Ullstein 03: Operation Lazarus - Arno Thewlis - E-Book

Ullstein 03: Operation Lazarus E-Book

Arno Thewlis

0,0

Beschreibung

Ein alternatives Deutschland im Jahr 1930. Durch den Ausbruch eines neuartigen Pestvirus ist Deutschland vom restlichen Europa isoliert und in einzelne Königreiche, Zwergstaaten und Festungsstädte zerfallen.Nach einem Attentat muss Privatdetektiv Ullstein aus Thyssenia fliehen. Er kreuzt den Weg eines kommunistischen Entführungskommandos aus der Roten Ruhrlandrepublik und einer nationalsozialistischen Gruppierung, die nach dem gescheiterten Putsch von 1923 in den Untergrund gegangen ist. Sie alle wollen in den Besitz des Serums gelangen, allerdings aus unterschiedlichen Motiven. Doch dazu müssen sie verhindern, dass dem Träger des Immunserums die Flucht aus dem streng bewachten Deutschland gelingt.Die Printausgabe des Buches umfasst 158 gedruckte Seiten

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 178

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ULLSTEIN

In dieser Reihe bisher erschienen

3101 Ronald M. Hahn In der Todeszone

3102 Arno Thewlis Tödliche Grenzwelt

3103 Arno Thewlis Operation Lazarus

Arno Thewlis

Operation Lazarus

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Konrad BakUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-268-4Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Was bisher geschah:

1923 gelang Adolf Hitler in München ein Putsch, der allerdings einen Bürgerkrieg auslöste. Die Auseinandersetzungen fanden erst zwei Jahre später ihr Ende, als in Deutschland die Neo-Pest ausbrach, die zehn Millionen Opfer forderte. Dies hatte zur Folge, dass die Welt Deutschland hermetisch abriegelte. Niemand durfte hinein oder heraus. Innerhalb der Landesgrenzen fiel Deutschland in die Zeit vor Bismarck zurück: Es gibt vier große Königreiche, diverse Zwergstaaten und einige Festungsstädte. Die Seuche scheint eingedämmt, doch die Staaten bleiben voneinander abgeschottet, und ihre Grenzen werden von klobigen Krupp-Kampfrobotern bewacht. Handel und Verkehr zwischen den deutschen Staaten sind aus Angst vor einem neuen Ausbruch nur unter extremen Sicherheitsvorkehrungen möglich. Man beäugt sich argwöhnisch, weil man fürchtet, die Neo-Pest könne wieder aufflackern.

1930. Heute:

Der Privatdetektiv Harry Ullstein erhält in Berlin von dem berühmten Hellseher Hanussen den Auftrag, seine verschwundene Tochter Marie zu finden. Seine Suche führt ihn vom Königreich Preußen ins Fürstentum Waldeck, nach New Montana, dem 49. Staat der Vereinigten Staaten und in die Rote Republik Ruhrland.

Dort lernt er die Politkommissarin Alexandra von Xanten kennen und soll sie auf die Spur der Terrororganisation Werwölfe führen, die von Adolf Hitler im Untergrund kontrolliert wird.

Ullstein führt ein Einsatzkommando nach Bayern, wo die Terroristen in einem versteckten Höhlensystem ­hausen. Er gerät in die Gewalt der Werwölfe, und Alexandra von Xanten entpuppt sich als Anhängerin von Hitler. Ullstein trifft auch dort auf Marie, deren hellseherische Kräfte von den Werwölfen genutzt werden sollen. Allerdings hat sie diese zusammen mit ihrer Jungfräulichkeit verloren.

Die Werwölfe tauchen mit Alexandra und Marie unter.

Harry Ullstein reist nach München und entdeckt in der Zeitung ein Bild von Alexandra, die im Krankenhaus liegt und deren Identität niemand kennt. Ullstein besucht sie und kehrt in der Nacht zurück, um sie mitzunehmen. Dabei werden sie von einer Polizeistreife erwischt. ­Alexandra kann entkommen, aber Ullstein wird verhaftet. Auf der Wache erkennt man in ihm den flüchtigen Mörder, der in New Montana gesucht wird. Die Auslieferung erfolgt per Zeppelin. Als ihn Staatsanwalt Young bei der Landung in Empfang nehmen will, tauchen vier Vermummte auf und überwältigen die Wächter. Sie bringen Young und Ullstein in das Landhaus von Deputy ­Sheriff Ewers, den Ullstein bereits kennt. Er ist wie Young ein Mitglied der Schwarzen Legion, die sich Ullsteins Dienste sichern will.

