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Begegnung mit der Antarktis: Harry plant zum Südpol zu fahren. Die Reise soll den britischen Polarforscher Robert Falcon Scott würdigen, der Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Expedi-tion gegen den norwegischen Konkurrenten Amundsen verlor und sein Leben am südlichsten Punkt des Planeten ließ. Inspiriert von da Vinci, konstruiert Harry besondere Fahrzeuge, sogenannte „Prowler“: Herge-stellt aus echtem Hainbuchenholz seiner Heimatstadt Stauffenburg, sollen sie sich naturnah auf dem Eis und im kalten Wind bewähren. Mit an Bord außer Harrys Frau Peijin sind auch prominente Passagiere: Ein junges royales Paar aus dem Königshaus in Großbritannien soll helfen, die Großtat Scotts zu zelebrieren. Dann ist es Zeit aufzubrechen. Doch wie wird das grandiose Abenteuer ausgehen? Oder war am Ende alles nur geträumt …
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Seitenzahl: 171
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Harry Gaus
Traum vom kalten Wind
Die Reise des Prinzen Ophelios und
seiner Herzogin Phila zum Südpol
Zu Ehren des britischen Nationalhelden
Robert Falcon Scott und seiner Begleiter
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
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Titelbild: James Eades/Unsplash
Lektorat: Dr. Annette Debold
ISBN 978-3-8372-2581-5
Inhaltsverzeichnis
Episode eins
Episode zwei
Prolog
Die Traumreise beginnt ...
Wie konnte ich nur auf diesen fernliegenden Gedanken kommen, mit meiner Frau Peijin und mit diesen jungen Angehörigen eines Königshauses auf Landfahrzeugen über den Eispanzer Antarktikas zum Südpol fahren zu wollen!
Wir waren bisher weit entfernt voneinander durch Herkunft, Sprache, Nation und Status; wäre ein gemeinsames exotisches Abenteuer dieser Art überhaupt vorstellbar?
Ihre Ehrennamen Ophelios, der Hilfreiche, und Phila, die Geliebte, fielen mir spontan schon beim ersten Gedanken an sie ein, und sie blieben bis heute in meinem Kopf.
Es war das zufällige Zusammentreffen zweier Episoden mit den Ereignissen der Gegenwart, das dieser Unternehmung einen tieferen Sinn hätte geben und Aufwand und Anstrengung hierfür hätte rechtfertigen können.
Ich sinnierte über zwei Fahrzeuge, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, um über gleißende Schneeflächen unter der uns umkreisenden Sonne zu fahren, getragen von der Hoffnung, ein Beispiel zu geben für Mut und Zuversicht in einer schwierigen Zeit.
Episode eins
Ein Frühstück an einem schönen Morgen; ich hebe ein duftendes Croissant an den Mund und will gerade einen der Zipfel abbeißen, als meine Frau Peijin sagt: „Wir werden den Kilimandscharo besteigen.“ Sie sagt es korrekt im Futur unserer Sprache, doch ihre Betonung ist apodiktisch, die Tonhöhe schwingt hinauf bis „-mandscharo“, dann fällt sie eine Oktave ab zum Ende hin. Es klingt, als wäre es schon zementierte Vergangenheit und nicht Zukunft; aus einer Vergangenheit gäbe es kein Zurück. Das Verschlucken an dem Croissant kann ich gerade noch abwenden, nehme einen Schluck Tee, auch um Zeit zu gewinnen für meine Erwiderung; mir wird sofort klar, dass ich mich an die Spitze einer Bewegung setzen muss, wenn ich diese nicht aufhalten kann. Ich schwenke meine Tasse zu ihr, wir stoßen an: „Daran habe ich auch schon gedacht“, ist meine beschwichtigende Notlüge; ich möchte nicht abseitsstehen und unterdrücke meine Unsicherheit tapfer.
Es wird eine aufwallende Bewegung in einem fast bürgerlichen Dasein, Studium der Literatur über diesen Berg und seine Historie, Training einen Sommer lang mit Tagesetappen von 1000 Höhenmetern als Backpacker hinauf und wieder herunter; die Angst vor dem eigenem Mut lässt nach, die Zuversicht steigt von Mal zu Mal. Dann im Herbst folgt der Aufbruch nach Tansania, nein, es gibt kein Zurück mehr. Meine Frau hat sich perfekt ausstaffiert, nicht in Kaki und mit Tropenhelm wie zur Zeit unserer Kaiser, sondern mit feinster Funktionskleidung der angesagten Outdoor-Marken.
