Über Nationalismus - George Orwell - E-Book
SONDERANGEBOT

Über Nationalismus E-Book

George Orwell

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden.« George Orwell Worin unterscheiden sich Patriotismus und Nationalismus? Und was kennzeichnet nationalistisches Denken? Dieser 1945 verfasste Essay erscheint erstmals auf Deutsch und zeigt George Orwell als Ideologiekritiker. Inwieweit er außerdem zum Verständnis derzeitiger kulturkämpferischer Auseinandersetzungen beiträgt, erläutert das Nachwort von Armin Nassehi. »Die Liebe vom Menschen auf die Nation umzulenken, ist ein übler Trick. Orwell hat das früh durchschaut.« Michael Köhlmeier

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 56

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Nationalismus ist nicht mit Patriotismus gleichzusetzen, so George Orwell in diesem streitbaren Essay. Doch was kennzeichnet nationalistisches Denken? Unter anderem der besessene Glaube an die eigene Überlegenheit und der Unwille, sein Handeln an realen Fakten auszurichten. Geschrieben 1945 und noch nie auf Deutsch erschienen, ist ›Über Nationalismus‹ eine höchst aktuelle Lektüre.

Über Nationalismus

 

 

 

 

Einmal verwendet Byron das französische Wort longeur und bemerkt beiläufig, wir in England hätten zwar nicht das Wort, dafür aber die Sache in beträchtlicher Fülle. Ähnlich gibt es eine Geisteshaltung, die heute so verbreitet ist, dass sie unser Nachdenken über so gut wie jeden Gegenstand beeinflusst, jedoch noch keinen Namen hat. Als nächstmögliche Entsprechung habe ich mich für die Bezeichnung »Nationalismus« entschieden, aber wir werden gleich sehen, dass ich dieses Wort nicht im üblichen Sinne verwende, wenn auch nur deshalb, weil die Emotion, über die ich spreche, sich nicht immer mit dem verbindet, was man Nation nennt – das heißt, einem einzigen Volk oder einer bestimmten geografischen Region. Sie kann sich an einer Kirche oder einer Klasse festmachen oder in einem rein negativen Sinne funktionieren, gegen irgendetwas und ohne Bedürfnis nach einem positiven Gegenstand der Loyalität.

Mit »Nationalismus« meine ich zunächst einmal die verbreitete Annahme, dass sich Menschen wie Insekten klassifizieren lassen und ganze Gruppen von Millionen oder Abermillionen Menschen mit dem Etikett »gut« oder »böse« belegt werden können.1 Zweitens aber – und das ist deutlich wichtiger – meine ich damit die Angewohnheit, sich mit einer einzigen Nation oder einer anderen Einheit zu identifizieren, diese jenseits von Gut und Böse zu verorten und keine andere Pflicht anzuerkennen als die, deren Interessen zu befördern. Nationalismus ist nicht zu verwechseln mit Patriotismus. Beide Wörter werden in der Regel so vage verwendet, dass jede Definition leicht kritisiert werden kann, aber man muss zwischen beidem unterscheiden, da sich dahinter zwei verschiedene, ja sogar gegensätzliche Vorstellungen verbergen. Mit »Patriotismus« meine ich die Verbundenheit mit einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweise, die man für die beste auf der Welt hält, aber anderen Menschen nicht aufzwingen möchte. Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden. Das dauerhafte Ziel jedes Nationalisten besteht darin, immer mehr Macht und immer mehr Prestige anzuhäufen, nicht für sich selbst, sondern für die Nation oder eine andere Einheit, der er seine Individualität geopfert hat.

Sofern es um die bekannteren und deutlich erkennbaren nationalistischen Bewegungen in Deutschland, Japan und anderen Ländern geht, ist all das vollkommen evident. Angesichts eines Phänomens wie dem Nationalsozialismus, den wir von außen beobachten können, würden fast alle von uns über kurz oder lang zu ähnlichen Schlüssen kommen. Trotzdem muss ich an dieser Stelle wiederholen, was ich oben bereits gesagt habe, nämlich dass ich das Wort »Nationalismus« nur mangels eines besseren Begriffs gebrauche. Der Nationalismus im erweiterten Sinne, wie ich ihn verwende, umfasst Bewegungen und Neigungen wie den Kommunismus, den politischen Katholizismus, den Zionismus, den Antisemitismus, den Trotzkismus und den Pazifismus. Er meint nicht notwendigerweise die Loyalität gegenüber einer Regierung oder einem Land, schon gar nicht gegenüber dem eigenen Land; die Einheiten, mit denen er zu tun hat, müssen nicht einmal wirklich existieren. Um ein paar auf der Hand liegende Beispiele zu nennen: Das Judentum, der Islam, das Christentum, das Proletariat und die weiße Rasse sind allesamt Gegenstand leidenschaftlicher nationalistischer Empfindungen, doch die Existenz dieser Einheiten lässt sich begründet in Frage stellen, und für keine von ihnen gibt es eine universell anerkannte Definition.

