Ulrike von Kleist - Barbara Dr. Gribnitz - E-Book

Ulrike von Kleist E-Book

Barbara Dr. Gribnitz

0,0

Beschreibung

Ulrike von Kleist (1774–1849) ist als Schwester des Dichters Heinrich von Kleist (1777–1811) bekannt. Endlich bekommt sie ihre eigene Biographie – eine Biographie in Variationen. Anhand der erhaltenen Dokumente nähert sich Barbara Gribnitz, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Kleist-Museum, dem Leben Ulrike von Kleists. Der ungarische Germanist László F. Földényi geht in seinem Essay der Frage nach, inwiefern die Beziehung zu ihrem Bruder eine Biographie Ulrike von Kleists beeinflussen muss. Danach stellen die preisgekrönten Schriftstellerinnen Felicitas Hoppe und Kathrin Röggla in zwei Kurzerzählungen jeweils eine Ulrike von Kleist vor, die sie hätte durchaus sein können. Variationen über Ulrike von Kleist – lernen Sie eine facettenreiche Frau kennen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 161

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ulrike von Kleist. Variationen

Herausgegeben von der Stiftung Kleist-Museum.

Die Stiftung Kleist-Museum wird gefördert von:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, im Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeglicher Art, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

1. Auflage 2024

© ammian Verlag

Inhaber: Marcel Piethe

Rahnsdorfer Straße 26, D–12587 Berlin

Tel.: +49(0)30.64328776 · Fax: +49(0)30.64094706

Mail: [email protected] · www.ammian-verlag.de

Satz und Umschlaggestaltung: ammian Verlag

Druck und Bindung: Standart Impressa · Vilnius

ISBN 978-3-948052-77-5

e-ISBN 978-3-948052-78-2

Ulrike vonKleist

Variationen

mit Beiträgen von

László F. Földényi, Barbara Gribnitz, Felicitas Hoppe und Kathrin Röggla

ammian Verlag

Inhalt

Vorwort

Barbara Gribnitz Daten, Dokumente, Momentaufnahmen

Hineingeboren

Schwester

Hausbesitzerin und Bürgerin

Geschäftsfrau

Reisende

Erzieherin

Heimgegangen

László F. Földényi Fragmente eines Gesichts

Annäherungen an Ulrike von Kleist

Felicitas Hoppe Im Alt singt Fräulein von Kleist

Eine Hommage

Kathrin Röggla Heimsuchung

Familie von Kleist

Ein Lebenslauf in Dokumenten

1774

1789

1790

1794

1797

1799

1800

1801

1807

1808

1811

1812

1813

1815

1816

1817

1819

1820

1822

1823

1824

1827

1828

1830

1832

1834/1835

1838

1839

1846

1847

1848

1849

Vorwort

Ulrike von Kleist (1774–1849) ist als Lieblingsschwester, Vertraute und Geldgeberin in die Biographie Heinrich von Kleists (1777–1811) eingegangen. Sie erscheint bisher nur aus der Perspektive der brüderlichen Briefe und daher als bloßes Mittel zum Zweck, ihn zu charakterisieren. Dieses Buch will das ändern. Zum 250. Geburtstag schenken wir Ulrike von Kleist eine eigenständige Biographie und stellen sie als Person vor, die keinesfalls nur die aufopferungsvolle Schwester des berühmten Dichters war, sondern ebenso Hausbesitzerin und Bürgerin der Stadt Frankfurt a. d. O., Sängerin der Singe-Gesellschaft, Geschäftsfrau, Reisende, Erbtante und Erzieherin.

