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Beschreibung

Die Begriffe, mit denen über Migration und Diversität geforscht und diskutiert wird, sind keineswegs neutral. Sie sind vielmehr das Ergebnis sozialer Praktiken und als solches selbst Gegenstand von Konflikten. Die Beiträge des Bandes untersuchen die Genese und den oft umstrittenen Gebrauch zentraler Migrationsbegriffe, ihr historisches Gewordensein und ihre politischen Implikationen: von »Ausländer« über »Integration« bis zur »Willkommenskultur«. Die Auseinandersetzung mit diesen kontroversen Begriffen leistet einen Beitrag zu mehr sprachlicher Sensibilität in den aktuellen Diskursen über Migration.

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Editorial

Die Reihe Kultur und soziale Praxis präsentiert sozial- und kulturwissenschaftliche Studien, die zwischen empirischer Forschung, theoretischer Reflexion/Konzeption und textueller Praxis neue Zugänge zu Kultur und sozialer Praxis entwickeln. Im Rahmen dieses Programms werden soziale Differenzen und identitäre Prozesse auf verschiedenen Ebenen und entlang verschiedener raumzeitlicher Achsen – etwa als (trans-)lokale oder (trans-)nationale Prozesse – untersucht.

Inken Bartels ist Soziologin und Postdoc am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Sie ist Mitglied der Nachwuchsgruppe »Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration« und forscht zur statistischen Wissensproduktion über Migration in Westafrika.Isabella Löhr ist Historikerin und stellvertretende Direktorin des deutsch-französischen Centre Marc Bloch in Berlin. Sie beschäftigt sie mit der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in ihren globalen Bezügen.Christiane Reinecke ist Professorin für Neuere und Neueste Europäische Geschichte an der Europa-Universität Flensburg.Philipp Schäfer ist Soziologe und Postdoc am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er ist Mitglied der Nachwuchsgruppe »Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration« und forscht zur Produktion polizeilichen Wissens über Migration.Laura Stielike ist Sozialwissenschaftlerin und Postdoc am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Sie ist Mitglied der Nachwuchsgruppe »Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration« und forscht zu Big-Data-gestützter Wissensproduktion in Migrationsforschung und -politik.

Inken Bartels, Isabella Löhr, Christiane Reinecke, Philipp Schäfer, Laura Stielike (Hg.)

Umkämpfte Begriffe der Migration

Ein Inventar

Gedruckt mit Unterstützung des »Niedersächsischen Vorab« der VolkswagenStiftung

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld© Inken Bartels, Isabella Löhr, Christiane Reinecke, Philipp Schäfer, Laura Stielike (Hg.)

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

https://doi.org/10.14361/9783839457122

Print-ISBN: 978-3-8376-5712-8

PDF-ISBN: 978-3-8394-5712-2

EPUB-ISBN: 978-3-7328-5712-8

Buchreihen-ISSN: 2703-0024

Buchreihen-eISSN: 2703-0032

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Inhalt

Umkämpfte Begriffe: Reflexive Perspektiven auf Migration und Sprache

Inken Bartels, Isabella Löhr, Christiane Reinecke, Philipp Schäfer und Laura Stielike

Asyl/Asylsuchende

Patrice Poutrus

Ausländer

Dieter Gosewinkel und Anna Katzy‐Reinshagen

Aussiedler/Spätaussiedler

Jannis Panagiotidis

Care‐Migration

Helen Schwenken

Diaspora

Laura Stielike

Diversität

Boris Nieswand

Ethnizität

Antonie Schmiz

Fluchthilfe

Helge Schwiertz und Katarzyna Winiecka

Ghetto/Ghettoisierung

Christiane Reinecke

Integration

Aladin El‑Mafaalani

Islamisierung

Schirin Amir‐Moazami

Leitkultur

Özkan Ezli

Migration

Kijan Espahangizi

Migrationshintergrund

Anne‐Kathrin Will

Muttersprache

Karsten Schmidt

People of Color

Noa K. Ha

Postmigrantisch

Erol Yildiz

»Rasse«/race

Maria Alexopoulou

Rückkehr

Inken Bartels

Solidarität

Heike Drotbohm

Willkommenskultur

Philipp Schäfer

Autor:innenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1Verwendung der Begriffe ›ethnisch‹, ›Ethnizität‹ und ›Ethnie‹ 1945–2012, Google Books Ngram Viewer (Zugriff: 14.09.2022)Abb. 1Winiecka, Katarzyna (2014): Fluchthilfe & Du, Plakat/KampagneAbb. 2Winiecka, Katarzyna (2014): Fluchthilfe & Du, Plakatinstallation an der Secession Wien. Foto: Oliver OttenschlägerAbb. 1»Konjunkturen des Begriffs Migration«, in: Google Books Ngram Viewer, Suche vom 07.01.2022Abb. 1Sprache und Nationalstaat: ein Komplex aus homogenisierenden SprachvorstellungenAbb. 2Habituelle Sprachpraktiken im Arbeitsalltag eines 29‐jährigen Softwareentwicklers (Angaben in Minuten pro Tag)Abb. 3Erfahrungswelt des lebensweltlich einsprachigen (monolingualen) Habitus im Kontrast zum lebensweltlich mehrsprachigen Habitus

Umkämpfte Begriffe: Reflexive Perspektiven auf Migration und Sprache

Inken Bartels, Isabella Löhr, Christiane Reinecke, Philipp Schäfer und Laura Stielike

Wie umstritten, ja umkämpft Sprache und das Sprechen über sich und andere ist, lässt sich täglich beobachten. In Talkshows, in den Sozialen Medien ebenso wie auf wissenschaftlichen Tagungen wird um das ›richtige‹ Sprechen und die adäquate, analytisch trennscharfe oder politisch korrekte Bezeichnung von sozialen Gruppen und Phänomenen gerungen. Die Schärfe des Tons, mit dem dabei diskutiert wird – gegenwärtig beispielsweise über rassistische Sprachfiguren oder gendersensible Sprache –, hat etwas damit zu tun, dass Konflikte um Sprache weit mehr sind als Konflikte um Schreib‐ und Ausdrucksweisen: Es sind Konflikte um Gesellschaft und um die Art und Weise, wie wir gesellschaftlichen Wandel, uns selbst und andere wahrnehmen, deuten und einordnen.

Das gilt in besonderer Weise für das Sprechen über migrationsbezogene Fragen. Der Blick auf die jährlich ausgerufenen ›Unworte‹ etwa – von ›ausländerfrei‹ und ›Überfremdung‹ Anfang der 1990er Jahre bis zu ›Rückführungspatenschaften‹ und ›Pushback‹ 2020 und 20211 – legt nahe, dass Migration und die Diversifizierung von Gesellschaft häufig im Modus des Kontroversen und Spektakulären diskutiert und weniger als normale und alltägliche Prozesse behandelt werden. Es ist ein zentrales Anliegen dieses Bandes, die Konflikthaftigkeit migrationsbezogener Debatten besonders im Hinblick auf ihre diskriminierenden Effekte und die sie strukturierenden Machtverhältnisse zu beleuchten und gleichzeitig Kämpfe um Migration als Teil einer postmigrantischen Normalität zu verstehen und anzuerkennen.

Denn nachzuvollziehen, wie in Politik und Medien, Wissenschaft und Aktivismus über Migration, migrantisierte Gruppen und Phänomene gestritten wird, hilft uns, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu verstehen. Es hilft uns, die heutige Migrationsgesellschaft mit ihren inneren Trennlinien zu ergründen und deren Genese als einen zwar konflikthaften, aber notwendigen Prozess der Selbstverständigung und der Arbeit von Gesellschaft an sich selbst zu begreifen. Dies zu zeigen, ist das Ziel der in diesem Inventar versammelten Beiträge. Sie definieren migrationsbezogene Begriffe nicht, sondern arbeiten ihre unterschiedlichen und kontroversen Gebrauchsweisen heraus. Zudem verdeutlichen sie, dass viele der aktuell gängigen Ausdrücke wie etwa ›Migration‹ oder ›Diversität‹ nicht zeitlos sind. Ganz im Gegenteil: Die Autor:innen des Bandes zeigen anhand von ausgewählten, für die Debatten über Migration zentralen Begriffen, dass Sprache trotz des ihr innewohnenden Anspruchs auf Allgemeinverständlichkeit und Verbindlichkeit alles andere als universell, neutral und objektiv ist. Begriffe sind weder schon immer da gewesen, noch verweisen sie einfach auf eine ihnen vorausgehende Realität ›da draußen‹. Vielmehr gehen wir davon aus, dass sie historisch geworden sind und die von ihnen benannten Phänomene mit hervorbringen. Begriffe sind somit das Resultat gesellschaftlicher Aushandlungen und Konventionen und zugleich in der Lage, soziale Phänomene und ihre Bedeutung mit zu erzeugen.

