Abenteuer im Diesseits - Harry Gaus - E-Book

Abenteuer im Diesseits E-Book

Harry Gaus

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Beschreibung

Zweiter Weltkrieg, Abfahrt nach nirgendwo. Die Karawane der Flüchtlinge aus der Ukraine zieht in Viehwaggons Richtung Harz. Harry, Kind früherer deutscher Zuwanderer, ist keine drei Jahre alt. Dann das Kriegsende. Nahe Goslar folgt eine sorglose Zeit für die Flüchtlinge aus dem Osten, eine Gutmachung für die Entbehrungen der verlorenen Jahre. Später genießt Harry als Student in Göttingen die Lebensfreude. In der freien Wirtschaft ist er international erfolgreich, verliebt sich und heiratet. Doch die uralten Ängste und Zweifel der Ereignisse von damals aus seiner Kindheit kehren immer wieder zurück. Ist Harry der Realität gewachsen? Auf dem Weg zum Weltenbürger schleicht sich das Unheil an, scheint der Lebenstraum beendet. Harry zieht Bilanz seines wechselvollen Lebens …

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Harry Gaus

Abenteuer im Diesseits

or meinem ersten bis

nach meinem letzten Atemzug

Biographischer Roman

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2022 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE GMBH

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

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Titelbild: Bellinon/Pixabay

Lektorat: Dr. Annette Debold

ISBN 978-3-8372-2634-8

Inhaltsverzeichnis

Mein amtlicher Start in Nowoselennaja, Ukraine

Mein amtliches Ende irgendwo und irgendwann

Ich bin ein Unbekannter und werde es für immer bleiben; doch ich habe mein Leben empfangen und lebe es noch jetzt mit seinen Freuden und seinen Schmerzen, eine Auszeichnung für mich gegenüber der Mehrheit, die es nicht empfing, deren Eizellen keine Starterlaubnis erhielten, obgleich in ihnen ein Leben mit allen großen Erwartungen und verflochtenen Wegen vorbereitet war, jedenfalls zur Hälfte, haploid, sagt die Wissenschaft, das bedeutet, in verschiedenen Menschen je zur Hälfte bereitgehalten, die jedoch nicht zueinanderfanden oder finden wollten, um ein neues Leben zu entfachen.

Doch auch ein nicht oder noch nicht Geborener wird sich unendlich nach seinem Leben gesehnt haben, möge es auch voller Schmerz und Enttäuschung werden; denn an seinem Anfang stünde eine unfassbare Hoffnung auf dieses Leben, auf mehr und mehr davon.

Bin denn ich berechtigt oder gefordert, mein Leben zu erwähnen oder gar zu schildern, wenn uns schon die Prominenten verschütten und ersticken mit ihren Erinnerungen und ihrer wortreich nachpolierten Bedeutung; uns zwingen, ehrfurchtsvoll zu lauschen und Notizen für unser eigenes Leben zu machen, Lehren anzunehmen für unsere Existenz viele Stufen unterhalb dieser Exzellenten und Erhabenen. Man möge mir verzeihen, mich als gleichrangig zu dünken; meine Rechtfertigung fußt auf Erkenntnissen über das Universelle, das Allumfassende, wogegen ausnahmslos wir alle nur verlorene Kriställchen im endlosen leeren Raum sind.

Seltsame Gedanken erscheinen in den späteren Lebensjahren, vor denen man die Scheu überwinden sollte, vielleicht ist es Einsicht in Wahres, vielleicht auch nur befreite Fantasie.