Am Anfang stand die Spurensuche. Denn bevor ein Leben geschrieben (Bio-graphie) werden kann, muss das Leben erlesen – im ursprünglichen Sinne von gesammelt, aufgelesen – werden.1 Doch welche Spuren hinterlässt eine Person, die wir uns in ihrer Individualität zwar als einzigartig vorstellen, die jedoch in ihrer Normalität nicht in den Fokus der Geschichte geriet? Tauf- und Sterbeeintrag kennzeichnen die offiziell notierten Eckpunkte des damaligen Lebens, dazwischen regieren Zufall, Familieninteresse, Öffentlichkeit oder Katastrophen die dokumentarische Überlieferung. Warum haben sich nur zwei Briefe Ulrike von Kleists an ihren Cousin Wilhelm von Pannwitz erhalten und warum gerade diese? Wohin verschwanden ihre noch 1934 in Familienbesitz befindlichen Notenhefte?2 Es finden sich keine weiteren privaten Briefe, geschweige denn ein Tagebuch.3 Die Mehrzahl der überlieferten Dokumente über Ulrike von Kleist sind öffentlich aufbewahrte Gerichts- und Besitzakten, wegen Kriegs- und Brandverlusten teilweise nur noch in Abschriften.

Die verstreut gesammelten Daten und Dokumente – geordnet nachzulesen im Anhang – formen einerseits das Gerüst der Biographie Ulrike von Kleists. Sie markieren den Unterschied zwischen gesicherten Informationen und Annahmen, die – sich eigendynamisch fortschreibend – zu unhinterfragten Feststellungen werden können („Ulrike von Kleist reiste in Männerkleidung“). Andererseits verdeutlicht die dokumentarische Darstellung, dass sie trotz (oder gerade wegen?) aller Faktizität die Lebensrealität Ulrike von Kleists nicht abbilden kann – und zwar nicht nur, weil die Überlieferung lückenhaft ist, sondern weil Ordnen und Schreiben gestaltende Konstruktion beinhalten, weil jede Darstellung der Quellen auch eine subjektive Inszenierung der Quellen ist. „Auch ein um ‚Wahrheit‘ bemühter Autor kann bei aller quellenkritischen Professionalität keine Realität abbilden, sondern nur erfinden, was sich der wirklichen Gestalt des Dargestellten annähert.“4

Dieses Spezifikum der Gattung Biographie greifen wir auf und präsentieren drei unterschiedliche Arten der Annäherung an die historische Person – Variationen über Ulrike von Kleist. Im ersten Teil werden die überkommenen Daten und Dokumente chronologisch-thematisch zusammengetragen und einzelne Sequenzen als Momentaufnahmen rekonstruiert. Im zweiten Teil reflektiert der ungarische Germanist und Autor einer außergewöhnlichen Heinrich von Kleist-Biographie (Im Netz der Wörter) László Földényi in essayistischer Form die Frage, inwiefern eine Biographie Ulrike von Kleists jenseits der vom Bruder vorgeformten Sicht überhaupt möglich ist. Im dritten Teil lassen die beiden preisgekrönten Schriftstellerinnen Felicitas Hoppe und Kathrin Röggla jeweils eine andere fiktive Ulrike von Kleist entstehen.

Mit einer dokumentarischen und einer essayistischen Annäherung sowie zwei fiktiven Annäherungen an Ulrike von Kleist versammelt dieses Buch wahrhaft Variationen über ein Thema – und möchte dazu einladen, weitere Variationen hinzuzufügen. Denn das Tröstliche an dem Wissen, dass die reale Ulrike von Kleist nie erzählt werden kann, ist, dass es immer wieder Neugierde und neue Perspektiven auf ihr Leben geben wird.

Ganz herzlich sei László Földényi, Felicitas Hoppe und Kathrin Röggla gedankt.

  1Vgl. Angela Steidele, Poetik der Biographie, Berlin 2019, S. 11.

  2Vgl. die Postkarte Ernst von Schönfeldts an Georg Minde-Pouet vom 7. September 1934, in: Nachlass Minde-Pouet/Sammlung Kleist als Dauerleihgabe der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek in der Stiftung Kleist-Museum.

  3Wie Paul Hoffmann es in Aussicht stellte, vgl. ders., Urkundliches über Ulrike von Kleist, in: Frankfurter Oder-Zeitung vom 26./27. April 1905.