Die Bedeutung migrationsbezogener Begriffe verschiebt sich infolge gesellschaftlicher Veränderungen und Kämpfe permanent und alte Begriffe werden durch neue oder andere ersetzt. Ein genauer Blick auf migrationsbezogene Begriffe macht deutlich, wie sehr Sprache im Allgemeinen und das Sprechen über Migration, Gesellschaft und postmigrantische Verhältnisse im Besonderen im Wandel befindlich sind. Umso mehr, als migrationsbezogene Begriffe häufig ihre Bedeutung ändern, wenn sie zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und politischen Strömungen hin und her wandern.

Deutungskonflikte um Migration und die Pluralisierung von Gesellschaft waren und sind im fortgeschrittenen 20. und frühen 21. Jahrhundert häufig durch Verweise auf ›wissenschaftlich fundierte‹ Erkenntnisse geprägt: Diverse Akteur:innen greifen auf wissenschaftlich produzierte Begriffe, Daten und Narrative zurück, um ihre politischen Ansichten oder Forderungen zu formulieren und entsprechende Entscheidungen zu rechtfertigen. Das von Forscher:innen hervorgebrachte Wissen wird zwar nicht immer direkt und nahtlos in Politik, Aktivismus oder Mediendebatten übersetzt, aber Versatzstücke oder Abwandlungen dieses Wissens finden ihren Weg in andere gesellschaftliche Kontexte und führen dort ein Eigenleben, ausgestattet mit dem symbolischen Kapital einer ›wissenschaftlich beglaubigten Tatsache‹ bzw. eines ›Fakts‹.

Fangen wir an, migrationsbezogenen Begriffen auf ihrem Weg durch unterschiedliche gesellschaftliche Felder zu folgen, rückt häufig das Wechselverhältnis von geistes‐ und sozialwissenschaftlicher Forschung, Politik und Medien in den Blick. Dieses Wechselverhältnis ist in der Migrationsforschung in den letzten Jahren vermehrt zum Gegenstand reger Forschungs‐ und Selbstverständigungsdebatten geworden, die für dieses Inventar einen wichtigen Bezugsrahmen bilden. Im Folgenden gehen wir daher in einem ersten Abschnitt auf die Forderungen nach einer reflexiven Migrationsforschung ein, um dann im zweiten Abschnitt intensiver über sprachbezogene Perspektiven auf Migrationsgesellschaften nachzudenken und abschließend die Auswahl der in diesem Band und der dazugehörigen Online‐Plattform versammelten Beiträge und Begriffe zu erläutern.

Perspektiven der reflexiven Migrationsforschung

In der Migrationsforschung gibt es derzeit ein wachsendes Interesse an den Begriffen und Kategorien, auf die in aktuellen und historischen Kontexten zurückgegriffen wird, um sich über Migration und die Pluralisierung von Gesellschaften zu verständigen. Dieses vermehrte Interesse an der Art und Weise, wie über Migration gesprochen und geforscht wird, hat eine Reihe von Gründen. Dazu gehört ganz allgemein, dass sich Forscher:innen seit einiger Zeit zunehmend für den Einfluss interessieren, den die Wissenschaft und das von ihr produzierte Wissen auf Politik, Ökonomie und Gesellschaft ausüben – und umgekehrt. Von Pressekonferenzen über Datenzentren bis zu Laboren sind so die verschiedensten Orte und Einrichtungen, die Wissen produzieren und kommunizieren, zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden (Stehr/Adolf 2018; Bauer 2017; Felt 2017). Entsprechende Studien zeigen, wie stark politische Entscheidungen und administrative Prozesse von den Expertisen, den Kategorien und dem Wissen abhängen, die sie informieren und anleiten.

Vor allem aber hat das neue Interesse am Wissen über Migration etwas damit zu tun, dass in der interdisziplinären Migrationsforschung seit einigen Jahren Stimmen lauter werden, die fordern, sich mit der starken Policy‐ und Anwendungsorientierung des eigenen Forschungsfeldes sowie seiner zunehmenden Etablierung kritisch auseinanderzusetzen. Spätestens seit den 1990er Jahren lässt sich beobachten, wie das Feld der Migrationsforschung in Deutschland und Europa zunehmend institutionalisiert und ausgebaut wurde (Pisarevskaya et al. 2020). So hat sich die Anzahl von migrationsbezogenen Lehrstühlen, Studiengängen, Instituten, Netzwerken und Fachzeitschriften stetig vergrößert. Im Zuge der Krise des europäischen Grenzregimes 2015/16 ist außerdem die Nachfrage nach wissenschaftlichem Wissen über Migration seitens Politik, Medien und Gesellschaft deutlich gestiegen. Dies zeigt sich unter anderem in der vermehrten Vergabe von Drittmitteln insbesondere für fluchtbezogene Forschungsprojekte (Kleist 2018: 37), in der Neugründung politikberatender Stiftungen und Institute (Braun et al. 2018: 10) sowie in der Etablierung von Datenzentren internationaler Organisationen (Stielike 2022a). Vor diesem Hintergrund fordern eine Reihe von Forscher:innen, die eigene Wissensproduktion über Migration und ihre Einbettung in die politischen Ökonomien Policy‐relevanter Forschung stärker zu reflektieren (z.B. Amelina 2017; Dahinden 2016; Römhild 2014; Mecheril et al. 2013). Unter dem Stichwort reflexive Migrationsforschung regen sie ein Nachdenken über die Bedingungen und Konsequenzen der Wissensproduktion über Migration an (Löhr 2022; Stielike 2022b).

Diese »reflexive Wende« in der Migrationsforschung verspricht Boris Nieswand und Heike Drotbohm zufolge, »die Wissens‐ und Bedeutungszusammenhänge zum Thema zu machen, durch die Migration als Phänomen in Erscheinung tritt« (Nieswand/Drotbohm 2014: 1). Zentral für diese Perspektivverschiebung ist die Annahme, dass Migration nicht eine immer schon gegebene, von gesellschaftlichen Deutungen und Aushandlungen unabhängige Tatsache ist. Was in einer Gesellschaft als Migration verstanden und erfahren wird, ist vielmehr in hohem Maße wissens‐ und bedeutungsabhängig und damit kontingent (Espahangizi 2022). Es hängt von ökonomischen Bedingungen ebenso ab wie von wechselnden Migrations‐ und Grenzregimen und eben den Wissensordnungen, mit denen sie verknüpft sind. Auch deshalb beschäftigen sich immer mehr Migrationsforschende mit der Frage, wie sich das historische Gewordensein, die politische Verwobenheit und die materiellen Bedingungen des Feldes der Migrationsforschung auf die Kategorien und Annahmen auswirken, mit denen sie operieren. Sie richten ihren Blick auf die Diskurse, Technologien, Datenpraktiken, Begrifflichkeiten und Kategorisierungen, die Migration als ›soziale Tatsache‹ konstituieren (Ruppert/Scheel 2021; Grommé/Scheel 2020; Horvath 2019; Renard 2018; Zloch 2018; Supik 2014).

Zu den zentralen Wissens‐ und Bedeutungszusammenhängen, die im Zuge dieser reflexiven Wende kritisch hinterfragt werden, gehört der sogenannte methodologische Nationalismus, der die Migrationsforschung lange Zeit dominierte (Wimmer/Glick Schiller 2002). Kritisiert wird dabei die selbstverständliche Fokussierung auf den Nationalstaat als Untersuchungsraum sowie die Gleichsetzung von Nationalstaat und Gesellschaft. Für die reflexive Migrationsforschung ist diese Kritik in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen wird eine auf den Nationalstaat fixierte Perspektive den vielfältigen transnationalen Austauschbeziehungen, Mobilitäten und Verknüpfungen, die unsere hochglobalisierte Welt auszeichnen, in der Regel nicht gerecht. Zum anderen läuft eine Perspektive, die national verfasste Gesellschaften als quasi natürlichen Anfangs‐ und Endpunkt der Analyse annimmt, Gefahr, staatliche Perspektiven zu naturalisieren. Dies ist besonders folgenreich im Zusammenhang der Erforschung von Migration, weil auf diese Weise die Vorstellung einer grundsätzlichen Verschiedenheit zwischen Migrant:innen und Nicht‐Migrant:innen als zwei scheinbar stabilen, homogenen Gruppen reproduziert und verfestigt wird (Nieswand/Drotbohm 2014: 5; Sökefeld 2004). In der Migrationsforschung wächst daher die Kritik an einem eng mit einem essentialisierenden Verständnis von Nation, Herkunft und Kultur verknüpften Blick auf Migration sowie auf die Grenzziehungen Migrant:in/Nicht‐Migrant:in, weiß/nicht‐weiß, europäisch/nicht‐europäisch (Foroutan/Karakayalı/Spielhaus 2018). Einem Blick, der seinerseits kaum von der Genese und dem Ausbau restriktiver, (post‑)kolonial informierter Grenz‐ bzw. Migrationsregime zu lösen ist (Löhr/Reinecke 2020).