Der Aufstieg auf der Marangu-Route führt durch einen breiten Gürtel von Regenwald mit Äffchen in den Bäumen, hühnerartigen Bodenvögeln auf dem Pfad, geheimnisvollen Geräuschen um uns herum, entlang und über tosende Bäche hinweg sowie an überwachsenen Felsformationen vorbei, vielleicht uralte Auswürfe des Kibo oder seines Nebenschlotes Mawenzi.
Im feuchten, warmen Regenwald rinnt der Schweiß, obgleich das schwere Gepäck obligatorisch von Trägern hinaufgeschleppt wird.
Der Regenwald endet abrupt, und es beginnt ein lockerer Trockenwald mit vereinzelten Grasflächen. Hier setzt ein anderes Klima ein, es beginnt kalt und windig zu werden, und es wäre nun angebracht, sich rasch abzutrocknen und wärmer anzuziehen. Ich nehme es wieder einmal zu leicht und bekomme nachts in der recht zugigen Hütte Mandara Hut die erste Rechnung: Ich werde nicht warm und zittere die ganze Nacht, ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird.
Am nächsten Morgen führt die Route durch die letzten Waldflächen und an nie zuvor gesehener Vegetation vorbei zu den Horombo Huts in fast 4000 m Höhe. Hier folgt ein Ruhetag, um Wanderern, schon leicht angeschlagen so wie ich, Akklimatisation oder Erholung zu ermöglichen. Die Tüchtigsten der Gruppe, darunter meine Frau, nutzen den Tag zur Erkundung des Zebra Rock, noch einmal 330 m höher, während ich versuche, meinen leichten Atem und einen mühelos wirkenden Gang zurückzugewinnen; es gelingt mir nur unvollkommen.
Nach einer unruhigen Nacht, starkem Wind und Regen draußen starten wir zur letzten der Hütten, Kibo Hut; der Name ist ein Hinweis auf die Nähe des Zieles Kibo, des großen Kraters in fast 6000 m Höhe mit seinem unaufhaltsam dahinschmelzenden Gletscher.
Zuerst geht es über den flachen Sattel zwischen Mawenzi und Kibo, leicht zu bewältigen, doch dann steil hinauf über enge Serpentinen zu den Hütten.
Hier beginnt nach dem Abendessen die Vorbereitung auf den ersehnten und zugleich gefürchteten Gipfelsturm kurz nach Mitternacht, um noch vor dem Auftauen der Piste auf dem Rückweg vom Gipfel zu sein. Der Regen vom Vortag hat aufgehört, der Himmel ist sternenklar und der Vollmond steht fast im Zenit als Wegweiser über uns, die Lavasteine glitzern und funkeln; wir gehen ohne Headlights über den schmalen Pfad, unsere Augen haben sich an den Mondschein adaptiert. Wir kommen an den Kamin des Kibo; die Steigung nimmt zu, die Serpentinen werden eng, die Luft ist dünn und eisig, das mitgenommene Trinkwasser gefriert in den Flaschen in Form eines Hohlzylinders mit einem flüssigen Rest im Zentrum. Die isolierende Hülle der Flasche hilft, kann das Einfrieren auf Dauer aber nicht verhindern. Ich fühle mich sehr schwach. Die extrem trockene kalte Luft führt zum Wasserverlust, den ich durch Trinken zu ersetzen hoffe; doch mein Organismus hat auf Alarm umgeschaltet, ich schwitze und friere zugleich; verliere also Wasser, nachdem es Körpertemperatur angenommen hat, und muss danach eisiges Wasser nachtrinken. So verliere ich trotz der Anstrengung auch an Körperwärme, und der Mangel an Sauerstoff, nur noch 50 % des normalen Partialdrucks, reduziert offenbar meinen Stoffwechsel; für solche Bedingungen bin ich wohl nicht geboren, ich spüre das nahende Ende dieses Abenteuers für mich, signalisiere meiner Frau, die vor mir keucht, meine Kapitulation, was sie erschreckt. Doch ich nehme meine ganz neue Bergsteigeruhr vom Handgelenk, halte sie ihr entgegen: „Ich bin am Ende, aber du solltest mit deinem Guide weitergehen; du wirst durchhalten, das Schwierigste hast du hinter dir, bald kommt der Kraterrand, und es wird flacher; wir sehen uns übermorgen in der Lodge, ich wünsche dir viel Glück!“ Nur wenige Worte bringe ich zwischen zwei Atemzügen heraus. Doch sie ist erleichtert, weiterkämpfen zu dürfen; dieser berühmte Berg war ihr selbst gesetzter Prüfstein, offensichtlich hängt für sie viel mehr daran als für mich. Im langsam verblassenden Mondlicht sehe ich sie weiter hochsteigen, ein Atemzug pro Schritt, oft auf allen vieren, wenn ein Fuß auf dem körnigen Boden zurückrutschte. Sie verschwindet hinter großen Lavabrocken, taucht wieder auf; ich sehe ihr lange nach.