  4Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, S. 8.

Barbara Gribnitz Daten, Dokumente, Momentaufnahmen

Hineingeboren

Wappen derer von Kleist (oben) und derer von Wulffen

Ulrike von Kleist wurde in ein Leben hineingeboren, das durch Stand der Familie, geographisch-politischen Ort und Geschlechterrolle fest abgesteckt war. Ihre Eltern entstammten altadligen Häusern aus Pommern und Brandenburg. Die Mutter, Caroline Louise von Wulffen, war Tochter eines zweiten Sohnes, der als Hauptmann diente und eine Gräfin Flemming aus Buckow ehelichte.1 Der Vater, Joachim Friedrich von Kleist, hatte zugunsten seines jüngsten Bruders auf das Erbgut Schmenzin (heute Smęcino, Polen) verzichtet und eine Militärkarriere im Infanterie-Regiment Nr. 24 angetreten. Die Hochzeit fand am 29. September 1769 in der Kirche zu Lossow statt. Dass Caroline Louise von Wulffen erst 14 Jahre alt war, war im 18. Jahrhundert nicht so außergewöhnlich, wie es uns heute scheint.

Die Familie lebte in Frankfurt an der Oder, denn dort stand das Regiment Nr. 24 in Garnison. Sie mietete – seit wann ist nicht belegt – das Haus Nr. 542, das Joachim Friedrich von Kleist erst im Jahr 1788 kaufte bzw. kaufen konnte. Das Haus, die spätere Oderstraße Nr. 26, gehörte zum sogenannten Nonnen- oder Pfarrwinkel, den die Häuserreihen im Osten und im Süden der Marienkirche bildeten. Nummer 542 lag am Ende der östlichen Zeile zwischen dem Haus des Stadtkommandanten und dem rechtwinklig anschließenden Haus des Pastors.

Frankfurt an der Oder unterstand als Immediatstadt direkt der preußischen Krone und wurde durch einen Magistrat verwaltet. Um 1780 besaß die Stadt rund 950 Häuser und 12.600 Einwohner*innen, ein knappes Viertel davon waren Militärangehörige. Es gab eine Seidenmanufaktur mit 20 Webstühlen, zwei Tabakfabriken, eine Seifenfabrik und zahlreiche kleinere Gewerke. Jährlich fanden drei Messen statt. Außerdem beherbergte Frankfurt seit 1506 eine der drei preußischen Universitäten.2

In diese Familie, in diesen Ort wurde Ulrike von Kleist als Mädchen hineingeboren.

Daniel F. Sotzmann, Plan der Stadt Franckfurth an der Oder, Kupferstich, 1785

Der Taufeintrag vom 3. Mai 1774 ist das erste Dokument, das Ulrike von Kleists Leben bezeugt. Er steht im Kirchenbuch der im 18. Jahrhundert von der Garnison genutzten Unterkirche, Kirche des ehemaligen Franziskanerklosters und heutige Konzerthalle. Da es sich um eine Nottaufe handelte, wird die Taufe jedoch höchstwahrscheinlich nicht in der Kirche, sondern im Haus stattgefunden haben. Grund war der Tod der Mutter „an eben dem Tage“; sie starb an einem Friesel genannten Fieber mit hirsekornartigem Hautausschlag, das insbesondere bei frisch entbundenen Frauen festgestellt wurde, aber am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht erklärt werden konnte.3