Wie andere reflexiv Forschende plädieren auch wir dafür, zentrale Kategorien der Migrationsforschung kritisch zu überdenken und teilweise gar nicht mehr zu gebrauchen. Im Sinne einer »Demigrantisierung der Migrationsforschung« schlägt Janine Dahinden (2016) vor, erstens konsequent zwischen Alltagskategorien (common‐sense categories) und analytischen Kategorien (analytical categories) zu unterscheiden (vgl. auch Brubaker 2013); zweitens Konzepte und Kategorien wie Migration und Ethnizität nicht ins Zentrum der Fragestellung zu rücken, sondern deren Relevanz für die Forschungsfrage erst einmal selbstkritisch zu überprüfen und zu analysieren; und drittens nicht länger migrantische Gruppen als Untersuchungseinheit auszuwählen, sondern vielmehr Gruppen der Gesamtbevölkerung zu untersuchen, die auch Migrant:innen beinhalten (Dahinden 2016: 2214–2217). Manuela Bojadžijev und Regina Römhild (2014) argumentieren, dass eine solche Entmigrantisierung der Migrationsforschung zugleich mit einer Migrantisierung der Gesellschaftsforschung einhergehen müsse. Die Sozialwissenschaften sollten verstärkt der Tatsache Rechnung tragen, dass gesellschaftliche Prozesse immer von Bewegung und Veränderung geprägt sind, sodass Migration bzw. als Migration gerahmte Mobilitäten eben den Normalfall und nicht die Ausnahme darstellen.

Dass die Abgrenzung und Definition des Forschungsgegenstandes ›Migration‹ oder ›Migrant:in‹ mit kontingenten, aber machtvollen Grenzziehungen einherging und ‑geht, ist eine zentrale Beobachtung der reflexiven Migrationsforschung. Sie lässt sich am Beispiel des Umgangs mit Migration in westeuropäischen Ländern seit den 1970er Jahren veranschaulichen, in denen verschiedene Formen von grenzüberschreitender Mobilität in erster Linie als ein gesellschaftliches ›Problem‹ und zunehmend spezifischer als ›Integrationsproblem‹ beschrieben und verhandelt wurden. Obwohl die britische, die deutsche, die französische oder die niederländische Gesellschaft schon länger von diversen Mobilitäten geprägt wurden, begannen sie sich erst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert als Einwanderungsgesellschaften, Migrationsgesellschaften oder tatsächlich als postmigrantische Gesellschaften zu verstehen (Espahangizi 2022; Favell 2021; Reinecke 2021; Alexopoulou 2020). In diesem Kontext entwickelte sich die in der Regel an bestimmte ethnisch oder religiös definierte Gruppen adressierte Forderung nach ›mehr‹ oder ›besserer Integration‹ in eine als unproblematisch wahrgenommene ›Abstammungsgesellschaft‹ zu einer zentralen politischen Forderung (Möhring 2018; Korteweg 2017). Gestützt wurde diese Forderung dabei von zahlreichen wissenschaftlichen Studien und Berichten, die bestimmte Gruppen a priori als homogen und problematisch definierten, um sie dann auf ihre Integriertheit oder Integrationsfähigkeit hin zu befragen (Schinkel 2017). Eine solche »nach Herkünften sortierte ›Migrantologie‹ unterschiedlicher Ethno‐Communitys« konstituiert nicht nur Migration als ein klar definierbares Forschungsfeld »der fremden Minderheiten am Rand der Gesellschaft«, sondern »konstruiert ihren Gegenpart – die (weiße) sesshafte Nation als Zentrum – gleich mit« (Bojadžijev/Römhild 2014: 10).

Eine reflexive Migrationsforschung hinterfragt demgegenüber das Denken in staatlichen Container‐Modellen, die klare Abgrenzbarkeit von unterschiedlichen ›Kulturen‹, Migration als linearen, eindimensionalen Prozess sowie den damit einhergehenden Fokus auf den Integrationsimperativ. Darüber hinaus geht es der reflexiven Migrationsforschung um eine Kritik daran, wie Migrationsprozesse praktisch definiert, kategorisiert und ›verdatet‹ werden (Grommé/Scheel 2020; Horvath 2019; Renard 2018; Zloch 2018; Brückweh 2015; Supik 2014), wobei sie sich besonders damit auseinandersetzen muss, dass Migrationsforschung als umkämpftes Feld der Wissensproduktion stark von politischen Vorgaben und Nachfragen beeinflusst ist. So schlägt sich die politische Forderung nach mehr, besseren oder verlässlicheren Daten über Migration beispielsweise im Ausbau und der Ausdifferenzierung von staatlichen Migrationsstatistiken nieder (Bartels i.E.; Will 2022). Neue Datenformate und ‑zentren versprechen, Migration zukünftig noch detaillierter, schneller und umfassender messen, modellieren und voraussagen zu können (Stielike 2022a).

Schließlich beinhaltet eine reflexive Perspektive auf die Wissensproduktion über Migration aber nicht nur eine kritische Bestandsaufnahme und Überarbeitung migrationsbezogener Inhalte, Konzepte und Kategorien, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wer wie und warum über wen forscht (vgl. Bojadžijev/Römhild 2014: 19). Sie zielt damit auf forschungsethische Fragen, die die Machtverhältnisse sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch zwischen Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen betreffen und damit so übergreifende Probleme berühren wie die Frage, wer in einer Gesellschaft die Deutungshoheit besitzt, wer über wen spricht und sprechen kann – und wer wie gehört wird (Dahinden/Pott i.E.). Allerdings sind solche methodologischen und forschungsethischen Fragen nach der Verteilung von Ressourcen, Positionalitäten und Machtbeziehungen auch innerhalb der reflexiven Migrationsforschung bislang wenig diskutiert worden (vgl. Bartels/Schäfer/Stielike i.E.). Eine Verständigung über diese Fragen erscheint uns jedoch notwendig, wenn eine reflexive Migrationsforschung für sich den Anspruch erhebt, auch eine selbstreflexive Perspektive einzunehmen.

Eine selbstreflexive Perspektive auf die Migrationsforschung beinhaltet also die sehr grundsätzliche – und politische – Frage, wie Migrationsforschung und andere Formen der Wissensproduktion nicht nur zu unserer Wahrnehmung von Gesellschaft und mobilen Menschen beitragen, sondern diese in einem Zusammenspiel aus Begriffen und Kategorisierungen, Theorien und Narrativen, Daten und Fakten überhaupt erst hervorbringen. Die Beiträge zu diesem Buch zeigen, wie die Produktion von akademischem und anderem formalisiertem Wissen über Migration daran mitwirkt, die Grenzen zwischen ›innen‹ und ›außen‹, Zugehörigkeit und Nicht‐Zugehörigkeit, Einschluss und Ausschluss in einer Gesellschaft zu ziehen. Sie analysieren, wie ›Begriffe der Migration‹ mobile Menschen kategorisieren und sortieren, diese als nützlich oder überflüssig, bereichernd oder gefährlich, dazugehörig oder fremd einordnen und so dazu beitragen, gesellschaftlich wirkmächtige, weitgehend unhinterfragte Annahmen zu produzieren und zu verstetigen. Die Analyse dieser Begriffe erlaubt uns daher einen (selbst‑)reflexiven Zugriff auf die kontingente, wirklichkeitsbildende Macht der Sprache im Allgemeinen und des Sprechens über Migration im Besonderen.

Sprache und Migration

Migration und Migrant:innen werden also nicht allein durch nationalstaatliche Grenzen, mobile Praktiken und Formen des Othering hervorgebracht, sondern auch durch Sprache. Sprache erzeugt Realität, sie »stellt Welt her« (Schmidt‐Lauber 2022: 11). Wenn wir uns kritisch mit Vorstellungen von Migration in der Gesellschaft und ihren Konsequenzen auseinandersetzen möchten, müssen wir daher auch betrachten, wie über Migration gesprochen wird. In einer Redewendung oder einem Begriff stecken immer implizite Annahmen über die Welt sowie Aussagen über gesellschaftliche Machtverhältnisse und Werte. Hinterfragen wir Sprache, hinterfragen wir zugleich Normalitätsvorstellungen.

Unsere Fokussierung auf Sprache als Zugang zum umkämpften Feld der Migration knüpft zum einen, wie oben beschrieben, an Diskussionen um Reflexivität in der Migrationsforschung an. Zum anderen stützt sich dieser Zugriff auf Ansätze der Begriffsgeschichte, auf diskursanalytisch‐genealogische Perspektiven und auf aktuelle Arbeiten zum Themenfeld Sprache und Migration.