Das Landhaus wird von einem russischen Kommando angegriffen, das den Physiker J. Robert Oppenheimer entführt hat und aufgrund eines Motorschadens dringend ein Fahrzeug benötigt. Geleitet wird es vom Tscheka-­Kapitan Josef Stalin, der als angeblicher Prawda-­Journalist in der Roten Republik Ruhrland lebt, in Wahrheit aber darauf aus ist, talentierte Wissenschaftler und Ingenieure für die UdSSR zu rekrutieren.

Ullstein kann den Physiker befreien. Es kommt zu einem Feuergefecht, dem Stalin nur knapp entkommt. Von einem gefangenen Angreifer erfährt Ullstein, dass die Russen über ein Immunserum gegen die Neo-Pest verfügen. Dieses könnte die Rettung für das Deutsche Reich bedeuten.

Ullstein muss seine Unschuld am Tod des US-­Agenten Swift beweisen und dafür Theodor alias Bormann schnappen. Die Einzige, die seinen Aufenthaltsort kennen könnte, ist Alexandra von Xanten. Sie hält sich verdeckt in der Industriestadt Thyssenia auf, um einen Ingenieur zu manipulieren, der mit der Entwicklung von Kampfrobotern vertraut ist. Schon auf dem Flug wird er von dem Thyssenia-Mitarbeiter Fischbach enttarnt. Der taucht beim Treffen mit Alexandra auf, und die beiden müssen fliehen. Sie tauchen in Alexandras Hotel unter. Sie erzählt ihm, dass sich Bormann in Thüringen aufhält. Ullstein und die Dreifachagentin verbringen eine Nacht miteinander. Am nächsten Morgen wird ein Attentat auf Alexandra verübt.

1. Kapitel

Wenn irgendwo zwischen zwei Mächten ein noch so harmlos aussehender Pakt geschlossen wird, muss man sich sofort fragen, wer hier umgebracht werden soll.

Otto von Bismarck

Der Killer wollte Alexandra gerade die tödliche Drahtschlinge um den Hals legen, als Ullstein mit einem lauten Schrei nackt aus dem Schrank sprang.

„Duck dich!“, brüllte er.

Alexandra folgte dem Befehl ohne Zögern.

Die Schlinge wischte über ihren Kopf hinweg. Sie drehte sich in der hockenden Position herum und versenkte ihre Faust im Schritt des Attentäters. Dessen Augen quollen aus den Höhlen hervor.

Der falsche Hotelpage griff in seine Uniformjacke und riss ein Stilett heraus.

Ullstein sprang auf ihn zu, rammte beide Hände in die Brust des Burschen und stieß ihn rückwärts über den Servierwagen. Er schnappte sich den Sektkübel aus der Luft, bevor er zu Boden fallen konnte, packte die Flasche am Hals und wollte zuschlagen, überlegte es sich aber anders und zog dem Mann stattdessen den metallenen Kübel über.

Der Killer streckte sofort alle viere von sich und war erst mal außer Gefecht gesetzt.

Ullstein setzte den nackten Fuß auf den Griff des Stiletts und schob es über den Boden auf Alexandra zu. Sie schnappte sich die Klinge und stieß damit nach ihrem Gegner. Doch der wich geschickt zur Seite, schlang seinen Draht um ihr Handgelenk und zog ihn stramm. Die Schlinge schnitt in ihr Fleisch. Sofort begann Blut zu fließen. Mit einem Aufschrei ließ Alexandra das Stilett los. Doch sie fing es sofort wieder mit der freien Hand auf und rammte es von oben durch den Schuh des Angreifers.

