Überfällig - Franka Frei - E-Book

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Franka Frei

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Beschreibung

Gleichberechtigte Verhütung jetzt!

Zum Kinderkriegen gehören mindestens zwei. Verhütung aber ist weltweit »Frauensache«, mit allen damit verbundenen finanziellen Kosten, körperlichen und seelischen Nebenwirkungen, die empfängnisverhütende Mittel wie die – noch immer von knapp 50% der Frauen in Deutschland genutzte – Anti-Baby-Pille haben. Wir verstehen uns als modern und gleichberechtigt, doch in Sachen Verhütung scheinen wir in den 60er-Jahren steckengeblieben zu sein: Eine »Pille für den Mann« stellt die wohl größte Marktlücke des 21. Jahrhunderts dar. Studien werden aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen, die für hunderte Millionen von Frauen Alltag sind. Schuld daran sind nicht weinerliche Studienprobanden, sondern ein verkrustetes System, das technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt hemmt. Franka Frei deckt die dahinter stehenden Machtstrukturen auf und fordert ein radikales Umdenken, denn: Männliche Verhütung ist nicht nur möglich, sie findet bereits tausendfach Anwendung. Eine wachsende Bewegung betrachtet Verhütungsgerechtigkeit nicht als feministische Luxusforderung, sondern als längst überfällige Maßnahme, die angesichts hoher Zahlen ungewollter Schwangerschaften, ökologischer Krisen und der Angst vor Ressourcenknappheit von äußerster politischer Brisanz ist.

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Seitenzahl: 361

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Franka Frei

Überfällig

Warum Verhütung auch Männersache ist

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber:innen ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

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CONTENT-WARNUNG

In diesem Buch wird es um Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Identität, der Herkunft und der körperlichen Fähigkeiten gehen. Ich schreibe eindrücklich über Gewalt, die auf Grundlage rassistischer, sexistischer und ableistischer Strukturen unzähligen Menschen im Hinblick auf ihre reproduktive Selbstbestimmung angetan wurde – und wird.

Originalausgabe April 2023

Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Illustrationen (S.90, 98, 165, 176): Thomas Bobika

Abbildung S.100: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Preformation.GIF

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Coverdesign: Joseph Eckhart

Covermotiv (Pillenpackung und Spermium): FinePic®, München

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

EB ∙ CF

ISBN 978-3-641-29939-2V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

VORWORTAUFFRUCHTBARENHODEN

PROLOGDIEPOST-PILLEN-GENERATION: WASFOLGTNACHDERPILLENMÜDIGKEIT?

Meine ganz normale Horrorgeschichte zwischen Pillenpest und Spiralencholera und wieso sich die Dinge ändern müssen

TEIL I GESCHICHTE

Wie Verhütung erst Teufelszeug und dann »Frauensache« wurde

1 VERHÄNGNISVERHÜTUNG

Von Krokodilkot, Engelmacher:innen und verhängnisvollen Einschnitten in die reproduktive Selbstbestimmung

2 DIEGESCHICHTEDERVERHÜTUNGSUNGERECHTIGKEIT

Hexen, Kolonialzeiten und die Angst vor einer »zu vollen« Welt

3 WIEFEMINISTISCHISTDIEPILLE?

Die grausame Geschichte der hormonellen Verhütung

4 WINORLOSE

Das tragische Scheitern der ersten »Pille für den Mann«

TEIL II MÄNNERSACHE

Verhütung und Männlichkeit

5 SPERMIENWISSENISTMACHT!

Über Spritzenangst, Samenstau und überaus tapfere Spermien

6 ZEITFÜREIER

Macht, Männlichkeit und das heteronormative Märchen der Hormone

7 GIBGUMMI

Warum Kondome nicht die Lösung sind

8 PILLE, GEL, SPRITZE?

Mögliche Mittel und verschenkte Potenziale

9 DASGESCHÄFTMITDENHORMONEN

Warum der Markt das nicht von allein regeln wird

10 BALLSAGAINSTPATRIARCHY

Mit warmen Hoden gegen das System

11 BABY, ICHWILLKEINKINDVONDIR!

Über Solidarität, Sexstreik und dem Willen zur Veränderung

Teil III FAIRHÜTET!

Verhütungsgerechtigkeit als Teil von etwas Großem

12 VERHÜTUNGFORFUTURE!

Wie sieht die Zukunft der Verhütung aus?

13 BABYMÜDE, PILLENMÜDE, FREMDBESTIMMUNGSMÜDE

Über moderne Geburtenkontrolle, Klima und die Illusion von Wahlfreiheit

14 VERHÜTUNGISTPOLITISCH!

Die kontrazeptive Revolution hat begonnen

ANMERKUNGEN

WEITERFÜHRENDELITERATUR

NETZWERKE, LINKSUNDBERATUNGSSTELLEN

GLOSSAR

DANKE, DANKEUNDNOCHMALDANKE!

VORWORT AUF FRUCHTBAREN HODEN

August 2022. Ein Städtchen namens Butzbach, irgendwo in der hessischen Provinz.

Ich besuche ein kleines Grüppchen von leidenschaftlichen Elektroexperten. Die vier Männer aus zwei Generationen haben ein neuartiges Gerät zur Verhütung entwickelt – und am eigenen Leib erprobt. Fasziniert halte ich den Apparat, aus dem buntes Kabelgewirr ragt, wie eine Schneekugel auf der ausgestreckten Handfläche. Für mich als siebenundzwanzigjährige Frau mit langer, leidvoller Pillen- und Spiralengeschichte wirkt das Ding wie eine Zeitmaschine, die mich in eine bessere Welt katapultiert. Mehr als die Hälfte meiner Lebenszeit (!) steht im Zeichen verschiedener rosa und weißer Tabletten, Hormonringe und Spiralen mit den unterschiedlichsten Nebenwirkungen – von Libidoverlust und Post-Pill-Akne bis hin zu schwallartigen Nachblutungen und dem nächtlichen Besuch der Berliner Notaufnahme. Verhütung macht selten Spaß. Dabei könnte es längst bessere, schmerzlose und hormonfreie Lösungen geben – für beide Geschlechter.

»Und da kommen die Hoden rein?« Mit zwei Fingern spiele ich an einer eierförmigen Klammer herum, die mit dem Prozessor verbunden ist. Kevin nickt. In den randlosen Brillengläsern des jungen Elektroingenieurs spiegeln sich die blinkenden Lämpchen in mehreren Farben. Im Raum wabert Erfindergeist. Der Duft von Gehirnschmalz und Revolution liegt in der Luft. Vor mir auf dem Tisch steht ein kleines Kameramikroskop. Der darin befindliche Teststreifen ist milchig-weiß betüncht.

Über eine eigens programmierte Software beobachten wir bewegungslose Spermien im Livestream. Wenn wirklich klappt, was hier zu sehen ist, nämlich dass Samenzellen durch wenige Minuten der präzisen Behandlung mit kaum spürbaren Elektrowellen nicht mehr dazu in der Lage sind, eine Eizelle zu befruchten, könnte eine langersehnte Verhütungsmethode für den Mann1 als Alternative zu Pille und Co. bald in jedem Badezimmerschrank vorzufinden sein. Das prophylaktische Eierwärmen wäre dann vielleicht vergleichbar mit alle paar Wochen Haareschneiden, Bartstutzen oder Autowaschen gehen – kein großer Umstand. Dank vieler Eigenversuche des kleinen Erfinderteams ist die futuristische Hodenklammer zur Verhütung im Prinzip einsatzfähig.