Mit ihrer Gazellenfigur, den 44 kg Lebendgewicht und viel jünger als ich, hatte sie mich in die zweite Reihe gestellt; ich gönne es ihr, und dennoch ...
Ich falle in eine heftige Depression, kämpfe gegen Tränen; eine Begebenheit aus meiner Kindheit taucht plötzlich aus der Erinnerung auf:
Meine älteren Schwestern erzählten mir als Fünfjährigem von dem benachbarten großen Dorf, das mir nach einem flüchtigen Besuch wie eine große Stadt erschien. Dort gäbe es die ganze Nacht beleuchtete Straßen, Schaufenster mit verlockenden Auslagen, asphaltierte Straßen ohne Schmutz, herrschaftliche Häuser mit Wasserhähnen darin; so erzählten sie. Wir lebten in einem ganz kleinen Ort mit nur wenigen Menschen, nur wenigen Straßen, eher Wegen mit Schotter als Belag und nach einem Regen mit Matsch bedeckt sowie nach dem Abtrieb der Kühe von den Wiesen kaum noch begehbar.
Diesen verheißungsvollen benachbarten Ort wollte auch ich sehen und bettelte: „Nehmt mich mit, ich will mit.“
Doch sie antworteten: „Du bist noch zu klein, du kannst den weiten Weg nicht gehen, außerdem treffen wir dort andere Mädchen, mit denen wir befreundet sind, du musst hier bleiben.“
Da half kein Betteln und Weinen, mit meinem Weltschmerz blieb ich allein zurück.
Damals war noch Hoffnung, größer zu werden und diese Wunderwelt doch noch zu erkunden und dazuzugehören; doch jetzt am Kibo, so nahe dem Uhuru Peak, war ich für immer gescheitert.
Als meine Frau triumphierend zurückkam, mit Gipfelfoto und Urkunde, küsste und herzte ich sie lange, und es gab in der Lodge teuren Champagner. Immer wieder riss sie ihre Fäustchen in die Höhe; sie hatte sich behauptet entgegen den Prognosen ihrer Kolleginnen, die offen bezweifelten, dass dieses zarte Persönchen zu solchen Taten fähig sei.
Dann ergriff sie der Übermut, wohl auch vom Champagner gezwickt, ihr nächstes Ziel sei die Besteigung des – ich erschrak – Mount Everest.
Den Rest des Urlaubs hatte ich also zu denken, wohin das Schicksal sie und mich noch führen möge oder wo mein Ausweg aus neuer, zu erwartender Niederlage oder gar Demütigung sei.
Auf dem Heimflug und nach längerem Grübeln hatte ich meinen Fluchtweg fertig gedacht:
„Wir fahren zusammen zum Südpol, vollkommen autark, ohne Depots und fremde Hilfe, einer fährt, einer schläft, immer im Wechsel; so schaffen wir das!“
Episode zwei
Die zweite Episode dieser Geschichte ist weitaus dramatischer und endete in einer Katastrophe.
Robert Falcon Scott, ein Captain der Königlich Britischen Marine war vor 108 Jahren auf seiner ersten Expedition zum Südpol. Bereits im August 1902 war er mit seinem Schiff „Discovery“ im McMurdo Sound erstmals angekommen, hatte sein Lager bei „Hut Point“ aufgebaut, war über die turmhohe Eisbarriere gestiegen und nach Süden aufgebrochen. Mit seinen Begleitern Dr. Edward Wilson und Ernest Shackleton und seiner Hundemeute zog er über das endlose, nahezu ebene Ross Ice Shelf. Sein Hilfsteam hatte Depots angelegt, um seine Rückkehr abzusichern. So erreichten sie bald einen südlichsten Ort, den zuvor noch nie ein Mensch betreten hatte.