Begriffsgeschichtliche Ansätze setzen sich mit der Herkunft und dem Bedeutungswandel von Begriffen auseinander. Ein Wort wird zum Begriff, so Reinhart Koselleck, Historiker und Mitherausgeber des achtbändigen Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe, »wenn die Fülle eines politisch‐sozialen Bedeutungs‐ und Erfahrungszusammenhangs, in dem und für den ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht« (Koselleck 1984: 119). Dabei geht Koselleck nicht davon aus, dass Begriffe politisch‐soziale Wirklichkeiten vollumfänglich spiegeln. Sie zeigen immer auch die Möglichkeiten und Grenzen begrifflicher Zusammenhänge auf. Begriffe sind Kosellecks Verständnis nach nie bloß Indikatoren für bestimmte, d.h. soziale oder politische Konfliktlagen. Sie sind immer auch Faktoren der Stabilisierung oder des Wandels politisch‐sozialer Zustände.

Eine Gesellschaft und ihre Begriffe stehen in einem permanenten Spannungsverhältnis, das begriffsgeschichtlich ausgelotet werden kann. Es geht der Begriffsgeschichte also einerseits darum, vergangene Konflikte »im Medium ihrer damaligen begrifflichen Abgrenzung und im Selbstverständnis des vergangenen Sprachgebrauchs« aufzuschlüsseln (ebd.: 114). Andererseits versucht sie, den Wandel von Begriffen nachzuvollziehen und deren wechselnde Bedeutungen in ein heutiges Verständnis zu übersetzen. Koselleck spricht dabei von einer diachronischen »Tiefengliederung sich durchhaltender, überlappender, ausgefällter und neuer Bedeutungen« eines Begriffs (ebd.: 118). Begriffsgeschichtliche Analysen sind demnach nie reine Wortanalysen. Sie beziehen den – sich im Wandel befindlichen – gesellschaftlichen und politischen Kontext mit ein und müssen sensibel bleiben für »die Vielzahl der Benennungen für (identische?) Sachverhalte […], um Auskunft darüber geben zu können, wie etwas auf seinen Begriff gebracht wurde« (ebd.: 121). Das bedeutet, immer auch parallele, wechselnde Alternativ‐ und Gegenbegriffe mit in die Analyse einzubeziehen oder, wie Koselleck es formuliert, ›ein semantisches Feld auszumessen‹ (ebd.: 123). Für das Verständnis der ›umkämpften Begriffe der Migration‹ ist diese Herangehensweise bedeutsam, weil die Begriffsgeschichte helfen kann, die Differenz zu klären, »die zwischen vergangener und heutiger Begrifflichkeit herrscht«, beispielsweise indem die Bedeutungen gegenwärtiger, umstrittener Begriffe auf ihre historische Genese hin befragt werden (ebd.: 127).

Dieses Anliegen, Begriffe in ihrer Geschichtlichkeit regelrecht zu ›begreifen‹, durch sie den gesellschaftlichen Raum auszumessen, der in ihren verschiedenen Bedeutungsebenen sichtbar wird, öffnet den Blick für die Eingebundenheit von Begriffen in den Sinn‐ und Deutungshorizont, der das Denken, Sprechen und Schreiben einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt prägt. Für unsere Auseinandersetzungen mit Sprache und Migration sind deshalb diskursanalytisch‐genealogische Perspektiven im Anschluss an den Philosophen Michel Foucault ebenfalls von Bedeutung. Die Diskursanalyse – ein Verfahren, das von Foucault selbst als Aussagenanalyse oder auch als Archäologie bezeichnet wurde – ist eine Beschreibung der Regeln, »die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft die Grenzen und Formen der Sagbarkeit definieren« (Foucault 2001: 869f., Herv. i. O.). Ein Diskurs setzt sich aus einer »Menge von Aussagen« zusammen, die einem »gleichen Formationssystem« angehören (Foucault 1981: 156). Mit Aussagen (énoncés) sind jedoch nicht die Äußerungen (énonciations) einzelner Sprecher:innen oder Autor:innen gemeint, sondern das, was übergreifend über einen Gegenstand gesagt wird, und damit das, was selbst gegensätzlichen Äußerungen gemein ist. Diskurse können, vereinfacht gesagt, als verfestigte Denk‐ und Redeweisen verstanden werden, die sich in dem materialisieren, was im Alltagsverständnis als Wissen und Wahrheit gilt. Foucault beschreibt eine Reihe von Prozeduren, mit deren Hilfe »die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird« (Foucault 2003: 11). Hierzu gehören Prozeduren der Ausschließung, wie Verbote oder Grenzziehungen zwischen Vernunft und Wahnsinn oder dem Wahren und dem Falschen, Prozeduren und Instanzen der Kontrolle, wie der Kommentar, die Autor:innenschaft und die wissenschaftlichen Disziplinen, sowie Prozeduren der Verknappung der sprechenden Subjekte, wie Rituale, Diskursgesellschaften und Doktrinen (ebd.: 10–30). Diskurse können sowohl Instrument als auch Effekt von Macht sein. Sie produzieren und befördern Macht, aber setzen sie auch aufs Spiel, indem sie als Ausgangspunkt von Widerstand dienen können (Foucault 2014: 100). »Diskurse üben als ›Träger‹ von (jeweils gültigem) ›Wissen‹ Macht aus; sie sind selbst ein Machtfaktor, indem sie geeignet sind, Verhalten und (andere) Diskurse zu induzieren. Sie tragen damit zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei.« (Jäger 2001: 86, Herv. i. O.)

Begriffshistorische und diskursanalytische Verfahren können einander ergänzen, wenn Begriffe beispielsweise als Ausgangspunkt für Diskursanalysen dienen. So geht der Historiker Philipp Sarasin in seiner diskursanalytischen Untersuchung des hygienischen Körpers des 19. Jahrhunderts der Frage nach, »welcher Verdichtung im Geflecht aller Texte und Diskurse die Zeitgenossen den Namen ›Hygiene‹ gegeben haben« (Sarasin 1996: 151). Meist ist dieser Zugang über Begriffe mit einer genealogischen Perspektive verbunden. Genealogie bedeutet für Foucault eine historische Perspektive auf ein Problem zu werfen, ausgehend von den Begriffen, in denen es sich gegenwärtig stellt (Foucault 2005: 831). So verfasste er etwa in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der Kämpfe um ›sexuelle Befreiung‹ eine mehrbändige Geschichte der Sexualität und zeigte auf, wie Sex/Sexualität/Geschlecht an der Schnittstelle von körperlicher Disziplinierung und Bevölkerungsregulierung zu einem Wissensobjekt gemacht wurde. Grundsätzlich lässt sich mithilfe einer genealogischen Perspektive das historische Gewordensein von Wissen(schaft) herausarbeiten und somit auch der Anspruch der etablierten Wissenschaften auf universelle Wahrheit kritisieren. Foucaults Genealogieverständnis hat neben der historischen aber auch eine taktische Dimension. Die Genealogie zielt darauf, in Vergessenheit geratene, verschüttete oder als unqualifiziert abgewertete Wissensarten, die aus dem Raum des Sagbaren verdrängt wurden, »aus der Unterwerfung zu befreien, d.h., sie fähig zu machen zu Widerstand und Kampf gegen den Zwang eines einheitlichen formalen und theoretischen Wissenschaftsdiskurses« (Foucault 2001: 25). Die Beschäftigung mit diskursanalytisch‐genealogischen Perspektiven lenkt unseren Blick auf die engen Verwobenheiten zwischen Sprache/Diskurs, Wissen(schaft) und Machtverhältnissen. Dabei wird deutlich, dass Sagbarkeit aktiv hergestellt und dabei immer auch begrenzt wird. Begriffe können Ausgangspunkt für Analysen sein, die die historische Genese eines sozialen oder wissenschaftlichen Feldes beleuchten und »unterworfenen« Wissensarten (ebd.: 23) neue Sagbarkeit verschaffen.

Sprach‐ und begriffsanalytische Perspektiven mit starker Foucault’scher Prägung sind in der interdisziplinären Migrations‐ und Rassismusforschung in den letzten Jahren auf fruchtbaren Boden gefallen. Zum einen haben sie populärwissenschaftliche Studien inspiriert, die der Frage nachgehen, wie bestimmte Sprachgebräuche spezifische Migrationswirklichkeiten herstellen und beispielsweise zum Othering migrantisierter Personen beitragen. So beschreibt die Autorin und politische Aktivistin Kübra Gümüşay in Sprache und Sein, wie der Macht, etwas benennen zu können, die Ohnmacht gegenübersteht, benannt und damit gleichzeitig inspiziert und kategorisiert zu werden. Über Fragen der Mehrsprachigkeit und Übersetzung/Übersetzbarkeit, der Sprachlosigkeit und Sprachgewalt – z.B. der Gewalt, die im kolonialen Vermächtnis von Sprache fortwirkt – begibt sich Gümüşay auf die Suche nach neuen Sprachräumen, die ein neues, ein verständigeres Sprechen über Migrations‐ und Rassismuserfahrungen ermöglichen sollen (Gümüşay 2020).