»Es ist seltsam, dass bisher noch niemand darauf gekommen ist«, bemerkt Kevin nüchtern. »Wir messen eine Temperatur und steuern eine Heizung. Das ist eigentlich total banal. Das, was es so kompliziert macht, ist das ganze Drumherum.«

Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir klonen Mais, transplantieren Köpfe und können für eine halbe Million US-Dollar sogar Urlaub im Weltall machen. Digitalisierung, Globalisierung und das beständige Streben nach Wachstum, Profit und Innovation bringen Tempo in die turbokapitalistische Weltordnung. Wirtschaft, Politik, Technik – alles ist in Bewegung. Nur ein Karren steckt seit mehr als sechzig Jahren im Schnee von gestern fest: der, der endlich für Fortschritt im Bereich Verhütung sorgt.

Seit der Marktzulassung der Antibabypille Anfang der Sechzigerjahre ist Verhütung selbstverständlich »Frauensache« – mit all ihren körperlichen, seelischen, zeitlichen und finanziellen Kosten. Knapp die Hälfte der Frauen im Alter zwischen achtzehn und neunundvierzig Jahren in Deutschland schluckt nach wie vor täglich die Antibabypille.2 Mit den Beipackzetteln ließen sich ganze Wände tapezieren. Alternativen gibt es zwar. Doch von den mehr als 250 zugelassenen Pillenarten, Implantaten, Ringen, Stäbchen, Spiralen, Kappen und Spritzen haben alle eines gemeinsam: Sie sind auf den Körper mit Uterus zugeschnitten. Männern bleibt hingegen nur die schmale Auswahl zwischen einem langfristig durchtrennten Samenleiter (also einer Vasektomie) und dem Kondom. Ersteres ist ein operativer Eingriff, der sich nicht sicher rückgängig machen lässt, und Letzteres ist nicht zu Unrecht dafür bekannt, gerne mal zu versagen. Sind wir als Gesellschaft nicht längst an dem Punkt angelangt, an dem es auch für spermienproduzierende Menschen bessere Möglichkeiten zur Verhütung geben sollte?

Fakt ist: Verhütung für den Mann ist möglich.

Sowohl hormonelle Methoden als auch eine Reihe von nicht-hormonellen Methoden haben bereits ihre Wirksamkeit bewiesen. Mittel, mit denen sich der Samenleiter nur vorübergehend verschließen ließe, sind vergleichbar mit Spiralen sowie anderen Kunststoff- und Metallimplantaten, die Millionen von Menschen mit Uterus sich bei Gynäkolog:innen einsetzen lassen. Dazu gibt es nicht-invasive Alternativen, die weder einen Piks noch einen Schnitt oder irgendetwas, das in den Körper gelangt, erfordern. Kurz gesagt: Die Palette an Optionen zur Verhütung ist quasi doppelt so breit, wie allgemein bekannt.

Wo liegt also das Problem?

Was genau ist dieses »Drumherum«, das die Welt von einer potenziell revolutionären Erfindung aus Butzbach trennt?

EINE ART »PILLE FÜR DEN MANN« STELLT DIE WOHL GRÖSSTE MARKTLÜCKE DES 21. JAHRHUNDERTS DAR – DOCH DASS DAS SO IST, HEISST NICHT, DASS DAS SO BLEIBEN MUSS

Dieses Buch will Antworten auf komplizierte Fragen liefern. Verhütung ist politisch. Und dabei geht es um weit mehr als um technische Möglichkeiten oder Fragen des Geschlechts.

Weltweit sind mehr als 1,9 Milliarden Frauen im reproduktiven Alter – ungefähr die Hälfte von ihnen, rund 922 Millionen, nutzen zum aktuellen Zeitpunkt Kontrazeptionsmittel. Dass sie dies tun, nimmt immensen Einfluss auf ihr eigenes Wohlergehen, ihre Freiheit und ihre Rechte, aber auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben, die Wirtschaft und die Umwelt. Moderne Verhütung gilt mitunter als größte gesellschaftliche Errungenschaft – ähnlich wie das Feuer, Penicillin oder die erste Mondrakete. Gleichzeitig stehen bestimmte Mittel immer mehr in der Kritik. Das umfangreiche Pillenschlucken ist kulturell enorm aufgeladen – irgendwo zwischen feministischer Befreiung und dem absoluten Gegenteil davon, also Zwang, Missbrauch und Unterdrückung. Und das kommt nicht von ungefähr, immerhin geht es um das gezielte Steuern der menschlichen Reproduktion.

Sprechen wir über Verhütung, müssen wir auch über ihre dunkle Geschichte reden, die bis in die Gegenwart reicht, und uns Fragen hinsichtlich unserer Zukunft stellen – zwischen Utopie und Dystopie. Denn geht es um Verhütung, geht es um Sex, Geld und Macht. Wer das Sagen über unsere Fortpflanzung hat, entscheidet buchstäblich über Leben und Tod.

Auf der Suche nach Antworten, warum es schon so lange als selbstverständlich gilt, dass Verhütung »Frauensache« ist, habe ich mich auf eine Reise begeben: Studien und Geschichtsbücher gewälzt, Kongresse besucht, mich mit Expert:innen aus der Forschung und der Politik sowie Aktivist:innen vernetzt. In Dutzenden faszinierenden Gesprächen durfte ich als Mensch mit Vulva so einiges über Hoden lernen – Körperteile, die für mich in ihren kulturellen und politischen Implikationen anfangs baumelndes Neuland darstellten. Letztendlich bin ich überraschend auf eine wachsende Bewegung gestoßen, in der Männer nicht nur gerne selbst verhüten würden, sondern es bereits tun. Aus Liebe zur Partnerin, zur Technik oder aus dem festen Glauben an eine bessere Gesellschaft, trotz enormer bürokratischer Hürden und fehlender Unterstützung, teilweise sogar unter Androhung von Geldstrafen und Freiheitsentzug.

VERHÜTUNG FÜR DEN MANN EXISTIERT LÄNGST – UND ZWAR NICHT NUR HINTER DEN VERSCHLOSSENEN TÜREN WEIT ENTFERNTER FORSCHUNGSLABORE

Um Missverständnissen gleich zu Beginn vorzubeugen, einige zentrale Punkte:

Menschen und ihre Realitäten sind unterschiedlich. Die Wahl des passenden Verhütungsmittels sollte in jedem Fall aus einer selbstbestimmten, informierten Entscheidung fallen und niemals unter Zwang oder Druck geschehen.Alle bestehenden Methoden zur Verhütung – Kondom, Vasektomie, Pille, Spirale, NFP (Natürliche Methoden der Familienplanung) etc. – haben ihre Berechtigung und können auch in Zukunft das passende Mittel zum Zweck darstellen.Eine Art »Pille für den Mann« wird weder Abtreibungen noch Kondome ersetzen können. Kondome sind weiterhin zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten unabdingbar. Die Möglichkeit, eine ungewollte Schwangerschaft bei Bedarf abzubrechen, ist und bleibt von unermesslichem Wert für die Gesundheit, die Würde, die soziale und finanzielle Unabhängigkeit eines jeden Menschen.Verhütung ist nicht Frauen- oder Männerverantwortung, sondern gemeinsame Sache. Daher soll es keineswegs um Schuldzuweisungen gehen oder darum, den Spieß mit der Verhütung umzudrehen. Vielmehr ist das Ziel, den Spießrutenlauf zu beenden.

