Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler - Augusto Boal - E-Book

Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler E-Book

Augusto Boal

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Beschreibung

Die berühmten Übungen und Spiele Boals liegen hier in einer auf den neuesten Stand gebrachten und stark erweiterten Ausgabe vor. Dabei geht es darum, Zuschauer in Handelnde zu verwandeln. Dieses in 25 Sprachen übersetzte Standardwerk richtet sich an jeden, der die Übungen beruflich oder im Alltag anwenden will – an Schauspieler wie an Laiendarsteller, Pädagogen, Lehrer und Therapeuten. Zugleich gibt der Band Einblick in die Arbeit »des wichtigsten Theatermachers Lateinamerikas« (The Guardian).

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Die berühmten Übungen und Spiele Boals liegen hier in einer auf den neuesten Stand gebrachten und stark erweiterten Ausgabe vor. Dabei geht es darum, Zuschauer in Handelnde zu verwandeln. Dieses in 25 Sprachen übersetzte Standardwerk richtet sich an jeden, der die Übungen beruflich oder im Alltag anwenden will – an Schauspieler oder Laiendarsteller, Pädagogen, Lehrer und Therapeuten. Zugleich gibt der Band Einblick in die Arbeit »des wichtigsten Theatermachers Lateinamerikas« (The Guardian).

 

Augusto Boal, geboren 1931 in Rio de Janeiro, ist der Begründer des Theaters der Unterdrückten, das heute in mehr als 70 Ländern praktiziert wird. Von der brasilianischen Militärdikatur ins Exil getrieben, kehrte er Ende der 1980er Jahre nach Brasilien zurück. Dort gründete er das Zentrum des Theaters der Unterdrückten (CTO-Rio), das er bis zu seinem Tod 2009 leitete.

 

Till Baumann lernte Augusto Boal und das Theater der Unterdrückten Ende der 1990er Jahre in Rio de Janeiro kennen. Er arbeitet als Theatermacher in Europa und Lateinamerika und lebt in Berlin.

Augusto Boal Übungen und Spiele

für Schauspieler und Nicht-Schauspieler

Aktualisierte und erweiterte Ausgabe

Herausgegeben und aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Till Baumann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Jogos para atores e não-atores, Civilização Brasileira, Rio de Janeiro.

Nähere Angaben in der Editorischen Notiz am Ende des Bandes.

 

Die Übersetzung wurde im Rahmen der Fundação Biblioteca Nacional des brasilianischen Kulturministeriums unterstützt.

(Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional.)

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4449

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Augusto Boal, 1998.

By arrangement with Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main, Germany.

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: Instituto Augusto Boal, Rio de Janeiro 2012

Umschlag: hißmann heilmann hamburg

 

eISBN 978-3-518-73038-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

(Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis befindet sich am Ende des Bandes)

 

Einleitende Bemerkung des Herausgebers

 

Erstes VorwortÜber die Royal Shakespeare Company, Theater im Gefängnis und die landlosen Bauern

 

Zweites VorwortDie Fabel von Xua-Xua und von der Entdeckung des Theaters

Kapitel I Theater der Unterdrückten in Europa

Einleitung (1977-1979)

Bildertheater

Unsichtbares Theater: Erste Erfahrungen

Die frühen Formen des Forumtheaters

Eine Erfahrung in Godrano

Kapitel II Die Struktur der Schauspielarbeit

Die Priorität der Emotion

Emotionen rationalisieren

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Die dialektische Struktur der Darstellung

Kapitel III Das Arsenal des Theaters der Unterdrückten

Einführung: Eine neue Systematisierung der Übungen und Spiele des Theaters der Unterdrückten

  I All das fühlen, was wir berühren

 II All dem zuhören, was wir hören

III Verschiedene Sinne aktivieren

IV All das sehen, was wir erblicken

 V Das Gedächtnis der Sinne

Einige Techniken des Bildertheaters

Allgemeine Probentechniken

Probentechniken für die Vorbereitung einer Forumtheaterszene (oder jeder anderen Theaterszene)

Kapitel IV Forumtheater – Zweifel und Gewissheiten

Editorische Notiz

Danksagung

Einleitende Bemerkung des Herausgebers

Wenn wir die Welt genau betrachten, sehen wir Unterdrücker und Unterdrückte in allen Gesellschaften und Geschlechtern, Klassen und Kasten, wir sehen eine ungerechte und grausame Welt. Wir müssen eine andere Welt erfinden, denn wir wissen: Eine andere Welt ist möglich. Es ist an uns, sie mit unseren eigenen Händen zu bauen, uns einzumischen und auf die Bühne zu gehen: auf die Bühne des Theaters wie auf die Bühne des Lebens.

Diese Sätze schrieb Augusto Boal zum Welttheatertag, nur wenige Wochen vor seinem Tod am 2. Mai 2009. Das Internationale Theaterinstitut der UNESCO hatte ihn zum »Weltbotschafter des Theaters« ernannt.

Sein Leben lang beschäftigte sich Boal mit der Entwicklung eines Theaters, das die Welt nicht so akzeptiert, wie sie ist, sondern eingreift: Ein Theater, das ungerechte und unterdrückerische Realitäten hinterfragt und sie verändert – auf der Bühne wie im Leben. Boal entwarf ein Theater, das die Welt nicht nur interpretiert, sondern verändert, wie er, Marx paraphrasierend, schrieb. Mit seinen Übungen, Spielen und Techniken hat er eine Vielzahl von Möglichkeiten geschaffen, die Bühne zu betreten, sich in die Szene einzumischen und eine andere Welt – im Großen wie im Kleinen – mit den eigenen Händen zu bauen. In seinen Workshops und Büchern gab er das notwendige methodische Handwerkszeug weiter.