Zum anderen haben die oben skizzierten begriffs‐ und diskursanalytischen Ansätze wissenschaftliche Arbeiten hervorgebracht, die explizit auf eine Verschiebung von Diskursen oder auf die Produktion von Gegendiskursen im Bereich Migration zielen. In kritischer Erweiterung kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen um Sprache und Gesellschaft machten sich beispielsweise im Jahr 2015 siebzehn aktivistische Wissenschaftler:innen daran, in einem kollaborativen Schreibprozess das Vokabular zu entstauben, mit dem in der Forschung, aber auch in öffentlichen Debatten über Migration und Grenzen gesprochen wird. In einem Foucault’schen Sinne vollziehen die Beiträge in New Keywords: Migration and Borders (Casas‐Cortes et al. 2015) die Geschichte(n) der Problematisierung von Migration und Grenzen nach. Dabei re‑aktualisieren sie Konzepte von Migration, indem sie einerseits den Fokus auf migrantische Kämpfe legen und andererseits den veränderten Praktiken des Regierens von Migration Rechnung tragen. Die kurzen Beiträge zu Konzepten wie ›Grenzregime‹, ›Grenzspektakel‹ oder ›Autonomie der Migration‹ wollen die etablierten Begriffsrepertoires sowohl der Mainstream‐ als auch der kritischen Migrationsforschung dekonstruieren (ebd.: 5).

In etwas veränderter personeller Besetzung formulierte das New Keywords Collective im Jahr 2016 das Ziel, den dominanten Diskurs um die sogenannte Flüchtlingskrise in Europa zu ›kapern‹ (New Keywords Collective 2016: 3). So beleuchten die Autor:innen die multiplen miteinander verflochtenen Krisendiskurse (Migration, Wirtschaft, Europäische Union), hinterfragen die Vorstellung von einem stabilen Europa, das durch externe Faktoren (z.B. Migration) in die Krise gerate, und zeigen auf, welche neuen Regierungspraktiken die multiplen Krisendiskurse sowie die Rede vom Ausnahmezustand überhaupt erst ermöglichen. Sie analysieren die Bedeutung und Funktion zentraler migrationsbezogener Begriffe und Konzepte im Kontext der Krisenerzählung und argumentieren als Versuch eines kollektiven Gegendiskurses, dass das heutige Europa maßgeblich durch das Spannungsverhältnis zwischen Grenz‐Ausbau und migrantischen Grenz‐Kämpfen hervorgebracht wird (ebd.: 4). Unter dem Titel Minor Keywords of Political Theory: Migration as a Critical Standpoint erschien schließlich im Jahr 2022 das dritte kollaborative Schreibprojekt, das insgesamt 22 Wissenschaftler:innen versammelt. Die von Nicholas De Genova und Martina Tazzioli herausgegebene Artikelsammlung fokussiert auf scheinbar unbedeutende Begriffe, die aber in Politik und politischer Theorie weit verbreitet sind und bisher wenig theoretisiert wurden, wie protection oder eviction. Ziel des Projekts ist es, diese »minor keywords« aus der Perspektive der Migration auszuleuchten und dabei ihr subversives Potenzial für den Standard‐Kanon der politischen Theorie freizulegen sowie die internen Hierarchien und das Wahrheitsregime dieser Subdisziplin zu destabilisieren (De Genova/Tazzioli 2022: 3).

Sprach‐ und begriffsanalytische Perspektiven haben das Repertoire der Migrationsforschung in den letzten Jahren grundsätzlich erweitert, indem sie die Sprache und mit ihr die Art und Weise, wie Menschen über Migration im Alltag, in der medialen Berichterstattung, in politischen Debatten und in der Wissenschaft reden, als konstitutive, gesellschaftliche Wirklichkeit bildende Kraft verstehen. Für die Migrationsforschung als wissenschaftliches Feld ist mit dieser Erkenntnis eine besondere Herausforderung verbunden: Sie kann sich nicht länger auf einen Modus der vermeintlich unbeteiligten Beschreibung und Analyse von migrationsbezogenen Phänomenen zurückziehen. Sie ist vielmehr Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie entweder semantisch ausmisst oder deren Regeln und Begrenzungen sie diskursanalytisch zu verstehen und neu zu konfigurieren versucht. Damit ist jede wissenschaftliche Äußerung, jeder Text, jede Interpretation immer zugleich eine Intervention in die Migrationsverhältnisse einer Gesellschaft. Was bedeutet dies für uns als Forschende, was für unseren Umgang mit der Sprache der Migration?

Umkämpfte Begriffe der Migration: Das Inventar

Das Inventar gibt einen Einblick in gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse, indem es die Begriffe und Wissensbestände beleuchtet, mit denen über Mobilität und Diversität diskutiert und gestritten wird. Ausgangspunkt ist die deutschsprachige Migrationsdebatte, die sowohl in ihren historischen, nationalen und sprachlichen Spezifika als auch in ihren transnationalen Verknüpfungen untersucht wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf bundesdeutschen Migrationsdebatten, mitunter ergänzt um Bezüge auf die Schweiz, Österreich und die DDR. Analytisch liegt der Fokus auf der historisch‐genealogischen Verortung der Begriffe und der mit ihnen verknüpften Wissensformen, auf ihrer Verwendung und Wirkmächtigkeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern sowie auf ihrer Zirkulation zwischen Wissenschaft, Politik und Medien. Das Inventar versteht sich als Beitrag zur aktuellen Diskussion um eine reflexive Migrationsforschung, die versucht, sich ihre eigenen Vorannahmen und Positioniertheiten bewusst zu machen, und die ihre Rolle bei der Herstellung von Migration als soziale Gegebenheit reflektiert. Mit dem Inventar wollen wir diese Diskussion für ein interessiertes (Fach‑)Publikum öffnen. Die Beiträge zeigen, dass migrationsbezogene Wissensbestände immer gesellschaftlich und politisch situiert sind und dass die dazugehörigen Phänomene je nach Zeit, Raum und Akteur:innen auf unterschiedliche Art und Weise hervorgebracht und kontextualisiert werden.2

Ein zentrales Anliegen des Inventars ist es somit, Migration als soziales Phänomen zu denaturalisieren. Migration ist immer das Resultat der Art und Weise, wie Politiker:innen, Journalist:innen, Sozialverbände, Migrierende, Aktivist:innen oder Forschende die Bewegung von Menschen sprachlich fassen, problematisieren, definieren, kategorisieren und kontextualisieren. Erst wenn wir diese spezifischen Mechanismen und Praktiken verstehen, können wir den Prozess der ›sozialen Fabrikation‹ von Migration begreifen, in dessen Verlauf Migration als Diskurs hergestellt wird, der die Wahrnehmungen, Weltsichten, Handlungsmuster sowie die Sprache maßgeblich prägt. In diesem Sinn geht es im Inventar darum, die bisweilen komplexen Argumentationen aufzuschlüsseln und verständlich zusammenzufassen, die sich in Begriffen wie ›Diaspora‹, ›Leitkultur‹, ›Islamisierung‹ oder ›People of Color‹ verdichten. Denn die verschiedenen, manchmal durchaus widersprüchlichen Bedeutungsebenen dieser Begriffe erschließen sich nur über das Nachvollziehen der Aneignungen, Umdeutungen und Kontextverschiebungen, welche die Begriffe von ihrem ersten Aufkommen bis zu ihrem gegenwärtigen Gebrauch erfahren haben.

Das heißt auch, dass die Beiträge keine Begriffsdefinitionen liefern und keine alternativen Begriffe oder Formulierungen vorschlagen. Sie setzen vielmehr auf eine konsequente Historisierung und wissenssoziologische Einordnung von migrationsbezogenen Begriffen und geben komplexe Einsichten in ihre unterschiedlichen und umstrittenen Gebräuche, ihr historisches Gewordensein und ihre politischen Implikationen. Denn, so eine zentrale Überlegung, im veränderten Gebrauch und in der Verbreitung neuer Begriffe, wie der um die Jahrtausendwende aufkommenden Rede von Menschen mit ›Migrationshintergrund‹, manifestieren sich übergreifende gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse und Machtverhältnisse. Die Beiträge dieses Bandes wollen das Bewusstsein für die Offenheit und Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Situationen schärfen und damit zugleich den Blick für Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsräume in Gesellschaft und Wissenschaft öffnen. Unser zentrales Anliegen ist es, mit den im Inventar versammelten Begriffsanalysen auf die Bedeutung von Sprache in den aktuellen Auseinandersetzungen über Migration aufmerksam zu machen und somit Leser:innen zu motivieren, sich informiert und reflektierend in die Diskussionen über Migration einzumischen.