Vermutlich halten viele Menschen – besonders diejenigen, die nie längerfristig am eigenen Körper verhütet haben, den Wunsch nach besseren Kontrazeptionsmitteln erstmal für eine feministische Luxusforderung. Doch es ist einfach, Dinge zu ignorieren, wenn sie eine:n selbst nicht stören. Damit sich etwas ändern kann, braucht es Solidarität und Bewusstsein für Ungerechtigkeiten, die vielen vielleicht bislang kaum aufgefallen sind – nur so kann sich gesamtgesellschaftlich etwas ändern. Und zwar auf vielen Ebenen. Auch wenn wir alle gerne hätten, dass Sexismus, Rassismus und andere -ismen der Vergangenheit angehören – die Welt wächst auf ungerechten Strukturen, oft ist uns dies nicht mal bewusst. Niemand ist frei davon. Doch wir alle profitieren von gerechteren Verhältnissen.

Meine persönliche Geschichte ist nicht außergewöhnlich – leider nicht. Sie ist die traurige Normerfahrung einer weißen, cis-heterosexuellen Frau ohne Behinderung, die in Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts aufgewachsen ist. Gerade deshalb ist es wichtig, sie zu erzählen, denn sie steht im Zeichen einer ganzen Generation der »Pillenmüdigkeit«, die sich schon lange nach Reformen sehnt. Und dennoch ist es unabdingbar zu betonen, dass ich mit meinem Blickwinkel keinesfalls für alle sprechen kann. Zwischen zwei Buchdeckeln kann niemals alles Platz finden, was es zum Thema zu sagen gäbe. Insbesondere in Bezug auf die Verletzung der reproduktiven Rechte von nicht weißen, queeren Personen und Menschen mit Behinderung müssen noch viele Bücher gefüllt und bereits gefüllte Bücher gelesen werden. Einige Texte zur Vertiefung befinden sich im Quellenverzeichnis. Das Glossar im Anschluss soll außerdem Erklärungen für nicht geläufige Begriffe und Fremdwörter liefern.

Der erste Teil des Buchs handelt von der Geschichte der Verhütung – sie ist essenziell, um die Gegenwart besser zu verstehen. Der zweite Teil befasst sich mit möglichen Mitteln zur Verhütung für den Mann und den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Hürden. Im letzten Teil geht es um neue Perspektiven, Aufbruch und Wandel, der bereits stattfindet: Die kontrazeptive Revolution hat begonnen. Und sie sitzt im Hoden.

Innovationen im Bereich Verhütung kommen nicht von allein. Sie müssen aktiv gefordert werden – und zwar von denen, die bereit sind, sie anzuwenden.

Daher wünsche ich mir für dieses Buch besonders eines: dass es auf möglichst fruchtbaren Hoden fällt.

Hinweise zur Sprache

In dem Versuch, einen niedrigschwelligen Fließtext zu formulieren, der möglichst vielen Menschen komplexe Sachverhalte zugänglich macht, habe ich beschlossen, nicht gänzlich auf geschlechterbinäre Sprache zu verzichten. Gleichzeitig bemühe ich mich, sprachlich kenntlich zu machen, dass Geschlecht nicht binär ist, sondern ein Spektrum.3

Beim Schreiben nutze ich den Doppelpunkt, um darauf hinzuweisen, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt. Nicht alle Frauen haben Eizellen, einen Uterus und menstruieren, und nicht alle Menstruierende, Ovulierende und Gebärfähige identifizieren sich als Frauen. Genauso produzieren nicht alle Männer Spermien oder haben Hoden, und nicht alle Spermienproduzierenden sind Männer. Die unzähligen Mittel und Mechanismen, mit denen die Spermienfunktion eingeschränkt oder Samenleiter blockiert werden können, wären prinzipiell nicht nur für cis Männer, sondern für alle spermienproduzierenden Menschen, die Sex mit eizellenproduzierenden Menschen haben, geeignet (also auch nichtbinäre, trans*, inter und genderqueere Personen).

Wenn ich der Einfachheit halber von Verhütung für den Mann schreibe, sind damit alle Methoden gemeint, mit denen spermienproduzierende Menschen längerfristig, sicher und reversibel verhüten können – also Möglichkeiten, die Kondome mit ihrer kurzfristigen Anwendung und hohen Fehlerquote und Vasektomien, die vor allem für junge, kinderlose Männer sehr schwer zugänglich sind, nicht ausreichend bieten.

Viele Studien, die ich in diesem Buch zitiere, beruhen auf einer geschlechterspezifischen Zweiteilung in Mann und Frau. Solche Studien sind wichtig, um Ungleichbehandlungen (zum Beispiel in der Medizin) sichtbar zu machen. Wenn ich in anderen Kontexten die Begriffe »weiblich«/»männlich« beziehungsweise »Frau«/»Mann« verwende, beziehe ich mich nicht auf ein biologisches Geschlecht, sondern auf traditionell binär gedachte gesellschaftliche, institutionalisierte Geschlechtskategorien, auf der die Reproduktionsmedizin bis heute aufbaut.

Wenn in diesem Buch die Rede von »Sex« ist, so sind damit sexuelle Praktiken gemeint, die zu einer Schwangerschaft führen können (herkömmlicherweise Penis-in-Vagina-Sex, auch bekannt als Penetration oder Zirklusion), da nur diese Sexpraktiken in Bezug auf Verhütung relevant sind (an sich ist Sex jedoch viel, viel mehr als nur ein Penis in einer Vagina).

Ich bin mir der Mangelhaftigkeit dieser Lösungen bewusst. Wie in vielen Bereichen wird auch in der Auseinandersetzung mit Sex, Reproduktion und Kontrazeption eine treffendere und progressive Sprache benötigt, um nicht nur Menschen jeden Geschlechts miteinzubeziehen und eine ewige, zu kurz gedachte Binarität zu dekonstruieren, die Hierarchien und Ungerechtigkeit reproduziert, sondern auch um saubere Forschung zu betreiben.

Bei den Begriffen Schwarz und Weiß in Bezug auf Personen handelt es sich nicht um reelle Hautfarben oder biologische Zuschreibungen, sondern um politisch-soziale Konstruktionen, die in einer ungleich verteilten Ressourcenlage des jetzigen Status quo nötig sind, um rassistische Strukturen sichtbar zu machen und abzubauen. Es gibt keine »Rassen« unter Menschen, dennoch ist Rassismus sehr real. Um Formulierungen, die Rassismus reproduzieren, zu vermeiden und sichtbar zu machen, dass rassistische Zuschreibungen Menschen von außen aufgedrängt werden, verwende ich den Begriff »rassifiziert«.

Weitere Anmerkungen zu bestimmten Begriffen und Fremdwörtern finden sich im Glossar.

PROLOG DIE POST-PILLEN-GENERATION: WAS FOLGT NACH DER PILLENMÜDIGKEIT?

Meine ganz normale Horrorgeschichte zwischen Pillenpest und Spiralencholera und wieso sich die Dinge ändern müssen

Juni 2009. Eine Beratungsstelle für Familienplanung im österreichischen Salzburg.