Der brüllte laut auf und lockerte seinen Griff, sodass Alexandra ihre Hand befreien konnte. Als Nächstes wurde der Attentäter mit der Drahtschlinge von dem Metallkübel im Gesicht getroffen, den Ullstein quer durch den Raum geschleudert hatte. Mit einer blutigen Nase und aufgeplatzter Lippe taumelte der Mann aus der Suite heraus.

Ullstein wollte ihm nachsetzen, als von hinten der Servierwagen gegen seine Beine stieß und er rücklings darauf zu liegen kam. Der Page schob Ullstein auf dem Wagen durch den Raum genau auf Alexandra zu. Ullstein rollte sich im letzten Moment herunter und konnte einen Zusammenstoß vermeiden. Der falsche Page nutzte das Durcheinander zur Flucht.

Keuchend kam Ullstein auf die Beine und half Alexandra auf. Sie betrachtete den rund um ihr Handgelenk verlaufenden Schnitt und ging ins Bad, um Wasser darüber laufen zu lassen. Ullstein warf die Tür der Suite zu und suchte etwas zum Anziehen.

„Wer waren die Kerle?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, ich habe sie noch nie gesehen.“ Alexandra kam aus dem Bad und wickelte sich ein Handtuch ums Gelenk. „Weißt du genau, dass sie nicht deinetwegen hier waren?“

„Ausschließen kann ich es nicht“, gab Ullstein zu, „aber ich wüsste nicht, zu welcher Gruppierung sie gehören sollten … Wenn sie zum Thyssenia-­Werkschutz gehören, würden sie sich nicht die Mühe machen, sich als Hotel­angestellte zu verkleiden. Sie würden einfach die Tür eintreten und uns festnehmen. Die übrigen ­Verdächtigen, die mir einfallen, hätten keine Möglichkeit, in die Stadt zu gelangen. Ich tippe also auf Verehrer von dir.“ Er steckte zwei Zigaretten an und reichte ihr eine. „Ich will die Verantwortung nicht abwälzen, aber ich glaube schon, dass sie deinetwegen hier waren. Du hast es dir ja wohl mit ein paar Gruppen mehr verscherzt als ich. Außerdem haben sie dich angegriffen, bevor ich ins Bild kam. Die Drahtschlinge sah nicht nach ‘ner amtlichen Festnahme aus. Wie auch immer, möglicherweise sind wir beide aufgeflogen. Wir sollten verschwinden.“

„Ja“, stimmte Alexandra zu. „Aber nicht gemeinsam.“

„Du willst sagen, hier trennen sich unsere Wege?“

„Du hast die Informationen, die du haben wolltest – und wohl auch einiges mehr, aber jetzt wird es Zeit zu gehen. Ich kann den Erfolg meiner eigenen Mission nicht riskieren. Du hast deine Transportmöglichkeit nach Thüringen. Ich wünsch’ dir viel Glück.“

Mehr gab es wohl nicht zu sagen. Ullstein wollte auch nicht derjenige sein, der unnötige Sentimentalitäten aussprach. Sie packten eilig ihre Sachen zusammen, wobei sich Alexandra auf eine Tasche beschränkte. Die Unmenge an Gepäck, mit der sie im Hotel abgestiegen war, gehörte größtenteils zu ihrer Tarnung. Die meisten Koffer hatte sie nie geöffnet.

„Treppe oder Aufzug?“, fragte Ullstein.

„Diesmal wählen wir den schnellsten Weg.“

Ullstein hielt die Luger in der Hand und legte zur Tarnung den Trenchcoat darüber. Alexandra hielt ihre Rechte in der Handtasche und umklammerte dort ebenfalls eine Waffe. Sie traten in die Kabine und fuhren nach unten in die Eingangshalle.

Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, waren sie auf einen Angriff vorbereitet. Sie blieben dicht beieinander. Jeder behielt eine Hälfte der Halle im Blick.

Dann blieb Alexandra abrupt stehen.

„Was ist?“, fragte Ullstein.