Boal ging es bei seiner Theaterarbeit stets darum, einen ästhetischen Raum entstehen zu lassen, in dem die Veränderung von Realität geprobt werden kann. Diejenigen, die vorher nur Zuschauerinnen waren, sollten zu Protagonistinnen der theatralen Handlung und des eigenen Lebens werden können. Zuschauen bedeutete für Boal, vom Handeln ausgeschlossen zu sein, Zuschauer sein ist, wie er in seinem Buch Theater der Unterdrückten1 schrieb, eine »Beleidigung«. Wie Brecht wollte Boal den aktiven, mitdenkenden Zuschauer, der kritisch hinterfragt, was auf der Bühne und in der Gesellschaft geschieht. Doch Boal ging noch einen Schritt weiter als Brecht: In seinem Theater der Unterdrückten werden die Zuschauerinnen zu Zuschauspielerinnen, sie können aktiv in die Handlung eingreifen und sie verändern. Sie können sich aus der Passivität befreien, Unterdrückung überwinden und Realität gestalten, auf der Bühne wie im Leben.

Zu diesem Zweck entwickelte Boal die Übungen und Spiele, die in diesem Buch versammelt sind, ebenso die hier beschriebenen Techniken: Bildertheater (früher auch: Statuentheater), bei dem Unterdrückungssituationen über Körperbilder dargestellt, analysiert und transformiert werden können. Forumtheater, die theatrale Inszenierung realer Erfahrungen von Unterdrückung und die Suche nach Veränderungen im dialogischen Prozess mit dem Publikum, das in die Szene eingreift und Handlungsideen praktisch erproben kann. Unsichtbares Theater, das Unterdrückung sichtbar machen und Anstöße zur Auseinandersetzung geben möchte, indem im öffentlichen Raum Szenen gespielt werden, von denen allein die Schauspieler wissen, dass sie Theater sind – für das Publikum sind sie hingegen Realität.2 Und schließlich der Regenbogen der Wünsche, der sich mit verinnerlichter Unterdrückung auseinandersetzt und dessen erste Ansätze von Boal bereits in den Übungen und Spielen eingeführt werden.3

All diese Techniken sind Teil des Theaters der Unterdrückten und wurden von Boal mit dem Ziel der Überwindung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit entwickelt. Dabei war es ihm nicht gleichgültig, wer die Methoden des Theaters der Unterdrückten mit welchen Zielen anwendete. Beispielsweise sprach sich Boal, zeit seines Lebens ein scharfer Kritiker von Kapitalismus und dessen gesellschaftlichen Auswirkungen, vehement dagegen aus, dass die von ihm entwickelten Methoden im sogenannten »Unternehmenstheater« zur Anwendung kamen.

Nehmt an der Aufführung teil, die gleich beginnt. Später, wenn ihr zu Hause seid, macht mit euren Freunden eure eigenen Theaterstücke und seht, was ihr niemals zuvor gesehen habt: das Offensichtliche. Theater ist nicht einfach nur ein Ereignis – es ist eine Art zu leben.

Augusto Boal hat sein Leben dem Theater gewidmet und sein Theater dem Leben. Er wurde 1931 in Rio de Janeiro geboren und leitete ab 1956 das Teatro de Arena in São Paulo, das erste kollektiv arbeitende Theater Brasiliens. Boal verfasste zahlreiche Theaterstücke und wurde zu einem der bedeutenden lateinamerikanischen Dramatiker. Mit dem Zeitungstheater entwarf er in den 60er Jahren die erste Form des Theaters der Unterdrückten, dessen Namen er in Anlehnung an die Pädagogik der Unterdrückten des brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire wählte.4 Während der brasilianischen Militärdiktatur wurde Boal 1971 verhaftet, gefoltert und ins Exil gezwungen. Er lebte in Buenos Aires und arbeitete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. In Argentinien entwickelte er das Unsichtbare Theater, in Peru Bildertheater und Forumtheater. Schließlich musste er 1976 wegen des Militärputsches auch Argentinien verlassen und lebte bis Mitte der 80er Jahre im europäischen Exil in Lissabon und Paris. In dem von ihm gegründeten Centre du Théâtre de l’Opprimé (CTO-Paris) entstanden die Ansätze des Regenbogens der Wünsche. Nach seiner Rückkehr nach Brasilien gründete er in Rio de Janeiro das Centro de Teatro do Oprimido (CTO-Rio), das er bis zu seinem Tod künstlerisch leitete. In Brasilien war er den sozialen Bewegungen eng verbunden, insbesondere der Landlosenbewegung MST, mit deren Aktivisten er regelmäßig arbeitete.5 Als Abgeordneter der Arbeiterpartei PT6 saß er von 1993 bis 1996 im Stadtparlament von Rio de Janeiro und entwickelte gemeinsam mit den Mitarbeitern des CTO-Rio das Legislative Theater.7 Die letzten Jahre seines Schaffens waren von der Entwicklung der Ästhetik der Unterdrückten geprägt, sie wurde seit 2002 zum Schwerpunkt der Arbeit des CTO-Rio.8 Augusto Boal verstarb am 2. Mai 2009 in Rio de Janeiro im Alter von 78 Jahren.9

 

Mehr als jedes andere seiner Bücher begleiteten ihn die Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler auf seinem Weg. Die Geschichte des Buches ist eng mit Boals Biographie und somit mit der Entwicklung des Theaters der Unterdrückten verbunden. Im Laufe der Jahrzehnte nahm Boal immer neue Übungen und Spiele mit auf, überarbeitete bestehende, ergänzte sie um neue Varianten und brachte Reflexionen zu Papier, die sich mit der Praxis des Theaters der Unterdrückten auseinandersetzten. Die Texte in den Übungen und Spielen entstammen unterschiedlichen Epochen seines Schaffens und wurden an verschiedenen Orten und in verschiedenen Sprachen verfasst. So weist dieses Buch eine beeindruckende Editionsgeschichte auf, in Boals Worten (im Vorwort zur brasilianischen Ausgabe):