Doch dann begann sich das Schicksal gegen sie zu wenden; die Schlittenhunde wurden krank durch verdorbenen Fisch und starben einer nach dem anderen. Danach griffen Krankheit und Überlastung auf sie über; sie litten an Schneeblindheit, Schmerzen am ganzen Körper und zuletzt an Skorbut, einer heute vergessenen tödlichen Krankheit, die durch Mangel an Vitamin C ausgelöst wird.
Besonders schwer hatte es Shackleton getroffen, der zuletzt am „man-hauling“, dem Ziehen der Schlitten mit eigener Kraft nach dem Tod aller ihrer Huskys, nicht mehr teilnehmen konnte.
Man kehrte bei Position 82 Grad, 16 Minuten Süd um und erreichte glücklich das Lager „Hut Point“; wieder „daheim“, alle wohlauf, aber alle Schlittenhunde waren verloren.
Doch nun, im Januar 1911, musste der Traum von der Eroberung des geografischen Südpols endlich wahr werden. Scott hatte von seiner ersten Expedition und denen seiner Vorgänger Borchgrevink und „seinem“ Ernest Shackleton gelernt. Sein neues Schiff, die „Terra Nova“, war mit Material und Proviant geradezu überfrachtet. Er sah sich zu Recht vom Schicksal berufen, der Erste dort zu sein, denn er hatte die größte Erfahrung mit den antarktischen Bedingungen und Gefahren und spürte am McMurdo Sound schon Heimatgefühle, es war sein Terrain. Sein Begleiter und zwischenzeitlicher Rivale Shackleton hatte Teile der späteren Route entdeckt, das Transantarktische Gebirge mit seinen Gletschern, die man überwinden musste, und die gewaltige Hochebene südwestlich davon, die sich vermutlich bis zum Pol erstreckte. Doch Shackleton war 1907 klug genug, 97 Winkelminuten, also 180 km vor dem Ziel umzukehren, sich mit seinem Erfolg zu bescheiden und einem anderen den endgültigen Triumph zu überlassen.
Nach seinen eigenen Schwierigkeiten mit Schlittenhunden und denen Shackletons mit mandschurischen Ponys sowie einem Automobil jener Zeit ersann Scott eine geradezu modern anmutende Strategie für sein ‚forwarding‘. Heute würde man es „serielle Redundanz mit kalkulierten Rückfallebenen“ nennen.
Hinter dieser sehr technokratisch klingenden Bezeichnung verbirgt sich die Erkenntnis, dass ein Plan eventuell nicht aufginge und deshalb Verzweigungen B und C etc. von Anfang an in die Planung einzuarbeiten wären.
Sein plötzlich in Erscheinung tretender Rivale Roald Amundsen hatte dagegen einen Plan „Parallel-Redundanz“, das ist eine Staffelung gleichartiger Systeme, in diesem Fall Hundeschlitten und Hunde in Überzahl, die man bei Ausfällen einfach ersetzen konnte, ohne sich auf eine andere Technik umstellen zu müssen.
Scott wurde sich schon nach Kurzem bewusst, wo die Schwierigkeiten seiner Strategie lägen: Er hatte nicht die Zeit, alle vorgesehenen Techniken ausgiebig zu testen und den Umgang mit ihnen zu trainieren; dazu saßen ihm zu viele Wettbewerber um die Trophäe im Nacken. Zudem war man im stolzen und selbstbewussten England abgeneigt, sich wie Inuit oder Grönländer zu geben und mit Huskys zu reisen; man stütze sich stattdessen ,wie einer frühen Industrienation angemessen, auf Verbrennungsmotor, Kohle, Öl und Stahl.
Demzufolge hatte Scott als seine Hoffnung einen neuartigen Motorschlepper mit Gleisketten statt Rädern mitgebracht, Gleisketten, die sich vor dem Fahrzeug als stabile Bahn abspulten und hinter dem Fahrzeug als Endlosschleife wieder aufgenommen und nach vorn transportiert wurden. Eine Fahrmaschine, die sich weder durch Tiefschnee, blankes Eis oder starke Steigungen aufhalten ließe.
Doch seine Zweifel zeigten sich darin, dass er zusätzlich Ponys, also Pferde entsprechend der Mentalität und Vorliebe seiner Nation, und dann doch noch Schlittenhunde und Skier mitnahm, so wie die von ihm weniger geschätzten Nordmänner. Zuletzt, wenn all dies nicht erfolgreich wäre, bliebe ihm noch das „man-hauling“, das schreckliche Ächzen im Schnee, das er und seine Begleiter auf ihrer ersten Reise bereits hinreichend geschmeckt hatten. Doch gerade diese Tortur auf dem Eis, das Hungern und das Erfrieren der Zehen, Krankheiten wie Skorbut, standen in dieser Zeit als die Insignien wahren Heldentums.