„Das kann nicht sein.“

Ein Geiger unterhielt von einem Podest aus die Gäste im Speisesaal. Der Klang seines Instrumentes beherrschte die Halle und überlagerte alle anderen Geräusche. So kam es Ullstein zumindest vor, als er den Toten sah. Oder besser gesagt: den Totgeglaubten. Er erkannte den schlanken Glatzkopf mit der runden Nickelbrille sofort: Polit-­Kommissar Snöfenborg, zuständig für Abwehr und geheime Sonderprojekte in der Roten Ruhrrepublik. Eigentlich hätte er tot sein müssen, denn Ullstein hatte ihm auf dem Obersalzberg höchstpersönlich in den Kopf geschossen und dadurch dem falschen Hitler das Leben gerettet. Ullstein konnte sich nicht erklären, wie der Mann überlebt hatte, denn für gewöhnlich war er recht treffsicher.

Snöfenborg trug einen Kopfverband wie ein Stirnband. Wie sehr sich der Schuss auf seinen Verstand ausgewirkt hatte, konnte Ullstein nicht sagen, aber an Gedächtnisschwund schien der Mann nicht zu leiden.

Snöfenborg durchbohrte Alexandra mit einem Blick. Er wirkte, als wolle er sie mit bloßen Händen zerreißen.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie erstaunt.

„Beenden, was diese Trottel nicht geschafft haben.“ Snöfenborg war nicht allein. Von rechts näherte sich der falsche Page, nun in zivil, und von der anderen Seite der Mann, der sie mit der Drahtschlinge angegriffen hatte. Alle hielten die Hände in den Manteltaschen vergraben und zweifellos hatten sie auch Pistolen. Fünf bewaffnete Menschen standen sich in der Halle gegenüber. Wenn einer von ihnen die Nerven verlor, würde in dem belebten Hotel eine Schießerei losgehen.

Alexandra musterte Snöfenborgs Helfer. „Es waren Genossen, die mich angegriffen haben? Aber wieso?“

Snöfenborg konnte sich kaum beherrschen. Es platzte aus ihm heraus: „Das fragst du noch? Steh’ endlich zu deinem Verrat! Die Partei weiß längst, dass du eine ­Doppel- oder Dreifach-Agentin bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich von dir bin.“ Er bebte vor Wut und Enttäuschung. „Du hattest nie vor, die Pläne von Bangert zu besorgen. Jedenfalls nicht für uns. Ich weiß nicht, wer deine wahren Herren sind, aber wir sind es nicht.“

„Die wahren Herren?“, erwiderte Alexandra leise. „Genosse Snöfenborg, ich glaube, du hast dich im Vokabular vergriffen.“

Snöfenborg richtete die Pistole auf ihre Stirn. „Gute Idee, verspotte mich ruhig; es erleichtert mir das Abdrücken.“

„Du hast dich sicher freiwillig für diesen Auftrag gemeldet.“

Snöfenborg nickte und wies mit dem Kopf auf Ullstein. „Wie ich sehe, hast du dich schon mit dem Klassenfeind verbrüdert. Oder stand er nur zufällig nackt in deinem Schrank?“

„Keine Eifersucht nötig“, beschwichtigte ihn Ullstein, „es liegt nur daran, dass sie so einen guten Geschmack hat.“

Snöfenborg lächelte. Ullstein ließ sich keine Sekunde täuschen: Es war ein Lächeln, auf das in der Regel unmittelbar Gewalt folgte. Er spannte die Bauchmuskeln an und bekam im nächsten Moment Snöfenborgs Faust zu spüren.

Der Kommissar konnte nicht annähernd so fest zuschlagen, wie er glaubte, aber Ullstein klappte theatralisch zusammen, um ihm ein Erfolgserlebnis zu gönnen. Keuchend blickte er zu Alexandra auf. „Gibt es in Deutschland noch Männer, mit denen du kein Verhältnis hattest?“

Snöfenborgs Helfer schauten sich an und hoben dann zögernd die Hand.

Alexandra musste ein Kichern unterdrücken.

Snöfenborg verdrehte die Augen, weil er mit solchen Dummköpfen gestraft war. „Klaus, Ernst … Nehmt die Sachen der Genossin von Xanten mit. Sie reist heute nach Essen.“

„Was ist mit Bangert?“, fragte Alexandra.