Die Auswahl der ›umkämpften Begriffe‹

Bei den von uns ausgewählten Begriffen handelt es sich zunächst um Grundbegriffe des Diskurses über Migration. Sie sind von übergreifender gesellschaftlicher Bedeutung, weil sie das Verständnis von Migration und Mobilität in verschiedenen Bereichen wie Politik, Verwaltung, Medien, Öffentlichkeit, Bildung und Wissenschaft strukturieren, unabhängig von der Positionierung, den Haltungen und Weltanschauungen der Sprechenden. Wofür, lautete daher immer eine Frage an die Autor:innen des Inventars, ist der jeweilige Begriff aus Sicht der Migrationsforschung symptomatisch und welche spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen schlagen sich in seiner Verwendung nieder? Welche (Um‑)Deutungen und Konnotationen haben die Begriffe erfahren, welche (politischen) Kämpfe und Forderungen sind mit ihnen verknüpft? Wer hat die jeweiligen Begriffe in welchem Zusammenhang verwendet und welche Akteur:innen kritisieren diese Verwendung mit welchen Begründungen? Das Potenzial der Begriffsanalysen liegt hier in der Aufarbeitung der verschiedenen semantischen Schichten, der Bedeutungsverlagerungen und der bisweilen komplexen Deutungskämpfe.

Um die grundlegenden Begriffe identifizieren und auswählen zu können, haben wir eine Umfrage unter Migrationsforschenden an deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Instituten durchgeführt. Die Befragten wurden um eine Einschätzung gebeten, welche Begriffe ihnen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Forschungen und Erfahrungen besonders geeignet erscheinen für einen reflexiven Blick auf das Reden über Migration in unserer Gesellschaft.3 Das Ergebnis ist ein Set von 21 Begriffen, die drei Merkmale verbindet: Erstens überspannen sie gesellschaftliche Polarisierungen und werden von Expert:innen, Lai:innen, Kommentator:innen und Menschen in Entscheidungspositionen gleichermaßen und unabhängig von ihren jeweiligen Weltanschauungen, beruflichen Rollen und ihrem Vorwissen benutzt. Zweitens sind es interdisziplinäre Begriffe, d.h., sie tauchen in verschiedenen kultur‑, geistes‐ und sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf, die in die Migrationsforschung involviert sind, sowie in juristischen und pädagogischen Diskursen über die Bewegung von Menschen. Schließlich haben wir bewusst Begriffe unterschiedlicher Reichweite nebeneinandergestellt. Das reicht vom Begriff der ›Ethnizität‹, der seine Wirkmächtigkeit eher in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über Migration entfaltet, bis zum Begriff der ›Migration‹ selbst, der zum Grundrepertoire jeder Migrationsdebatte gehört.

Jenseits dieser Gemeinsamkeiten bilden die ausgewählten Begriffe verschiedene Muster im Umgang mit migrationsbezogenen Phänomenen ab. Entweder schreiben sie bestimmte Problemwahrnehmungen fest, die als solche nicht weiter hinterfragt werden; exemplarisch dafür stehen Begriffe wie ›Ghetto/Ghettoisierung‹ oder ›Aussiedler/Spätaussiedler‹. Sie können aber auch, wie im Fall von ›Integration‹ oder ›Willkommenskultur‹, bestimmte Lösungsstrategien suggerieren, die zwar umstritten sein mögen, aber auf den ersten Blick alternativlos erscheinen. Oder es sind scheinbar positiv besetzte Begriffe wie ›Diaspora‹ oder ›Rückkehr‹, die selten denaturalisiert werden. In solchen Fällen schaffen die Autor:innen eine Sensibilität für die Genese und die politischen Implikationen dieser Begriffe. Aber auch für die letztgenannten, vermeintlich ›harmlosen‹ Begriffe galt ein Kriterium, das wir an alle Begriffe angelegt haben, nämlich ihr kontroverser und umstrittener Charakter. Es handelt sich entweder um umkämpfte Begriffe, wie z.B. ›Fluchthilfe‹ oder ›postmigrantisch‹, die mehr oder weniger offensichtlich politisch aufgeladen sind und für die es konkurrierende Deutungen sowie Verwendungsweisen gab oder gibt. Oder es handelt sich um Begriffe, über die in der weiteren Öffentlichkeit vergleichsweise wenig gestritten wird, wie ›Solidarität‹ oder ›Muttersprache‹, die aus Sicht der Migrationsforschung aber eine kritische Problematisierung erfordern.

Die Auswahl der Begriffe erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Im Unterschied zur Sprache, die täglich unzählige Male durch das Verwenden von Wörtern, Ausdrücken und Begriffen aktualisiert und so von den Sprechenden immer wieder neu angeeignet und ausgedeutet wird, kann das Buchformat nur eine Momentaufnahme liefern, die schneller veraltet, als es uns als Autor:innen und Herausgeber:innen lieb sein kann. Aus diesem Grund und weil wir die Begriffsanalysen möglichst niedrigschwellig zugänglich machen wollen, ist diese Buchpublikation ein Baustein in einem multimedialen Projekt, das die klassische Buchform mit einem Online‐Format kombiniert. Die hier diskutierten Begriffe sind selbst das Ergebnis einer Auswahl aus dem Inventar der Migrationsbegriffe, einer Online‐Plattform (http://www.migrationsbegriffe.de), deren Begriffssammlung laufend erweitert wird. Eröffnet die Druckversion einen bündigen Blick auf Schlüsselbegriffe wie ›Migration‹, ›Asylsuchende‹, ›Ausländer‹ oder ›Rasse‹ und damit auf das Potenzial einer reflexiven, begriffs‐ und diskursanalytischen Untersuchung der Sprache der Migrationsgesellschaft, erlaubt es die Online‐Plattform, auf Tuchfühlung mit der Gegenwart zu bleiben, indem neue Begriffe aus den dynamischen, bisweilen schnelllebigen Diskussionen über Migration kurzerhand aufgegriffen, analysiert und für eine breite interessierte Leser:innenschaft erläutert werden.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die hier vertretenen Begriffe nur einen Ausschnitt der vielschichtigen und vielstimmigen Migrationsdebatte sichtbar machen, wie sie im deutschsprachigen Raum geführt wird. Darüber hinaus lohnenswert wäre beispielsweise die Analyse von moralisierenden Begriffen wie dem der ›Armutsmigration‹, der suggeriert, dass wirtschaftliche Interessen ein primäres Movens von Migration seien. Auch das in den letzten Jahren gesellschaftlich heftig umkämpfte Feld der Fluchtmigration wird von deutlich mehr Begriffen geprägt als denen, die wir in die Auswahl aufgenommen haben. Und nicht zuletzt fehlt der gesamte Bereich der vom Klimawandel ausgelösten Bevölkerungsbewegungen, die besonders in der internationalen Politik immer stärker in den Fokus rücken. Diese Leerstellen sind uns bewusst und wir laden alle Leser:innen ein, die fortlaufende Erweiterung der Begriffsanalysen online zu verfolgen.

Danksagung

Das Inventar der Migrationsbegriffe ist in der ersten Förderphase der von der VolkswagenStiftung geförderten Nachwuchsgruppe »Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration« am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück entstanden. Das IMIS erweist sich als hervorragender Ort für eine reflexive, kritische Migrationsforschung, die ihre eigenen Grundlagen analysieren und ihre gesellschaftliche Bedeutung verstehen möchte. Deshalb danken wir an dieser Stelle ganz herzlich unseren Kolleg:innen am Institut für den regen Austausch, die vielen Impulse und die gute Arbeitsatmosphäre sowie Thomas Groß, Jochen Oltmer, Andreas Pott, Christoph Rass und Helen Schwenken, die diese Nachwuchsgruppe durch ihr Engagement praktisch möglich gemacht und uns konstruktiv begleitet haben. Darüber hinaus möchten wir uns bei Sabine Boccalini und ihrem Team von der Universitätsbibliothek Osnabrück sowie bei Karin Werner vom transcript Verlag bedanken, deren Experimentierfreude und Begeisterungsfähigkeit wir dieses multimediale Projekt verdanken. Außerdem danken wir herzlich Katrin Herbon und Ulf Heidel für ihr konstruktives Lektorat und unserer studentischen Hilfskraft Emma Brahm für ihre tatkräftige Unterstützung.

Literatur

Zum Weiterlesen

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Anmerkungen

1 Siehe die Auflistung der Unwörter des Jahres seit 1991 auf der Webseite Unwort des Jahres, https://www.unwortdesjahres.net/unwort/das-unwort-seit-1991/ vom 20.11.2022.

2 Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich bei Onur Erdur, Kijan Espahangizi, Kübra Gümüşay und Christian Jakob für ihre hilfreichen Kommentare im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Launch des Inventars im Januar 2022 bedanken.

3 Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Beteiligten, die uns nicht nur bei der Zusammenstellung der Begriffe geholfen, sondern uns auch in dem Sinn und Nutzen unseres Vorhabens bestätigt haben, herzlich für die zahlreichen konstruktiven und produktiven Rückmeldungen bedanken.