Die moderne Kosmologie wertet mein Leben unerwartet auf; eine der Deutungen des Universums führt auf den Gedanken des Multiversums, also auf eine Gesamtheit von unendlich vielen abgeschlossenen Universen, in denen verschiedene Naturgesetze gelten, viele davon so beschaffen, dass Leben in ihnen denkbar ist. Eine feinsinnige mathematische Betrachtung des Begriffes „unendlich“ nährt den Gedanken über eine „Mächtigkeit“ oder „Kardinalität“ des Unendlichen, also eine Staffelung von Unendlichkeiten nach deren Größe trotz allgemeiner Grenzenlosigkeit derselben. Schließlich mündet die überwältigende Gedankenkraft mathematisch durchdrungener Erdenbürger in die Vermutung, dass jedes beobachtbare Ereignis zumindest abzählbar unendlich oft im gesamten Multiversum auftreten müsse und somit auch ich in aller meiner Bescheidenheit nicht allein hier existierte, sondern ein bedeutender Bestandteil des wahren Universums sei, außerhalb und oberhalb der Endlichkeit: Ich bin demnach eine Unendlichkeit, der erwähnten Prominenz zumindest gleichgestellt, diese kann mich nicht in Marginalität zwingen, wer kann meine Verdienste und Großartigkeit in anderen Universen ermessen; Stephen Hawking sei mein Zeuge.

Diese Erkenntnis der Wissenschaft mit ihren glänzenden Persönlichkeiten verleiht mir also das Recht, mich selbst als wichtig zu erachten, von kosmischer Bedeutung, dazu berufen, mein Leben und meine Gedanken allgemein kundzutun, die Menschheit zum Denken und Verstehen aufzurufen, ihr vielleicht die Augen zu öffnen.

Ich meinerseits wäre bereit, mir das zweite öffnen zu lassen, nachdem manche vermerkten, ich sei ein Einäugiger unter Blinden.

Falls diese Einführung nicht allzu abschreckend war: Ich denke und erinnere mich nun verständlicher weiter bis zu meinem bittersüßen Ende.

Mein amtlicher Start in Nowoselennaja, Ukraine

Mutter hatte schon zweimal geworfen, wie es die derbe Bauerngesellschaft respektlos bezeichnete, und war erneut in der Küche in unserem Häuschen aus Lehm gebettet, wieder ein Kind zu entlassen in die ukrainische Steppe. Anwesend waren ihre Mutter Maria und ihre Schwester, ebenso Maria genannt, und dazu eine bewährte Geburtshelferin, die schon das halbe Dorf, den jüngeren Teil hiervon, an das Tageslicht gezerrt hatte.

Den Inhalt eines schwangeren Bauches konnte man damals nicht sicher vorhersagen; man erwartete nach den alten Regeln aber diesmal einen Jungen nach den zwei Mädchen, für eine mit Hand und Pferd arbeitende arme Gemeinschaft eine willkommene weitere Arbeitskraft, wenn auch vorläufig nur ein weiteres Investment in einen hungrigen Rachen.

Mutters Wehen waren nur kurz und nicht so heftig wie zuvor bei den Schwestern, dafür erstaunte und enttäuschte Augen der kleinen Versammlung, als das bescheidene Menschlein dalag und schrie, aber nicht so kräftig wie die Schwestern zuvor.

Das Neugeborene war zweifellos ein Junge, aber unerwartet klein und mit sehr zarten Armen und Beinen, nicht das, was man von einer pflichtbewussten Bäuerin erwartete. Tante Maria brach in schreiendes Lachen aus; sie hatte nacheinander ihre Achtpfünder herausgequetscht, dazu waren alle deutlich über dreiundfünfzig Zentimeter lang, feldarbeitstaugliche Nachkommen, drei männlich und zwei weiblich, und sie habe vor, die Bolle bald wieder zu spreizen, noch mehr von dieser Sorte zu zeugen; ihr Mann habe ja nicht umsonst den bedeutungsvollen Namen Schnell, also allzeit bereit.

Als die böse Tante auch noch ausrief: „Mande hat e Zwerchel ausg’schisse“, und sich diese Nachricht mit Schallgeschwindigkeit im Dorf verbreitete, war Mutter Amanda Christine sehr betrübt; nur ihr Vater, mein Großvater, fand tröstende Worte: „Der wird einmal ein großer Mann werden.“

Auf jeden Fall wurde meine Geburt amtlich anerkannt, im Register der Gemeinde und auch im Kirchenbuch eingetragen, Harry, also der kleine Johann, Name des Vaters.

