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Die Welt der nordamerikanischen Plattensammler ist bizarr und wirkt in Zeiten von Musikstreaming und Plattformökonomie fast schon antiquiert. Doch es waren jene Sammler der 78er-Schellackplatten, die Vorgänger der Vinyls, die den Kanon US-amerikanischer Musik prägten und noch heute für deren Erhalt und immer wieder neue Entdeckungen sorgen. Einfühlsam beleuchtet Amanda Petrusich diese ferngerückte Welt mit ihren Sammlern, Händlern und Musikern. Zwischen Flohmarktkisten lässt sie sich von einem Sammler in die Kunst des Aufspürens seltener Platten einführen und taucht selbst ab in eine rauschhafte Suche nach alten 78ern. Kenntnisreich schlüsselt sie die tontechnischen Erfindungen und Anfänge der Musikindustrie in den »race records« auf, aber im Kern dreht sich doch alles um die Wurzeln der nordamerikanischen Musik, einzelne Songs und die frühen schwarzen Blues-Musiker:innen, die Schlüsselfiguren für deren Entwicklung waren. Dabei spricht aus jeder Zeile der ebenso versierten wie leidenschaftlichen Kritikerin und Autorin eine tiefe Liebe zur Musik, die förmlich dazu auffordert, selbst zurück zu den Ursprüngen des Musikhörens zu finden, die Töne auf den Trägern wieder greifen zu können und jedes Knistern als Indiz für die Geschichte hinter dem Song wahrzunehmen. So ist ihr Buch auch eine Hommage an die Leidenschaft des Sammelns und eine Suche nach der Seele Nordamerikas.
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Seitenzahl: 438
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AMANDA PETRUSICH
Die wilde Jagd nach den rarsten 78ern und die Suche nach der Seele Amerikas
Aus dem Englischen von Robin Detje
Mit einem Vorwort von Christoph Dallach und einem Essay über das Sammeln von Andreas Maier
Vorwort
PROLOG
Eine Anmutung von Verelendung und erschöpfter Humanität
EINS
Die gehört jetzt mir, ich war vor dir da
ZWEI
Ein widerliches, verbittertes, hasserfülltes altes Ekel
DREI
Das gehört, glaube ich, zu den Dingen, die man nicht erklären kann
VIER
Eine Art Schutz vor Selbstverlust
FÜNF
Paramount Masked Marvel
SECHS
Wir werden nicht ertrinken
SIEBEN
Ich gehe gern raus in die Natur und jage Aug in Auge mit der Beute
ACHT
Ich sage ja nur, dass man diese Art von System nicht austricksen kann
NEUN
Now There’s a Man on His Way Down
ZEHN
Ich sah Musik Amerika verwandeln
ELF
Eine Trauerfeier findet nicht statt
ZWÖLF
Aber ein anderer Teil von mir findet es irgendwie widerlich
DREIZEHN
Jetzt habt ihr mich bloß für einen Haufen LPs hierher gelockt!
VIERZEHN
Ein zwanghaftes Bedürfnis, Veränderung zu verhindern, und ein sich Versenken in obskures Wissen
FÜNFZEHN
Wer möchte schon eine Geschichte über einen Jungen hören, der sich Gitarre aus dem Lehrbuch beigebracht hat?
Danksagung
ESSAY ÜBER DAS SAMMELN
Einer von dreien auf der Welt. Oder warum ich kein Sammler wurde
Ausgewählte Diskografie
Zitierte Quellen
Vor einigen Jahren entdeckte ich in Stockholm eine Platte, von der ich bis dahin nicht mal wusste, dass es sie überhaupt gibt, aber sofort beschloss, dass ich sie haben musste. In einem schummrigen Laden, in den man nur eingelassen wurde, wenn man an einer nicht weiter gekennzeichneten Tür klingelte, hing sie in einer Galerie von Vinyl-Kostbarkeiten hinter der Kasse an der Wand. Bis zu jenem Tag hätte ich meine Plattensammlung darauf verwettet, dass mein umfangreicher Bestand an Lee-Hazlewood-Tonträgern vollständig sei – ein Irrtum. Ich hatte die Rechnung ohne Schweden gemacht. Denn Hazlewood, der kauzige amerikanische Songwriter, Produzent und Musiker – Autor des Nancy-Sinatra-Welthits »These Boots Are Made for Walkin’« – hatte sich in den Siebzigern aus Los Angeles nach Stockholm abgesetzt, wo er zehn Jahre lang blieb, und allerlei Platten einspielte, die nur in winzigen Auflagen veröffentlicht wurden. Ich war mir dennoch sicher, alle davon aufgespürt zu haben, sogar die Single mit dem schwedischen Kinderchor. Aber da stand es nun, dieses seltsame, nie gesehene Hazlewood-Album, ein Soundtrack für einen schwedischen TV-Film, der selbstverständlich nur in Schweden veröffentlicht worden war. Vermutlich in aberwitzig kleiner Auflage, aber wer weiß das schon genau.
Ob ich das kostbare Artefakt mal näher betrachten dürfe und was es denn überhaupt kosten solle, fragte ich den Verkäufer, der mich, seit ich den Laden betreten hatte, so skeptisch musterte, als wäre ich in seine Wohnung eingestiegen. Ich war ungeduldig, hatte nur wenige Stunden Aufenthalt, musste zu einem Termin und danach umgehend zurück zum Flughafen. Zeit für Plattenläden hatte ich nicht, nahm sie mir allerdings gegen jede Vernunft. In der Vergangenheit hatte ich deshalb schon Flüge verpasst. Dummerweise machte der Verkäufer keine Anstalten, mir die Platte zu reichen. Ob ich denn überhaupt wisse, wer genau Lee Hazlewood gewesen sei, wollte er stattdessen wissen, und ob mir klar sei, dass der mal um die Ecke gewohnt habe? Damit begann eine zeitintensive Befragung zu Leben und Werk von Lee Hazlewood, deren Resultat der Plattenverkäufer ganz offensichtlich als Voraussetzung sah, für das Privileg dieses Objekt der Begierde bei ihm erwerben zu dürfen. Nachdem ich alle Fragen zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte, drehte er sich um, nahm die Platte vorsichtig von der Wand und überreichte sie mir, als wären es die britischen Kronjuwelen. Es sei das zweite Exemplar, das er jemals zu Gesicht bekommen habe, ermahnte er mich – das erste hatte selbstverständlich in seiner Sammlung eine Heimat gefunden. Der Preis war kühn und die Zeit mittlerweile zu knapp für eine Entscheidung. Ich erbat Bedenkzeit, spielte in Gedanken Flugumbuchungen und Hotelkosten durch und machte mich auf den Weg zu meinem Termin.
Die Jagd nach raren Tonträgern bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Euphorie und Wahnsinn. Und vermutlich haben sowieso alle, die sammeln, einen Knall. (In diesem Buch wird sogar verhandelt, ob diese Besessenheit als medizinische Krankheit durchgeht). Allerdings führt dieser ausgelebte Irrsinn auch immer wieder zu Glücksmomenten der besonderen Art. Im digitalen Zeitalter, in dem jeder noch so abseitige Song als Stream nur einen Internet-Klick entfernt zu sein scheint, muss jemand schon von allen guten Geistern verlassen sein, um sich analoge Tonträger, die jeden Umzug zur Hölle machen, massenhaft ins Regal zu stellen. Musik zu streamen ist eben ein Beleg seriöser erwachsener Vernunft und Abgeklärtheit. Aber darum geht es glücklicherweise nicht immer.