„Ich übernehme deinen Auftrag.“

„Nicht, dass ich an deinen Fähigkeiten und deiner Einsatzbereitschaft zweifle, aber ich glaube, Bangert steht eher auf Dunkelhaarige.“

Klaus grunzte vergnügt, was ihm einen mahnenden Rippenstoß seines Kollegen eintrug. Snöfenborg verpasste Alexandra eine schallende Ohrfeige.

„Du machst dir keine Vorstellung davon, was dich zu Hause erwartet, du dreckige Verräterin. Du wirst dir noch wünschen, ich hätte dich sofort hingerichtet. Das gerade war nur ein Vorgeschmack.“

„So, wie du zuschlägst, kann es ja nicht so schlimm werden“, erwiderte Alexandra frech.

Ullstein stellte eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihm und ihr fest: Sie wussten beide nicht genau, wann es besser war, die Klappe zu halten. Dieses Mal nahm Snöfenborg die Faust und verpasste Alexandra eine blutende Unterlippe.

Der Geiger unterlegte die Szene, ohne es zu ahnen, sehr passend mit lang gezogenen Klängen, als wolle er die Spannung noch in die Länge ziehen.

„Rückzug“, murmelte Ullstein, und sie bewegten sich auf die Tür zur Treppe zu. Kaum im Treppenhaus angekommen, drückte Alexandra die Tür zu.

Ullstein zog sein Taschenmesser, ging in die Knie und schob es durch den unteren Türspalt, um die Tür zu ­verkeilen. Einen Ochsen wie den Kerl mit der Drahtschlinge würde es allerdings nicht lange aufhalten.

Vor dem Schließen der Tür hatte Ullstein gesehen, dass ihre Verfolger sich aufteilten. Mindestens einer würde den Fahrstuhl nehmen und sie oben erwarten. Sie konnten nicht in die Suite zurück, aber dort säßen sie ohnehin in der Falle.

Unten wurde die Tür zum Treppenhaus aufgebrochen. Ullstein riss die Tür zum Stockwerk auf und schob Alexandra auf den Flur hinaus. „Wir versuchen es durch das Treppenhaus auf der anderen Seite des Hauses.“

„Wenn sie schlau genug sind, wird einer von ihnen dorthin unterwegs sein.“

„Du kennst sie besser als ich, sind sie so schlau?“

„Snöfenborg auf jeden Fall.“

Auf der Straße vor dem Hotel ertönte eine Sirene. Ullstein trat ans Fenster und sah Fahrzeuge, die dort unten in beiden Richtungen die Zufahrt zum Gebäude blockierten. „Wir müssen hier raus“, rief er Alexandra zu, als er zur anderen Seite des Flures lief, sich übers Geländer beugte und nach unten in die Hotelhalle blickte.

Der Werkschutz von Thyssenia hatte wohl ausreichend Erfahrung darin, ein Gebäude in Beschlag zu nehmen. Die beiden ersten Männer, die das Haus betraten, stellten sich zu beiden Seiten der Eingangstür auf und behielten die Halle im Blick. Alle weiteren strömten zu den Treppenaufgängen und Fahrstühlen. Sie schienen mit dem Inneren des Hotels bestens vertraut zu sein: Niemand musste sich erst orientieren, und niemand gab Anweisungen. Jeder der schwarz gekleideten Männer kannte seinen Platz und den Weg, den er nehmen musste. Die Angehörigen des Werkschutzes fluteten die Lobby.

Und mittendrin: ein Mann in Zivil, den Ullstein nur zu gut kannte. Bastian Fischbach stand mitten in der Halle und schaute sich in alle Richtungen um. Nichts an ihm erinnerte an den leutseligen und jovialen Handlungsreisenden, den Ullstein im Zeppelin kennengelernt hatte. Dieser Mann war ein unbarmherziger Jäger und nicht gewohnt oder gewillt, seine Beute entkommen zu lassen.

Allerdings machte er einen reichlich lädierten Eindruck. Fischbach hatte ihre letzte Begegnung nicht gut überstanden. Er trug den linken Arm eingegipst in einer Schlinge, und als er den Hut abnahm, konnte Ullstein einen Kopfverband sehen. Außerdem hinkte der Luftwächter ziemlich stark. Aber er ließ es sich wohl nicht nehmen, die Verantwortlichen für seinen Zustand selbst zu verhaften.