Es ist eine Woche nach meinem vierzehnten Geburtstag, ich schlucke zum ersten Mal die Pille. Das ist zwar aufregend, aber keinesfalls außergewöhnlich. In den kühlen Räumen der Familienberatungsambulanz des Landeskrankenhauses sitzen neben mir gut ein Dutzend junge Frauen und Mädchen, teils in Begleitung ihrer Mütter. Nach kurzer Zeit werde ich in einen Nebenraum gerufen, es folgt ein knappes Aufklärungsgespräch. Ohne große bürokratische Hürden drückt mir eine junge Ärztin die grün-orangene Verpackung eines raschelnden Pillenblisters in die Hand. Mit etwas Mühe entziffere ich das Wort »Ethinylestradiol«, natürlich ohne zu wissen, was das um Himmels willen sein soll. Der Beipackzettel klappt sich wie ein Wanderführer zu einem endlosen Rätsel aus Kleingedrucktem aus und genauso umständlich wieder ein. Von A wie Akne bis Z wie Zyste – die Liste der Nebenwirkungen ist endlos lang, und Alternativen scheint es nicht wirklich zu geben. Warum also sich durch kleingedrucktes Kauderwelsch quälen?

In weniger als zehn Minuten bin ich wieder draußen – samt kleinem Schminkspiegel, den es gratis dazugibt. Alles, was ich an Informationen mitnehme, ist, dass es gut sei, eine Extrapackung Pillen zu haben, denn bei Durchfall oder Erbrechen sollte man lieber auf Nummer sicher gehen. Nummer sicher heißt: ja keine Schwangerschaften. Obwohl das Produkt, das ich ab meinem vierzehnten Lebensjahr knapp vier Jahre lang mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit jeden Tag um Punkt 21:00 Uhr einnehme, erwiesenermaßen besonders häufig zu lebensgefährlichen Blutgerinnseln führt. Dutzende sonst gesunde Pillennutzer:innen sind daran gestorben.1 Aber Hauptsache »sicher«. Damals hinterfrage ich wenig. In meinem Umfeld ist es »normal«, dass Mädchen und Frauen jeden Tag Tabletten schlucken. Absoluter Standard.

Dass ich über die nächsten vier Jahre ein Medikament einnehme, das Einfluss auf multiple physiologische Abläufe meines Körpers wie mein jugendliches Knochenwachstum, auf Haut, Hirn und Muskelentwicklung nimmt, ist mir nicht klar. Mir ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal bewusst, dass die Pille ein Medikament ist. Geschweige denn, wie es wirkt. Mein Zyklus ist einfach abgestellt, ein bisschen so, als hätte man bei einer Maschine den Stecker gezogen. Das hat mir niemand erklärt. Stattdessen heißt es, meinem Körper würde eine Schwangerschaft vorgegaukelt, was nicht stimmt (ich nehme ja keine Schwangerschaftshormone), aber irgendwie finde ich mich aufgrund der Selbstverständlichkeit, mit der alles getan, gesagt und stehen gelassen wird, ab.

Als mich der Schularzt einige Monate später bei einer Routineuntersuchung fragt, ob ich Medikamente einnehme, sage ich nein – ich bin ja auch nicht krank. Und als ich vom Kinderarzt aufgrund einer blutigen Blasenentzündung Antibiotika bekomme, werde ich nicht darüber aufgeklärt, dass dies die Wirkung der Pille außer Kraft setzen kann.

Bis heute mache ich drei Kreuze, dass nichts passiert ist. Eine ungeplante Schwangerschaft mit vierzehn? Kaum vorstellbar für mein junges Leben. Ich will Abi machen, studieren und die berühmte Karriereleiter erklimmen.

Damals will ich keine Mutter sein und heute auch nicht. Es war und ist alleine meine Aufgabe, das zu verhindern. Aber wieso? Eine Schwangerschaft entsteht nicht alleine durch Vagina, Uterus und Eizelle. Was ist mit den Männern, mit denen ich schlafe, lebe und meine Zukunft plane?

Als ich achtzehn bin, verlässt mich mein erster Freund, weil er sich neu verliebt hat. Wochenlang heule ich mir die Augen aus dem Kopf und habe über Monate noch Hoffnung, dass wir ein Liebes-Comeback feiern (die erste Liebe tut ja bekanntlich am meisten weh). Irgendwann sehe ich ein, dass es Zeit ist, die Pille abzusetzen. Vier Jahre nachdem ich das Wundermittel, das mir schöne Haut versprochen hat, zum ersten Mal genommen habe, nicht mehr schlucke, erreicht mich der Akneschub meines Lebens – quasi nachträglich dafür, dass ich sie nicht mit vierzehn hatte. Na danke aber auch.

Monatelang verlässt mich mein Zyklus. In unregelmäßigen Zeitabständen kommt es zu unvorhersehbaren Blutungen unterschiedlicher Stärke, dazwischen steigt der Konsum von Schwangerschaftstests. Kondome reißen und rutschen ab. Aus Angst vor ungewollt befruchteten Eizelleneinnistungen nehme ich – ganz entgegen meiner neu gefassten Vorsätze zur hormonfreien Verhütung – alle paar Monate die Pille danach. Als Resultat der hochdosierten Dosis kriege ich meine Tage wieder zu spät oder gar nicht. Ich habe Periodenneid.

Meine Gynäkologin rät mir, wieder auf den Klassiker umzusteigen. Die Pille biete nicht nur mehr Sicherheit als Kondome, sie würde auch den »Zyklus regeln«. Dass durch die Einnahme der Hormone der gesamte Menstruationszyklus samt Eisprung und Periode völlig lahmgelegt wird, scheint auch der Gynäkologin entweder nicht klar zu sein oder ihr fehlen Zeit, Lust und Möglichkeit, mir das alles zu erklären. In einem System, in dem Zeit Geld bedeutet und Profit vor Gesundheit, Wissen und Eigenbestimmtheit geht, wundert es nicht, dass die Aufklärung über Verhütung so gering ist. Ganze acht Euro bekommen Frauenärzt:innen pro Quartal für jede Person, die sie über Verhütung beraten. Oft bleiben weniger als zehn Minuten Zeit.2

Mit Anfang zwanzig ziehe ich für mein Studium nach Berlin. Die Pille ist mittlerweile in Verruf geraten. Meine Mitbewohnerin empfiehlt mir den Hormonring – die Verpackungen lagert sie im Kühlschrank. Man wechselt das Produkt alle drei bis vier Wochen, erklärt sie. Alles ganz easy. Dass das Ding nur »nur lokal« wirkt, ist die nächste Illusion, die mir vermittelt wird. Synthetische Hormone wirken niemals nur lokal. Damit sie Signale im Gehirn auslösen – und das ist ihr kontrazeptiver Wirkungsmechanismus –, müssen die Wirkstoffe auch dorthin gelangen, ganz egal, wie sie verabreicht werden. Hormonring oder Hormonpille machen höchstens in der Dosierung einen Unterschied, der Wirkungsmechanismus ist jedoch derselbe.