Die US-amerikanische Autorin Amanda Petrusich hat über dieses Buch mal gesagt, dass es von Irrsinn, Zeit, Musik und Liebe handele, was allein schon großartig klingt. Aber es geht auch um so viel mehr, darum wie eine junge Nation, die Vereinigten Staaten von Amerika, zu sich findet und um das Erwachen einer Industrie, die die Welt elektrisieren sollte und letztlich um die Ursprünge von Musik, die bis in die Gegenwart für Aufsehen sorgt. Für all das hat sich Petrusich auf eine Spurensuche der besonderen Art begeben und Tonträgern nachgespürt, die so aberwitzig rar sind, dass bei vielen gar nicht klar ist, ob sie überhaupt noch existieren – oder längst für alle Zeiten verloren sind. Die Rede ist von Schellackplatten aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, fragilen Artefakten von enormer historischer Bedeutung. Dabei hatte die Autorin ursprünglich nur für eine Geschichte über die Wiederauferstehung von Vinylplatten recherchiert und war dabei zufällig auf die besonders exotische Spezies der Schellackplattensammler gestoßen, Paradiesvögel, die jeden noch so verrückten Vinylplattensammler als grundvernünftigen Menschen dastehen lassen. Aber es sind eben diese faszinierenden Eigenbrötler, die Petrusichs Buch zu einem Vergnügen machen. Was auch daran liegt, dass sie sich mit keinem Wort über die wunderlichen Kerle amüsiert, sondern ihnen stets mit Respekt begegnet. Eigentlich ein Wunder, da nicht wenige von ihnen behaupten, die Musik der vergangenen achtzig Jahre würde nichts taugen. Also eben alles was nicht auf Schellack gepresst wurde. Und, dass die Autorin sich überwiegend allein unter diesen, nun ja, seltsamen Männern bewegt, beeindruckt sie auch nicht weiter. Sie besucht Sammler deren Gehör so fein ist, dass sie den Herzschlag vom Hund im Nebenraum wahrnehmen, durchstöbert in klebrig heißen Nächten Trödelmärkte am Rande der Zivilisation und lernt sogar Tauchen, nur um dann im Schlamm von Flussbetten nach Tonträgern aus der Frühzeit der Musikindustrie zu wühlen. So weit, so schrill. Aber selbstverständlich geht es um mehr als um Abenteuer mit kauzigen Kerlen, denn letztlich lotet die Autorin nebenher auch eine Geschichte der USA aus. Als die Musikindustrie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nämlich erstmals in Fahrt kam, waren die jungen Vereinigten Staaten von Amerika noch damit beschäftigt, zu erkunden, was sie eigentlich ausmacht.
Musik spielt in dieser Selbstfindung der USA eine besondere Rolle. Jazz und Blues definierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ureigenen amerikanischen Sound, dessen in Schellack gepressten Wurzeln Petrusich nachspürt. Songs, die in Städten und auf dem Land gesungen wurden, in den Nordstaaten sowie in den Südstaaten. Es war dann auch ein Amerikaner – Thomas Alva Edison –, der 1877 einen »Phonograph« zum Patent anmeldete, eine revolutionäre Maschine, mit der Töne aufgenommen und abgespielt werden konnten.
Der von Hannover in die USA übergesiedelte Emil Berliner legte dann einige Jahre später den Plattenspieler und eben Schallplatten nach, was eine Revolution auslöste und zu einer Welt passte, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend technisierte; das Licht wurde elektrisch, Telefone, Aufzüge und Automobile beschleunigten das Leben. In den USA wuchsen die Metropolen rasant, Immigranten drängten ins Land, dazu kamen Millionen schwarzer Menschen aus den Südstaaten, die auf dem Weg in ein besseres Leben in die Nordstaaten umzogen. Es war also viel in Bewegung in den USA, und alle, egal ob sie aus Neapel oder Berlin oder Memphis kamen, hatten ihre Kultur im Gepäck. In den sogenannten »Roaring Twenties« mischte sich das zu einer wilden, euphorischen Collage für ein immer größeres Publikum. Frauen, damals »Flappers« genannt, trugen kurze Haare und noch kürzere Röcke, rauchten und tanzten die Nächte durch. Als »Jazz Age« wurde diese Ära berühmt, ein Begriff den auch der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald bekannt machte. Irgendwann wurde die Musik dazu auf Schellack gepresst, manche Songs zu Bestsellern, die Sänger zu Stars und die Betreiber der ersten Plattenfirmen steinreich.
Weil Moden rasant sind und Stars vergänglich, machten sich damals die ersten Musikproduzenten auf die Suche nach Nachschub für die junge hungrige Musikindustrie. Ursprünglich war Klassik der umsatzstärkste Schellack-Renner, aber nach und nach setzten sich neue, zeitgemäße und vor allem US-amerikanische Klänge durch: Blues und Jazz. Musik, die zum Soundtrack der USA werden sollte. Und als die Metropolen auf der Suche nach Nachschub abgegrast waren, reisten Musikexperten mit mobilen Aufnahmegeräten immer tiefer in die Provinz, um frische Talente und neue Hits aufzuspüren. So fanden sie Unmengen an Zufallskünstler:innen, die oft nur eine einzige Aufnahme in ihrem Leben machten, und deren Tonträger nur in winzigen Auflagen produziert wurden, bevor sie im Trubel jener Jahre auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Es waren Wanderarbeiter oder Baumwollpflückerinnen, die unter falschen Namen vor die Aufnahmemaschinen traten, keine Bilder hinterließen und Songs aufführten, die immer noch umwerfend klingen. Platten im Zehn-Zoll-Format auf Schellack gepresst und auf 78 Umdrehungen die Minute abgespielt, dynamisches Knistern inklusive. Songs von »Delta Blues«-Legenden wie Charlie Patton, Son House, Blind Joe Reynolds und Robert Johnson wurden so für die staunende Nachwelt verewigt. Meist wurden die Nummern ohne jeglichen Aufwand, sozusagen im Vorbeigehen eingespielt. So entstanden verblüffende Geniestreiche aus dem Zauber des Augenblicks heraus. Um längerfristige Karrieren ging es nie, was die Sache nur noch aufregender machte. In diesem Jahrtausend gelten viele dieser Zufallskünstler:innen als mythenumrankte Phantome der amerikanischen Musikgeschichte. Zum Beispiel Robert Johnson, der in der Rock ’n’ Roll Hall of Fame als der »erste Rock Star überhaupt« geehrt wurde, von dem aber bis in die Achtzigerjahre kein einziges Foto bekannt war. Stattdessen hält sich hartnäckig die Legende, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe: »Die Sache mit Robert Johnson ist, dass er nur auf seinen Schallplatten existiert. Er ist eine pure Legende«, brachte es der amerikanische Regisseur Martin Scorsese, ein Spezialist für Legendäres, mal auf den Punkt.
Was die Spuren dieser Musiker noch weiter vernebelte, war, dass ihre Werke schnell wieder vergessen waren. Denn auf die Geburt der amerikanischen Musikindustrie folgte ziemlich bald die erste große Krise. Mit der Erfindung des Radios, verstärkt durch eine Weltwirtschaftskrise, lösten sich die Umsätze von Schallplatten und Schallplattenspielern in den Dreißigerjahren überwiegend in Wohlgefallen auf. Und da Tonträger damals als verzichtbare Gebrauchsgegenstände galten, landeten sie in Kellern, auf Dachböden oder gleich auf dem Müll. Sie wurden entsorgt, entrümpelt und vergessen. Obendrein sind Schellackplatten fragile Objekte, lässt man sie fallen, zerspringen sie, und weil sie ohnehin nicht mit großer Sorgfalt bedacht wurden, waren viele von ihnen schnell nicht mehr abspielbar. Und so hätte diese Geschichte zu Ende gehen können. Es waren die ersten Plattensammler, die diesen kulturellen Schatz vor dem Vergessen bewahrten.
In den Vierziger- und Fünfzigerjahren begannen vereinzelt Liebhaber mit detektivischer Akribie gezielt Schellackplatten zu bergen, zu archivieren und zu bewerten. So entstand erstmals ein Bild dieser versunkenen Liedkunst und eine Ahnung davon, wie wichtig und prägend diese Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war und noch immer ist. Expert:innen machten sich erstmals ein Bild von der Herkunft des Blues, Jazz und Country, wie alles zusammenhängen könnte und was das einst für Leben und Gesellschaft bedeutete. Insbesondere die Arbeit des Sammlers Harry Smith gilt als bahnbrechend. Der 1923 in Portland geborene Exzentriker und Universalgelehrte sammelte neben handbemalten Ostereiern aus der Ukraine, Papierschwalben und Steinen, die wie Hamburger geformt waren, auch als einer der ersten Schellackplatten. Aber er hortete sie nicht nur, sondern analysierte und ordnete die von der Zeit überholten Artefakte. Bei dem Label Folkways Records erschien 1952 seine legendäre »Anthology of American Folk Music« mit 84 historischen Songs aus seiner Sammlung. Die Folk-, Blues- und Country-Songs von Künstlern wie der Carter Family, Blind Lemon Jefferson, Mississippi John Hurt oder Sleepy John Estes machten deutlich, was für aufregende Musik es in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben hatte und legten den Grundstein für das amerikanische Folk-Revival der Sechzigerjahre Bob Dylan, Joan Baez, Peter Paul and Mary oder Grateful Deads Jerry Garcia bezogen sich explizit auf Harry Smith. Seitdem haben diese mythenumrankten Songs Klassikerstatus. Und ihre Faszination hält bis in dieses Jahrtausend an. Jack White, ein Super-Fan der Schellack-Kultur, der mit The White Stripes berühmt wurde, legte viele der historischen alten 78er-Schellack-Aufnahmen auf seinem eigenen Label neu auf. Tom Waits, ebenfalls ein großer Schellack-Liebhaber, veröffentlichte Singles, die nur auf 78 Umdrehungen abzuspielen waren.