Die Entfernung zum Pol kannte man sehr genau durch astronomische Messungen; doch die Art des Weges dorthin war unbekannt. So stand man vor einer Rechnung mit vielen Variablen: Wie viel Materialien, Nahrung sowie Petroleum zu deren Zubereitung sollte man mitnehmen, wenn andererseits das Transportgewicht für den schlimmsten Fall, das Ziehen im Gurt, zu bemessen war? Dieses Problem einer Optimierung für unbekannte Ereignisse der Zukunft war seit Menschengedenken bekannt; es wurde durch Vorerfahrungen, soweit vorhanden, abgemildert, dennoch blieb es stets mit Risiken behaftet. Der allen Expeditionen innewohnende Optimismus, eine Triebfeder unserer Spezies, führte aber regelmäßig zur Unterschätzung widriger Ereignisse und damit zu Hunger und Durst, Krankheit, Erfrierungen oder Überlastungen bis zur Erschöpfung.
Als Robert Scott von der heimlichen Landung des Norwegers Roald Amundsen erfuhr, war ihm auch noch die Variable „Zeit“ genommen und sein Start auf ein „as soon as possible“ festgelegt. Er wäre schon beim Start gegenüber Amundsen um 60 Winkelminuten (111 km) im Rückstand, da dieser in dem von Ross entdeckten und von Shackleton „Bucht der Wale“ getauften, weiter östlich gelegenen natürlichen Hafenbecken seine eisgängige „Fram“ festgemacht hatte.
Scott hatte schon zu Beginn des Jahres 1911, im antarktischen Hochsommer, mit dem Aufbau seines Winterlagers am Cape Evans auf der Ross-Insel begonnen. Bei der Entladung seiner schweren Motorschlitten brach einer davon durch das bereits geschwächte Meereis und verschwand für immer in der Tiefe. So hatte er noch zwei davon, um die Depots auf dem Schelfeis, auch möglichst nahe an dem ihm schon vertrauten Gebirge im Südwesten anzulegen, nahe auch am Beardmore-Gletscher, den sein einstiger Rivale Shackleton entdeckt, getauft und überwunden hatte.
Man begann im späten antarktischen Sommer oder frühen Herbst die Depots für den kommenden langen Marsch zum Pol anzulegen; die Motorschlitten erwiesen sich als anfällig und daher wenig hilfreich; die Ponys waren viel schwächer und langsamer als angenommen. Deshalb wurde das letzte Depot nicht so weit nach Süden verlegt wie ursprünglich geplant; von dort bis zum Pol und von diesem zurück waren es erschreckende 1200 km.
Doch nun hatte man den langen antarktischen Winter zu überstehen, weitere Planungen auszuführen, Material zu verbessern, sich die Zeit ohne Tageslicht zu vertreiben mit Briefeschreiben, Lesen, Plaudern, Spielen und auch mit Pflegen und Füttern der Hunde und der Ponys.
Ende Oktober, Anfang November 1911 kam der Aufbruch; zuerst mit den verbliebenen Motorschlitten, dann mit den Kolonnen der Ponys. Man kam schlecht voran; die Motorschlitten hatten viele Mängel und fielen nach kurzer Distanz aus; das Wetter war unerträglich. Als sie am Fuße des Transantarktischen Gebirges ankamen, erwartete sie ein ungewöhnlich warmer Fallwind vom Polar-Plateau, der Mengen von feuchtem Schnee die Hänge heruntertrieb, der sich dann in den Leegebieten der Landschaft ablagerte; dort mussten sie hindurch, bevor der von Shackleton beschriebene Beardmore-Gletscher erreicht war. Shackleton hatte die gewaltigen Ausmaße des Gletschers beschrieben, jedoch wenig über die übermenschliche Anstrengung, ihn zu überwinden.
Scott musste seine Pläne ständig an neue Situationen anpassen und geriet dadurch von der einen überwundenen Schwierigkeit in eine andere. Die schlechte Sicht und die Mengen von Schnee nahmen ihm Stunden und Tage weg, das Futter und die Nahrung wurden knapp; er beschloss, Ponys noch vor der geplanten Position zu schlachten und als Frischfleisch, auch gegen den drohenden Skorbut zu verwenden.