In dieser Zeit des schrecklichen Hungers dort am Schwarzen Meer, nachdem Väterchen Stalin die Bauern enteignet hatte, waren Hunger-Embryonen nicht selten, gerade deshalb war „groß“ gleichbedeutend mit schwer und stark, eine Verbindung mit Klugheit war abwegig, da diese bei der Knochenarbeit auf den Feldern nicht helfen könne, nicht einmal, die Kartoffeln aus der schwarzen Erde zu klauben. Zudem erscheine Klugheit recht spät und bringe ihre Früchte noch viel später; eine Investition in ein riskantes Geschäft, nur für Durable und Geduldige oder Begüterte zu empfehlen; was also mag Großvater mit dem Wort „groß“ gemeint haben?

Auch die gebildeten Hugenotten, von denen einige in diesen Dörfern lebten und den strohdummen Zuwanderern aus deutschem Vaterland, darunter meinen Vorfahren, wenigstens etwas Weltkenntnis vermittelten, hatten die Lehre ihres René Descartes verstanden und eingesehen, dass kluge Gedanken weder einen Zaubertrank herstellen noch den Hunger stillen konnten; Descartes hatte die gottgegebene Barriere zwischen Wunsch und Sein, zwischen Erdachtem und Realem, entdeckt und verkündet.

Dieser Makel, klein und schwach erschienen und geblieben zu sein, sollte fast zwei Jahrzehnte an mir haften, meine spätere Umgebung konnte nicht oder wollte nicht verstehen, wozu man so lange zur Schule und dann auch noch auf die Universität gehen müsse, wenn doch die Tüchtigsten mit vierzehn die Schule verließen, eine Arbeit oder Lehre annahmen, dann ein Mädchen schwängerten und folgerichtig vor den Traualtar traten, im Einklang mit Sitte, Kultur, Moral und Recht.

Der holprige, zögerliche Start in mein Leben kann auf zweierlei Art Erklärung finden: Erstens, ich könnte ein stark fehlerhaftes Exemplar sein, oder Zweitens, meine frühe Umgebung wäre recht suboptimal gewesen, sowohl räumlich als auch zeitlich eingeordnet. Warum musste ich ausgerechnet in der Frontlinie von berittenen Kosaken und verarmten Bauern in das Licht kriechen und nicht in einer Stadt mit Kunst und Wissenschaft, oder gar in einem Palast, in dem ich als kleiner Kerl von klugen und pflichtbewussten Lehrern früh gefördert und ermutigt worden wäre, anstatt mich mit Häme zu übergießen, weil ich nicht so rasch wüchse, wie es die Bauern von ihren Ferkeln erwarteten?

„Der frisst den anderen das Brot weg und wird nichts, der Verreckling“, sagte Tante Maria oft und wies auf ihren jüngsten Sohn Rudolf hin, ein Riese im Vergleich, ihr Stolz.

Im Falle von Ferkeln hatten die Bauern ein einfaches Konzept: Warf die Sau mehr Ferkel, als sie ausgebildete Zitzen hatte, wurde der Überschuss an Schweinchen der Größe nach aussortiert und ertränkt. Bei Kindern war das nicht üblich; auch einen Felsen der Tränen gab es in diesem flachen Land nicht.

So durfte ich an den Zitzen meiner Mutter saugen, die selbst in dieser jammervollen Zeit für mich noch hinreichende Nahrung hergaben, welche ihrem abgemagerten Körper vorenthalten blieb. Alle Kleinkinder wurden so lange wie möglich von den Müttern ernährt, da spezielle Babynahrung noch unbekannt war; man hätte sie auch nicht bezahlen können; die Mütter produzierten sie als natürliche Nebenbeschäftigung während ihrer harten Arbeit auf dem Feld oder in den Ställen.

Meine drei Schwestern, die Eltern und ich lebten in diesem Häuschen, in ständiger Angst vor dem Hunger und der Rechtlosigkeit, den permanenten Bespitzelungen durch die Polizei und ihrer rücksichtslosen Gewalt.

Die Mutter war zuständig für die Zucht von Seidenraupen in einer Scheune, pflegte und ernährte sie mit den Blättern der Maulbeerbäume, gewann die begehrte Seide nach dem Verpuppen der Tiere und rechtzeitig vor dem Schlüpfen ihrer Schmetterlinge, haspelte die Seide auf Rollen und lieferte sie an das staatliche Kontor.