Wer Amanda Petrusichs Buch gelesen hat, läuft Gefahr ebenfalls von einer gewaltigen Sehnsucht nach alten knisternden Platten gepackt zu werden. Zum Glück muss man dafür keine abenteuerlichen Expeditionen auf sich nehmen, sondern kann sie entspannt streamen. Was dennoch ein Frevel ist, weil der wahre Zauber darin besteht, diesen Kunstwerken auf Schellack zu lauschen. Allerdings wird genauso klar, dass dieses Vergnügen nur wenigen Liebhabern vorbehalten ist.
Überhaupt ist der Zauber, rare Tonträger aufzuspüren, ungebrochen. Selbstverständlich bin ich damals auch mit der raren Lee-Hazlewood-Platte im Gepäck aus Stockholm zurückgekehrt. Dass die Platte nicht besonders gut ist, ist letztlich auch egal. Unverkäuflich ist sie trotzdem!
Christoph Dallach
Für meine Eltern,John und Linda Petrusich
Vor der Musik habe ich nur immer die eineEmpfindung: mir fehlt etwas. Nie werde ichden Grund dieser sanften Traurigkeit erfahren,nie darnach forschen wollen. Ich wünsche es nichtzu wissen. Ich wünsche nicht alles zu wissen.
Robert Walser, Das Beste, was ichüber Musik zu sagen weiss.
Musikkritik, die Kultur des 78er-Plattensammelns,Jean Baudrillard, Mundatmung,der Reiz der Dinge
Als Kind war ich ziemlich brav, mit einer rebellischen Ader. Den längsten Teil meiner Adoleszenz hörte ich auf meinem Plastik-Walkman Punk, und wie viele andere junge Musikfans definierte ich mich über meine Plattensammlung (in meinem Fall eine mit Stickern gepflasterte Kiste gerammelt voll mit Kassetten). Mein Erwachsenwerden fiel mit dem Höhepunkt des Grunge zusammen, also bildete ich meine Identität über Doc Martens, bunte Haare und Holzfällerhemden aus dem Schrank meines Vaters. Später war mein Umgang mit Musik komplexer und weniger instinkthaft, aber sie blieb mein wichtigster Weg des Selbstausdrucks: Ich war, was ich hörte, und zwar immer – und irgendwann baute ich diese Wahnvorstellung zu so etwas wie einer Karriere als Musikkritikerin aus.
Die feinste Vergünstigung des professionellen Musikkritikerwesens – und möglicherweise die einzige, das ist kein besonders glamouröser Job – sind die Stapel von Luftpolsterumschlägen, die einem regelmäßig den Briefkasten verstopfen, mit CDs kommender Releases, die von den Labels, Pressemenschen oder den Künstler:innen selbst massenweise verschifft werden. Ein wackeliger Turm aus Plastik, der einem mal als Verhängnis, mal als Chance erscheint, und managen lässt sich die Materialflut (auf ihrem Höhepunkt musste ich pro Woche sechzig bis siebzig CDs auspacken) auch nicht so leicht. Immer wenn ich die Stadt verlasse, brauche ich Freunde, die meinen Briefkasten leeren – auch wenn es nur ein paar Tage sind –, auf dass nicht ein Wust von Versandtaschen das ganze Viertel über meine Abwesenheit in Kenntnis setzt. Und da ich unmöglich alle CDs unterbringen kann, die bei mir landen, muss ich immer wieder neue Wege finden, Alben loszuwerden, die mir nicht gefallen, über die ich nicht schreiben kann oder die ich mir aus Zeitmangel nicht anhören konnte. Umsonst an Platten zu kommen, das kam einem wenigstens früher ein bisschen wie ein Hauptgewinn vor. Heutzutage können sich auch Musikliebhaber:innen ohne kritische Ansprüche dieses Gefühl der Übersättigung verschaffen, sofort und umsonst. Wer einen Computer hat und sich im Internet ein bisschen zurechtfindet, kann sich schon Wochen vor dem Erscheinungsdatum geleakte Versionen neuer Platten besorgen. In der Zeit, in der man sich ein Käsesandwich warm macht und snackt, lässt sich heute Unveröffentlichtes aufspüren, besorgen und beurteilen.
Über Gratis-Promomaterial zu jammern, ist natürlich absurd, aber irgendwann fing der ganze Vorgang an, meine Vorstellung davon zu verzerren, wie Musik aussah und wie man sie bewerten sollte. Die Behauptung, die freie Verfügbarkeit ganz oder beinahe kostenloser Musik – und die gleichzeitige Umstellung von Musik als Objekt auf Musik als Code – hätte unser Verhältnis zum Sound gnadenlos verändert, ist eine Vereinfachung, und ich glaube nicht wirklich, dass die Beschaffenheit der emotionalen Schaltkreise, die uns befähigen, Musik zu lieben und uns nach ihr zu sehnen, davon abhängt, wie sie sich anfühlt, wenn wir sie in die Hand nehmen. Aber ich glaube sehr wohl, dass die Art, auf die wir uns Kunst zugänglich machen, zumindest teilweise die Art bestimmt, auf die sie uns schließlich zu eigen wird.
Für mich hatten die neuen Marketingzyklen und die endlosen Geschenke aus dem Netz etwas Toxisches bekommen, und das nicht, weil mich Nostalgie nach CDs gepackt hätte, dem wichtigsten Tonträger meiner Lebenszeit, oder weil ich das Musikbusiness von früher für ein Musterbeispiel an Effizienz gehalten hätte. Sondern weil mir das alles zum ersten Mal im Leben egal war.
Das erste Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts gilt Musikfans als verwirrende Periode. Von den althergebrachten Ritualen des Musikkonsums war im Jahr 2005 fast nichts mehr übrig: Musikbeschaffung und -genuss waren plötzlich zu einem einsamen Unternehmen geworden, für das man viele dünne weiße Kabel entwirren musste. Das Stöbern in Plattenläden fehlte mir wie vielen anderen auch – das Kaufen von Platten nur nach dem Cover, das Fachsimpeln mit bebrillten Verkäufern in Joy-Division-T-Shirts. Ich konnte das alles immer noch tun, aber es kam mir plötzlich wie eine Pose vor: Da bin ich! Platten kaufen!
Außerdem fehlte mir das Schmachten nach etwas. Mir fehlte die Ekstase der Beschaffung. (Sieben Wochen hatte es mich im Jahr 1993 gekostet, ein Exemplar von Where You Been von Dinosaur Jr. aufzutreiben, und die nächsten sieben Wochen hatte ich dann damit verbracht, jedes kaputte Riff auswendig zu lernen.) Es fehlte mir, wirklich in Musik zu investieren und alles, was ich an Zeit, Geld und Herzblut hatte, in die Jagd zu legen. Ich besaß Gratis-CDs, illegale MP3-Downloads und anständig erworbene LPs, aber solange ich nicht dafür bezahlt wurde, mir mein professionelles Urteil zu bilden, hörte ich nur drei, sieben oder neun Minuten in alles rein, dann kam das Nächste. Ich war überfordert, ohne mit dem Herzen dabei zu sein. Es gab Tage, da kam mir Musik vor wie ein hinterhältiges postmodernes Experiment, vom Diskurs überlagert, und ihr Kunstgehalt wurde nur noch nach der Masse an Geplapper bemessen, das sie auslöste. Das Schreiben und Veröffentlichen erschien mir unnütz, als würde man einer Bulldogge ein penibel zubereitetes Schweinskotelett zuwerfen und ihr zusehen, wie sie es hinunterschlang, wieder auskotzte und sich sofort über etwas anderes hermachte.
Genau zu dieser Zeit – im Herbst 2007, auf dem Höhepunkt meiner Ernüchterung – begegnete mir John Heneghan. Ich recherchierte für Spin eine Story über die Rückkehr des Vinyls und löcherte Mike Lupica, damals DJ und Leiter der WFMU Record Fair, nach den Namen von ein paar prominenten Sammlern, die bereit sein könnten, über die relative Bedeutungslosigkeit digitaler Musik zu sprechen – offiziell und mit namentlicher Nennung. Ich war auf einen radikalen Gegenschlag aus.