Es sei überdies noch einmal betont, dass nationalistische Empfindungen rein negativ sein können. So gibt es beispielsweise Trotzkisten, die schlicht zu Gegnern der UdSSR geworden sind, ohne eine entsprechende Loyalität gegenüber einer anderen Einheit zu entwickeln. Begreift man, welche Implikationen das hat, so wird das Wesen dessen, was ich als Nationalismus bezeichne, ein ganzes Stück klarer. Ein Nationalist ist jemand, der einzig und allein – oder überwiegend – in Kategorien konkurrierenden Prestiges denkt. Er mag positiver oder negativer Nationalist sein – das heißt, er kann seine geistige Energie entweder in Beförderung oder Verunglimpfung stecken –, doch sein Denken kreist stets um Siege und Niederlagen, Triumphe und Demütigungen. Geschichte, insbesondere die zeitgenössische Geschichte, betrachtet er als unablässigen Aufstieg und Niedergang großer Machteinheiten, und jedes Ereignis, das sich zuträgt, erscheint ihm als Beweis dafür, dass seine eigene Seite auf dem aufsteigenden Ast und irgendein verhasster Rivale auf dem Weg nach unten ist. Wir dürfen Nationalismus freilich nicht mit einer reinen Erfolgsverehrung verwechseln. Der Nationalist verfährt nicht nach dem Prinzip, sich schlicht auf die Seite des Stärkeren zu schlagen. Im Gegenteil, nachdem er sich für eine Seite entschieden hat, redet er sich ein, diese sei tatsächlich die stärkere, und er kann an dieser Überzeugung sogar dann festhalten, wenn die Fakten ihr auf überwältigende Weise widersprechen. Nationalismus ist Machthunger gedämpft durch Selbsttäuschung. Jeder Nationalist ist zur eklatantesten Schandtat imstande, aber er ist sich auch – im Bewusstsein, einer Sache zu dienen, die größer ist als er selbst – unerschütterlich sicher, im Recht zu sein.

Nach dieser ausführlichen Definition dürfte feststehen, dass die Geisteshaltung, von der ich spreche, in der englischen Intelligenzia weit verbreitet und dort auf jeden Fall verbreiteter ist als bei der breiten Masse der Bevölkerung. Bei denen, die sich intensiv mit aktueller Politik beschäftigen, sind bestimmte Themen inzwischen so sehr von Prestigeerwägungen durchdrungen, dass ein wirklich rationaler Zugang zu diesen Fragen beinahe unmöglich ist. Es ließen sich Hunderte Beispiele dafür nennen, aber ich will nur dieses eine nehmen: Welcher der drei Alliierten, die UdSSR, Großbritannien oder die USA, hat den größten Beitrag zum Sieg über Deutschland geleistet? Theoretisch sollte es möglich sein, eine begründete und vielleicht sogar abschließende Antwort auf diese Frage zu geben. In der Praxis jedoch lassen sich die erforderlichen Berechnungen nicht anstellen, denn jeder, der sich den Kopf über eine solche Frage zerbricht, würde sie unausweichlich in Bezug auf konkurrierendes Prestige betrachten. Er würde sich deshalb zunächst je nachdem für Russland, Großbritannien oder Amerika entscheiden und erst dann nach Argumenten suchen, die die eigene Sicht der Dinge untermauern. Und es gibt reihenweise ähnliche Fragen, auf die man eine ehrliche Antwort nur von jemandem bekommt, der der Sache, um die es geht, gleichgültig gegenübersteht und dessen Meinung ohnehin vermutlich irrelevant ist. Daher rührt zumindest teilweise das bemerkenswerte Versagen der politischen und militärischen Prognosen unserer Zeit. Es ist schon seltsam, wenn man daran denkt, dass von all den »Experten« sämtlicher Schulen kein einziger in der Lage war, ein Ereignis wie den russisch-deutschen Pakt von 1939 vorherzusehen.2 Und als sich die Nachricht von diesem Pakt verbreitete, gab es die unterschiedlichsten Erklärungen für sein Zustandekommen, und man stellte Prophezeiungen an, die sich fast umgehend als falsch erwiesen, weil sie in fast allen Fällen nicht auf einer Analyse der wahrscheinlichen Tatsachen beruhten, sondern auf dem Wunsch, die UdSSR