Die Namen der Pat*innen lassen keine Verbindung zur Familie der Mutter, Caroline Louise von Wulffen, erkennen. Es handelt sich zum einen um Frauen der Frankfurter Stadtgesellschaft: Christiane Wilhelmine von Birckholz, verheiratet mit Hauptmann Ewald von Manteuffel aus dem Regiment Nr. 24, und die Ehefrau des Philosophieprofessors und Universitätsrektors Georg Friedrich Curts, deren Name nicht überliefert ist. Zum anderen kamen die Pat*innen aus der Verwandtschaft des Vaters: Der Student Philipp Wilhelm von Borcke war Sohn der ältesten Schwester Joachim Friedrich von Kleists, die 1750 Georg Balthasar von Borcke auf Falkenburg (heute Złocieniec, Polen) geheiratet hatte. In welchem genauen Verwandtschaftsverhältnis Fräulein von Borcke zum Vater stand, ob Nichte oder Schwägerin, lässt sich nicht ermitteln. Das größte Rätsel gibt jedoch Fräulein von Pannwitz auf, denn – soweit recherchierbar – waren die Familien von Kleist, von Wulffen und von Pannwitz zu diesem Zeitpunkt nicht miteinander verwandt. Allerdings heiratete Joachim Friedrich von Kleist im Januar 1775 Juliane Ulrike von Pannwitz, Tochter des Gutsbesitzers Otto Heinrich von Pannwitz und seiner Frau Juliane Charlotte von Schönfeldt.

Taufeintrag im Kirchenbuch der Garnisonskirche

Auch wenn Caroline Louise von Wulffen ihre 1772 geborene Tochter Wilhelmine gemäß den dringenden Empfehlungen der damaligen Medizin vielleicht selbst gestillt hatte, Ulrike von Kleist muss nach ihrem Tod eine Amme gehabt haben. Im Alter von acht Monaten bekam sie eine Stiefmutter, dann folgten fünf Halbgeschwister. Über ihre Kindheit (und die ihrer Geschwister) ist nichts Genaues bekannt. 1781 kaufte der Vater das Gut Guhrow bei Cottbus, so dass die Familie vielleicht die Sommertage auf dem Land verbrachte; auch ein reger Verkehr mit den Verwandten stiefmütterlicherseits in der Umgebung scheint wahrscheinlich: Pannwitz auf Gulben und Wormlage, Schönfeldt auf Werben, Loeben auf Groß Osnig. Aus einer Gerichtsakte vom 17. Februar 1823 geht hervor, dass zwischen 1782 und 1794 eine Erzieherin namens Johanne Elisabeth Nogier im Hause der Familie von Kleist lebte;4 sie wird den Unterricht der vier, später fünf Mädchen übernommen haben.

Mädchenbildung orientierte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts an der diskursiv festgelegten Bestimmung der Frau als Ehefrau und Mutter. Um „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens“ zu werden, waren laut einer populären pädagogischen Schrift ein durch Beobachtung und Nachdenken geschulter Verstand, Grundkenntnisse in Geographie, Geschichte, Literatur und Naturgeschichte sowie wirtschaftliche Kenntnisse nötig.5 Hinzu kamen, insbesondere für adlige und großbürgerliche Mädchen, Fähigkeiten in Konversation, modernen Fremdsprachen, feiner Handarbeit, Musik, Zeichnen und Tanz.6 Welchen Unterricht Ulrike von Kleist erhielt, wissen wir nicht. Anzunehmen ist aber, dass ihre Ausbildung in eben diesem Rahmen verlief; doch vielleicht lässt sich – gestützt auf spätere Belege ihrer Wissbegierde7 – ebenso vermuten, dass sie sich weitere Kenntnisse selbständig aneignete.

Als Zeugnis der standesgemäßen weiblichen Bildung Ulrike von Kleists kann ihr Eintrag in das Stammbuch ihres Cousins Ernst von Schönfeldt dienen: Mit 20 Jahren beherrschte sie die Grundregeln des Zeichnens und der Aquarellmalerei sowie die französische Sprache, worauf die in nichtdeutschen Buchstaben geschriebenen Wörter (Scenen, Nov und die Unterschrift) hinweisen.