Der Vater war angesehen als Tierarzt, weil er den Bauern helfen konnte in den vielen Fällen von Krankheit ihrer Pferde, Kühe und Hunde; die gesamte Biosphäre dort war überlastet, unterernährt und krank; ebenso krank und verhärtet war das Gesellschaftssystem durch Ungleichheit, Rassismus, Rechtlosigkeit, Utopien der Bolschewiki und nicht zu vergessen durch eine orthodoxe, menschenverachtende Religion, die den Verzweifelten auch noch die Hoffnung auf ein glücklicheres Jenseits nahm.

Unser Haus war denkbar klein, stand auf gestampftem Lehm, war errichtet aus Fachwerk und Füllungen von Lehm mit gehäckseltem Stroh; im Hauptraum stand der traditionelle Tunnelofen mit einigen Zierkacheln und dem Liegeplatz oben, um den die Kinder und die Katze im Winter rangelten; dann gab es im hinteren Teil eine kleine Küche mit Wasserfass und einem schmalen Bett, das nur fürs Kinderkriegen dort aufgestellt war, und daneben ein Schlafzimmer mit zwei strohgepolsterten Betten für alle. Vor Feiertagen wurde der Lehmfußboden mit feinem Sand bestreut; in fernen Ländern, in denen Menschen noch heute so leben, empfinde ich immer Heimatgefühle, ja, auch ich bin so in diesem unbegreiflichen Universum zwischengelandet.

Die Sommer in dieser Gegend waren oft unerträglich heiß und trocken, die Winter bitterkalt und stürmisch infolge der flachen Landschaft und der Nähe zum Schwarzen Meer. Um nicht zu erfrieren, wurden die Außenwände bis unter die Fenster im Herbst rechtzeitig mit Stroh, vermengt mit Pferdemist, abgedeckt; Gärprozesse und gefrierende Feuchtigkeit in diesem Schutzpanzer erzeugten etwas Wärme, sodass die Wände innen nicht immer Eiskristalle trugen.

Der Tunnel- oder Kachelofen wurde mit einem Bund Stroh angefeuert, und nach einem kurzen rauschenden Lodern im Inneren war etwas Wärme im Gestein gespeichert, und alle versammelten sich auf und um den Ofen herum. Auch die im Winter geborenen Schweinchen wurden hereingenommen, um sie vor dem Erfrieren zu schützen.

Der Vater hatte ein paar Möbelstücke anschaffen können, vor allem ein Buffet, ein Küchenschrank mit Glastüren im Aufsatz, der Stolz der Armen. Elektrischen Strom gab es im Dorf nicht; doch man konnte Radio hören mit einem Detektor-Empfänger und Kopfhörern; die Betriebsenergie kam also durch die Luft vom Rundfunksender in Sappiroschschia. So konnte man politische Propaganda hören, auch die Stimme des Josef Stalin und manchmal die Gesänge der Donkosaken, „Kalinka, kalinka moja“.

Man hätte sein Leben hier durchstehen können; doch es war Krieg, „Unternehmen Barbarossa“ war in vollem Gang, und die Deutschen wollten „gen Ostland reiten“, wie in einem missbrauchten alten Volkslied besungen, beginnend an meinem ersten Geburtstag, äußerst ungelegen für mich.

Deutsche Soldaten trafen bald ein, überrascht, deutsch klingende Worte hier zu hören, und sie zogen mit ihren Panzern weiter nach Osten bis zu ihrem Untergang an der Wolga. Die zerschossenen Reste, die bald wieder erschienen, rieten dringend zur Flucht Richtung Westen; doch es war kalter Winter, im Februar 1943.