»Dieses Buch ist eines meiner ersten Bücher und gleichzeitig, mit seinen Überarbeitungen und Ergänzungen, eines meiner neuesten. Ihn ihm vermischen sich Texte aus einer lange vergangenen Zeit mit Texten von vorgestern. Von allen meinen Büchern hat es den längsten und kurvenreichsten (und, nebenbei bemerkt, erfolgreichsten) Weg zurückgelegt: Zunächst wurde es auf Spanisch verfasst und 1973 in Argentinien veröffentlicht, als ich dort im Exil lebte. Damals trug es den Titel 200 Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, die mit ihrem Theater etwas sagen wollen. 1977 wurde es ins portugiesische Portugiesisch übersetzt10 (das ist – ich versichere es! – nicht dasselbe wie das brasilianische) und dann 1979 ins Französische, wo es mehr als fünfzehn Mal aufgelegt wurde und einen neuen, einfacheren Namen erhielt: Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler (dabei blieb unerwähnt, dass es inzwischen mehr als 400 Übungen und Spiele enthielt). Für die erste englische Ausgabe von 1995 wurde es vollständig überarbeitet und jetzt – paradoxerweise – für diese brasilianische Ausgabe ins Portugiesische zurückübersetzt. Es handelt sich also um die Übersetzung einer Übersetzung einer portugiesischen Übersetzung, die wiederum ins Englische und Französische übersetzt und dann ins brasilianische Portugiesisch rückübersetzt wurde. Glücklicherweise verstehe ich nach wie vor Portugiesisch und konnte das Endergebnis neu bearbeiten.«

Doch damit war der Weg noch nicht zu Ende. Nach der brasilianischen Ausgabe von 1998, die die Grundlage des vorliegenden Bandes bildet, wirkte Boal noch an einer spanischen (2001), einer englischen (2002) sowie einer französischen Ausgabe (2004) mit.11 Alle erschienen mit mehr oder weniger umfangreichen Überarbeitungen und Ergänzungen, die auch teilweise Eingang in diesen Band gefunden haben.

 

 

Wir sind alle Schauspieler, wir sind alle Handelnde. Bürger ist nicht, wer in einer Gesellschaft lebt. Zum Bürger wird, wer die Gesellschaft verändert.

Während seines jahrzehntelangen Schaffens hörte Boal nie auf, mit seiner Kunst in gesellschaftliche Realität einzugreifen, in Lateinamerika, Europa und weltweit. Theater der Unterdrückten ist seit seiner Entstehung zu einer globalen Bewegung geworden. Boals Theater wird inzwischen in mehr als 70 Ländern praktiziert, dabei finden sich die größten Bewegungen und Zentren in Lateinamerika, Afrika und Asien: in Brasilien (CTO-Rio), Mosambik (GTO Maputo) und Indien (Jana Sanskriti). Die weitere Verbreitung und Anwendung der Methoden, ihre Multiplikation, ist ein wesentliches Ziel von Workshops und Fortbildungen im Theater der Unterdrückten – und auch von Boals Büchern. Mit Leben gefüllt werden seine Übungen, Spiele und Techniken von den Menschen, die mit ihnen arbeiten. Wie Boal zu sagen pflegte: Das Theater der Unterdrückten kann ein Schlüssel sein. Aber ein Schlüssel allein öffnet keine Tür, dies tut erst der Mensch, der den Schlüssel benutzt.

 

Berlin, im August 2013 Till Baumann

Erstes VorwortÜber die Royal Shakespeare Company, Theater im Gefängnis und die landlosen Bauern

 

In den letzten Jahren habe ich einige wundervolle Erfahrungen gemacht, alle sehr unterschiedlich und doch einander ähnlich.

Das erste Erlebnis hatte ich im Jahr 1997 in Stratford-upon-Avon. Cicely Berry und Adrian Noble hatten mich eingeladen, einen Workshop mit Schauspielerinnen und Schauspielern1 der Royal Shakespeare Company zu leiten. Am Beispiel von Hamlet sollten die Möglichkeiten erforscht werden, wie mit Hilfe der introspektiven Techniken des Regenbogens der Wünsche2Shakespeare-Figuren entwickelt werden können. Ich hatte dies bereits zuvor mit allen möglichen Stücken und Musicals gemacht, sogar mit Klassikern von Racine und Machiavelli – aber niemals mit Shakespeare.

Zehn Jahre lang hatte ich mit Gruppen gearbeitet, die sich aus Bewohnern von Favelas,3 aus Gewerkschaftern und Kirchenmitgliedern zusammensetzten. Diese Gruppen nutzten Theater nicht als ein Mittel, um die Figuren eines Stücks besser zu verstehen, sondern um ihre drängenden Probleme zu analysieren und eigene Lösungen dafür zu finden. Nach einer längeren Pause vom professionellen Theater stellte Stratford-upon-Avon also ein besonderes Ereignis für mich dar.

Regie zu führen ist wie Fahrrad fahren oder reiten – man verlernt es nie. Vom ersten Moment an fühlte ich mich wieder wohl dabei, mit professionellen Theaterleuten zu sprechen. Genauso wie Cicely und ich standen sie dem Experiment, das wir uns vorgenommen hatten, völlig offen und unvoreingenommen gegenüber.