„Hervorragend, noch ein Problem mehr“, stieß Ullstein hervor.

Alexandra trat neben ihn und blickte ebenfalls nach unten. „Wer weiß, vielleicht schaffen sie uns Snöfenborg und seine Schergen vom Hals.“

„Eher unwahrscheinlich.“

„Was jetzt? Das Dach?“

Das Hotel „Goldener Löwe“ befand sich an der Ecke eines Häuserblocks. Zu beiden Seiten grenzten andere Häuser an das Gebäude heran. Vielleicht war es möglich, über die Dächer zu entkommen. „Einen Versuch ist es wert“, sagte Ullstein.

Sie eilten über den Flur, während sich der Werkschutz gut hörbar durch die Stockwerke nach oben arbeitete. Aber wenn sie jedes einzelne Zimmer auf ihrem Weg kontrollieren wollten, hatten sie noch eine Weile zu tun, bis sie oben ankamen. Ullstein und Alexandra betraten das gegenüberliegende Treppenhaus und liefen nach oben ins Dachgeschoss, wo sich die Unterkünfte der Bediensteten befanden. Ihre Flucht endete an einer verschlossenen Tür, die auf das Hoteldach hinausführte.

„Ich nehme an, du bist besser im Umgang mit Schlössern“, sagte Ullstein und ließ Alexandra den Vortritt. Sie zog ihre Pistole aus der Handtasche und zerstörte das Schloss mit zwei Schüssen.

„Also, das hätte ich auch noch hingekriegt.“ Ullstein seufzte.

„Ich glaube, es ist zu spät, um sich hier noch unbemerkt rausschleichen zu können. Alles, was jetzt noch zählt, ist Tempo.“

Sie stiegen in der Mitte des Gebäudes auf das Dach hinaus. Das Hotel verfügte über ein Mansarddach mit zahlreichen Giebelgauben und Schornsteinen in regelmäßigen Abständen. Auf einem Flachdach wären sie wesentlich schneller vorangekommen, aber nun war es zum Umkehren zu spät. Der Goldene Löwe war das höchste Gebäude. Die Dächer der Nachbarhäuser lagen tiefer und waren von ihrem momentanen Standort aus nicht zu sehen.

„Welche Richtung?“, fragte Alexandra.

Eine Kugel schlug hinter ihnen in die halb geöffnete Tür zum Dach. Sie brauchten sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Snöfenborg und seine Handlanger sie eingeholt hatten.

„Vorwärts!“, rief Ullstein. Sie eilten über den First zum östlichen Dachende und hofften, dass das Nachbarhaus auf dieser Seite dicht genug an ihr Dach heranreichte.

Glücklicherweise war es tatsächlich nur unwesentlich niedriger. Und es war sogar ein Flachdach. Allerdings trennte eine Gasse von gut zwei Metern Breite die beiden Häuser. Keine unüberwindliche Entfernung und auf dem Boden geradezu lächerlich, aber hier ging es vier Stockwerke in die Tiefe.

„Springen?“, fragte Ullstein.

„Ich sehe keine andere Möglichkeit.“

Sie betrachteten das gegenüberliegende Dach und den Giebel auf ihrer Seite, der keine gute Absprungmöglichkeit bot.

„Oder wir schießen uns den Weg frei“, überlegte Ullstein laut.

Eine Kugel fuhr durch den Schoß ihres Mantels und riss ein Loch hinein. Alexandra ging hinter einem Kamin in Deckung.

Ullstein wedelte seine Pistolenhand unter dem Trenchcoat frei und erwiderte das Feuer. Er erkannte kein konkretes Ziel, er feuerte nur in die ungefähre Richtung ihrer Verfolger, um sie abzulenken. Er sah Snöfenborg, der sich nicht um eine Deckung kümmerte, sondern unentwegt auf Alexandras Versteck feuerte.

Snöfenborg hatte offenbar doch kein Interesse mehr daran, seine ehemalige Genossin in die Rote Republik Ruhrland zurückzubringen. Für ihn zählte nur noch, sie an der Flucht zu hindern und für ihre Bestrafung zu sorgen. Der Kommissar war so eingenommen von seinen Rachegelüsten, dass er Ullstein schlicht ignorierte. Nichts brannte schlimmer als der Hass eines Verschmähten.