Unter Vorbehalt schob Lupica mir die Nummer von Heneghan über den Tisch: »Diese 78er-Typen sind wirklich extrem.«
Vinyl hatte im vergangenen Jahrzehnt eine begrüßenswerte und triumphale Renaissance erlebt. Die Platten mit 78 rpm aber – dicke Scheiben aus Schellack mit zehn Zoll Durchmesser und zwei Songs, entwickelt um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, die Urversion der Schallplatte, wie wir sie heute kennen – gelten immer noch als archaische Kuriosität. Weil das öffentliche Interesse an diesem Format so gering ist, lässt sich selbst ein Abspielgerät dafür nur schwer auftreiben. Die Rillen einer 78er sind bis zu fünfmal so breit wie die einer modernen LP, deshalb wird neben einem Antrieb mit 78 Umdrehungen pro Minute – und nicht wie üblich 33⅓ oder 45 – auch eine andere Art Nadel benötigt. Selbst die glühendsten Vinyl-Fans lassen einen Stapel Schellack lieber links liegen, weil es zu mühsam ist, die 78er abgespielt zu bekommen. Das ist kein Medium für Amateure.
Dass 78er-Fanatiker Teil einer hochenergetischen, sportlichen und abgeschotteten Subkultur mit eigenen Regeln und Wertvorstellungen sind, wusste ich bereits – ein schräger Männerbund (es sind fast immer Männer), besessen von einer aus der Zeit gefallenen Technologie und den akustischen Genüssen, die sie ihnen bietet. Weil 78er erstaunlich zerbrechlich sind und oft nur in sehr kleiner Auflage gepresst wurden, sind sie nur begrenzt verfügbar, und wenn man nach einem begehrten Exemplar sucht, benötigt man dafür erstaunlich viel Zeit und Kraft. Die manische Jagd nach rarem Schellack kann einem vorkommen wie eine märchenhafte Schatz- oder Gralssuche – die komplizierte, mehrgleisige Fahndung nach einer Beute, die es vielleicht gab, vielleicht aber auch nicht.
Außerdem war mir klar, dass das Sammeln an sich etwas für Nerds war, etwas, das nie cool sein würde. Wenn es für Coolness den einen isolierbaren Signifikanten gibt, dann ist es der Anschein des Desinteresses. Wer ernstlich 78er sammeln will, muss all das aufgeben: Man muss zugeben, dass man wirklich etwas will. Und so sind 78er-Sammler in der Popkultur so etwas wie ein Tropus, genau wie die Männer, die in Comicläden arbeiten. Es gibt einen wenig schmeichelhaften Stereotyp für sie: Wir denken uns einen Mann in den mittleren Jahren mit Halbglatze, schüchtern und unbeholfen, etwas dicklich oder unangenehm dürr, der im Keller haust, durch den Mund atmet und fleckige Shorts trägt. So ist es natürlich oft – sogar meistens – nicht. Die meisten Sammler haben anspruchsvolle Vollzeitjobs, langjährige Liebesbeziehungen, ein erfülltes Sozialleben und ordentliche Klamotten im Schrank. Wenn man die richtigen Fragen stellt und nichts anfasst, können sie charmant sein, lustig, sogar lieb. (Schlimmstenfalls sind sie nostalgisch, eine Geisteshaltung, die in den vergangenen Jahren geradezu ihren eigenen Zeitgeist hervorgebracht hat.) Aber der Wildwuchs von Reality Shows wie Hoarders – oder sogar American Pickers mit den liebenswerten Antiquitätenkäufern, die durch mit altem Zeug überladene Keller und Dachböden kriechen – hat den Ruf des Sammelns nicht verbessert. In unseren Zeiten des Überflusses ist Minimalismus zum Prädikat geworden.
Seltsamerweise musste ich erfahren, dass die meisten 78er-Sammler selbst Minimalisten sind. Sie haben bei der Auswahl der Platten, die sie sich ins Haus holen, viel strengere Regeln als ich. Ich habe zum Beispiel Cat Scratch Fever in meine Sammlung aufgenommen, weil ich wusste, dass ich das Cover gern an überraschenden Orten in der Wohnung aufstellen würde – in der Dusche, auf dem Medizinschrank –, um arglose Besucher:innen immer wieder mit der schaurigen Riesenfratze von Ted Nugent zu erschrecken. Es stört mich nicht, dass ich das schreckliche Spätwerk von Waylon Jennings und zwei identische Exemplare von Crooked Rain, Crooked Rain von Pavement besitze, obwohl sie wertvollen Platz einnehmen. Wahrscheinlich werde ich Platten in meine Regale stopfen, bis alles zusammenkracht.
Aber versuchen Sie mal, einem 78er-Sammler ein banales oder besonders weit verbreitetes Exemplar für seine Sammlung anzubieten – sagen wir »Yes! We Have No Bananas«. Er wird Sie so finster anblicken, als hätten Sie versucht, ihm das Gesicht mit einer Gabel zu entstellen.
So wie wir über den kleinsten Details unserer Facebook-Profile und den Inhalt unserer Kleiderschränke schwitzen, personalisieren Sammler ihre Identität über die Anordnung von Dingen. »Es ist unweigerlich man selbst, den man sammelt«, schreibt der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard in seinem Essay »The System of Collecting« aus dem Jahr 1968. Für Baudrillard ist die Sammlung in all ihren Teilen ein komplexer und facettenreicher Selbstausdruck, und der Wert jedes einzelnen Sammlerstücks wird dadurch bestimmt, wie es die nebenstehenden ergänzt und mit ihnen interagiert. Fehlt ein bestimmtes Teil aus der Sammlung, fehlt auch ein Teil des Sammlers. Wer würde da nicht Jagd auf eine verlorene Besonderheit machen, als würde das Leben davon abhängen?
Baudrillard meint außerdem, Sammler widmeten ihre Energie lieber ihrer Sammlung als anderen Menschen (das ist einfacher, sauberer und weniger verhandlungsintensiv), was das Sammeln unweigerlich zu einer selbstsüchtigen, ichbesessenen Betätigung erklärt. »Und so erscheint das Objekt als idealer Spiegel: Denn die Bilder, die in ihm widerscheinen, folgen aufeinander, ohne einander zu widersprechen … weshalb man in Objekte alles investiert, was in menschliche Beziehungen zu investieren einem unmöglich erscheint«, schreibt er. (Weiter unten geht er so weit, die Sammlung mit einem »Harem« zu vergleichen, und den Sammler mit dem »Sultan eines geheimen Serails.«) Letztlich findet Baudrillard das Sammlertum pathologisch und gefährlich. Er schließt seinen Essay mit einer kalten kleinen Spitze: »Er, der da sammelt, kann eine Anmutung von Verelendung und erschöpfter Humanität nie ganz abschütteln.«
Zumindest in Bezug darauf, wie sonderlich und abgeschirmt 78er-Sammler sein können, hatte Baudrillard Recht. Sie verstehen ihr Tun als etwas immens Zerbrechliches. Nur wenige Auserwählte sind in der Lage, den Wert von Inhalt oder Zustand einer bestimmten 78er einzuschätzen. Diese Exklusivität schottet ihre ökonomische Nische ab und sichert gleichzeitig deren Bestehen. Der Wert ist in deren Gleichung relativ, also muss die Nachfrage unbedingt klein gehalten werden, denn das Angebot hat die Eigenheit, sich nicht aufstocken zu lassen. Es gibt sogar eine diffuse Angst, das Sammeln seltener Schallplatten könnte sich entwickeln wie das bildender Kunst – zu einer Verpflichtung des Geldadels, für den es bei Kunstgenuss mehr um Status geht als um Leidenschaft oder gar Verständnis. Sammler lässt diese Möglichkeit verständlicherweise schaudern, auch wenn sie wohl kaum Wirklichkeit werden wird, vor allem weil es nicht mehr genug Platten gibt und die Sammler, in deren Besitz sie sind, sie vermutlich nie verkaufen werden. Die ambivalente Haltung der Öffentlichkeit ist für die Sammler für den Augenblick sowohl Ursache nagenden Zorns – Warum interessiert das sonst keinen? – als auch Stütze des ganzen Gewerbes. Und außerdem ein Quell des Stolzes, denn sie stärkt ihr Gefühl, Außenseiter und Underdogs zu sein.