Nachdem ich jahrzehntelang vor allem mit professionellen Schauspielern gearbeitet hatte, stand ich zu Beginn der 70er Jahre auf einmal in Peru vor einer Gruppe von Indigenen. Sie waren aus kleinen Dörfern gekommen, sprachen nicht dieselbe Sprache wie ich und standen mir so misstrauisch gegenüber wie vermutlich jedem anderen seltsamen Wesen auch (und sicherlich zu Recht!). Ich sagte mir: »Ich werde mit ihnen arbeiten, als ob sie erfahrene Schauspieler wären!« So hielt ich es auch, und es funktionierte hervorragend. Bei der Royal Shakespeare Company dachte ich: »Ich werde mit ihnen arbeiten, als wären sie brasilianische Favela-Bewohner.« Und es funktionierte genauso.

Habe ich sie wie Leute behandelt, die sie in Wirklichkeit gar nicht waren? Nein, im Gegenteil: Ich habe sie als das genommen, was sie sind – indigene Menschen in Peru, Schauspieler in Stratford, Bauern in Indien. Sie sind alle, wie ich, menschliche Wesen.

Wir kleiden uns unterschiedlich, haben unterschiedliche Gewohnheiten, wir erfinden unsere eigene Musik, unsere eigene Küche – doch wir können nicht nur mit dem leben, was wir alleine geschaffen haben. Wir müssen andere mit einbeziehen, manchmal auf die Weise, in der es die anthropophagische Literatur Brasiliens Anfang des 20. Jahrhunderts getan hat.4 Das Leben ist expansiv, es dehnt sich aus in unserem Körper, es wächst und gedeiht, auch nach außen hin, und es bringt Räume, Formen, Ideen, Bedeutungen, Empfindungen hervor. All dies geschieht als Dialog: Wir haben Teil an dem, was andere geschaffen haben, und teilen mit ihnen das Beste unserer Werke.

Wir können nicht in Isolation leben, eingeschlossen in uns selbst. Wir können enorm viel lernen, wenn wir uns im anderen erkennen: der andere liebt und hasst, hat Angst und ist mutig – genau wie ich, obwohl es kulturelle Unterschiede zwischen ihm, dir und mir geben mag. Eben deswegen können wir vom anderen lernen: Wir sind unterschiedlich und sind doch gleich.

Als mich Sanjoy Ganguly einlud, in Kalkutta mit seinen Schauspielern von Jana Sanskriti, allesamt Bauern, zu arbeiten, dachte ich, sie wollten von mir neue Probentechniken für Forumtheater lernen, um ihre Stücke zu verbessern, die damals schon hervorragend waren. Doch sie sagten: »Wir wissen bereits, wie wir gesellschaftliche und politische Probleme und andere konkrete Fragen mit Forumtheater darstellen können. Jetzt geht es uns darum, den Regenbogen der Wünsche kennenzulernen. Wir wollen unser Innenleben entdecken, unsere Gefühle. Wir haben Ängste und Frustrationen, Hoffnungen und Wünsche – auch diese wollen wir besser verstehen!«

Wir praktizierten die Techniken des Regenbogens der Wünsche mit den Ärmsten unter den ärmsten Bauern der Welt im indischen Madhyamgram. Genau so wie mit den wundervollen Schauspielern der Royal Shakespeare Company, mit Psychotherapeuten in Längensbruck in der Schweiz oder mit politischen Aktivisten in New York. Wir machten einfach Theater!

In der Royal Shakespeare Company gingen wir ähnlich vor wie sonst auch – und doch ganz anders. In dieses Buch habe ich neben vielen ganz neuen Übungen und Spielen all die Variationen bereits bestehender Techniken aufgenommen, die hilfreich sein können für Schauspieler in professionellen Theaterproduktionen. Um sie kenntlich zu machen, habe ich diese Variationen durchweg Hamlet genannt. Sie können natürlich für die Arbeit an jeder Art Theaterstück verwendet werden, nicht nur für Shakespeare.

Apropos Techniken: In der Arbeit mit den Schauspielern der Royal Shakespeare Company erschien es mir wichtig, alle introspektiven Techniken um einen letzten Schritt zu ergänzen: Ganz am Ende sollte die Schauspielerin, die in einer bestimmten Improvisation die Protagonistin spielt, den gesamten Prozess als Protagonistin durchlaufen.

Nur ein Beispiel: Bei der introspektiven Technik namens Regenbogen der Wünsche stellt die Protagonistin mehrere Bilder ihrer eigenen Wünsche5 dar (oder die verschiedenen Farben eines Wunsches). Diese werden dann von den anderen Schauspielerinnen verkörpert, was uns erlaubt, mit den verschiedenen Facetten oder Aspekten zu spielen. Die Protagonistin kann jedes dieser Bilder dabei beobachten, wie es gegen den Antagonisten kämpft. In Hamlet gibt es eine Szene, in welcher der Protagonist seiner Mutter Gertrude entgegentritt. Seine verschiedenen, auf sie bezogenen Gefühle umfassen Sohnesliebe, sexuelle Liebe, Eifersucht, Bewunderung, Angst und viele weitere. Ausgehend von diesen Gefühlen, bringt der Schauspieler mit seinem Körper Bilder zum Ausdruck, die von anderen Schauspielern übernommen werden. Sie improvisieren dann nacheinander den Konflikt mit Gertrude. Nachdem er seine Mitspieler beobachten konnte, verkörpert der Schauspieler dann all diese Bilder selbst, eines nach dem anderen, und improvisiert alle Wünsche, Emotionen, Empfindungen und Situationen einzeln. Er versucht zu fühlen, wie es wäre, wenn er nur dieses eine Verlangen oder dieser eine Wunsch wäre, nur ein bestimmter Wille oder eine einzelne Emotion: wie der Maler, der eine ganze Palette mit einzelnen Farben vor sich hat, ehe er sie nach Belieben mischt.

Eine Schauspielerin sollte ihre Figur nicht nur verstehen und spüren, sondern sie auch einem Publikum in künstlerischer Form vermitteln können. Für jeden anderen, der diese Technik für persönliche Zwecke nutzt, kann es ausreichend sein, zu lernen, zu wissen und zu verstehen. Für die Schauspielerin hingegen ist es unumgänglich, etwas zum Ausdruck zu bringen. Sie muss all diese Schritte in ihrem Inneren spüren, um sie nach außen hin dem Publikum vermitteln zu können.