Eintrag in das Stammbuch ihres Cousins Ernst von Schönfeldt

Im Gegensatz zu den beiden anderen, allerdings nicht materiell überlieferten Stammbucheinträgen für ihre Cousinen Auguste und Ulrike von Loeben, die standardisiert Freundschaft bekundeten,8 ruft dieser Eintrag augenscheinlich eine gemeinsam erlebte Begebenheit auf: Ein modisch gekleideter junger Mann (Ernst von Schönfeldt?) streckt einer verheirateten Frau (die Haube könnte ein Indiz sein) in dunklem Kleid (Wilhelmine von Kleist, verh. von Löschbrand?) eine sogenannte Geldkatze9 entgegen; neben ihr steht eine junge Frau mit offenen Haaren (Ulrike von Kleist?), die auf die Geldkatze zeigt und von einer links hinter ihr stehenden jungen Frau mit Hut (Auguste von Kleist?)10 umfasst wird, dahinter ist noch eine ältere Frau mit Hut und Witwenhaube (Auguste Helene von Massow, die nach dem Tod der zweiten Ehefrau seit 1793 den Haushalt führte?) zu sehen. Die Frauen gehen in Richtung der Sänfte, deren Tür einladend offen gehalten wird; auffallend die etwas griesgrämigen Gesichtszüge der Sänftenträger. Über der Haustür erkennt man ein Emblem – vielleicht das Zeichen des Gasthofes zum Goldenen Engel in der Heiligegeiststraße Nr. 18 in Berlin?11 In der Gegenüberstellung von Zeichnung und ihrer Beschreibung als eine der wichtigsten Szenen des Lebens liegt offenkundig Ironie.

Unbekannter Künstler, Joachim Friedrich von Kleist, Öl auf Leinwand, um 1770

Einen Einschnitt in das Leben Ulrike von Kleists bildete sicherlich der Tod des Vaters am 18. Juni 1788. Zum Vormund der sieben minderjährigen Kinder bestellte das Obervormundschaftsgericht den Frankfurter Justizkommissar George Friedrich Dames. Da das Testament des Vaters „wegen Mängel“ für ungültig erklärt worden war, musste zwischen den hinterlassenen Kindern beider Ehen (bzw. deren Vormund) und der Witwe ein Erbvergleich ausgehandelt werden. Die Kinder erhielten gemeinschaftlich das verpachtete Gut Guhrow, das Wohnhaus dagegen bekam die Witwe, die sich verpflichtete, das allen Kindern aus dem Barvermögen zustehende Geld als Hypothek auf das Haus anzulegen. Als Witwenversorgung wurde ihr die Hälfte der Einnahmen ihrer fünf leiblichen Kinder aus dem väterlichen Erbe zuerkannt; die andere Hälfte sollte dem Unterhalt dieser Kinder dienen. Da die beiden Kinder erster Ehe nicht zu dieser Witwenversorgung beitrugen, hatten sie später auch kein Anrecht auf den Nachlass. Dass die Kinder der ersten Ehe – im Gegensatz zu den fünf leiblichen Kindern – ihren Unterhalt nun aus ihrem eigenen Vermögen bestreiten mussten, war eine weitere Konsequenz dieser Regelung. Dabei fiel das väterliche Erbe der Kinder erster Ehe geringer aus als das der Kinder zweiter Ehe, zudem wurde ihr mütterliches bzw. großväterliches Erbe nicht separiert, sondern in die gesamte Rechnung aufgenommen. Ab Inkrafttreten des Erbvergleichs am 6. September 1790 bis zu ihrer Heirat oder Großjährigkeit mit 24 Jahren erhielten Wilhelmine und Ulrike von Kleist jährlich je 300 Reichstaler12 Zinsen (200 aus dem väterlichen und 100 aus dem mütterlichen Erbe) für den standesgemäßen Unterhalt (vgl. PH 837). Wilhelmine von Kleists Vermögen ging durch ihre Heirat mit Ernst von Löschbrand im Jahr 1791 an ihren Ehemann über; Ulrike von Kleist konnte ab 1798 über ihr Vermögen verfügen.