In den nächsten Monaten folgt eine tieftraurige Zeit, die mir heute als depressive Episode in vernebelter Erinnerung bleibt. Abends weine ich auf dem Rückweg von Clubnächten in der U-Bahn – ohne ersichtlichen Grund. Was ist los mit mir? Auf Sex habe ich keine Lust mehr (von wegen sexuelle Befreiung) und kann mich kaum auf mein Studium konzentrieren. Der Sinn meines Lebens ist mir nicht mehr bewusst. Lange denke ich, es sei Weltschmerz, Stress, eine Phase. Doch dass das nie dagewesene Ausmaß an Trübsinnigkeit mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, an dem ich anfange, mir alle drei Wochen einen Plastikring aus der Apotheke in die empfindlichsten Schleimhäute meiner Vagina-Innenwände zu schieben, ist kein Zufall.

In meinem Freund:innenkreis berichten viele von Problemen mit der Pille und beim Pille-Absetzen, mit anderen Mitteln und dem Umstieg darauf. Hautveränderungen, Heißhungerattacken, Libidoverlust, Stimmungsschwankungen, Depressionen bis hin zu lebensgefährlichen Thrombosen. Leider bin ich nicht die Einzige, die aufgrund von Verhütungspräparaten im Krankenhaus landen wird (wir kommen gleich dazu). An diesem Buch haben Frauen mitgearbeitet, bei denen jahrelange Nierenbeckenentzündungen durch Hormonringe auf dem OP-Tisch endeten. Manche können durch bestimmte Verhütungspräparate nicht mehr aufs Klo, anderen fallen büschelweise die Haare aus, manche bluten gruseligerweise ständig, andere gar nicht mehr, und den meisten wird gesagt: »Stell dich nicht so an, dann probier’s doch mal mit ’nem anderen Präparat, sei froh, dass es solche Mittel gibt. Früher hatten die Frauen ganz andere Sorgen!«

Erst mit zweiundzwanzig fange ich an, mich wirklich mit meinem Körper zu beschäftigen. Immerhin. Manche tun dies erst mit Beginn der Wechseljahre, andere nie. Voller nie dagewesener Aha-Momente erfahre ich etwa, dass die Klitoris kein kleiner Knubbel ist, sondern ein Organ von bis zu 12,5 Zentimetern Länge (und damit vergleichbar groß wie der Penis). Die Öffnung, die wir Scheide nennen, ist also gar nicht das Pendant zum »männlichen Geschlecht«. Die meisten Schulbücher vermitteln bis heute jedoch anderes.3 Weibliche Lust und alles, was mit Sexualität zu tun hat, wird unsichtbar gemacht. Das hat System.

Mit wachsendem Argwohn durchforste ich Bücher, Studien und Texte, die all die erschreckenden fehlenden Zahlen aus der Geschlechtermedizin sichtbar machen, und gelange immer mehr ins Rabbit Hole der Verhütungsverschwörung. Wie kann es sein, dass ich mein Leben lang so wenig über all das wusste, was da unterhalb meines Bauchnabels in unmittelbarer Verbindung mit meinem Gehirn, meiner Gesundheit und Selbstbestimmung passiert? Und dass das nicht mal mein persönliches Problem zu sein scheint, sondern das einer ganzen Gesellschaft? Erst jetzt verstehe ich, dass die Hormone, die ich täglich einnahm, gar nichts mit meinen körpereigenen Hormonen zu tun hatten. Sie sind künstliche Versionen derer. Durch die Einnahme denkt das Hirn, es bestünden bereits genug dieser Hormone im Körper – und fährt deshalb die Produktion runter. Doch die künstlichen Hormone haben nicht denselben Nutzen wie die natürlichen. Körpereigenes Estradiol (das wichtigste Östrogen, das den Menstruationszyklus steuert) ist maßgeblich an der Gesundheit von Hirn, Haut und Knochen beteiligt, es hat viele Vorteile für den Schlaf, die Haut und den Stoffwechsel. Zum Beispiel macht es Menschen sensibler für Insulin, was einen vorbeugenden Effekt gegen Diabetes mit sich bringt.4 Übrigens produzieren auch Menschen ohne Uterus Östrogen – zum Glück, denn es schützt sie vor Osteoporose und Herzinfarkten, besonders wenn sie Günther heißen, mit der Grillzange ihr Würstchen brutzeln und sich mit erhöhtem Bier- und Fleischkonsum für »echte Männer« halten. Unser Umgang mit künstlichen Hormonen – gerade bei Frauen – wird mir immer unheimlicher.

»Die Pille verändert den Menschen, der man ist«, schreibt die US-amerikanische Evolutionspsychologin Sarah Hill in ihrem Buch Wie uns die Pille verändert.5 Anhand Tausender Studien zeigt die Autorin, inwiefern die künstlichen Hormone der Antibabypille Milliarden von Schaltern in Körperzellen an- und ausknipsen. Die Pille nimmt Einfluss auf den kompletten Schaltkreis im Gehirn, der für Gefühle und Sex verantwortlich ist – und damit auf die Beziehungsdynamik, die Qualität des Sexlebens, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen, sogar wie das Gesicht unserer Partner:innen auf uns wirkt. Die Pille verändert unser Wesen. Es ist anzunehmen, dass auch die Lernfähigkeit, die Konzentration und das Erinnerungsvermögen dadurch abnehmen. Gehirnscans von Pillenanwender:innen weisen sichtbare Unterschiede im Vergleich zu Aufnahmen von Frauen auf, die die Pille nicht nehmen.6 In was für einer Welt leben wir, in der Frauen sich dazu gedrängt sehen, Wesensveränderungen in Kauf zu nehmen, ihre Gehirngesundheit, Intelligenz und ihr körperliches Wohlergehen aufs Spiel zu setzen, nur damit sie nicht schwanger werden? Dafür, dass über hundert Millionen Menschen weltweit täglich die Antibabypille nehmen, ist auch über das damit in Verbindung stehende Demenzrisiko erschreckend wenig bekannt.

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Millionen von Frauen in entscheidenden Entwicklungsphasen ein Medikament bekommen, dessen Wirkung auf den gesamten Körper so allumfassend und in vielerlei Hinsicht nicht einmal der Wissenschaft wirklich klar ist.

Dahinter steckt eben ein Riesenmarkt. Und trotzdem:

PILLENPANIK UND PILLEN-SHAMING SIND NICHT ZIELFÜHREND

Aufklärende Fakten, die früher mühsam in Schulbüchern, der Bravo oder durch Mundpropaganda hinter vorgehaltener Hand zusammengekratzt werden mussten, sind heutzutage gesammelt durch einen Klick im Internet zugänglich. Das hat gute wie schlechte Seiten. Gut, weil: Es gibt endlose Möglichkeiten, sich zu informieren, Erfahrungen zu teilen, sich zu vernetzen und zu merken, dass man mit merkwürdigen Symptomen wie Krämpfen, Schmerzen, Durch- bis Haarausfall nicht allein und erst recht nicht daran schuld ist. Schlecht, weil eben auch viele Halbwahrheiten, Spekulationen und Angst verbreitet werden, insbesondere vor hormoneller Verhütung. Die regelrechte »Pillenpanik« der letzten Jahre kommt nicht von ungefähr und hat durchaus ihre Berechtigung. Doch sie führt eben auch zu viel Angst, Verunsicherung und Scham – und zwar bei den Falschen: jungen Menschen, denen Alternativen fehlen.