Und so können Fragen zur Informationsgewinnung, die für Laien relativ harmlos klingen würden, höchstens ein bisschen aufdringlich (Woher haben Sie die Platte? Was hat sie gekostet? Wie viel ist sie wert? Wie haben Sie von ihr erfahren?), einen 78er-Sammler tief beleidigen. Anfangs war mein dahingeplaudertes Interesse an den Feinheiten des Sammlertums eher reporterinnenhaft geschäftsmäßig: Ich wollte, dass die Sammler mir ihren Antrieb und ihre Methodologie verrieten, um ihre Arbeit sodann zu zergliedern und grandiose Aussagen zum Stand unserer Kultur daraus zu entwickeln. Die Sammler verzogen die Gesichter, schnaubten oder erklärten, ich solle mich verpissen. Sie weigerten sich regelmäßig, offenzulegen, welche Platten sie suchten, welche sie in letzter Zeit aufgestöbert hatten, welches die seltenste Platte ihrer Sammlung war (obwohl sie manchmal irgendein Quatschexemplar herauszogen und versuchten, es mir als grandios zu verkaufen), wo sie nach Platten suchten, wer welche Platten besaß, wie viele Exemplare einer bestimmten Pressung existierten oder wie viel sie bereit wären, dafür zu bezahlen. Sie waren überzeugt, dass sich für 78er schon zu viele Menschen interessierten. Deshalb fühlte ein Interview mit einem 78er-Fanatiker sich manchmal wie ein Boxkampf an: tänzeln, antäuschen, ausweichen. Warten, bis sie müde werden, warten auf den einen guten Treffer.
Worauf ich gehofft hatte, anfangs zumindest, war, die Story einer merkwürdigen missverstandenen Gemeinde erzählen zu können: Warum die Arbeit der Sammler so viel bedeutete, was alles von ihr abhing, wie sie vor sich ging. Aber nach einer Weile entzogen sie sich mir mit gutem Recht: Irgendwann wollte ich auch, was sie wollten.
Wie jeder Mensch, der je einen sonnigen Sonntagvormittag lang auf einer fremden Auffahrt Kisten voller alter LPs durchgegangen ist (vorsichtig die Vinyl-Scheibe aus der welligen Hülle gezogen und den Nasse-Hunde-Muff des fleckigen Pappcovers erschnuppert, mit zusammengekniffenen Augen nach Kratzern gesucht hat), kannte ich den Rausch der Entdeckerfreude. Ich war für den Reiz der Dinge nicht unempfänglich. Als Kind hatte ich die Taschenbuchausgabe des Baby-Sitters Club nach Erscheinungsdatum aufgereiht und stundenlang davorgesessen, die Buchrücken angestarrt und mit dem Finger die Titel abgefahren, fasziniert von diesem Ordnungssystem. Meine Sammlungen schenkten mir ein Gefühl der Sicherheit und Konzentration; sie gaben meinem Leben Sinn und Form. Das tun sie immer noch: Meine Wohnung ist voller Krimskrams, schwankenden Bücher- und Plattenstapeln; es gibt ein eigenes Regal für Globusse und eine Dose voller antiker Hochzeitstorten-Aufsätze (nur die Bräutigam-Figuren). Wenn es gut läuft, fühlt sich sogar das Schreiben an wie eine Art des Sammelns – man rafft Worte, Bilder und Ideen zusammen, arrangiert sie um, bis man die richtige Ordnung gefunden hat.
Vor allem aber kam mir das 78er-Sammeln klein und individuell vor – ein Gegengift zur Sintflut des 21. Jahrhunderts. Je mehr Zeit ich mit Sammlern verbrachte, desto öfter fiel mir ein Satz des Reiseschriftstellers Jonathan Raban wieder ein, in Bezug auf den ewig aufgewühlten Mississippi und die Menschen, die an seinen Ufern leben: Auch ich trage das in mir. Ich weiß, wie sich das anfühlt.
John Heneghan, »Devil Got My Woman«,Träume, analoges Playback, »Davey Crockett«,Um keinen Preis verkaufen
In John Heneghans Wohnzimmer im New Yorker East Village verstauben stapelweise US-amerikanische Artefakte: Antiquitäten, kitschige Taschenbücher, eine Beverly Hills, 90210-Federmappe mit passendem Lineal und Radiergummi. Alles steht voller Sammlerstücke; aus allen erreichbaren Kleiderschränken quillt Vintage-Kleidung, sorgsam ausgewählt von Heneghans aparter Freundin und Mitbewohnerin Eden Brower. Ich saß mit im Schoß gefalteten Händen auf dem Sofa und sog den Geruch nach Altem ein. Zwei launische Hauskatzen, beide von der Straße, sprangen in Pappkartons und flitzten wieder heraus, mit großen Augen und misstrauischem Blick.
An der hinteren Wand stapelten sich sechzehn offene Holzwürfel. Jeder enthielt ungefähr einhundert 78er-Schellackplatten, von denen die meisten vor 1935 aufgenommen worden waren, nach Genres wie Hillbilly, Blues, Hawaiianisch und Comedy sortiert und alphabetisch nach Musikern geordnet. Jede Abteilung war hübsch ordentlich beschriftet. Die einzelnen 78er steckten in nackten Packpapier-Hüllen. Die Präsentation war makellos. Ich fragte Heneghan, ob er je in seinem Wohnzimmer saß und seine Plattensammlung betrachtete, fasziniert von jeder einzelnen untadeligen Reihe? »Andauernd«, antwortete er.
Wer heute lebt, ist in der Ära der Klangkonserve aufgewachsen, und deshalb ist es für uns alle außerordentlich schwer, uns vorzustellen, wie es gewesen sein mag, als man Musik nicht nach Belieben hören konnte. Die 78rpm-Schellackplatte wurde in den Neunzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt, ungefähr zehn Jahre nachdem Thomas Edison seinen Phonographen entwickelt und die menschliche Vorstellung von »Klang« revolutioniert hatte. Ursprünglich spielte Edisons Phonograph Zylinder ab – kleine Röhren, nicht einmal so groß wie eine Suppendose, aus Metall (später dann aus Wachs und schließlich aus hartem Schellack), die in Pappbehältern gelagert und mit einer Blechfolie überzogen waren. Mit Nadeln wurden Klang-Umschriften in diese Folie geritzt, die der Phonograph dann wieder zurück in Klang übersetzte. Nach ungefähr einem Dutzend Durchläufen bei 160 Umdrehungen pro Minute waren die Zylinder abgenutzt und ließen sich nicht länger abhören.
Im Jahr 1887 ließ sich der deutschstämmige Erfinder Emil Berliner das Grammofon patentieren, das ähnlich funktionierte wie Edisons Phonograph, aber anstelle plumper Walzen flache, gerillte Platten abspielte. Berliners Aufnahmen auf diesen Platten – mit einem Durchmesser von fünf bis sieben Zoll, gefertigt aus verschiedenen Materialien (oft aus Hartgummi), mit siebzig bis achtundsiebzig Umdrehungen pro Minute auf handkurbelgetriebenen Abspielgeräten – ließen sich leichter fertigen und lagern als Walzen, weshalb Edisons Zylinder im Jahr 1929 fast verschwunden waren. Etwa um dieselbe Zeit wurde die Schallplattenproduktion ansatzweise standardisiert – es gab aber noch immer Hunderte unabhängiger Labels, die Platten in Dutzenden verschiedener Ausprägungen aufnahmen und pressten. Die meisten maßen im Durchmesser zehn Zoll (etwa 25 Zentimeter, was pro Seite eine Abspielzeit von ungefähr drei Minuten ergab) und wurden aus einem labilen Gemisch aus Schellack, Baumwollflock, Schiefermehl und Wachs-Trennmittel hergestellt. 78er waren noch in den Sechzigerjahren weit verbreitet, dann wurden sie langsam von siebenzölligen, doppelseitigen 45ern und zwölfzölligen 33⅓ rpm-Langspielplatten abgelöst – die dann wiederum durch Kassetten verdrängt wurden, die schließlich durch Compact Discs ersetzt wurden, die jetzt fast völlig von digitalen Audiodateien abgelöst worden sind.
Bei unserer ersten Begegnung war John Heneghan sehr darauf bedacht, 78er-Sammler von gewöhnlichen Plattensammlern abzugrenzen – der Unterschied ist für Heneghan immens, vergleichbar mit dem zwischen dem Sammeln von Kieselsteinen und dem von Diamanten. Trotzdem war das erste Stück seiner Sammlung eine LP – die Neupressung einer Charley-Patton-Platte, die er mit sechzehn erworben hatte. Die dem Kauf folgende Epiphanie kann Heneghan noch immer erstaunlich detailliert beschreiben: wie er die Platte nahm, sie in den Händen abwog, sich das Foto auf dem Cover ansah, das Cover umdrehte und die Jahreszahl auf der Rückseite suchte, die Platte auflegte, die Nadel in die Rille senkte und sich an einen anderen Ort versetzt fühlte, verändert.