Schwester

unbekannter Künstler, Heinrich und Ulrike von Kleist (zugewiesen), Aquarell auf Elfenbein, um 1801

Beide Miniaturen wurden 1911 der Gesellschaft für deutsche Literatur zur Begutachtung vorgelegt. Sie entschied, dass es sich um Heinrich und Ulrike von Kleist handelt und legte auch das Entstehungsdatum fest.

Als einzige Zeugnisse der Geschwisterbeziehung haben sich 58 Briefe Heinrich von Kleists an seine Schwester aus den Jahren 1795 bis 1811 – die ihrigen sind nicht überkommen – und eine 1828 datierte, von fremder Hand notierte Erzählung Ulrike von Kleists über ihren Bruder, die die Jahre 1800 bis 1809 umfasst, erhalten. Nur behutsam und vorbehaltlich lassen sich aus diesen wenigen Dokumenten Aussagen über die Beziehung beider rekonstruieren, zumal Heinrich von Kleist allein in zwei von 58 Briefen direkt auf seine Briefpartnerin einging,13 und Ulrike von Kleists Erzählung sich gänzlich etwaiger Gefühlsäußerungen oder Bewertungen enthält.

Zwischen dem ersten erhaltenen Brief, in dem Heinrich von Kleist sehr formelhaft für eine gestrickte Weste dankte (25. Februar 1795), und dem zweiten, der augenscheinlich ein mündliches Gespräch fortsetzte (Mai 1799), müssen die Geschwister vertrauter miteinander geworden sein, eventuell weil sie seinen Entschluss, die militärische gegen eine zivile Karriere zu vertauschen, unterstützt hatte. Aus dem Brief vom Mai 1799 geht hervor, dass Ulrike von Kleist dem Bruder gleichfalls ihre Lebensziele verraten hatte: nicht zu heiraten und die Welt zu bereisen. Denn Heinrich von Kleist nutzte diesen neunseitigen Brief zu der nicht ganz widerspruchsfreien Argumentation, dass zwar Frauen einen ebenso freien Willen wie Männer besäßen, sie aber dennoch nur einer einzigen Bestimmung zu folgen hätten, nämlich Ehefrau und Mutter zu sein. In seinem Neujahrsgruß stellte Heinrich von Kleist dann die Schwester als zwischen der weiblichen und männlichen Geschlechterrolle schwankend dar.14

Auf der gemeinsamen Reise nach Paris kam er Dritten gegenüber auf dieses Schwanken zurück und beklagte ihre mangelnde „Weiblichkeit“ – an ihrem Busen ließe sich nicht ruhen – und ihre männlich bestimmte Entschluss- und Tatkraft, die offensichtlich das Fehlen der seinigen bloßlegte. Ob Ulrike von Kleist sich selbst, dem Bruder folgend, als „zu groß […] für ihr Geschlecht“ (Brief an Karoline von Schlieben, 18. Juli 1801; DKV IV, 240) ansah oder überhaupt in diesen Kategorien dachte, wissen wir nicht. Ihre nachträglich aufgezeichnete Erzählung lässt aber erkennen, dass sie in ihrem Selbstbild ebenfalls die aktivere Rolle in der Geschwisterbeziehung einnahm; ausführlich und teilweise in Dialogform berichtete sie über ihre Reise zu ihrem Bruder in die Schweiz, die sie als Rettung wertete:

Heinrich von Kleist, Wunsch am neuen Jahr 1800

Nun dann komm nur gleich mit nach dem Gasthofe, ich habe schon Zimmer für uns bestellt […]. – Ja mit gehen kann ich nicht, ich habe noch einigen jungen Männern versprochen ihnen beizustehen, sie wollen Bern vertheidigen wenn General Erlach kömmt. – Ach laß sie nur sich allein vertheidigen, jetzt kömmst du gleich mit mir. So zog ich ihn mit zu meiner Wohnung. […] Sehr froh endlich Heinrich aus der Schweiz raus zu haben, trenne ich mich von ihm mit dem beruhigenden Gedanken, ihn nun bei Wieland zu wissen […].15

Schrieb sich Ulrike von Kleist in ihrer Erzählung auch den praktisch-aktiven Part zu, die Aktion selbst ging stets von Heinrich von Kleist aus. Nur ein einziges Mal hört man eine unabhängige Entscheidung heraus: „Ich zog aber vor in Schorin zu bleiben u ließ sie allein reisen“ (PH 840, Bl. 10).