Der Grund für die Pilleneinnahme ist längst nicht nur Verhütung. Synthetische Hormone werden auch bei Hautproblemen, Menstruationsschmerzen, Endometriose7, prämenstruellen Beschwerden (PMS) und prämenstruellen dysphorischen Störungen (PMDS), dem Polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS) und anderen ungeklärten Beschwerden, die mit dem Zyklus in Zusammenhang gebracht werden, verschrieben (wir haben es in all diesen Bereichen mit Forschungslücken und mangelnden Therapiemöglichkeiten zu tun). Für diejenigen, die sonst noch viel stärker zu leiden hätten, sind sie enorm wichtig. Dennoch muss betont werden, dass Mittel wie die Pille bei menstruationsbedingten Beschwerden zwar helfen können – klar, der Zyklus wird dadurch komplett abgestellt –, doch sie heilen nicht. So kommen Endometriose-Beschwerden nach dem Absetzen zurück und verschlimmern sich bei vielen sogar.8

Oft heißt es, dass Pille und Co. das Risiko für Depressionen und Suizid stark erhöhen. Grundlage dafür sind meist zwei dänische Studien aus den Jahren 2016 und 2017, die von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe als methodisch unhaltbar kritisiert und dementsprechend als »wertlos« befunden wurden.9 Das heißt nicht, dass es diesen Zusammenhang nicht gibt oder er widerlegt wurde: Aussagen über Korrelation und Kausalität zwischen einer erhöhten Depressionsrate unter Pillenanwender:innen bleiben damit aber weiterhin (dringend zu überprüfende) Spekulation. Letztendlich bräuchte es mehr tragbare Forschung. Doch von wem die finanziert werden soll, wenn nicht der Industrie, ist fraglich.

Aus ganz radikalen Kreisen kommen vereinzelt sogar Forderungen nach einer Abschaffung der Pille. Ja, und dann? Solange es an wirklich guten Alternativen mangelt, wäre so eine Maßnahme extrem kontraproduktiv – vor allem für Menschen mit Uterus.

Fakt ist: Kein anderes Verhütungsmittel ist so umfangreich getestet und in so vielen Versionen erhältlich wie die Pille. Sie ist alles andere als perfekt und auch nicht zu 100 Prozent sicher (weltweit werden immer noch jährlich bis zu 1,35 Millionen Frauen trotz Pille schwanger),10 aber für viele kommt sie diesem Ziel am nächsten.

Pillen- oder anderweitiges Verhütungsmethoden-Bashing ist kontraproduktiv, wenn das Ziel mehr Verhütung für alle sein soll. Wichtig ist, dass Menschen die Möglichkeit haben, eine selbstbestimmte, informierte Entscheidung zu treffen. Wir haben das Recht zu verstehen, wie Verhütungsmittel funktionieren, welche Risiken damit einhergehen und welche Alternativen es geben könnte. Anstatt die Nase zu rümpfen, wenn jemand zugibt, die Pille zu nehmen, sollten wir uns wie in allen Verhaltens- und Konsumbelangen angewöhnen, die Strukturen zu hinterfragen, die erst dazu führen, dass Menschen häufig zu bestimmten Handlungen gedrängt werden.

Aufgrund von gruseligen und teils schlecht erforschten Nebenwirkungen, wie einer Veränderung des Geruchssinns, die zu einer veränderten Partnerwahl führen könnte (wtf),11 kommen künstliche Hormone für mich irgendwann nicht mehr in die Tüte (oder sonst wohin). Im Juni 2018 lasse ich mir die Kupferspirale einsetzen.

Es ist ein unendlich heißer Sommertag in Berlin. Unterhalb der gynäkologischen Praxis im Wedding staut sich die Hitze auf dem glühenden Asphalt. Meine Hände sind trotzdem nass-kalt, als ich die Klingel meiner Ärztin betätige. Zitternd lege ich 300 Euro auf den Empfangstresen und meine empfindlichsten Weichteile auf den Untersuchungsstuhl. Den dreißigseitigen Bogen mit allen möglichen Beschwerden, die das Einsetzen einer Kupferspirale mit sich bringen kann, unterschreibe ich ungefähr genauso freiwillig, wie ich sonst ein Häkchen unter die AGB einer App setze, ohne die ich nicht arbeiten, studieren oder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Als hätte ich eine andere Wahl, als mich zu fügen. Meine Mitbewohnerin misst mittlerweile jeden Morgen ihre Basaltemperatur und macht Kreuzchen in Tabellen. Für sie funktioniert die Sache gut – sie wirkt in sich ruhend, ausgeglichen – irgendwie Zen. Ihr Körper und ihr Geist seien im Einklang, so ganz ohne künstliche Stoffe. Und gerne würde auch ich mein inneres Zyklus-Chakra finden, immer wissend, ob und wie und wann mein Eisprung mir womöglich Energieschübe gäbe und ab wann ich Menstruationstassen vorgekocht haben müsste. Doch natürliche Familienplanung kommt für mich nicht infrage. Mein Zyklus ist nach Jahren des hormonellen On-Offs immer noch unregelmäßig, ich mache Party, schlafe zu wenig und stehe im Studium ständig unter Strom. Verhütung soll nicht zusätzlich zum Stressfaktor werden. Die Angst davor, abtreiben zu müssen weil ich mich womöglich verrechne, sitzt wie eine eiskalte Hand im Nacken. Schmerz, Blut, Scham – könnte ich meinen Eltern überhaupt davon erzählen? Lieber gehe ich »auf Nummer sicher«.

Manche beschreiben das Einsetzen der Spirale als die schlimmsten Schmerzen, die sie jemals erlebt haben. Auch ich empfinde den Eingriff als extrem unangenehm. Schon als die Gynäkologin mit einem speziellen Gerät meinen Muttermund öffnet, durchdringt mich ein beißendes Ziehen. Was dann kommt, liegt irgendwo zwischen rasiermesserscharfen Grauen im Unterbauch und uterinem Wespenstich. Immerhin falle ich aber nicht in Ohnmacht oder muss mich übergeben, wie eine Freundin von mir. Mit blutleeren Fingernägeln kralle ich mich in das weiße Oberflächenmaterial des gynäkologischen Stuhls und versuche, an etwas Schönes zu denken. Ausgerechnet in diesem Moment fällt mir ein, dass ich vor ziemlich genau dreiundzwanzig Jahren mit der Spirale in der Hand auf die Welt kam. Im übertragenden Sinne natürlich. Wie meine Mutter gerne erzählt, fiel ihr das Ding eines Tages zwischen weißen Unterhosen meines Vaters in der Waschmaschine entgegen. Hätte ihr Kupferpräparat einfach seinen Job getan, wäre ich jetzt nicht hier und würde von seinem Nachfolgemodell in den Uterus gestochen. In der Hoffnung, dass die Produkte in den letzten zwanzig Jahren bestimmt besser geworden sind, verdränge ich meinen Tagalbtraum und lande wieder in der Realität des kleineren Übels.

Als ich aufstehe, tropft das Blut aus meiner Vagina. Die Gynäkologin reicht mir kurz darauf ein rot durchtränktes graubraunes Papiertuch, dazu ultradicke Binden.

»Geht’s?« Besorgt hebt sie eine Augenbraue.

Ich schlucke. »Muss gehen.«

Tapfer schnaufend humple ich zurück zu meiner Hose hinter einer Trennwand. Wahrscheinlich immer noch um einiges angenehmer als eine Abtreibung, denke ich. Die Gynäkologin schenkt mir beim Rausgehen ein mitleidiges Lächeln.

