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Sie schlafen in Tunneln, Hauseingängen, auf Bänken und unter Brücken: Obdachlose. Wir sehen sie und sehen sie doch nicht. Und wenn wir sie sehen, scheinen sie uns zugleich fremd und bekannt zu sein. Obdachlose leben jenseits der Alltagsroutinen und Komfortzonen, gewissermaßen als entfernte Verwandten der Abenteuertouristen, die wir alle gern mal sind. In Literatur, Film und Philosophie werden sie darüber hinaus als Bilder der Freiheit in Szene gesetzt. Die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns spannt einen Bogen von Victor Hugo zum romantischen Vagabunden, von Maxim Gorki bis zum Tatort. In dieser verborgenen Faszinationsgeschichte stellen die Unbehausten uns grundlegende Fragen zu unseren eigenen Werten und Lebensentwürfen. „Höchst lesenswert.“ Deutschlandradio „Die Fragen, die Brüns stellt, sind ungemein spannend. Dieser Essay sollte viel länger sein.“ Büchermagazin „So luzide wie engagiert.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung Elke Brüns lehrt als Privatdozentin für deutsche Literatur an der Universität Greifswald und an der NYU Berlin. Sie forscht seit Jahren zu Armutsbildern. Sie stammt aus Bremen und lebt seit 1979 in Berlin.
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Seitenzahl: 54
Sie schlafen in Tunneln, in Hauseingängen, auf Bänken, unter Brücken: Obdachlose. Wir sehen sie und sehen sie doch nicht. Und wenn wir sie wahrnehmen, dann scheinen sie uns zugleich fremd und bekannt zu sein. Denn ist es nicht immer dasselbe Schicksal: Armut, Einsamkeit, ein Leben am Rande der Gesellschaft? Doch Obdachlose verkörpern noch viel mehr: Neben den Schreckensbildern des sozialen Abstiegs stehen sie als Sehnsuchtsbilder der Mobilität und Ungebundenheit. Obdachlose leben jenseits der Alltagsroutinen und Komfortzonen – gewissermaßen die entfernten Verwandten der Abenteuertouristen, die wir alle gern mal sind. Und während sie mit leichtem Gepäck auskommen müssen, fragen sich die Wohnenden wie viel Zeug man zum Leben eigentlich braucht. Vielleicht muss ja sogar die ganze Wohnung weg – her mit den alternativen, mobilen, entschlackten Lebensformen, wie es das Tiny House-Movement als Befreiung verspricht!
Obdachlose werden bemitleidet, verachtet oder ignoriert – und in Literatur, Film und Philosophie als Figuren der Freiheit in Szene gesetzt. Die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns spannt einen Bogen von Victor Hugo zum romantischen Vagabunden, von Maxim Gorki bis zum Tatort. In ihrer verborgenen Faszinationsgeschichte stellen die Unbehausten uns grundlegende Fragen zu unseren Werten und Lebensentwürfen.
Elke Brüns
Unbehaust
Ein Essay
ein mikrotext
Cover: Wiekbe Stöwhaase
Erstellt mit Booktype
Coverfoto: pixabay.com
Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel
www.mikrotext.de – [email protected]
ISBN 978-3-944543-54-3
Alle Rechte vorbehalten.