Nach dem Zusammenleben beider in Frankfurt (April 1799 bis August 1800), auf der Paris- und Schweizreise (April bis November 1801 und September bis November 1802) sowie in Berlin und Königsberg (Sommer 1804 bis Herbst 1806, mit Unterbrechungen) entschloss sich Ulrike von Kleist Anfang 1807, nicht mit Heinrich von Kleist weiterzuziehen, sondern bei Verwandten zu bleiben. Was vermutlich eine pragmatische Entscheidung in Kriegszeiten – Heinrich von Kleist reiste mit anderen Offizieren ins französisch besetzte Berlin – war, erscheint im Rückblick als endgültige Absage. Denn auf seine späteren Angebote zum Zusammenleben oder zumindest In-einer-Stadt-Leben (Dresden 1807, Berlin 1810/1811) ging sie nicht mehr ein, wobei die letzte Einladung vom 11. August 1811 datiert und in ein seitens Vokabular und Dekorum außerordentlich (und einzigartig) förmliches Schreiben eingebettet ist (vgl. DKV IV, 499 f.).

Geldfragen durchziehen fast ausnahmslos die erhaltenen Briefe Heinrich von Kleists. Hatte er Ulrike von Kleist zuvor gebeten, Zahlungen aus seinem Vermögen (Zinsen aus seinen Anteilen am Elternhaus und an Guhrow) zu übernehmen oder ihr für ihre Anleihen späteren – wenn auch einen im Falle der Volljährigkeit und einer Hypothek auf ein noch zu kaufendes Haus in weite Ferne gerückten – Ausgleich versprochen, so bat er im Juli 1803 manipulativ appellierend im Namen der Kunst um Finanzierung seiner zweiten Schweizreise, ohne jegliche Gegenrechnungen aufzustellen. Da Ulrike von Kleist diese Episode auch in ihrer Erzählung erwähnt, lassen sich Anfrage und Aufnahme bzw. Erinnerung zusammenbringen.

Heinrich von Kleist: Der Rest meines Vermögens ist aufgezehrt, und ich soll das Anerbieten eines Freundes annehmen, von seinem Gelde so lange zu leben, bis ich eine gewisse Entdeckung im Gebiete der Kunst, die ihn sehr interessiert, völlig ins Licht gestellt habe. […] Nicht gern aber mögte ich dich, meine Verehrungswürdige, vorübergehen, wenn ich eine Unterstützung anzunehmen habe; mögte dir nicht gern einen Freund vorziehen, dessen Börse, in Verhältniß zu seinem guten Willen, noch weniger weit reicht, als die deinige. Ich erbitte mir also von dir, meine Theure, so viele Fristung meines Lebens, als nöthig ist, seiner großen Bestimmung völlig genug zu thun. […] Das liebste wäre mir, wenn du statt aller Antwort selber kämest. […] In eilf Tagen würdest du mich noch hier, die nächstfolgenden in Leipzig finden. […] Doch auch dein Brief wird mir genug sein. (DKV IV, 316 f.)

Ulrike von Kleist: Unterdessen kömmt aber Pfuhl nach Leipzig und beredet ihn, mit ihm wieder nach der Schweiz zu gehen. Er willigt schnell ein, und schreibt mir: er wünschte mich vor seiner Abreise noch zu sehen, ich möchte doch nach Dresden oder Leipzig kommen und ihm Reisegeld mitbringen. Was war zu thun, ich setze mich auf und reise nach Dresden. (PH 840, Bl. 7)