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Vor langer Zeit hatte sich das Schicksal endgültig gegen mich entschieden, als es mir zur Klassifizierung ein kleines Y-Chromosom auf meinen Weg gab. Seitdem herrscht Unruhe in mir, die sich zu Aufruhr und innerem Sturm entfacht, sobald sich ein Lebewesen mit dem ersehnten, verehrten oder gar geliebten Doppel an „X-chen“ sehen, hören oder riechen lässt … Schonungslos sinniert Harry Gaus nach 60 turbulenten Jahren „Lebens- und Liebeserfahrung“ über das „Glück der Liebe“, das die Natur nicht erfand, um uns glücklich zu machen, sondern damit wir unsere Spezies auch unter Enttäuschung, Kränkung und Schmerz fortpflanzen. Müssen wir die Liebe vor diesem Hintergrund fürchten oder ist all unser süßes Hoffen, unser unbezwingbares Sehnen, unser heißes Begehren die Liebe doch wert? Tragische und amüsante Teilgeständnisse eines „philanfrauen“ Akademikers, die den Leser zu (Lach-)Tränen rühren werden.
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Seitenzahl: 90
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Harry Gaus
Überleben unter Frauen
Essay
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
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Lektorat: Alexandra Eryiĝit-Klos
ISBN 978-3-8372-2462-7
Vorwort
Vor langer Zeit hatte sich das Schicksal endgültig gegen mich entschieden, als es mir zur Klassifizierung und Stigmatisierung ein kleines Y-Chromosom auf meinen Weg gab. Seitdem herrscht Unruhe in mir, die sich zu Aufruhr und innerem Sturm entfacht, sobald sich ein Lebewesen mit dem ersehnten, verehrten oder gar geliebten Doppel an „X-chen“ sehen, hören oder riechen lässt. Die Hoffnung, das innere Klima würde mit dem Alter milder, hat sich bislang nicht bestätigt; wahrscheinlich wird das heftige Tosen verschwinden, sobald der ewige Schlaf beginnt. Doch dieser Teil des Lebens ist ungerecht: Während einige ihr Leben lang schwelgen, was regelmäßig zu Übersättigung führt, dürsten andere ein Leben lang – wonach? Die Belohnung von Doppel-X-Trägerinnen zu erhoffen, ist rational unbegreiflich, und es gibt in unserer vielfältigen Sprache nicht einmal ein akzeptables Wort dafür.
Wissenschaftler fragen neuerdings, ob sich die Evolution nicht irrte, als sie den Menschen und die meisten anderen Spezies in zwei Gruppen teilte, diese durch die Sexualität aneinanderkettete und damit deren Fortbestand zu einem unüberschaubar komplexen Vorgang aufblies, und ob dem Aufwand, der Anstrengung, dem Leiden und dem Verbrauch an Ressourcen ein angemessener Vorteil gegenüberstünde. Man ist sich unschlüssig, ob eine Demokratisierung der Fortpflanzung durch Ableger, Keimlinge oder Ähnliches einen Fortschritt brächte.
Auf jeden Fall würde vieles verloren gehen: das süße Hoffen, Sehnen, die schönsten Lieder, das Opium der Liebe.
Doch ist das Vorgenannte mehr als ein aufgeschäumtes Nichts, mehr als eine permanente Illusion, mehr als eine Irreführung der sexualisierten Geschöpfe, zu bezahlen zuvor und danach mit Seelenschmerz, ein billiger Zauber, der uns durch das Leben stolpern lässt; wohin?
Hier Teilgeständnisse eines Durchschnittsmannes, allzeit bereit, sich solcherart beschenken zu lassen; über Ereignisse von einem zufälligen Streifen zweier Lebenswege, glücklichen Augenblicken und krachenden Kollisionen; wie stets mit Koloraturen der Erinnerung und kleinen, verzeihlichen Lügen behaftet.
Auch mit Grübeln darüber, dass die Natur Sexualität und Liebe nicht erfand, um uns glücklich zu machen, sondern sie als Belohnung und Strafe einsetzt, damit wir unsere Spezies auch unter Enttäuschung, Kränkung und Schmerz fortpflanzen; müssen wir die Liebe gar fürchten? Christoph Willibald Gluck lässt seinen Orpheus singen: „Wär’, oh wär’ ich nie geboren“; kann verlorene Liebe, gleich aus welchem Grund, wirklich so zerstörend sein?
Das Wort „Glück der Liebe“ entspringt einer selektiven Wahrnehmung, die uns dabei hilft, Kollateralschäden zu überstehen, und die uns erlaubt, schuldlos egoistisch zu sein und derer, die unsere Träume füllen, nicht überdrüssig zu werden.