Asyl/Asylsuchende

Patrice Poutrus

Abstract

Die unterschiedlichen Bezeichnungen für Menschen, die in Deutschland um Asyl nachsuchen, resultieren aus dem jeweils unterschiedlichen Schutzstatus, den das bundesdeutsche wie auch das europäische Recht Menschen auf der Flucht gewähren. Unterschieden wird dabei zwischen dem Status als asylberechtige Person nach Art. 16 A des Grundgesetzes (GG) bzw. nach § 2 des Asylgesetzes (AsylG), dem Status als ›Flüchtling‹ nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. nach § 3 AsylG sowie dem Status als subsidiär Schutzberechtigte:r nach EU‑Recht bzw. § 4 AsylG. Dieses differenzierte System der Schutzgewährung für Menschen auf der Flucht ist das Ergebnis einer über Jahrzehnte andauernden juristischen, politischen und öffentlichen Auseinandersetzung um die Frage, wem in der Bonner und später in der Berliner Republik nach dem Grundgesetz Asyl gewährt werden sollte. Der Beitrag analysiert anhand der kontroversen Diskussionen um die Asylgewährung zwischen 1948 und den 1990er Jahren die sich wandelnden Begrifflichkeiten im Bereich Asyl und Flucht. Es wird gezeigt, dass sich die Begriffe, mit denen über Asyl und Flucht gesprochen wurde, zwar an den jeweils gültigen juristischen Sprachregeln orientierten. Sie waren aber auch immer politisch überformt, weil sie die entweder zustimmende oder abwehrende Position der jeweiligen Akteur:innen zum Ausdruck brachten.

Einleitung

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« (Art. 16, Abs. 2, S. 2 GG) – diese 1949 vom Parlamentarischen Rat mit dem Grundgesetz verabschiedete Rechtsnorm beeindruckt durch ihre Prägnanz und Schlichtheit. Asyl meint demnach das subjektive Recht von ausländischen Staatsbürger:innen oder Staatenlosen – den Asylsuchenden –, um Schutz vor Zurückweisung an der Grenze, vor Ausweisung aus dem Bundesgebiet und vor Auslieferung in das Herkunftsland nachsuchen zu können. Damit erhielt das bundesdeutsche Asylrecht eine ›Doppelnatur‹: Einerseits gewährte die (alte) Bundesrepublik auf der Basis ihrer Souveränität ›politisch Verfolgten‹ auf dem eigenen Territorium Schutz vor dem verlassenen ›Verfolgerstaat‹; andererseits erlangten ›politisch Verfolgte‹ das subjektive und durch das Grundgesetz gesicherte Recht auf Schutzgewährung im Zufluchtsland Bundesrepublik. Hinzu kommt, dass ›Asylberechtigte‹ – also die im Anerkennungsverfahren erfolgreichen Asylsuchenden – auf vielen Feldern, wie etwa im Arbeits‑, Sozial‐ und Familienrecht, einen Status erhielten, der eine weitgehende Gleichbehandlung gegenüber deutschen Staatsbürger:innen zur Folge hat (Poutrus 2019b: 21f.).

Der weitreichende Schutz nach Art. 16, Abs. 2, S. 2 GG stellte sowohl in der deutschen Verfassungstradition als auch in der Praxis der Aufnahme von ›politisch Verfolgten‹ eine außergewöhnliche Neuerung dar. Immerhin waren vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die deutschen Staaten bzw. das Deutsche Reich eher Ausgangs‐ und nicht Zufluchtsort für ›politisch Verfolgte‹ in Europa gewesen. In noch viel stärkerem Maße wurde Deutschland Ausgangspunkt für Fluchtbewegungen, als unter der nationalsozialistischen Diktatur die Verfolgung von politischen Gegner:innen, Jüd:innen sowie von aus anderen ideologischen Gründen unerwünschten deutschen Staatsangehörigen lebensbedrohliche Ausmaße annahm.

Menschen mit sehr unterschiedlichen Fluchtgründen wurden und werden, unabhängig von ihrem Anerkennungsstatus, oft genug schlicht als Flüchtlinge bzw. Geflohene bezeichnet, was in den aufgeheizten Debatten um Flucht und Asyl bis heute immer auch zu Deutungskonflikten führt (Scherr/Scherschel 2019: 64ff.). Diese Deutungskonflikte drücken sich in einer Vielzahl von konkurrierenden Begrifflichkeiten wie ›Antragsteller‹, ›Asylsuchender‹, ›Asylberechtigter‹, ›Asylant‹ oder ›ausländischer Flüchtling‹ aus, mit denen Menschen auf der Flucht eingeordnet, klassifiziert und bewertet werden. Waren diese Begriffe in Teilen den jeweiligen Gesetzen und bürokratischen Verfahrensordnungen entlehnt, stand die Frage nach der Benennung dieses politischen Feldes und besonders der Menschen auf der Flucht jedoch jahrzehntelang im Zentrum politisch‐medialer Auseinandersetzungen über die Erwünschtheit oder Unerwünschtheit der betreffenden Menschen in der Bundesrepublik. Entsprechend drückten die historischen Akteur:innen mit dem Gebrauch bestimmter positiv oder negativ konnotierter Begriffe entweder eine humanitäre, kritische oder eine ablehnende Haltung aus, mit der sie dem Thema Asyl und Flucht begegneten.

Die begriffsgeschichtliche Analyse dieses kontroversen und dynamischen Feldes steht vor der Herausforderung, die eigene Analysesprache so zu wählen, dass sie für die Leser:innen nachvollziehbar bleibt, sich aber auch von dem Sprachgebrauch eindeutig distanziert, mit dem die Zeitgenoss:innen das Flucht‐ und Asylgeschehen einordnen. Hinzu kommt, dass diejenigen, über die in diesen Auseinandersetzungen gesprochen wird, also Geflohene und Asylsuchende, jene politischen und administrativen Labels oftmals als Fremdbeschreibungen ablehnen. Das heißt, über den Gebrauch bestimmter Bezeichnungen fand und findet weiterhin eine Verortung der betroffenen Personen statt, egal ob medial, politisch oder wissenschaftlich über das Thema Asyl gesprochen wird. Im Folgenden wird für Menschen auf der Flucht der Begriff ›Geflohene‹ benutzt, um der vielfach formulierten Kritik Rechnung zu tragen, dass der Begriff ›Flüchtling‹ umgangssprachlich meist eine Abwertung anzeigt und Menschen auf ihre Fluchteigenschaft reduziert. Zudem verweist der Begriff ›Geflohene‹ auf die Flucht als einen temporären Prozess, dem die Phase des Ankommens und der Nachsuche um Asyl folgt. In diesem Sinn werden Menschen, die um Asyl nachsuchen, im Folgenden als ›Asylsuchende‹ bezeichnet, womit auf den ursprünglichen Sinn des Wortes verwiesen wird, nämlich die Suche und das Gewähren von Schutz.

Grundgesetz und frühe Asylpraxis

Aus der vielfältigen Literatur zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes lässt sich klar entnehmen, dass die 1948 abgestimmte Form der Asylgewährung sicherlich den persönlichen Erfahrungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates mit der NS‑Diktatur bzw. im Exil geschuldet war und sich deshalb die Mütter und Väter des Grundgesetzes für eine bewusst großzügige Regelung des Asyls entschieden (Schneider 1992). So kannte das Grundgesetz in seiner Fassung vom 23. Mai 1949 ausschließlich »politisch Verfolgte«, die »Asyl« genießen. Allerdings kamen im Parlamentarischen Rat auch bereits Einwände gegen ein uneingeschränktes Asylrecht zur Sprache. Trotz mehrfacher Interventionen von asylkritischen Parlamentarier:innen fanden diese Einwände gegen ein liberales Asylrecht für »politisch Verfolgte« keinen Eingang in den Art. 16 GG. Dass dies so möglich wurde, ist darauf zurückzuführen, dass allen Beteiligten daran gelegen war, mit der Asyl‐Norm, wie mit dem Katalog der dort verankerten Grundrechte überhaupt, einen deutlichen Schritt in Richtung Neugestaltung des deutschen Verfassungsrechts und der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu gehen (Feldkamp 2008: 78).

Dennoch war die in den Einsprüchen erkennbare latente Spannung zwischen der universellen Gültigkeit von politischen Freiheiten auf der einen Seite und den exklusiven Souveränitätsansprüchen des Nationalstaates auf der anderen Seite mit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht aufgehoben. Zwar war es das unbestreitbare Ergebnis der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, dass dem Wort nach ein in jeder Hinsicht offenes Asylrecht in den Verfassungstext des Grundgesetzes eingebracht wurde. Allerdings wurde der Kreis der ›Asylberechtigten‹ darin lediglich mit zwei Worten definiert – nämlich als »politische Verfolgte«. Damit verzichtete der Parlamentarische Rat willentlich auf eine formale oder inhaltliche Abgrenzung dieses Personenkreises. Das hatte die Konsequenz, dass die Normen zur rechtswirksamen Bestimmung, wer politisch verfolgt sei bzw. welche Sachverhalte den Tatbestand der Verfolgung erfüllten, der exekutiven Praxis überlassen blieben, die ihrerseits einem permanenten Prozess höchstrichterlicher Überprüfungen unterzogen war (Marx 1988).