Abfahrt nach nirgendwo, Geschrei und Fluchen in der Nacht, Pferde waren vor Wagen gespannt, Menschen hasteten umher, Decken und Mäntel wurden auf die Wagen geworfen, Koffer mit Kleidungsstücken und spärlichen Vorräten, dazu Kinder, die zwischen schrägen Wagenwänden und Gegenständen eingeklemmt wurden; Alte und Gebrechliche standen hilflos herum, dazu das Gebrüll eines großen Kerls mit Reithosen, Stiefeln und einer Offiziersmütze: „Frauen und Kinder zuerst, weg mit den Klamotten, das kommt alles nach!“

Mein Vater hatte voller Verzweiflung die Scheiben des schönen Küchenschrankes eingeschlagen, eine Handlung von Hilflosigkeit und Verzweiflung; ich stand mit meinen weniger als drei Jahren fassungslos dabei, alles unbegreiflich für mich und heute noch immer als Bildfragmente in meinem Kopf.

Dann schnaubten die Pferde, es ging vorwärts durch den Schnee, mein noch nicht einjähriges Schwesterchen neben mir, die beiden Älteren weiter vorn; ich fühlte mich eingeklemmt, konnte aber atmen; Vater vorn neben dem Pferd, Mutter folgte dem Wagen zu Fuß.

Immer wieder kam es zu Stockungen, lautem Geschrei, was da vorne los sei, warum es nicht weiterginge; es waren verängstigte Pferde, verängstigte Menschen, gebrochene Räder, gerissene Gurte, im Tiefschnee stecken gebliebene Gespanne; eine Elendskarawane versuchte, voranzukommen in der Dunkelheit, wie ein Zug der Lemminge ohne Übersicht und Führung und in Panik. So ging es endlos in meiner Erinnerung, fünfzig Kilometer über steinhart gefrorenen Schlamm, tiefe Löcher, grobe Steine, tief ausgefahrene Spuren.

Dann kam schließlich das Ufer des Dnjepr, über den die Karawane übersetzen musste; die einzige Brücke in Reichweite war gesprengt worden, die nachrückenden Russen zu behindern. Der Fluss war zugefroren, doch wie fest war das Eis, und wo waren Schwachstellen infolge starker Strömung? Im Morgengrauen wagten es die Ersten, auf das Eis zu fahren, und andere folgten. Man verteilte sich, um lokale Überlastungen zu vermeiden; dennoch sollen viele Gespanne eingebrochen sein, erzählte man später, und Menschen kamen zu Tode in den eisigen Fluten, ihre Schreie erfüllten die Luft, bis es totenstill wurde.

Hier fällt mir wieder die tröstliche Betrachtung des genialen Stephen Hawking ein, wie im Vorwort angedeutet, der uns lehrte, unendlich oft im Universum vertreten zu sein, unabhängig und nicht zeitlich korreliert, ohne Verbindung oder Verpflichtung zueinander.

Wäre auch ich in dem vereisten Fluss versunken, wäre meine Geschichte nicht zu Ende. Denn meine unendlich vielen Ebenbilder wüssten nichts davon, lebten zum Teil in paradiesischen Welten und könnten auch verschmerzen, wenn von den unendlich vielen einer verschwände; es blieben ja weiterhin unendlich viele; es wäre also global und mathematisch gar nichts Wesentliches geschehen; lokale Unglücke wären marginal, wir sollten großzügig denken. An diese Erkenntnis der M-Theorie klammere ich mich fest und fahre mit der Erzählung ungerührt fort, Stephen Hawking und Georg Cantor würden es rechtfertigen, lebten sie noch.     

Von der Westseite des Dnjepr ging es mit der Bahn weiter, Abfahrt in Sappiroschschia, in Waggons zur Beförderung von Rindern, Schweinen und Schafen, mit Stroh gepolstert nun zur Beförderung der Flüchtenden mit ihren großen Kinderscharen. Man konnte auf dem Boden sitzen und sich an die kalten Holzwände lehnen oder, wenn hinreichend Platz war, sich ausstrecken und dem endlosen Schlagen der Räder über die Schienenstöße zuhören und sich eine Melodie in diesem Rhythmus durch den Kopf gehen lassen; in meinem noch wenig gefüllten Gedächtnis war es ein Krakowiak, ein Volkstanz der Ukrainer und Polen, den ich zuvor einmal mit großem Erstaunen aus den Kopfhörern vernahm.