Das Sinnieren darüber kann niemals ein Ende finden.
Lisa und Dodscha
Als das lange erste Schuljahr vorüber war, kam noch ein Mädchen in meine Klasse; neben meiner Schwester, der stets fröhlichen Dodscha, der zarten Eugenie mit dem süßen kleinen Sprachfehler, der Magdalena mit der großen Gelenkigkeit, der schönen blonden Karin, der stolzen Rosemarie war noch eine Lisa hinzugekommen.
Sie war ein Kind gehobenen Standes, hatte eine schöne samtene Stimme, tief und geheimnisvoll, und war als besonders klug beleumdet. Sie bekam ihren Platz weit vorn, in der ersten Reihe der altmodischen Klapppulte am Fenster. Sie bekam diesen begehrten Platz wohl auch deshalb, weil ihr Vater der Zahnarzt des Dorfes war, also der Herr über den Schmerz.
Sie konnte viel erzählen, wovon andere Kinder wenig verstanden, schon deshalb war ich von ihrer Klugheit beeindruckt. Sie erzählte von ihrem Auto in einer Zeit, in der dieses Wunder selten gesehen wurde, von einem Sommerurlaub auf Norderney, wo sie schwimmen lernte, von Reisen an den Wochenenden, worüber sie eindrucksvoll berichten konnte.
Lisa entwickelte sich zum Star der Klasse, von den Jungen bewundert und, wie manche von ihnen zaghaft zugaben, geliebt. Es entspann sich ein Wettbewerb darum, wer sie am meisten liebte, erst sehr reserviert und dann immer offener, begannen wir, über Empfindungen für Lisa zu sprechen.
Keiner wollte zurückstehen, auch ich nicht.
Doch ich hatte das Hindernis, als Kleinster der Klasse ein anderes Image anzustreben; meine Leitfiguren waren die Helden des Wilden Westens, beschrieben in den Westromanen, ich wollte eigentlich ein unbezwingbarer Kämpfer sein, wie Billy Jenkins oder Tom Prox, die jeden Gangster zur Strecke brachten, ungeheuer flink mit den Colts waren und von Mädchen oder gar Küssen offenbar gar nichts wussten.
Nur einer dieser Helden auf ihren Mustangs, Jim Chester, der Jiu-Jitsu-Meister, hat einmal eine Juanita geküsst; es muss ein kurzer Schwächeanfall gewesen sein. Doch sonst dominierte eher Dick Hanson, der mit eiserner Faust alle Mestizen, Pockennarbigen und anderes Gesindel niederschlug.
Dieses von mir angestrebte Selbstbild würde leiden, käme heraus, dass ich die Lisa liebte. Was würden meine Mutter und die Großeltern sagen, käme diese Wahrheit ans Tageslicht?
Doch die Gefühlslage ließ sich nicht auf Dauer unter dem Deckel halten. Die Träume von Lisa waren zu schön, oft wachte ich auf und war von ihrer Wärme umhüllt, und ich versuchte, wieder in diesen Traum zurückzuschlüpfen.
Andere Klassenkameraden waren mutiger als ich, besonders der Reinhold; er schlich während des Unterrichts unbemerkt vom Lehrer zu Lisa und hielt ihre Hand. Auch Alwin und Nobbi prahlten offen, wie fest sie meine Lisa drücken würden und gar, wie viele Kinder sie nach der Hochzeit mit ihr haben wollten. Sie alle hatten im Alter von sieben oder acht schon Pläne und Vorstellungen für die ferne Zukunft.
In dieser Enge zwischen ersehntem Selbstbild und Verlangen nach Lisa musste ich handeln.
Ich vertraute mich meiner jüngeren Schwester an, die ja in derselben Klasse war, und gestand ihr meinen Kummer, sie hat es bereits geahnt und versprach, einen Weg für mich zu suchen, sie und die Dodscha würden bei Gelegenheit der Lisa einen Hinweis geben. Für eine Unternehmung dieser Art wäre ich viel zu schüchtern gewesen, vielleicht auch unwert, die erhabene Lisa auch nur insgeheim lieben zu dürfen.
Am nächsten Tag zogen die beiden nachmittags los in das benachbarte Schuldorf, um andere zu treffen und vielleicht zufällig auch Lisa.
Sie kamen dann bald zurück und strahlten und erzählten, sie hätten Lisa getroffen und diese hätte sich sehr gefreut über diese überraschende Nachricht und sie hätte gleich ein Briefchen geschrieben, das man nun an mich übergäbe.
