leiblichkeit und zugleich einen nur schwer zu überschreitenden Endpunkt stellt eine japanische Bildrolle (Emakimono) aus der Sammlung der Universität Waseda aus dem Jahr 1846 dar. He-gassen erzählt auf 21 Zeichnungen von einem mysteriösen Furz-Kampf. Nach ausführlichen Vorbereitungen, die vor allem der adäquaten Ernährung dienen, kämpfen mehrere Männer und Frauen mit Flatulenzen gegeneinander zu Fuß oder auf Pferden, Abwehranlagen werden dabei eingerissen, Kanonen geladen. Der Kampf steigert sich von Szene zu Szene, nach einer neuerlichen Essenspause werden schließlich Bäume entwurzelt, Reiter zu Fall und Tiere und Menschen zum Schweben gebracht. Wer gewinnt, bleibt unklar, der Ausgang ist offenbar nebensächlich.

He-gassen gehört zum Genre der Oko-e, der »albernen Bilder«, die Bildgeschichte ist eine wüste Parodie auf den Tugendkatalog des Samurai im Bushidō, vergleichbar mit Cervantes’ Karikatur eines ritterlichen Kampfes in Don Quixotes Ansturm gegen die Windmühlen. Die Bildrolle beruht auf einem Original von Hishikawa Moronobu aus dem Jahre 1680, das Motiv des Furzkampfes lässt sich bis in die späte Heian-Periode nachweisen. Dass die wohl ekstatischste Darstellung der Übertretung von Schamgrenzen aus Japan stammt, erscheint nicht zufällig. Die Reglementierung des Alltags durch Rituale der Höflichkeit und durch minutiöse Vorschriften der Etikette war in der japanischen Gesellschaft rigoros, normenkonformes Verhalten bildete die moralische Grundlage der Gesellschaft und der Aufrechterhaltung der Hierarchien. Mit He-gassen hat die japanische Kultur dafür ein Ventil gefunden.

XII

Auch wenn wir also nicht so genau wissen, was den fliegenden Robert antrieb – Gott, der schwankende Luftdruck oder ein betrunkener Riese –, bleibt die Frage, wo er gelandet sein könnte, nachdem er am Himmel entschwunden ist.

Vielleicht ist er gar nicht gelandet. Architekten und Künstler sonder Zahl haben im Laufe der Geschichte Luftschlösser und Windstädte errichtet, die für den fliegenden Robert nicht unerreichbar gewesen wären. Das Wolkenkuckucksheim in Aristophanes’ Komödie Die Vögel käme als Fluchtpunkt seiner Reise infrage, freilich ist es ein exzentrischer, lauter Ort, an dem der ernst dreinblickende, wohl schüchterne Robert mit Sicherheit fremd bleiben würde. Dasselbe gilt für die schwebende Gelehrtenstadt Laputa in Jonathan Swifts Gullivers Reisen (Robert ist für ein Gastsemester nicht wirklich qualifiziert) oder für einen Aufenthalt auf den visionären schwebenden Plattformen für Truppentransporte von William Heath: Robert ist für einen Militäreinsatz entschieden zu jung.

Die allermeisten Entwürfe der modernen Architekten – weitgehend dematerialisierte Luftkolonien, von gasgefüllten, pneumatischen Konstruktionen getragene Wohnkomplexe und fliegende Städte – sind für den jungen Mann aus der deutschen Provinz entweder zu elegant oder zu anspruchsvoll, um darin ein neues Zuhause zu finden. Auch wissen wir, dass der Traum einer Generation sich regelmäßig als Albtraum der nächsten erweist, also dass die Probleme des Zusammenlebens vom Boden nur in die Luft, von der Gegenwart nur in die Zukunft verlegt werden.

Eine mögliche Destination wäre für ihn die »Stadt aus Wind« gewesen, die, wie der italienische Schriftsteller Luigi Malerba berichtet, von dem chinesischen Architekten Ming Tseu im Auftrag des Kaisers errichtet wurde. Durch ein komplexes System aus Hunderten Schaufel- und Windrädern war es Ming Tseu gelungen, drei Winde aus unterschiedlichen Richtungen so zu lenken, dass ihr Zusammenspiel durchsichtige Mauern ergab, ganze Gebäude und Straßen bestanden nur aus Wind. »Ich hatte eine herrliche, vollkommen bequeme Stadt geschaffen«, sagt Ming Tseu im Gespräch mit den angereisten Mandarinen, »die praktisch ewig war, so ewig wie die Kräfte der Natur. Nur noch wenige Probleme waren zu lösen …«

Die »wenigen Probleme« erwiesen sich allerdings als unlösbar. Ursprünglich sollte die Windstadt, die alles sichtbar macht, die Moral der Bewohner verbessern, allerdings bewirkte gerade ihre Transparenz das Gegenteil. »Liederliche junge Männer« gruppierten sich auf den Straßen der Stadt, um durch die Wände aus Wind ins Innere der Häuser zu blicken, Experimente der Abschirmung durch farbigen Rauch führten zu Plünderungen und zu Anarchie. Das Projekt scheiterte, die Utopie des Architekten erwies sich als soziale Dystopie, Ming Tseu wurde hingerichtet – also ebenfalls kein guter Ort für den Robert.

Wo könnte der fliegende Robert mitsamt Hut und Schirm also geblieben sein? Der Autor gibt vor, es nicht zu wissen (»Wo der Wind sie hingetragen, / Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.«), aber Jahre nach seinem Verschwinden, 1851, trifft man ihn überraschend wieder, und zwar in einem Kindertraum, unserer Ansicht nach genau dort, wo er hingehört: Im Kindermärchen König Nußknacker und der arme Reinhold, das Hoffmann zeitlebens für sein bestes Buch hielt, wird ein krankes Kind nächtens von einem Engel in ein prächtiges Spielzeugland versetzt, mit Spielzeughäusern, Tieren, Zinnsoldaten – und allen Figuren aus dem Struwwelpeter, darunter bescheiden, fast am Ende der Reihe auch der fliegende Robert. »Die Kerlchen sind dir wohlbekannt«, sagt der freundliche Nussknackerkönig zu Reinhold bei der Vorstellung, »Hofschlingel werden sie genannt.«