Die Gruppe mit den Hunden war planmäßig am Fuße des Gletschers umgekehrt, das „man-hauling“ begann früher als geplant. Mühsam schleppten sie sich und ihre Schlitten über 2500 Höhenmeter hinauf auf die zentrale Hochebene, dann über 520 km bis zum Pol. Dort entdeckten sie, wie infolge des großen Zeitverlustes befürchtet, die norwegische Flagge über einem kleinen Zelt: Amundsen war schon mehrere Wochen zuvor angekommen und war jetzt auf dem Rückweg.
Waren sie auf ihrer Reise zum Pol noch von der Hoffnung auf den Triumph getragen, so war nach dem Anblick der norwegischen Flagge diese stärkste Kraft, die sie antrieb, zerbrochen. Scott sprach von einem schrecklichen Ort; kein Ort mehr der Sehnsüchte, sondern trostlos und bedrohlich. Es war die schlechteste Voraussetzung, den Rückweg zu bewältigen; die Unternehmung hatte ihren Sinn verloren, ihr Dasein schien den Männern auf einmal leer.
Und das Wetter war weiterhin gegen sie, Sturm von vorn, eisige Temperatur, schlechte Sicht, Schneeblindheit; man war am Verzweifeln. Scott beklagte sich in seinen Aufzeichnungen, dieser Kontinent habe sich gegen ihn und seine Begleiter entschieden. Sie litten mehr und mehr an Nahrungsmangel, an zu wenig Petroleum, um im Zelt etwas Wärme zu erzeugen, an Erfrierungen, da der Sommer nun rasant seinem Ende zuging, an Schwächeanfällen.
Am Beardmore-Gletscher wieder angekommen, starb Edgar Evans nach einem Sturz in eine Gletscherspalte, schon zuvor schwer krank und geschwächt. Lawrence Edward Oates, ebenfalls schwer erkrankt und mit erfrorenen Füßen, ließ sich außerhalb des Zeltes erfrieren, um seinen Gefährten ihren Überlebenskampf nicht noch zu erschweren.
Die bis dahin überlebenden Scott, Wilson und Bowers marschierten mühsam weiter und kamen an das lebensrettende nächstgelegene Depot bis auf 11 Winkelminuten, etwa 20 km heran, als ihre Kräfte endgültig versagten. Sie errichteten zum letzten Mal ein Zelt, Robert Scott schrieb seine Abschiedsworte, allen war bewusst, dass nun ihre Zeit unwiderruflich zu Ende sei.
Als ein Suchtrupp sie im nächsten Frühjahr fand, schien es, dass sie gefasst und ohne weiteren Kampf sich dem Unausweichlichen ergeben hatten.
Auf ihrem Schlitten fand man Steine mit Fossilien darin, ein wissenschaftlicher Schatz, den wahrscheinlich der Gelehrte Dr. Edward Wilson bis zu seinem drohenden Ende nicht zurücklassen wollte.
Wo die sterblichen Körper dieser Helden sich heute befinden, ist nicht bekannt; sicher ist aber, dass sie im Eis eingeschlossen mit diesem driften, nach langer Zeit in abbrechenden Eisbergen in das Rossmeer stürzen und dann im Kreislauf des Lebens zurück sein werden.
Prolog
Das Schicksal des Robert Falcon Scott und seiner vier Begleiter hatte mich schon in jungen Jahren tief berührt. Nun ist die Erinnerung daran wieder wach; ich habe eine Assoziation zu meinem Missgeschick an diesem erloschenen Vulkan Kibo. Doch ein Vergleich wäre unangemessen; Scott und seine Begleiter verloren nicht nur ihren Traum von unsterblichem Ruhm durch eine heroische Erstleistung, sondern auch ihr irdisches Leben.
Dennoch stiegen sie für ihre Nation und die restliche Welt von Forschern oder auch Abenteurern gerechterweise zu Helden auf.
Meinerseits entstand allenfalls eine Kränkung an diesem Berg, vielleicht auch Angst vor heimlichem Kichern meiner Frau, die mir die Führerschaft entrissen hatte; auch die Furcht, dass ich im raschen Fluss meiner Eigenzeit, einsam wie auf einer Eisscholle sitzend, zurückbleibe und abdrifte.
Dieser Ausgang unserer Expedition zum Kibo rumorte lange in mir, ich schlief schlecht; Peijins kesse Ankündigung, auf den Mount Everest steigen zu wollen, brachte wieder mein Schwächegefühl an diesem steilen Kamin zurück, Nachklang meiner damaligen Enttäuschung und Ernüchterung so kurz vor dem Ziel.