Dass durch die ständige Freigabe von Kupferionen eine chemische Reaktion ausgelöst wird, die dazu führt, dass in meiner Gebärmutter nichts gedeihen kann, ist mir wieder mal nicht vermittelt worden. Bis heute ist selbst in der Wissenschaft nicht abschließend erforscht, wie genau Kupfer oder Gold zur Verhütung beitragen. Es reicht anscheinend zu wissen, dass sie es tun.12 Wie oft die Spirale unbemerkt ausgeschieden wird, weiß man nicht genau, auch das Risiko von Eileiterschwangerschaften ist nicht genau bekannt. Die meisten Infos zur Sicherheit kommen von den Herstellern selbst. Insbesondere aussagekräftige (Langzeit)-Studien zur Sicherheit bei jungen, kinderlosen Frauen wie mir fehlen.13 Immer wieder wird von mangelhaften Spiralen und ihren gebrochenen Kunststoffarmen berichtet, die teils lose in der Gebärmutter herumschwimmen und von Gynäkolog:innen herausgefischt werden müssen, meist ohne Narkose. Erst 2018 wurde bekannt, dass zig Tausenden von Europäer:innen ein mangelhaftes Präparat namens Eurogine verabreicht wurde.14 Wie mir eine Münchner Betroffene berichtete, erfuhr sie durch einen Anruf ihrer Gynäkologin davon, dass sie ihre Spirale dringend entfernen lassen sollte. Doch nicht alle Ärzt:innen haben die Möglichkeit, ihren Patient:innen hinterherzutelefonieren. Patient:innen, die den Wohnort oder die gynäkologische Praxis wechseln, sind darauf angewiesen, anderswo von solchen Vorfällen zu erfahren.

Eine Woche nach dem Eingriff stehe ich zitternd im Badezimmer meiner Berliner WG und betrachte einen enormen Haufen roten Glibber im Klo. Es ist drei Uhr morgens, und das, was gerade schwallartig aus meiner Vagina geflutscht ist, erinnert an Brombeerwackelpudding, ist aber deutlich Furcht einflößender. In meinem Kopf rasen die Gedanken. Fehlgeburt? Innere Blutungen? Oder hat sich mein gesamter Uterus verabschiedet? Zunehmend werde ich panisch, bin mir aber sicher, dass mein Körper den in die Schleimhäute gestochenen Metallfremdkörper abstößt – kann das normal sein?

Mit pulsierenden Schläfen wähle ich den Notruf. Kurz drauf stehen zwei Männer mit einem Erste-Hilfe-Koffer mit der Aufschrift »Berliner Feuerwehr« vor der Tür. Keine Ahnung, warum in Berlin die Feuerwehr kommt, wenn man einen Krankenwagen ruft, aber das ist mir in dem Moment egal. Ich habe Angst und brauche Hilfe.

Beim Einsteigen in den Hinterraum des Krankentransporters drücke ich in mir alles zusammen, um keine Tarantino-mäßige Post-Gemetzel-Szene zu hinterlassen. Die Frage des Sanitäters, ob Sitzen oder Liegen besser wäre, will ich direkt an ihn zurückstellen. Er wirkt blass. »Wenn das Blut kommt, kommt es. So oder so«, drohe ich unweigerlich. Im Blick des jungen Feuerwehrmanns steht Verunsicherung. Eine brennende Couch wäre ihm wohl lieber gewesen als eine junge Frau, die vaginales Blut in unkontrollierbaren Mengen von sich gibt.

»Tragen Sie eine … Binde oder so was, um das … äh … Blut aufzufangen?«

Diese Massen von Blut mit einer Binde aufzuhalten käme dem Versuch gleich, einen Tsunami mit einem Bonbonpapier zu stoppen. Ich erspare ihm das Klugscheißen.

»Ich trage eine Menstruationstasse.«

Der Sanitäter verstummt für einen kurzen Moment, dann räuspert er sich verunsichert. »Sie haben eine … Tasse da unten drin?« Am erneut deutlich sichtbaren Schlucken seines Adamsapfels wird Sorge erkennbar, ob nicht doch zerbrochenes Porzellan die Ursache meines Malheurs sein könnte.15 Noch nie, das merke ich, hat er von so abstrusen Mitteln zum monatlichen Management gehört.

Doch mal abgesehen davon, dass auch Menstruation ein gesellschaftspolitisches Thema ist, das viel zu wenig Beachtung findet16: Das hier ist keine Periode. Es sind üble Nachblutungen nach einem invasiven Eingriff, den ich nicht nur für mich, sondern auch für meinen Freund auf mich genommen habe, der im Krankentransporter neben mir sitzt und mir besorgt die Hand tätschelt, denn mehr kann er nicht tun.

Würde es eine Spirale für den Mann gegeben – mein Partner wäre der Erste, der sich dazu bereit erklären würde, sie sich einsetzen zu lassen, um mich von den Qualen zu befreien. Doch ihm sind die Hände gebunden. Passiv mit jemandem leiden, den oder die man liebt, ist auch nicht schön. Im überfüllten Wartezimmer der nächtlichen Notaufnahme zieht er sich besorgt wie ein werdender Vater, drei schwarze Kaffee aus dem Automaten rein.

Als sich die diensthabende Gynäkologin zwischen meinen gespreizten Beinen schließlich des uterinen Unglücks annimmt, haben die Blutungen aufgehört. Nach wenigen Sekunden entfernt die Ärztin ihr kondombestücktes Ultraschallgerät aus meinem Körper und zieht ihre Latexhandschuhe ab. »Sie können gehen.«

»Wohin?«, frage ich, noch halb nackt.

»Nach Hause, wohin denn sonst. Ihr Blutdruck ist normal, und die Spirale sitzt, wo sie soll.« Fast klingt die Ärztin mit ihrem genervten Seufzen so, als wolle sie sagen: »Hat dir denn niemand gesagt, dass Frauen bluten?«

Als läge es in meiner weiblichen Natur zu leiden.

Ja. Menschen mit Uterus menstruieren. Und sie sind es, die dazu fähig sind, schwanger zu werden und zu gebären. Doch dass sie zusätzlich noch all die körperlichen Lasten von Verhütung zu tragen haben, ist nicht fair. Zum Kinderzeugen gehören immer noch (mindestens) zwei.

Die Schieflage in Sachen Verhütung hat weniger mit Biologie zu tun, als oft angenommen wird. Um wirklich zu verstehen, warum es als derart selbstverständlich gilt, dass Menschen mit Uterus ihre reproduktiven Organe auf Untersuchungsstühle und unter Untersuchungsinstrumente zu legen haben, während spermienproduzierenden Menschen sprichwörtlich die Hände anstatt buchstäblich die Samenleiter gebunden sind, müssen wir nachvollziehen, wie es überhaupt dazu kommen konnte.

Kontrazeption war nämlich nicht immer exklusiv und selbstverständlich ganz alleinige »Frauensache«. Sie wurde erst dazu gemacht.