Eine Fahrt über tausendeinhundert Kilometer dauerte in dieser Zeit mehrere Tage, denn es gab auch viele Transporte für den Krieg, die absoluten Vorrang hatten, und die Lokomotiven jener Zeit schnauften noch nicht so schnell. „Räder müssen rollen für den Sieg“, war auf Tafeln zu lesen, oft mit Kreide ergänzt: „Kinderwagen für den nächsten Krieg“.

Es muss also auch Menschen gegeben haben, die den Krieg nicht liebten und die sogar lesen und schreiben konnten, über des Führers Wunsch nach einer Gebärkampagne auch von minderjährigen Frauen, befeuert von universell einsetzbaren Elitesoldaten, zürnten und spotteten, höchst überraschend in der befohlenen Euphorie. Und immer das Brüllen der Kerle in Reithosen und mit der Offiziersmütze: „Frauen und Kinder zuerst“; woher kam die unerwartete Fürsorge dieser Heroen für die Schwachen, die im Krieg nicht nützlich waren, sondern hinderlich? War ihnen bewusst geworden, dass Frauen und ihre Kinder die ersehnten Wunderwaffen waren, die Nachschub für die Verstümmelten und Zerrissenen, neues Kriegsmaterial, an die Fronten nachliefern konnten?

Wir waren als Volksdeutsche schubladisiert im Unterschied zu den Reichsdeutschen, die vorläufig noch nicht auf der Flucht waren; die Volksdeutschen wären nach dem Endsieg das Peloton gewesen für die erneute Flutung des Ostlands.

An den Bahnhöfen gab es oft magere Suppen ohne Fettaugen für den flachen Henkeltopf, der zur Grundausstattung eines Menschen für mehr als ein Jahrzehnt gehörte, dazu das geniale Klappbesteck mit Löffel und Gabel, durch eine Niete drehbar verbunden. Die Kinder bekamen außerdem warme Milch in den Blechbecher mit den ausklappbaren Henkeln aus Draht, alles noch beste Vorkriegsware, aus nicht rostendem Aluminium geformt, für ein tausendjähriges Bestehen vorgesehen.

Man gewöhnte sich rasch daran, dass bei jeder Art von gebotener Versammlung angemerkt war, „Essgeschirr ist mitzubringen“, es war ein Lockmittel, Zuhörer für politische Verheißungen anzuwerben; man folgte dem gern, unabhängig vom Zauberwort des Treffens, denn der Hunger blieb lange vorherrschende Triebfeder. Man sah dann nach den Ansprachen, verständlich niemals vorher, Menschen mit ihren Henkeltöpfen aufgereiht stehen, viele hohlwangig, aber die Frauen gertenschlank; es gab also auch hungerndes Schönes in diesem erbarmungslosen Krieg.

Als das „ratt-tatt-ratt“ im Waggon schließlich verstummte, wurde Obliska, Dolyna, Stryj ausgerufen, drei polnische Orte erhielten reichhaltig armseligen Besuch auf Zeit. „Alles aussteigen, Endstation“, so klang es über die Bahnsteige.

Neue Hoffnung blühte auf, als unsere noch fünfzehnköpfige Großfamilie in einem passenden Bauernhaus in Obliska einquartiert wurde; warum stand es leer, war zuvor eine polnische Familie daraus vertrieben worden? Später plapperten wir Kinder über das große und das kleine Zuhause, je nachdem, ob das zeitlich nähere, das große, oder das fernere, das kleine, gemeint war. Für die drei Schwestern und mich aber blieb das kleine Zuhause unser Traum für lange Zeit; es wurde in der Erinnerung aber immer ferner und kleiner Jahr für Jahr.

Doch der Krieg war noch lange nicht zu Ende, er folgte uns mit geringer Verzögerung; schon wenige Monate später, mit beginnendem Herbst, war wieder das Schlagen der stählernen Räder auf den Schienen tagelang unsere Begleitung. Bahnfahren in der Flüchtlingsklasse kannten wir schon, auf Stroh liegend, das von Kleinkindern feucht gehalten und von Stunde zu Stunde auch vielfältiger im Geruch wurde. Es gab keine Beschwerden darüber; es ging nur ums Überleben, war allen bewusst. Die Verpflegung blieb sparsam, Menschen im Zug ohne eigene Fortbewegung verbrauchen wenig Energie; bis auf einige Lüftungsöffnungen waren die Viehwaggons geschlossen, der Fahrtwind blieb ausgesperrt, man fror nicht zu sehr, dicht gedrängt.