Ich habe mit der Royal Shakespeare Company sowohl neue Probentechniken ausprobiert als auch bereits bestehende angewandt. Ich erinnere mich mit Freude an den Moment, in dem die 30 Schauspieler, die zwei Wochen mit mir gearbeitet hatten, eine Zusammenfassung unserer Arbeit vor ihren Kollegen, den Regisseuren und dem Verwaltungspersonal demonstrierten. Ich zeigte eine unserer Techniken, die Hannover-Variante,6 bei der das Publikum in jeglichem Moment der Szene »Stopp!« sagen und jede beliebige Frage an die Figuren richten darf (nicht an die Schauspieler). Dies hat zum Ziel, die Schauspieler ein wenig durcheinanderzubringen, und soll bewirken, da sie direkt antworten müssen, dass sie ihre Kenntnisse über die dargestellte Figur und deren Motivation vertiefen und erweitern.

Es war mir bewusst, dass die Schauspieler im Publikum, die nicht am Workshop teilgenommen hatten, große Lust verspürten, ihren Kollegen die verblüffendsten Fragen zu stellen – verständlicherweise. Meine Schauspieler zeigten Mut und sagten: »Gut, na dann los!«

Schon von Beginn an wurden viele Fragen gestellt, und die Schauspieler gaben sehr kreative Antworten – bis zu dem Moment, in dem der Geist des Vaters von den Verbrechen sprach, die er in seinem Leben begangen hatte, und eine Person aus dem Publikum fragte: »Welche Verbrechen waren das denn?«

Keine einfache Frage. Wir konnten uns an kein einziges Verbrechen erinnern. König Hamlet, der gleichnamige Vater, war immer für seine Rechtschaffenheit gerühmt worden, für seine Güte als Person und als König. Welche Verbrechen? Schweigen. Dann sagte der Schauspieler, der den Geist darstellte: »Ich war König. Ein König ist dazu verpflichtet, Krieg zu führen. Während eines Krieges ist es unvermeidlich, dass Soldaten Verbrechen begehen. Ich war der König, also trage ich die Verantwortung für ihre Verbrechen.« Nach seiner Antwort gab es großen Applaus. Dann fragte ich das Publikum: »Gibt es noch weitere Fragen zu dieser Szene?« Es gab keine mehr.

O ja, in der Arbeit mit diesen Techniken müssen die Schauspieler kreativ und fantasievoll sein!

 

 

In Kooperation mit Paul Heritage und seinem People’s Palace Project der Universität London führten wir ein Gefängnistheaterprojekt durch, genauer gesagt: Wir arbeiteten in 37 Gefängnissen im Bundesstaat São Paulo – die nächste besondere Erfahrung.

Dies stellte uns vor ein ganz neues Problem: Im Gefängnis arbeiten wir mit Partnern, mit denen wir keine Solidarität verspüren, was ihre Taten angeht. Trotzdem hat ihr Wunsch, eine neue Zukunft für sich zu erfinden, unsere volle Unterstützung. Wir arbeiten auch mit Vollzugsbeamten, mit denen wir nicht übereinstimmen (einer von ihnen hatte das Wort »Menschenrechte« auf seinem Schlagstock stehen): Die Gefangenen sind zu Freiheitsentzug verurteilt worden, nicht zu Erniedrigung und anderem Leiden. Die Vollzugsbeamten tendieren indes dazu, sich an den Gefangenen für ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu rächen, die mit niedrigen Löhnen und einer hohen Gefährdung der persönlichen Sicherheit verbunden sind.

Alles, was außerhalb der Gefängnisse verboten ist, ist drinnen weit verbreitete Praxis, vorausgesetzt, der Gefangene kann dafür bezahlen: Drogen, Raub, sexualisierte Gewalt, Prostitution, Bandenkriege, Folter und Mord. Gefängnisse sind in Brasilien hauptsächlich Aufbewahrungsorte, die Menschen dort sitzen untätig herum – sie sind wie Krankenhäuser, in denen Kranke zusammengeworfen werden, jedoch ohne Ärzte, Krankenschwestern und ohne Medizin: Wie können wir erwarten, dass Kranke in einem solchen Szenario geheilt werden? Unsere Gefängnisse sind Fabriken des Hasses.

Bereits in der ersten Phase des Projekts entdeckten wir das Offensichtliche: Gefangene sind gefangen im Raum, aber frei in der Zeit – wir hingegen sind im Gegensatz dazu meist frei im Raum, aber gefangen in der Zeit. Was können Menschen im Gefängnis mit ihrer freien Zeit tun? Theater der Unterdrückten schafft Freiräume, in denen Menschen ihre Erinnerungen und Gefühle, ihre Vorstellungskraft, ihre Gedanken über die Vergangenheit und die Gegenwart befreien und in denen sie ihre Zukunft erfinden können, anstatt auf sie zu warten.

Aber wie schaffen wir Freiräume innerhalb von Gefängnismauern? Sicherlich sind die Gefangenen frei, ihre Vergangenheit zu analysieren und auch ihre weit entfernte Zukunft zu erfinden – warum nicht? Aber wie ist es mit der Gegenwart? Hier liegt das größte Problem: Die Gegenwart ist geprägt von der Konfrontation mit ihrem machtvollen Feind, den Vollzugsbeamten, die sich ebenfalls für unterdrückt halten. Vollzugsbeamte mögen es nicht, die Gefangenen Theater spielen, »Spaß haben« zu sehen, während sie selbst arbeiten und sie bewachen müssen.