„Die nageln uns hier fest. Wir müssen springen oder angreifen, bevor sie uns in die Zange nehmen.“

„Beides ist glatter Selbstmord“, widersprach Ullstein, aber auch er hatte keine bessere Lösung parat.

Kurz entschlossen schleuderte Alexandra ihren Koffer auf das tiefer liegende Nachbardach. Ullstein wollte ihrem Beispiel gerade folgen und seine Reisetasche hinterherwerfen, als eine Kugel das Gepäckstück traf. Er ließ die Tasche fallen und schoss auf die Verfolger. Der Riese namens Klaus tauchte hinter einem Giebel weg.

Die Verfolger arbeiteten sich unerbittlich weiter voran. Snöfenborgs nächste Kugel streifte Alexandras Oberschenkel und ließ sie straucheln. Sie verlor das Gleich­gewicht, ruderte mit den Armen und knallte rückwärts auf den Dachgiebel. Bevor sie Halt fand, rutschte sie über die Ziegel auf den Rand des Daches zu. Sie presste Arme und Beine flach auf den Untergrund, um die Rutschpartie zu bremsen und irgendwas greifen zu können, an dem sie sich festhalten konnte.

Ihr Kopf ragte bereits über das Dach hinaus, als sie ruckartig gebremst wurde. Ihre Schulter hing in einem Schmutzfänger über der Dachrinne fest. Das Metall­gitter hatte zwar vorerst ihr Leben gerettet, verursachte ihr dem Gesichtsausdruck nach aber auch große Schmerzen. Im nächsten Moment gab die Halterung des Schmutz­fängers ein Stück nach. Sie rutschte ein Stück weiter. Metall bohrte sich tiefer in ihre Schulter.

Ihre Blicke begegneten sich. Ullstein hätte Verzweiflung oder Angst erwartet, doch Alexandra erschien ihm völlig ruhig. „Halt’ aus, ich bin gleich bei dir!“ Er wollte aus seiner Deckung kommen, doch darauf hatte Snöfenborg nur gewartet. Eine Kugel traf den Kamin neben Ullsteins Kopf und ließ einen Backstein zerplatzen. Scharfe Steinsplitter schnitten in seine Haut. Er drehte reflexartig den Kopf zur Seite, um seine Augen zu schützen.

Eilig kletterte er um den Kamin herum, sprang über den First hinweg auf die andere Dachhälfte, kletterte eilig Richtung Giebel und sprang kopfüber vorwärts.

Lang ausgestreckt rutschte er über die abgeflachte Dachfläche auf Alexandra zu. Er wollte sie so schnell wie möglich erreichen, aber nicht selbst über den Dachrand hinausschlittern, denn damit wäre niemandem geholfen gewesen. Als er noch einen Meter von ihr entfernt war, presste er seine Schuhe auf die Ziegel, während seine Hände ausgestreckt waren, um Alexandra zu ergreifen.

Hinter ihnen ertönten Schüsse aus mehreren Richtungen. Kugeln schlugen dicht neben ihnen in den Rand des Daches.

Ullstein und Alexandra sahen sich in die Augen, als die Halterung nachgab und brach. Die junge Frau fiel schweigend, dann war sie verschwunden.

2. Kapitel

Du kannst einen Teil der Leute

die ganze Zeit hereinlegen

und alle Leute eine Zeit lang,

aber nicht alle die ganze Zeit.

P.T. Barnum

Hanns Heinz Ewers, Deputy in Barmen-Elberfeld, betrat an diesem Morgen sein Büro im Sheriffdepartment früher als gewöhnlich. Er setzte Wasser für seinen Kaffee auf und wartete geduldig, bis es kochte, dann goss er es auf den gefüllten Filter und wartete wieder, bis genug für eine erste Tasse durchgelaufen war. Äußerlich völlig ruhig, trug er die Tasse zu seinem Schreibtisch und nahm Platz. Er schlürfte einen ersten Schluck des viel zu heißen Getränks und bereitete sich innerlich auf seine bevorstehende Aufgabe vor.