In dem Kuvert fand sich ein gefalteter Bogen, in Herzform ausgeschnitten, und als ich das Herz auffaltete, war zu lesen:
„Lieber Harry, auch ich liebe Dich sehr; ich freue mich, Dich morgen wieder zu sehen“, und darunter, mit einer Blume und einem Schmetterling verziert, ihre Unterschrift: „Deine liebe Lisa“.
Ich war wie verzaubert, glaubte zu fliegen, was für eine Euphorie!
Gleichzeitig war nun meine Schwäche dokumentiert, statt auf eine eiserne Faust zu hoffen, wie sie Dick Hanson besaß, war mein schwaches Herz zutage getreten, ein Junge, der von Liebe träumt, ohne recht zu wissen, wozu diese eigentlich gut sei.
Dick Hansons Faust hatte nach den Schilderungen die Aufgabe, den Gangster genau am Kinn zu treffen, ihn zu Boden zu bringen und dann hinter Gitter, leicht zu verstehen. Was hätte ich mit der geliebten Lisa eigentlich angefangen, stünde sie jetzt vor mir?
Ich hätte verlegen zu Boden geblickt, gelächelt, nach Worten gesucht, vielleicht ihre Hand genommen.
Jedenfalls musste ich zuerst dieses Dokument beseitigen; ich versteckte den zerknüllten Brief im hohen Gras einer Wiese, leicht vergraben.
Am Abend kam meine Mutter und lachte: Arbeitskollegen hatten ihr einen Brief übergeben; man hatte mich beobachtet, dieser Alwin muss es gewesen sein, er hatte den Brief gefunden, dieser ging von Hand zu Hand und schließlich an meine Mutter. Ich erstarrte vor Scham; ich war ertappt, alle wussten nun, wie schwach ich wirklich sei, ein zarter Liebhaber und nicht ein Kerl mit knallhartem Schwinger.
Und es wurde mir bewusst, dass der Brief eine Fälschung sein müsse, die Unterschrift „Deine liebe Lisa“ war verdächtig, sie hätte sicherlich nicht „liebe“ geschrieben, es musste eine dritte Person gewesen sein; in meinem himmelhohen Schweben war mein Verstand leicht ausgeknipst.
Lisa war schuldlos, sie wusste von nichts, dennoch richtete sich mein Groll gegen sie und am nächsten Tag nach Schulschluss und auf dem Weg vom Schulhof schubste ich sie heftig und sie fiel auf die Straße, hatte eine kleine Verletzung am Knie und ich sagte: „Dafür!“
Alle sahen mich ungläubig an! Kann es sein, dass dieser kleine Bengel so mit der allgemein geliebten Lisa umspringt?! Ich verdrückte mich rasch, rannte davon.
In unserem kleinen Ort gab es viele Scheunen mit Stroh und Heu für die Tiere, und Gebälk, von dem man herabspringen konnte in ein weiches Polster, wir übten Absprünge mit Salto vorwärts und rückwärts und auch die Mädchen waren mutig genug, einen Sprung zu wagen.
Dodscha, die Briefschreiberin, war immer dabei, oft tollten wir bis zur Dunkelheit herum.
Einmal, es war bereits halbdunkel, fiel ich beim Springen fast auf sie; doch sie zog mich heran, auf dem Rücken liegend, ich lag auf ihr, ein seltsames Schmerzen und Kribbeln in meiner Brust und in meinem Bauch tauchte auf und nahm zu, als ich meine Arme um sie legte und sie die ihren um mich. Dieses Gefühl war so unglaublich schön und aufregend; sie muss es vorher schon gekannt haben, weshalb sie mich heranzog.
Ich begann, meine Hüfte auf und ab zu bewegen, oder eigentlich ging es von allein ohne mein Zutun, es steigerte sich, was zu fühlen war, und dazu ihr Duft von Jasmin im Haar und im Gesicht; sie musste wieder von der Mutter stibitzt haben.
Ich spürte eine starke Liebe zu ihr, plötzlich entstanden, und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist meine Braut, meine Braut.“
Ich wusste nicht mehr, was die anderen machten, völlig egal, auf Dodschas Bauch war mein neu entdecktes Paradies und ihr Duft schien mich zu betäuben. Wir blieben lange so zusammen, ich räkelte mich auf ihr, tastete ihren Körper, drückte meine Brust gegen ihre, weil die Empfindungen dann stärker aufwogten. Sie schien das alles schon zu kennen, wahrscheinlich hat sie mitgehört, wenn die älteren Jungen im Haus sich über eben dieses Thema unterhielten und ihre Witze rissen. Sie hielt mich fest, wir waren ein Liebespaar.