Damit kam (und kommt) der Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens für Asylsuchende eine zentrale Bedeutung zu, was dieses Verfahren – unabhängig von der Anzahl der Asylgesuche – von Beginn an zu einem bemerkenswerten Konfliktfeld innerhalb der (damals noch nicht so bezeichneten) Migrationspolitik der frühen Bundesrepublik machte. Die eigentlichen Verfahrensregeln für das bundesdeutsche Asylrecht wurden mit der Asylverordnung vom 6. Januar 1953 wirksam, also rund dreieinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes selbst. Angesichts der aktuellen Nöte insbesondere der Vertriebenen galt der Bundesregierung wie ihren Fachverwaltungen die Aufnahme von Personen, die nach der Asylbestimmung des Grundgesetzes als »politisch Verfolgte« galten oder die nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) als »Flüchtlinge« definiert wurden, in den frühen 1950er Jahren als höchstens sekundäre Aufgabe. Deswegen wurde in der Asylverordnung, die keine parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren durchlief, kurzerhand auf die weiterhin gültigen und als ausreichend angesehenen Grundsätze der Ausländer‐Polizeiverordnung vom 28. August 1938 (APVO) Bezug genommen. Diese kannte nur »Ausländer«. Sie enthielt keine asylrechtlichen Regelungen, sondern gab den zuständigen Behörden einen weitreichenden Entscheidungsspielraum bei der Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis, der sich zur Gänze an inländischen Interessen orientierte (Ausländer‐Polizeiverordnung 1938: 5).1

Eine solche Rechtsgrundlage für die Asylgewährung stand dem subjektiven Recht der Asylsuchenden auf Anerkennung des persönlichen Verfolgtenschicksals diametral entgegen. Entsprechend wurden die betreffenden Personen im offiziellen Sprachgebrauch entweder lediglich als ›Ausländer‹, ›ausländische Flüchtlinge‹ oder ›Antragsteller‹ bezeichnet. Asylsuchende konnten sich entweder auf die GFK berufen, woraufhin das Verfahren bei der Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Sitz in Nürnberg‐Zirndorf erfolgte. Oder sie beriefen sich auf die Asyl‐Norm im Grundgesetz, dann waren allein die lokalen Ausländerpolizei‐Behörden zuständig und es lag ganz in deren Ermessen, den Asylsuchenden Aufenthalt zu gewähren. Die offene Asylgarantie des Grundgesetzes trat dahinter deutlich zurück, weil in der frühesten Periode die Asylpraxis nach Asylverordnung mehr einer Abwehr als einer Gewährung von Asyl diente (Otto‐Benecke‐Stiftung 1976).

Es stand also nicht die Anerkennung von Fluchtgründen bzw. Verfolgungstatbeständen im Fokus von institutionellem Handeln und der öffentlichen Aufmerksamkeit, sondern die – grundsätzlich als problematisch angesehene – sogenannte Ausländereigenschaft der Asylsuchenden. Entsprechend waren der öffentliche und der institutionelle Flüchtlingsbegriff noch ganz geprägt von den Entwicklungen der unmittelbaren Nachkriegszeit: Mit ›Flüchtlingen‹ waren überwiegend deutsche Staatsangehörige oder dem deutschen Volk als zugehörig angesehene ausländische Staatsbürger:innen gemeint (Ackermann 1990); aber einen eigenen Begriff für Asylsuchende, also »politisch Verfolgte« oder »Flüchtlinge« aus dem Ausland, wie sie das Grundgesetz und die GFK definierten, gab es nicht.

Neue Liberalität und alte Widerstände

Gleichwohl zeichnete sich im Rahmen des Kalten Krieges in Europa und insbesondere in der Folge der 1956 niedergeschlagenen Revolution in Ungarn und des Prager Frühlings 1968 in der ČSSR ein Wandel der Asylpraxis gegenüber Geflohenen aus den Staaten des sowjetischen Herrschaftsbereichs ab. Dieser zeigte sich auch in einem veränderten Sprachgebrauch, der im Kern auf einer Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten beruhte, und ging einher mit Reaktionen aus der westdeutschen Gesellschaft, die im Jahr 2015 ›Willkommenskultur‹ genannt worden wären. Jedoch blieb in der Exekutive der Bundesrepublik die Spannung erhalten zwischen einer situativ vorhandenen Aufnahmebereitschaft für ›politisch Verfolgte‹ in dieser Periode und der fortwährenden Abwehrhaltung gegenüber Personen, die womöglich Asyl beantragen könnten – eine Spannung, die sich auch in öffentlichen Debatten niederschlug. Sie schlug sich insbesondere in den Bestimmungen des 1965 verabschiedeten Ausländergesetzes nieder, das die Ausländerpolizeiverordnung durch ein liberaleres ›Ausländerrecht‹ ablöste und im Abschnitt 4 die Asylverordnung von 1953 ersetzte. Auf die hier neu geregelten Bestimmungen lässt sich die von Karin Hunn und Ulrich Herbert gewählte Formulierung für die Ausrichtung der frühen bundesdeutschen Asyl‐ und Flüchtlingspolitik anwenden: »so liberal wie nötig und so restriktiv wie möglich« (Herbert/Hunn 2006: 791). Zwar wollten die Bundestagsabgeordneten mit der Ablösung des Ausländer‐Polizeigesetzes von 1938 eine symbolische Distanzierung von der diskriminierenden Rechtspraxis gegenüber ›Ausländern‹ demonstrieren, doch konnten sie sich zu einem uneingeschränkten Vorrang der Verfassungsbestimmung zur Asylgewährung nicht durchringen.

Begrifflich bedeutete das neue Gesetz eine Erweiterung des sprachlichen Repertoires. Neben die bereits etablierten Begriffe ›Ausländer‹, ›Antragsteller‹, ›ausländischer Flüchtling‹ und ›politisch Verfolgter‹ trat nun der des »Asylberechtigten«, mit dem eine Person bezeichnet wurde, deren Ansuchen um Asyl in Form einer Aufenthaltsgenehmigung als berechtigt anerkannt wurde. Auf der Ebene der Verwaltung vereinheitlichte das Gesetz das Anerkennungsverfahren, das seitdem ausschließlich über die in Nürnberg‐Zirndorf zum Bundesamt aufgewertete Bundesstelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abgewickelt wird. Schließlich verankerte das Ausländergesetz auch das Prinzip der Duldung von abgelehnten ›Antragstellern‹, um diese vor einer aus humanitären oder politischen Gründen nicht geboten erscheinenden Abschiebung zu bewahren. Damit erhielten insbesondere Geflohene aus den kommunistischen Staaten Osteuropas ein gewisses Maß an Schutz vor Auslieferung in ihre Herkunftsländer, denn dort galt oft genug schon der Fluchtversuch selbst als schwere Straftat. Das hinter der neuen Regelung des Asylverfahrens verborgene Problem der »Verfolgungstatbestände« – die darüber entschieden, ob ein ›Antragsteller‹ als ›Asylberechtigter‹ anerkannt wurde – blieb jedoch ungeklärt. Dieses fortbestehende Defizit sollte zu langwierigen Anerkennungsverfahren führen, da auch weiterhin nicht allein die Formulierung des Grundgesetzes, sondern gleichermaßen die Genfer Flüchtlingskonvention mit der darin enthaltenen Einschränkung des Abschiebeschutzes als der entscheidende Maßstab galt (Franz 1966). Es lag somit weiterhin im Ermessen von Beamt:innen der bundesdeutschen Exekutive, ob jemand als ›asylberechtigt‹ angesehen wurde oder nicht.

Dennoch galten die Regelungen des neuen Ausländerrechtes insbesondere führenden Politiker:innen und Innenbehörden in Bayern als Türöffner für eine von ihnen schon in den 1960er Jahren befürchtete »Flüchtlingsschwemme«,2 weil die bayerische Staatsregierung mutmaßte, dass sich das Asylrecht in Zukunft nicht mehr so strikt beschränken lassen würde, wie sie sich das wünschte. In der Folge nahm sie in allen Asylfragen einen besonders restriktiven Standpunkt ein, angefangen mit der grundsätzlichen Infragestellung jeglicher gesetzlicher Regelung des Asyls bis hin zur präventiven Abwehr von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen. Damit waren schon Mitte der 1960er Jahre die Missbrauchs‑, Belastungs‐ und Gefahrenargumentationen im Zusammenhang mit der Gewährung von Asyl in den Institutionen der Bundesrepublik etabliert, auch wenn diese Topoi erst in der Asyldebatte der 1980er Jahren den westdeutschen Migrationsdiskurs beherrschen sollten (Wengeler 2003).