»Ich bin mir nicht einmal sicher, dass mir die Musik sofort gefiel«, räumte er ein. »Die Idee gefiel mir. Das Zuhören war nicht leicht. Aber ich war Gitarrist – ich hatte von Kindheit an Gitarre gespielt –, und ich dachte: ›Was ist das denn? Was macht der da?‹ Es dauerte nicht lange, da streckte ich die Fühler nach dem Original aus, den 78ern. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, weil ich wusste, dass es geradezu unmöglich sein würde, und auch, dass der finanzielle Aufwand jeden Rahmen der Vernunft sprengen würde.«
Der Preis einer 78er rangiert zwischen ein paar Cent bis zu ziemlich vielen Cents – in manchen Fällen bis zu 40 000 Dollar –, je nach Prestige des Künstlers, Zustand der Platte, Seltenheit der Pressung und Heftigkeit des sammlerischen Verlangens. Weil 78er objektiv wertlos und Sammler so wählerisch sind, ist der archivarische Wert oft wichtiger als der Geldwert. Aber dieser archivarische Wert kann trotzdem erstaunlich hoch sein. Schellackplatten wurden nicht in hohen Auflagen produziert (heute mögen CD- oder MP3-Player im Haushalt zur Standardausrüstung gehören, aber in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte gewiss nicht jeder ein Grammofon), und lange haben sich nur wenige Menschen um deren Erhalt bemüht. Deshalb gibt es unter den weltweit verbleibenden 78ern – wie viele das sind, lässt sich unmöglich sagen – viele Einzelstücke. Oft sind die Metall-Master dieser Pressungen nicht erhalten, was bedeutet, dass ein bestimmter Song für immer verloren ist, wenn die Platte entzweigeht, in einem von Überflutung bedrohten Keller verstaut oder auf den Müll geworfen wird.
Die meisten Sammlerkollegen von Heneghan, zu denen auch der berühmte Zeichner Robert Crumb gehört, sind von der Sorte, die in den 1960ern von Tür zu Tür gegangen waren, die Leute nach alten Platten auf dem Speicher gefragt und sie sich für 25 Cent das Stück geschnappt hatten. Als ich Heneghan fragte, woher das Gros seiner Sammlung stammt, blickte er mich an, als hätte ich verlangt, dass er sich nackt auszieht. »Erwarten Sie auf die Frage wirklich eine Antwort?«, lachte er, Unglauben in der Stimme. »Ist Ihnen nicht klar, wie begrenzt … Das sind keine LPs! Wenn sich nur ein Dutzend mehr Menschen dafür interessieren, dann …« Er ließ auch diesen Satz in der Luft hängen. »Ich bin einfach baff. Das ist die Musikgeschichte Amerikas, sie ist völlig in Vergessenheit geraten, und es gibt nur eine Handvoll Menschen, die sie bewahren.«
Das war kaum übertrieben. Oft entdecken seine Kumpel und er völlig unbekannte Künstler und geben Kunde von ihnen – ohne einen Sammler, der hingehört und davon berichtet hätte, wären sie auf ewig in der Versenkung verschwunden geblieben. »Das Irre an 78ern ist, dass so viel von der Musik noch überhaupt nicht entdeckt wurde«, sagte er. »Es gibt da draußen noch immer so viele Platten, von denen nur ein oder zwei Exemplare gepresst wurden. Oder die ganz verloren sind – die man noch nie gehört hat. Ich mache noch immer Entdeckungen. Man stößt auf einen merkwürdigen Bandnamen, geht das Risiko ein, legt die Platte auf, und dann kommt irgendein unglaubliches Meisterwerk.«
John Heneghan mochte prahlerisch und, was seinen Fanatismus anging, gelegentlich selbstironisch sein, aber seine Sammlung war über ihren Wert für den Sammler selbst hinaus eine herausragende Dokumentation von Kultur. Sammler von 78ern leisten, vielleicht mehr noch als alle anderen Kuratoren von Musik oder musikalischen Memorabilia, extrem wichtige konservatorische Arbeit – auf ihrer Jagd nach winzigen künstlerischen Schnipseln, die andernfalls verloren wären. Ihr ganzes Streben mag egoistisch sein, angetrieben von der nackten Besessenheit, die allen Sammlern eigen ist, aber ohne Heneghan und Seinesgleichen würde ein Gutteil der Musikgeschichte nicht mehr zu unserem Kanon gehören. Und während Musikwissenschaftler, Anthropologen, Archivare und Wiederveröffentlichungs-Label beim Bewahren und Verbreiten frühen Liedguts alle eine Rolle spielen, stammt das Gros des Materials, das neu oder wieder aufgelegt wird, noch immer von den originalen 78ern – die sich fast ausschließlich in den vollgepackten Kellern und Kammern der 78er-Sammler finden.
Trotzdem bedeutete das historische Gewicht seiner Bemühungen nicht, dass Heneghan frei von den Neurosen war, die so vielen Sammlern eigen sind: Seine Sammlung war historisch bedeutsam, aber sie war auch, auf fast pathologische Weise, etwas tief Persönliches. Das Verführerische für Sammler ist, wie für uns alle, die Jagd.
»Ich träume immer wieder, dass ich ›Devil Got My Woman‹ von Skip James finde«, sagte Heneghan, vorgebeugt, tiefernst und leise. »Der Traum ist ganz lebendig, ganz klar – beim ersten Mal bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und war überzeugt, dass ich die Platte wirklich besaß. Und ich so: Das ist ja irre. Also bin ich aufgestanden und habe nachgesehen, und sie war nicht da – also ich so: Fuck. Und dann habe ich den Traum wieder, und wieder ganz lebendig, und da denke ich, vielleicht habe ich den Teil geträumt, wo ich die Platte nicht habe. Also gehe ich wieder nachsehen. Dann träume ich das zum dritten, zum vierten Mal …« Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und kratzte sich den zauseligen blonden Ziegenbart. Heneghan ist eine Respekt einflößende Erscheinung, seine schmalen schiefergrauen Augen verrieten Ungeduld im Umgang mit einer bestimmten Art von Bullshit; er war ausgesprochen höflich, ohne an Höflichkeiten interessiert zu sein, und mir war klar, dass ich nie zwischen ihm und einer Pressung von »Devil Got My Woman« stehen wollen würde.
»Wenn es gut läuft, denkst du dir: Ich bewahre einen Teil der Geschichte Amerikas – wie ein Archäologe. Aber unter dem Strich ist an der Sache auch etwas völlig kaputt«, fuhr er fort und rückte sich die Melone zurecht, die er gern trägt. »Nach meinem ersten Plattenkauf habe ich gedacht, ich muss wissen, ob es von dieser Band noch andere Platten gibt. Und als ich die anderen hatte, habe ich gedacht, ich muss die Erscheinungsreihenfolge kennen, damit ich sie richtig einsortieren kann. Ich weiß noch, wie ich Freunde besucht habe, und bei denen flogen die Platten überall rum, und ich war so: ›Wie könnt ihr das zulassen? Die müssen doch sortiert sein!‹ Ich habe einfach superviel Zeit mit dem perfekten Ordnungssystem verbracht.«
Schließlich fragte Heneghan mich, was ich hören wollte, und wir hockten uns vor seinen Plattenspieler und zogen abwechselnd 78er aus seinen Regalen. Mir zitterten die Hände. Anders als Platten aus Vinyl, die nachgiebig sind und einiges aushalten, sind Schellackplatten dick, spröde und schwer. Lässt man eine im falschen Winkel auf die falsche Oberfläche fallen, zerschellt sie wie Porzellan.
Der größte Teil von Heneghans Sammlung besteht aus frühen Blues- und Hillbilly-Platten, mit starken Unterschieden in Qualität und Ton. Ungefähr bis ins Jahr 1925 wurden die Aufnahmen akustisch durchgeführt, was bedeutet, dass die Musiker direkt in die Membran des Phonographen belfern und zupfen mussten, worauf die entstandenen Klangschwingungen dann die Nadel in Bewegung setzten und eine Umschrift entstand, die sich wieder abspielen ließ. Die Technologie hatte deutliche Nachteile: Schlagzeug und Bass wurden selten mit aufgenommen, weil die Tiefe der Vibrationen die Nadel aus der Rille geschlagen hätte, und Cellos, Geigen und selbst der menschlichen Stimme fehlte es für eine korrekte Aufzeichnung oft an Resonanz. Im Jahr 1927 waren die Ingenieure schließlich so weit, dass sie ein Kohlemikrofon einsetzen konnten – ein weiteres von Edisons Spielzeugen, von 1877 –, das sich dann über Vakuum-Röhren verstärken ließ und einen elektromagnetischen Aufnahmekopf antrieb, sodass eine viel höhere Frequenzbreite aufgenommen und reproduziert werden konnte, wodurch der Klang reichhaltiger und authentischer wurde. Aber wenn man nicht zu Romantik und Nostalgie neigt, kann einem das Verfahren angesichts der heutigen fehlerfreien digitalen Aufnahmetechniken, die analogen Sound in saubere Ströme aus Binärcode verwandeln, regelrecht albern vorkommen. Für Tontechniker von heute sind Dinge wie Nadel und Membran ungefähr so klobig und veraltet wie die Eiserne Lunge.