Beide Seiten haben ihre Vorurteile, jede sieht den jeweils anderen als ihren Feind an. Ganz ähnlich war es, als ich mit Protestanten und Katholiken in Derry, Nordirland, arbeitete – die Vorurteile, die sie gegeneinander hatten, schienen auf Religion und Geschichte aufzubauen. Beide Seiten hatten jedoch gleichermaßen Familien, Partner, persönliche Probleme und Ängste. Wir sollten niemandem den Namen seiner Religion auf die Stirn stempeln, sondern versuchen jeden Einzelnen als Menschen wahrzunehmen. Als Menschen ohne Etiketten.

Das war es, was wir jetzt versuchten: im Gefangenen nicht den eingesperrten Menschen zu sehen oder im Beamten den Mann in Uniform. Sondern beide als das zu sehen, was sie sind, bevor ihnen diese Zuschreibungen verliehen wurden: Menschen. Wir versuchten Themen zu bearbeiten, die beide Seiten interessieren, vor allem persönliche Probleme, die allen gemeinsam sind.

Jetzt fragten sie uns im Gefängnis: »Wenn das so ist, warum nutzen wir nicht die Techniken des Regenbogens der Wünsche?«, genauso wie mich die Schauspieler in Stratford-upon-Avon gefragt hatten: »Warum machen wir kein Forumtheater?«

Es ist das Gleiche … und es ist doch anders – es ist das Gleiche, das anders ist, und das andere, das gleich ist!

 

 

Postskriptum: Mit Stolz in unseren HerzenAls ich den oben stehenden Text bereits geschrieben hatte, durfte ich im Memorial da América Latina7 in São Paulo einer feierlichen Zeremonie zum Abschluss des Projekts »Staging Human Rights« (»Menschenrechte auf der Bühne«) beiwohnen, welches zuvor ein Jahr lang in 37 Gefängnissen des Bundesstaates São Paulo durchgeführt wurde. Das Projekt erhielt 2001 von der Stadt São Paulo den Preis Betinho de Direitos Humanos8als Anerkennung für den humanistischen Charakter seines Themas und für die exzellenten Projektergebnisse: 4000 Gefangene, hunderte Vollzugsbeamte und andere Angestellte und unzählige Bewohner benachbarter Stadtteile waren miteinander in Dialog getreten.

Am Vormittag zeigten die Vollzugsbeamten ihr Stück, das von den Schwierigkeiten ihres Arbeitsalltags in den überfüllten Gefängnissen handelte, von der geringen Bezahlung und den allgegenwärtigen Gefahren ihres Berufs. Wie bei unserer Theatermethode üblich, spielten die Beamten alle Rollen selbst – sogar die Rollen der Gefangenen, in denen sie die typische Gefängniskleidung trugen und bestimmte Körperhaltungen annahmen – die Köpfe gesenkt, die Hände auf der Schulter der Vordermänner.

Gleich darauf folgte das Stück der männlichen Gefangenen, das von ihren Erfahrungen handelte. Einer von ihnen hatte seine zehn Kinder im Publikum sitzen, die begeistert waren von den neu entdeckten künstlerischen Fähigkeiten des Vaters. In einer besonders bewegenden Szene kam seine siebenjährige Tochter auf die Bühne gestürmt, um ihn zu umarmen. Er musste die Bühne verlassen und das Kind wieder auf seinen Platz im Publikum setzen, neben der Mutter, einer freien Bürgerin.

Am Abend dann der Höhepunkt: Die weiblichen Gefangenen zeigten den Moment, in dem eine von ihnen, Amanda (die ihre wahre Geschichte erzählte), von ihrem sechs Monate alten, im Gefängnis geborenen Baby getrennt wurde, wie gesetzlich vorgeschrieben.

Im Theater der Unterdrückten wird die Realität nicht nur so gezeigt, wie sie ist, sondern auch – noch wichtiger –, wie sie sein könnte. Dafür leben wir schließlich – um zu werden, was wir potentiell sein können. Dieses lebendige Element wird der Kreativität des Publikums anvertraut: Die Zuschauer kommen auf die Bühne, ersetzen den Protagonisten und versuchen, machbare Lösungen für reale Probleme zu finden.

Das Publikum war zu Tränen gerührt beim Anblick der Mutter, die ihr Kind zum Abschied küsste, und übernahm mehrmals ihre Rolle, um die Gründung von selbstorganisierten Kinderkrippen im Gefängnis vorzuschlagen. Oder tägliche Besuche des Kindes, nach der Schule und vor dem Zubettgehen. Oder andere Möglichkeiten, wie die frühe Trennung von Mutter und Kind vermieden werden könnte. Die Situation der Protagonistin als Frau und Mutter sollte mehr Gewicht haben als ihr Gefangenenstatus, so die allgemeine Meinung. Obwohl es sich um ein und dieselbe Person handelte, sollte die Mutter nicht für die Sünden der Gefangenen bezahlen müssen.

Nach den Aufführungen waren sich die Vertreter der drei beteiligten Institutionen in ihren Reden einig darin, dass die Arbeit mit dem Theater der Unterdrückten in den Gefängnissen fortgesetzt werden und das Ziel verfolgen sollte, die Beziehungen zwischen Gefangenen und Vollzugsbeamten zu humanisieren, die trotz ihrer durch die Umstände bedingten diametralen Gegensätze zum alltäglichen Umgang miteinander gezwungen sind.