TEIL IGESCHICHTE

Wie Verhütung erst Teufelszeug und dann »Frauensache« wurde

1VERHÄNGNISVERHÜTUNG

Von Krokodilkot, Engelmacher:innen und verhängnisvollen Einschnitten in die reproduktive Selbstbestimmung

Nicht zu Unrecht empfinden viele den marktwirtschaftlichen Siegeszug von Pille und Co. als mindestens genauso meilensteinartig wie die Erfindung des Buchdrucks, des Rads oder des Thermomix. Menschen wie der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud meinten, »es wäre einer der größten Triumphe der Menschheit, eine der fühlbarsten Befreiungen vom Naturzwange«, wenn sich Fortpflanzung und Sex voneinander trennen ließen, um so den »Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben«.1 Zu Freuds Zeiten war der Coitus interruptus noch Verhütungsmittel Nummer eins – abgesehen von Kondomen aus Leinen, Fischblasen oder Schafsdärmen und den ersten Diaphragmen waren bis Mitte des 20. Jahrhunderts schlichtweg keine Methoden zum Schutz vor ungewollten Schwangerschaften bekannt. Überhaupt sichere Möglichkeiten zur Familienplanung zu haben ist revolutionär.

Der sowohl verkorkste als auch verkokste (!) Freud, der im Rahmen seines Schaffens sexistische Fake News über vaginale und klitorale Orgasmen verbreitete (es gibt nur klitorale), ließ sich selbst übrigens den Samenleiter abbinden – jedoch nicht primär zur Verhütung, sondern weil er sich davon ewige Jugend und Vitalität erhoffte. Damit war der Tiefenpsychologe längst nicht der Einzige: Im frühen 20. Jahrhundert brach mit der Geburtsstunde der chemischen Hormonforschung eine regelrechte Trendwelle unter Ärzten (gendern nicht nötig) aus, mit ihren eigenen und mit fremden Hormonwerten wie Geschlechtsteilen zu experimentieren. Der britisch-französische Physiologe und Neurologe Charles-Édouard Brown-Séquard injizierte sich selbst über drei Wochen täglich zerquetschte Hodenflüssigkeit von Hunden und Meerschweinchen in den Oberarm, um die magische Jungbrunnenwirkung von Sperma auf den Körper zu beweisen (nicht ganz ohne Erfolg wohlbemerkt: zwar verbesserte sich die Intensität seines Urinstrahls, leider hielt dies jedoch nur einen Monat an, danach ging dieser Effekt wieder verloren).

Doch bevor wir uns der kulturellen Überhöhung gewisser Hormone und Körperflüssigkeiten widmen, reisen wir lieber noch ein wenig weiter in die Vergangenheit. So weit wie es ausgegrabene Fundstücke menschlicher Hoch- und Kontrazeptionskultur erlauben. Wie wurde verhütet, bevor es die Pille gab?

VERHÜTUNG MIT KROKODILDUNG, COCA-COLA UND DEM BIDET

Schon in antiken Medizinbüchern finden sich über 400 verschiedene mehr oder weniger empfehlenswerte Verhütungs- und Abtreibungsrezepte: vom Essigbad für den Penis bis zu einem Gönn-dir-ein-Scheidenzäpfchen-Gemisch aus zerstoßenem Krokodilkot und gegorenem Pflanzenschleim. Manche Schriften raten sogar schon zum Zyklustracking und warnen vor dem Sex während der Phase um dem Eisprung herum – mit diesem erstaunlich fortschrittlichen Wissen liefern antike gynäkologische Influencer wie der griechische Arzt Soranos von Ephesos, der um 100 n. Chr. in Rom praktizierte, mit ihrer Arbeit bis in die Neuzeit hinein den kontrazeptiven Stein der Weisen.

Ratgeber von der Antike bis ins 20. Jahrhundert empfehlen aber auch, sich nach dem Sex je nach Zeitgeist die Uterusöffnung mit allen möglichen Mitteln auszuwaschen, bei Weitem nicht alle harmlos. Darunter altes Olivenöl, Honig, Balsam, Baumharz, Wein, aber auch Metallsulfate, Bleiweiß oder Listerine (ja, richtig gelesen, das Mundwasser). Marie Stopes, eine schottische Botanikerin, aber auch eine Koryphäe auf dem Gebiet der Verhütung, berief sich Mitte des 20. Jahrhunderts auf den kontrazeptiven Effekt des hochprozentigen Safts). Selbst Coca-Cola erlebte eine kurze Karriere als spermientötende Mischung, geeignet für Scheidenspülungen (das Marketing dieses Konzerns umfasst wohl alles).2 Aus der Volksmedizin sind zudem bestimmte Heilpflanzen dafür bekannt, eine Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen, etwa Arnika, Johanniskraut, Eisenkraut oder Aloe. Was wenig bekannt ist: Kontrazeptive Kräuterkunde gab (und gibt) es ebenso für den Mann. Im Mittelalter warnte die Kirche vor männlicher Unfruchtbarkeit durch Ackerminze und dem Schwarzen Bilsenkraut. Im Garten von Karl dem Großen soll die Bergraute nicht gefehlt haben, die, wie es in einem volksmedizinischen Buch heißt, »den natürlichen Samen austrocknet«.3 Indigene Gruppen aus Süd- und Südostasien aus Papua-Neuguinea nutzen schon lange eine Heilpflanze namens Justicia genderussa zur Familienplanung.4 Seit den Achtzigerjahren arbeiten Forschungsteams in Malaysia und Indonesien daran, daraus auch eine pharmazeutisch anerkannte »Pille für den Mann« zu entwickeln, bisher fehlen jedoch entscheidende Informationen zur genauen Wirkungsweise (zu aktuellen Entwicklungen in der Kontrazeptionstechnologie kommen wir im zweiten Teil des Buches).5

In einem Ratgeber aus dem Jahr 1911, der sich Das goldene Frauenbuch: Die Frau als Hausärztin nennt, wird auch die Möglichkeit eines Harnröhrenstöpsels für den Penis diskutiert. Könnte es so einfach sein? Einfach vorne mit einem Korken zumachen, damit nichts rauskommen kann? Nun ja. Schon damals wurde der Ansatz als wenig zielführend und gesundheitsgefährdend eingestuft (Expert:innen warnen heute neben der bedingt gegebenen Sicherheit vor Verletzungen der Harnröhre). Außerdem war man sich um die Jahrhundertwende einig, dass »der Mann im allgemeinen wenig geneigt ist, sich Unbequemlichkeiten aufzuerlegen« (übrigens auch in Hinblick auf die Nutzung von Kondomen aus Tierdärmen), wie es im Goldenen Frauenbuch heißt.6 Und so blieben Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung weniger aufgrund von fehlenden Mitteln als aus einer gesellschaftlichen Überzeugung heraus »Frauensache«.

Bis ins 20. Jahrhundert war alles beliebt, was das Ejakulat aus der Vagina herausbefördern sollte: Springen, Husten, Kniebeugen und vaginale Muskelkontraktionen. Schließlich nutzte man zum postkoitalen Cleaning auch das Bidet als Scheidenspüler unter Anwendung von speziellen Gerätschaften, die befremdlicherweise als »Mutterspritzen« bekannt waren.7 Offiziell wurden sie nur zur weiblichen Hygiene verkauft. Denn Verhütung und alles, was damit zu tun hat (Sex ohne Kinderwunsch oder gar außerhalb der Ehe), galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als verruchte Gotteswidrigkeit.

So absurd manche Verhütungsmethoden vielleicht klingen mögen. Sie entstanden nicht aus Spaß und freien Stücken, sondern aus Not.