Für traditionelle Plattensammler aber – die, wie Heneghan, Ende der Siebzigerjahre aufgewachsen sind – spielen die Vorteile der Digitalaufnahme kaum eine Rolle. Heneghan besitzt zwar einen iPod (gekauft für Eden, die sagt, dass sie ihn kaum benutzt) und ein paar Regalmeter CDs (die meisten vom Wiederveröffentlichungs-Label Yazoo Records, das in den späten Sechzigern gegründet wurde und heute teilweise von seinem Freund und Sammlerkollegen Richard Nevins geleitet wird, der ausschließlich mit Original-78ern arbeitet), aber der Konsum digital produzierter Musik war nicht wirklich seine Sache. Ich konnte verstehen, wieso Heneghan MP3s leicht verstörend finden konnte (diese unentwirrbaren Stränge aus Nullen und Einsen könnten von den umständlichen Schellackplatten nicht weiter entfernt sein), aber selbst die CD, der klapperige größere Bruder der MP3 mit seinem Mondgesicht, besaß für ihn von vornherein keinen Reiz. »Wenn ich eine tolle Platte entdecke und mir ein Freund sagt: ›Ich kann die Platte doch einfach behalten und dir eine CD draus machen‹, bin ich so: ›Bist du irre?‹«, schnaubte er.
Heneghan holte »Big Leg Blues« von John Hurt, »Walk Right In« von den Cannon Jug Stompers und eine Testpressung von Frankie Franko and His Louisianans mit »Somebody Stole My Gal« aus den Neunzehnhundertzwanzigern aus seinen Regalen. Er legte die John-Hurt-Platte auf den Plattenteller, betätigte am Receiver einen Schalter und ließ die Nadel ab. Knistern erfüllte den Raum. Ich hielt die Luft an.
Dabei war ich nicht gerade eine Analog-Anfängerin, selbst damals nicht. Ich besaß jede Menge LPs, und obwohl mein Interesse an Vinyl ursprünglich mathematischer Natur war (ich konnte für Led Zeppelin III bei der Heilsarmee fünfundzwanzig Cent bezahlen oder im Plattenladen vierzehn Dollar für die Plastik-CD hinlegen), wusste ich insgeheim all die zärtlichen Plattitüden zu schätzen, die im Zusammenhang mit analogem Sound herumflogen – Wärme! Konsistenz! Authentizität! Aber das Gros meiner Sammlung hatte ich unachtsam bei Trödlern erstanden (den Trödelladen-Klassiker, Händels Messias, drei LPs im braungelben Schuber – erkenne ich bis heute aus fünfzig Meter Entfernung), und seltene Platten hatten mich nie stark angezogen. Was begehrtes Vinyl anging, beschränkte meine Expertise sich darauf, meinen Kumpel Clarke mit seinem makellosen Exemplar von The Anal Staircase aufzuziehen, einer Zwölf-Zoll-EP mit drei Stücken der britischen Industrial-Band Coil aus dem Jahr 1986, die Spezialisten um die achtzig Dollar Wert war. (Das Cover wird vom Foto eines menschlichen Darmausgangs geziert.)
Ich hatte also ein klares Verständnis davon, was 78er waren und wo sie hergestellt wurden, aber erworben oder abgespielt hatte ich noch keine einzige. Trotzdem liebte ich den rumpeligen Country Blues aus der Vorkriegszeit genauso, wie ich Punk liebte – das Ganze war so heikel, unmittelbar, ständig von spontaner Auflösung bedroht –, und ich war mit den digitalisierten Neuauflagen immer sehr zufrieden gewesen. Vor diesem Augenblick wäre mir nie eingefallen, dass ich etwas falsch machte. Dass ich nur eine Annäherung erlebte.
Es gibt heute 78er-Liebhaber, die Vorkriegsmusik jeder Art sammeln und bewahren – Jazz, Oper, Klassik, Gospel, Country, Dance, Pop –, aber der Klang des Blues, wie er zwischen 1925 und 1939 auf akustischer Gitarre gespielt wurde – als sogenannter Country Blues – hat auf Schellack wirklich etwas besonders Bestechendes. Country Blues zu spielen, kann ein überwältigendes Maß an technischer Fertigkeit erfordern (kein anderes Genre wird so regelmäßig unterschätzt, vom Rap vielleicht abgesehen), aber der wichtigste Bestandteil aller Country-Blues-Songs bleibt, dass der Sänger das Blues-»Feeling« trifft, dieses amorphe, ungreifbare Bauchgefühl, das der Musik Leben einhaucht.
Gefühl braucht es natürlich nicht nur für den Country Blues, aber weil die meisten Blues-Songs der Vorkriegszeit eher zusammengebastelt als komponiert waren (die Performer arbeiteten oft mit den gleichen Folksongs als Vorlage, spielten mit dem Text und schrieben nach eigenen Bedürfnissen Strophen um), und weil viele Auftritte nur ansatzweise aufgenommen und die Aufnahmen nicht bearbeitet wurden, ist das Gefühl oft das einzige, das zwischen einer mittelmäßigen und einer transzendenten Blues-Nummer den Unterschied macht. Kritik und Wissenschaft können endlose Vorträge über die Fingerfertigkeit eines Country-Blues-Performers wie Robert Johnson machen – wie seine Finger sich ums Griffbrett krümmten, was er mit dem linken Fuß machte –, aber Bluesgefühl lässt sich sehr viel schwieriger analysieren, zum Teil, weil es sich grundsätzlich zum Begriff der Analyse konträr verhält. Zur großen Herausforderung der Blues-Kritik (aller Kritik im Grunde) wird es, ein Gespür für diese verwirrende Kraft in Worte zu fassen. Für die Fans wird es zur Pflicht, sie zu erlauschen.
An jenem Nachmittag, gerade aufgerichtet auf Heneghans Couch, tat ich extrem cool. Aber nach fünfzig Sekunden »Big Leg Blues« – ungefähr an der Stelle, wo John Hurt mit leiser, honigsüßer Stimme gurrt »I asked you, baby, to come and hold my head« – hatte ich das Gefühl, als hätten sich meine Eingeweide verflüssigt und würden mir schäumend in die Speiseröhre aufsteigen. Ich weiß bis heute nicht, ob sich die Erfahrung wiedergeben ließe, ohne dumm und sülzig zu klingen. Ich wollte mich im Innern der Platte zusammenrollen, ich wollte in ihr hausen. Dann wollte ich, dass sie in mir hauste: Ich wollte sie in Stücke brechen und die Stücke als Knochen benutzen. Ich wollte, dass sie ewig weiterlief, irgendwo tief in meinem Schädel. So fängt es bei Sammlern häufig an: mit dem Gefühl, die Musik würde sich dir plötzlich öffnen. Dass du ihm näher kommst – dem Bluesgefühl –, näher denn je.
Die ästhetische Überlegenheit der analogen Wiedergabe ist so gründlich und so offensiv propagiert worden, dass man sich fast blöd vorkommt, wenn man wieder damit anfängt, aber wer an MP3s in schlechter Qualität gewöhnt ist, aus Computerlautsprechern oder billigen Kopfhörern, für den hat Vinyl auf einer anständigen Anlage noch immer etwas von einer Erleuchtung. Nicht zweckbetont, sondern voll und üppig – als würde man vorsichtig von einer edlen französischen Schokolade probieren, nachdem man sonst nur auf Supermarktparkplätzen an billigen Schokoriegeln geknabbert hat.
Aber Vorkriegs-78er gehen nicht so leicht runter, zu Anfang jedenfalls. Je nach Qualität der Aufnahme und Zustand der Platte hört man im Hintergrund oft ein hohes und durchdringendes Zischen. Manchmal übertönt ein fernes statisches Rauschen wie aus einer anderen Welt, als wäre der Song im Garten begraben worden und würde jetzt zwei Meter unter der Erde abgespielt.