Dann kam der Abschied. Wir umarmten die Gefangenen, Männer und Frauen, die Vollzugsbeamten und die anderen Angestellten – Menschen, die uns zum Lachen und zum Weinen gebracht hatten, als sie an diesem Tag ihre Geschichten und Hoffnungen auf die Bühne brachten. Dann kamen sieben bewaffnete Soldaten auf die Bühne, nahmen je einen Gefangenen am Arm und führten ihn zu dem Bus, der alle wieder zurück ins Gefängnis bringen würde. Als sie bereits auf dem Weg waren, nahm sich einer der Vollzugsbeamten noch die Zeit, mir zu sagen: »Wissen Sie was? Was Menschenrechte angeht, habe ich überhaupt nichts gelernt – ich weiß immer noch nicht, was das ist. Aber eines habe ich heute verstanden – dass diese Typen nicht unsere Feinde sind. Sie sind Menschen.« Er ging weg und unterhielt sich dabei mit seinem Gefangenen, der nicht mehr sein Feind war, sondern ein Mensch. Weg war er, ohne zu wissen, dass er an diesem Tag sehr wohl und in aller Tiefe verstanden hatte, was der Begriff Menschenrechte bedeutet: Respekt für den Nachbarn und die Anerkennung, dass der andere auch ein Mann, eine Frau, ein Mensch ist. Wie die traurige Mutter, der vom Gesetz vorgeschrieben wurde, sich von ihrem Kind zu trennen. Wie der Vater, der unvermutete Schauspieler, der seine kleine Tochter mit seinem Spiel so sehr bewegt hatte.

Und nun glänzt Betinhos Medaille an unserer Brust, und wir spüren Stolz im Herzen, aber auch Traurigkeit.

 

 

Die dritte Erfahrung dauert bis jetzt an, bis zum Zeitpunkt, in dem ich dies schreibe,9 weitet sich aus und kommt immer mehr in Fahrt: die Arbeit mit der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST). Der MST ist die am besten organisierte soziale Bewegung in Brasilien, einem Land, in dem mehr als die Hälfte des Grund und Bodens weniger als einem Zwanzigstel der Bevölkerung gehört. Der größte Teil dieses Bodens ist grilado,10 Großgrundbesitzer haben ihn sich durch eine ausgefeilte Dokumentenfälschungstechnik angeeignet: Papiere werden gemeinsam mit ein paar dieser zirpenden Insekten in einer Kiste verstaut, diese wird fest verschlossen. Nach ein oder zwei Monaten sehen die Papiere so vergilbt aus wie alte offizielle Dokumente, über jeden Verdacht erhaben.

Millionen von Landarbeitern haben kein Land, das sie kultivieren können, wohingegen Millionen von Hektar Land trocken und ungenutzt brachliegen, da die Besitzer darauf warten, dass die Regierung in der Nähe eine Autobahn baut, die die Preise in die Höhe treibt. Das Land bleibt unproduktiv und nutzlos, wie Goldbarren im Tresorraum einer Bank.

MST ist eine gewaltfreie Organisation, die verlassenen Grundbesitz besetzt und landwirtschaftlich nutzt. Ihre Mitglieder besetzen niemals produktiv genutztes Land oder einen funktionierenden Bauernhof. Dennoch ist die Gegenwehr der »legalen« Landbesitzer extrem gewalttätig und regelmäßig werden unbewaffnete Landarbeiter getötet. Natürlich sind die Mitglieder des MST nicht auf das Theater der Unterdrückten angewiesen, um ihr Leben zu retten: Sie organisieren sich in allen möglichen Formen. Eine ihrer Taktiken ist es, ihre Situation in der ganzen Welt bekannt zu machen, um eine Solidarisierung mit ihrer Sache zu erreichen. Die Zeitungen und Fernsehsender geben ihnen jedoch fast nie den Raum dafür.

Anfang 2001 kamen sie mit der folgenden Frage auf uns zu: Wie können wir Theater nutzen, um unsere Bemühungen und unsere Bedürfnisse bekannter zu machen?

Ihre Probleme sind sehr real: Die Polizei behandelt die Landbesetzer mit unmenschlicher Gewalt. Wenn sie verhaftet werden, misshandeln die Polizisten Frauen und Familien. Im Gericht treffen sie nicht selten auf Richter, die Freunde der Landbesitzer, keineswegs jedoch Freunde der Gerechtigkeit sind. In der Regierung treffen sie auf langsame Bürokraten.

Wir begannen unsere Arbeit wie sonst auch: mit Übungen, Spielen, Bildertheater und Forumtheater. Wir entwickelten Stücke über die Konfrontationen mit der Polizei und mit den Privatarmeen der Dokumentenfälscher. Stücke über die Begegnungen der Landlosen mit Stadtbewohnern, die keine Ahnung davon haben, was auf dem Land passiert, und die den Falschinformationen der Medien Glauben schenken. Stücke über ihre eigene interne Organisierung … bis wir begannen, uns Themen wie Sexismus zu nähern, der Intoleranz gegenüber bestimmten ländlichen Musikstilen oder den Konflikten innerhalb einer Familie, wenn ihr ein kleines Stück Land zugeteilt wurde. Als die Familien noch unter schwierigen Bedingungen in kleinen Hütten lebten, von einem Ort zum anderen zogen und auf die Gelegenheit warteten, ein Stück Land zu besetzen, gab es Demokratie – jetzt, da sie etwas Land zur Verfügung hatten, gab es eine Tendenz zur Rückkehr der alten Familienstrukturen, mit dem Vater als Chef, der Mutter als Stellvertreterin und den Kindern als Angestellten.

MST setzt sich aus wundervollen Menschen zusammen, doch auch sie sind wie alle anderen Menschen. Sie haben die gleichen Qualitäten und die gleichen Unzulänglichkeiten – weshalb sie uns, nachdem wir viele Forumtheaterstücke gespielt hatten, fragten: »Warum nutzen wir nicht die Technik des Regenbogens der Wünsche?«

So wie die Gefangenen, so wie die Schauspieler der Royal Shakespeare Company, so wie alle.