Die Stimmung in den Waggons war erwartungsvoll zuversichtlich; das häufige „Frauen und Kinder zuerst“, das von machtvoll erscheinenden Männern ausgerufen wurde, erweckte Vertrauen und stärkte den Eindruck, jenen wert zu sein.

Wir wussten nicht von anderen, die ebenfalls transportiert wurden und die nicht blond waren und helle, sogar blaue Augen hatten so wie wir und Namen wie Maria, Johannes, Christine oder Friedrich trugen.

Entsprechend diesem höheren Rang lebten wir später nicht in Konzentrationslagern, sondern in Beobachtungslagern, unwissend, wer oder was beobachtet werden sollte.

Der Zug hielt oft, und es wurde still, nur einzelne Rufe draußen, man konnte dann besser schlafen oder dösen, bis dann der Ruck durch die Wagen lief und es weiter voranging.

Die Familien waren zu dieser Zeit noch vollständig, alle Männer waren noch dabei. Dies änderte sich, als der nächste Aufenthalt erreicht war, Kattowitz, heute Katowice.

Dort erhielten wir Einbürgerungsurkunden; wir waren wieder „heim im Reich“, das unsere Vorfahren so hoffnungsvoll verlassen hatten, als es dieses Reich namentlich noch nicht gab.

Meine Vorfahren kamen aus dem hinteren Odenwald, aus dem nördlichen Harz, aus der schwäbischen Alb, der Pfalz, aus den ländlichen Hungergebieten; ich entstamme also den seit Jahrhunderten auf und in der Erde Kriechenden.

Doch nun, im Dritten Reich, mussten die Familienväter und auch die ältesten Söhne der Tante Maria einen Beitrag leisten für den erhofften Endsieg. Sie durften wählen zwischen einer regulären Rekrutierung für die Wehrmacht oder dem Einsatz im bevorstehenden „Volkssturm“, einem letzten Aufbäumen mit Kindern und Greisen, ein Fahrschein in den sicheren Tod, meistens eine Erlösung nach entsetzlichen Verstümmelungen.

Mein Vater hatte die passende Figur und offenbar auch den Kopf für den Einsatz in einem Panzer und landete nichts ahnend in einer berüchtigten Elitetruppe; ein ukrainischer Bauer mit Veterinär-Approbation trug plötzlich ein sehr bekanntes deutsches Tattoo am Arm, eines der größten Risiken in diesem fanatischen und totalen Krieg.

Die verbliebenen zwölf der Großfamilie kamen nach Ratibor, heute Racibórz, die Kinder wurden getauft und erhielten ihren Taufschein; bei aller Gefahr im Hier wenigstens eine Versicherungspolice fürs Jenseits.

Der Wohnkomfort in Ratibor war gegenüber den vorigen Stationen schon wesentlich reduziert, denn leer stehende Wohnungen infolge der Vertreibung von Fremden gab es nicht mehr; man befand sich bereits auf damals deutschem Staatsgebiet, und die Flüchtenden mussten in Lagern untergebracht werden. Zudem schwoll der Strom der Schutzsuchenden so stark an, dass die Liebe zu diesen stark abflaute, sie waren nun einfach lästig und nutzlos und verstärkten den Mangel an allem.

Entsprechend dieser Wandlung waren die Unterkünfte nach heutigen Maßstäben grenzwertig für „Volksdeutsche“; doch auch die „Reichsdeutschen“ hatten zu leiden.

Besonders bedenklich wurde die Ernährungslage im nahenden Winter; es stellten sich Mangelerkrankungen ein, deren Ursachen man zu Beginn nicht erkannte, da erfahrene Ärzte und medizinisches Personal an den Fronten zusammengezogen waren.