»Big Leg Blues« kannte ich schon; im Jahr 1990 war bei Yazoo Records eine CD mit den dreizehn Tracks erschienen, die Hurt 1928 für die Okeh Electric Records Company eingespielt hatte, und ein paar Jahre zuvor hatte ich in einem Plattenladen ein Exemplar davon gebraucht erstanden. Ich kannte das Stück nicht nur, ich hatte eine professionelle Digitalisierung einer wirklichen 78er damit gehört. Meine Reaktion auf das Hörerlebnis der 78er selbst, wie sie anderthalb Meter vor mir abgespielt wurde, kam mir schon im selben Moment krass und unverhältnismäßig vor. Ich würde gern glauben, dass ich ausschließlich auf die Musik reagierte und die Platte lediglich Überträger war, Mittel zum Zweck. Ich vermute aber, dass es auch das Ritual war, das mich gepackt hatte – das Gefühl, in ein besonders exklusives Geheimnis eingeweiht zu werden.
Die Platte war abgespielt. Ich presste mir das Notizbuch an die Brust und versuchte, etwas zu sagen, das professionell klang. »Wow!«, kreischte ich. Heneghan sah mich an. Ich starrte ein, zwei Sekunden zu lang auf die handgeschriebene Liste meiner Fragen, dann wollte ich schließlich von ihm wissen, ob er das Plattensammeln angesichts des technologischen Fortschritts bei der Verbreitung von Musik für eine aussterbende Kunst halte.
»Ich finde schon komisch, dass sie es Kunst nennen«, antwortete er. »Für mich ist es eher eine Krankheit. Diese Dinger überhaupt besitzen zu wollen, heißt schon, dass wirklich etwas mit einem nicht stimmt. Du musst sie haben, und es sind nie genug, und wenn du eine auftreibst, spürst du diesen seltsamen Kitzel. Man muss Zwangsneurotiker sein, um etwas zu sammeln. Dieses Bedürfnis, Dinge in eine Ordnung zu bringen, numerisch abzuheften, oder alphabetisch, sie zu beschriften – das ist neurotisch. Ich war immer überzeugt, dass ich im Grunde verrückt bin, dass mit mir wirklich etwas nicht stimmt. Vor allem als ich angefangen habe, 78er zu sammeln, weil ich sonst niemanden kannte, der das machte, und ich kam mir isoliert und komisch vor«, fuhr er fort. »Aber dann, als ich Leute wie Crumb und Nevins kennengelernt habe, haben die gesagt: ›Klar, wir sind alle verrückt.‹ Mir ist nie einer [ein anderer 78er-Sammler] begegnet, der nicht etwas gesagt hat wie ›Das ist doch krank, wir sind alle krank‹«, sagte er. »Als ich schließlich nachgegeben und angefangen habe, 78er zu kaufen, war das eine bewusste Entscheidung, meine Erkrankung zu akzeptieren und zu tun, was ich schon immer hatte tun wollen. Wahrscheinlich so wie bei jemandem, der sein Leben lang mit Drogen rumspielt und sich schließlich entscheidet, Heroin zu drücken. Da muss etwas in deinem Kopf sein, das sagt: ›Ich gebe auf.‹«
»Wenn ich wirklich ein großes Haus in der Vorstadt haben wollte, dann könnte ich nicht so oft Platten kaufen, wenn überhaupt«, räumte er ein. »Aber die Sache ist, ich brauche eigentlich kein Haus in der Vorstadt. Ich bin glücklich so, und das ist ein kleines Problem.«
Heneghan und ich blieben in Kontakt, und nach ein paar Monaten lud er mich zu einer 78er-Listening-Party in sein Wohnzimmer ein. Also trottete ich eines gleißenden Nachmittags Anfang Mai die Second Avenue hinunter, ein Sixpack warmes Brooklyn Lager im Gepäck.
Ich kam als Erste an. Heneghan reichte mir ein Bier und wies mich auf eine Neuerwerbung hin: ein abgeschabtes altes Banjo mit einem Autogramm des Zwanzigerjahre-Folk-Sängers Chubby Parker in verwaschenen Bleistiftstrichen. Das Banjo hing über Heneghans Computer, neben einem gerahmten Porträtfoto von Parker. Ein tief in den Instrumentenkopf eingelegter silberner Stern schimmerte. Ich musste an einen Weihnachtsbaum denken.
Heneghan erklärte, er habe auf eBay gerade eine außergewöhnlich seltene 78er von Parkers »Davey Crockett« ergattert. Parker gehörte zu den ersten Musikern, die regelmäßig beim National Barn Dance auftraten, einer Radiosendung aus Chicago und einem direkten Vorläufer von The Grand Ole Opry, aber seine Hinterlassenschaft war eher von mittlerer Sorte. Wenn er überhaupt für etwas bekannt ist, dann dafür, ulkige Folksongs wie »Nickety Nackety Now Now Now« zu trällern. Wie so oft war Heneghan der einzige ernsthafte Bieter. »Als ich die Platte auf eBay sah, hatte ich leise Panik«, sagte er. »Das war’s, auf diesen Tag hatte ich gewartet. Aber man kann es nie wissen. Ein einziger anderer Bieter, das genügt schon. Ich habe auf eBay meine Erzfeinde – ich weiß nicht, wer sie sind, aber ihre Nutzernamen verfolgen mich. Als ich ›Davey Crockett‹ gesehen hatte, konnte ich eine Woche nicht mehr gut schlafen. Ich wusste, das war’s – die würde ich nie wieder zu sehen bekommen. All meine durchgeknallten Freunde sahen sie auch und wussten, dass ich sie haben wollte, und hielten sich ritterlich zurück, und als ich sie hatte, gratulierten sie mir.« Er lächelte.
Bis Heneghan ein Exemplar von Skip James’ »Devil Got My Woman« auftreibt – sein Heiliger Gral – gönnt er sich kleinere Triumphe wie »Davy Crockett«. Gut möglich, dass es auch dabei bleibt. Von »Devil Got My Woman« sind nur noch vier Exemplare bekannt, von denen zwei so stark beschädigt sind, dass sie keine Rolle mehr spielen. Aufgenommen wurde der Song im Februar 1931 in Grafton, Wisconsin, für ein kleines Label namens Paramount Records. In diesem Winter bespielte James in Wisconsin achtzehn Seiten (also neun doppelseitige 78er), aber sie waren kommerziell ein Reinfall, und er hörte kurz darauf mit dem Blues auf und wurde Chorleiter in der Kirche seines Vaters. Erst in den Sechzigerjahren sollte James wieder etwas aufnehmen, als er von einem geschäftstüchtigen Trio aus Blues-Enthusiasten in einem Bezirkskrankenhaus in Tunica, Mississippi, »wiederentdeckt« wurde und man ihn überredete, wieder zu spielen. (Zitiert wurde er mit den Worten: »Na, das ist ja vielleicht eine gute Idee. Vielleicht. Aber jetzt ist Skip gerade sehr müde.«) Im Jahr 1964 trat James mit zweiundsechzig beim Newport Folk Festival auf, und spielte bis zu seinem Tod im Jahr 1969 immer wieder öffentlich. Weil seine Platten weder besonders beliebt waren noch gut verkauft wurden, blieb die Auflage klein, und heute, über achtzig Jahre später, stehen die Chancen für Sammler, ein abspielbares Exemplar aufzutreiben, wirklich schlecht.
Digital überarbeitet lässt sich »Devil Got My Woman« aber in unendlicher Stückzahl erwerben, sofort, für neunundneunzig Cent auf iTunes. Das ist dem Sammler Richard Nevins zu verdanken, der ein Schellack-Original besitzt. In einer E-Mail erklärte Nevins mir, immer wenn jemand »Devil Got My Woman« höre, unabhängig von der jeweiligen Quelle, gehe die Aufnahme sehr wahrscheinlich auf seine persönliche 78er zurück: »›Devil Got My Woman‹ ist auf LP zum ersten Mal in den Sechzigern neu erschienen, und die Master sind nicht erhalten, wie fast immer bei der 78er-Hinterwäldlermusik«, schrieb er. »Ich würde sagen, dass alle späteren Auflagen auf mein Exemplar zurückgehen, das fast wie neu ist und früher [dem verstorbenen Yazoo-Gründer] Nick Perls gehörte. Viele europäische Label, die Neuauflagen gemacht haben, haben sie einfach vom Yazoo-Release [The Complete Early Recordings of Skip James, 1994] synchronisiert.«
»Devil Got My Woman« mäandert fast strukturlos, zusammengesetzt aus kaum mehr als einer dreitaktigen Vokalphrase und Variationen zweier Gitarrenakkorde, die stimmlich und instrumental erweitert und ausgeschmückt werden. Das wäre die fachliche Beschreibung. Den Rest kann ich nicht wirklich erklären. Schlingerndes Falsett schwingt sich auf und stürzt wieder ab, wie von unsichtbaren, unmoralischen Kräften befeuert. »Aw, nothin’ but the devil changed my baby’s mind«