 

 

Das Theater der Unterdrückten ist geschaffen worden, um den Menschen nützlich zu sein – und nicht die Menschen dafür, dem Theater der Unterdrückten nützlich zu sein.11 Es ist richtig, dass wir zu Beginn sehr klare Feinde hatten, die wir Antagonisten, Unterdrücker nennen konnten: Wir lebten in Ländern, die von Tyrannen beherrscht wurden. Es war sinnlos, die Unterdrücker zu analysieren, um herauszufinden, ob sie nicht doch vielleicht ihre netten Seiten hatten, ob sie gute Großväter für ihre Enkel waren. Ein Diktator ist ein Diktator, auch wenn er am Abend seine Gebete spricht und dabei auf Maiskörnern kniet.12 Forumtheater war zu dieser Zeit einfach und klar: ein unterdrückter Protagonist, der wusste, was er wollte, ihm gegenüber ein brutaler Feind, ein Unterdrücker, der versuchte ihn daran zu hindern, seine Wünsche zu verwirklichen. Das Forum war die Suche nach Alternativen und konkreten Lösungen, da alles andere bereits klar war und als wahr akzeptiert wurde.

Später stießen wir auf Situationen, in denen die Unterdrückung nicht so klar definiert war und beide Seiten für sich beanspruchten, unterdrückt zu werden: in einer Paarbeziehung, unter Freunden, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern … Konfrontationen, die nicht rein antagonistisch waren. Hier schien Versöhnung möglich und wünschenswert. In diesen besonderen Fällen konnten im Forum beide Seiten ausgetauscht werden, da beide versicherten, die Unterdrückten zu sein.

Bald verstanden wir, dass Forumtheater nicht ausreichte, um diese Fragen anzugehen. Forumtheater arbeitet mit objektiven, sichtbaren, bekannten Unterdrückungen. Wir begannen, mit anderen Formen des Theaters der Unterdrückten zu arbeiten und mit anderen möglichen theatralen Strukturen, die uns helfen konnten, komplexere Situationen zu verstehen, bei denen nicht vorausgesetzt werden konnte, dass die Unterdrückung allen bekannt und für alle offensichtlich war.

So entstanden nach und nach die introspektiven Techniken des Regenbogens der Wünsche. Das vorliegende Buch konzentriert sich jedoch auf die Entwicklung von Forumtheaterszenen durch jeden, der gewillt ist, Theater als Sprache zu nutzen, und außerdem auf die Entwicklung von Stücken, die von professionellen Schauspielern vor »normalem« Publikum gespielt werden. Dennoch enthält es einige Keime der introspektiven Techniken.

Dieses Buch ist eine praktische Einführung in alle Formen des Theaters der Unterdrückten. Sie sind komplementär, da die Menschen komplex sind und nicht so einfach zu verstehen, wie es uns lieb wäre. Die beste Art, die verschiedenen Formen zu nutzen, ist, sie alle zu nutzen.

 

Ich liebe es, zu träumen, sogar dann, wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass mein Traum unmöglich zu erfüllen ist. Trotzdem träume ich: Eines Tages werde ich den Hamlet inszenieren, mit Schauspielern der Royal Shakespeare Company, mit Gefangenen aus den Gefängnissen von Carandiru,13 mit Landarbeitern vom MST und Arbeitern aus den Favelasvon Rio. Eines Tages …

Dies wird nie passieren, ich weiß. Die Funktion der Utopien ist nicht, dass sie Wirklichkeit werden, sie sollen uns vielmehr dazu anregen, noch mehr zu geben und noch weiter zu gehen. Träumen zu können ist bereits ein Traum, der Wirklichkeit geworden ist!

Zweites VorwortDie Fabel von Xua-Xua und von der Entdeckung des Theaters

Das Wort Theater ist derart reich an Bedeutungen – manche ergänzen sich, andere widersprechen sich –, dass wir nie genau wissen, was wir meinen, wenn wir von Theater reden. Welches Theater meinen wir also?

Zuallererst ist Theater ein Ort, ein Gebäude, jede Art von Bauwerk, das für Aufführungen, Shows, theatrale Darbietungen konstruiert wurde. Hier umfasst der Begriff Theater alles, was mit einer Theaterproduktion zu tun hat – Bühnenbild, Licht, Kostüme etc. –, und all diejenigen, die an der Produktion mitarbeiten – Autoren, Schauspieler, Regisseurinnen und andere.

Theater kann auch ein Ort sein, an dem wichtige Ereignisse, komische oder tragische, geschehen, die wir aus einer gewissen Distanz beobachten müssen, gleichsam als gelähmte Zuschauer: das Theater des Verbrechens, das Theater des Krieges, das Theater der menschlichen Leidenschaften.1

Theater kann auch eine Bezeichnung für spektakuläre gesellschaftliche Ereignisse sein: die Einweihung eines Monuments, die Taufe eines Kriegsschiffes, die Krönung eines Monarchen, eine Militärparade, eine Messe, ein Ball. Diese Manifestationen können auch mit dem Wort Ritus bezeichnet werden.

Auch sich wiederholende Handlungen aus unserem Alltag können Theater genannt werden: Wir inszenieren das Frühstück, danach kommt die Szene, in der wir zur Arbeit gehen, wir stellen im nächsten Akt unseren Arbeitstag dar, dann den Epilog des Abendessens, am Sonntag schließlich das epische Mittagessen mit der gesamten Familie und so weiter. Wir sind wie Schauspieler, die in einer langen und erfolgreichen Spielzeit eines Stücks immer wieder zu den gleichen Partnern die gleichen Sätze sagen und zur gleichen Uhrzeit die gleichen Bewegungen tausende von Malen wiederholen. Die menschliche Existenz kann zu einer Aneinanderreihung von mechanisierten Handlungen werden, die so rigide und leblos sind wie bei einer Maschine. Diese Art von Theater in unserem Leben können wir auch als bezeichnen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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