© mikrotext 2017, Berlin
Inhalt
Impressum
Titelseite
Vorrede. unbehaust, obdachlos
Dank
1. Überall und nirgends
2. Saubere Körper, saubere Städte
3. Vagabundierende
4. Das Zuhause ist verdächtig
5. Haben und Sein
6. Wohnst du schon?
Verwendete und zitierte Texte
Über die Autorin
Über mikrotext
Katalog
Ein Chat von der Flucht (Leseprobe)
Hausinstandbesetzung (Leseprobe)
Asyl-Erfahrungen (Leseprobe)
Elke Brüns
Unbehaust
Ein Essay
Was es bedeute, ein Obdach zu haben, definiert das Wörterbuch der Brüder Grimm kurz und bündig, gleichwohl poetisch: Es biete „Unterkunft, Schutz und Schirm“. Die Erläuterung weist darauf hin, dass dies im „eigentlichen wie im bildlichen“ Sinne gälte. Der Verlust von Schutzräumen und -instrumenten – die Obdachlosigkeit – hat ebenfalls eine eigentliche, das heißt eine soziale und eine bildliche, metaphorische Bedeutung. Dieser Raum zwischen dem Eigentlichen und dem Uneigentlichen ist durchaus vielfältiger und spannungsgeladener, als es der erste Eindruck nahelegt. Einerseits scheint der auf der Straße gestrandete Mensch als zutiefst bedauernswerte Gestalt. Er repräsentiert eine Sozialfigur, die es hierzulande eigentlich nicht geben darf: extreme Armut im Wohlstand. Der Schrecken und der Abscheu, den der Obdachlose auslöst, haben damit zu tun, dass er elementare Dinge repräsentiert, die an tiefliegende Ängste rühren. Als Bettler verkörpert er das beschämende Angewiesensein auf Hilfe. Als Unbehauster ist er in einem geradezu skandalösen Maße allem ausgesetzt – dem Wetter, dem Lärm, seinen Mitmenschen. Obdachlose, vor allem in Gruppen, verstoßen zudem gegen ästhetische und hygienische Gepflogenheiten. Sie werden als hässliche Kreaturen wahrgenommen und nicht selten verachtet. Aber der Obdachlose ist auch viel mehr. Er verkörpert Freiheit und Ungebundenheit, unter dem Schmutz und dem abstoßenden Äußeren verbirgt sich die Sehnsuchtsgestalt der Vagabondage, der Mobilität und Antibürgerlichkeit.
Diese Bilder haben eine lange Tradition und sie wirken auch heute noch fort. Denn ist der Berber, der draußen „Platte macht“, nicht auch ein entfernter Cousin des Abenteuertouristen, der wir alle so gerne mal sind? Ohne Ballast und Besitz einfach nur in der Natur nächtigen – oder zumindest im Glamping-Zelt, man muss ja nicht gleich übertreiben. Obdachlose leben mit leichtem Gepäck und können ihre Habe in einer Plastiktüte unterbringen. Die Wohnenden hingegen fragen sich, wie viele Besitztümer man eigentlich anhäufen muss (und kaufen einen Ratgeber nach dem anderen zum Thema „Ausmisten“). Und wo man schon beim Thema ist: Was braucht man zum Leben, was ist unnütz, was Luxus, was kann weg? Muss vielleicht sogar die ganze Wohnung weg – her mit alternativen, mobilen, entschlackten Lebensformen, wie es das Tiny House-Movement als Befreiung – und so die Häuschen auf Rollen stehen – als neugewonnene Mobilität verspricht?
Spätestens in diesem aktuellen Trend des Lebens in Minihäusern kommt vieles zusammen: die Möglichkeiten, auf einfache Weise Obdachlose unterzubringen, schnell und unbürokratisch Wohnräume für Geflüchtete zu schaffen und als bislang sesshafter Mieter mit wenig Kapitaleinsatz mobiler Eigenheimbesitzer zu werden.
Während ich diesen Text fertigstelle, erscheint ein Artikel in der Berliner Zeitung: Hauptstadt der Obdachlosen.20.000 Berliner haben laut Schätzung keine feste Bleibe. Sozialverbände fordern Kanzlergipfel. Für das kommende Jahr 2018 soll es nach Schätzungen der Sozialverbände 500.000 Wohnungslose in Deutschland geben. Eine halbe Million Menschen – und es werden immer mehr.
Jeder dieser Menschen ist eine lebende Frage: Wie geht eine Gesellschaft mit Bedürftigkeit um? Jeder Bettler, jede Bettlerin zwingt die Passanten sich zu entscheiden: helfen oder nicht? Alltagspraktische Überlegungen und vielleicht auch alltägliches Unwohlsein, wenn es in manchen Stadtvierteln zu viele Hilfsbedürftige werden: Wem soll man noch alles helfen? Hier steht der Obdachlose stellvertretend für das Elend der Welt, von dem sich viele aktuell überfordert fühlen.
Auch dieser Text hat seinen Ursprung in einer persönlichen Erfahrung. In der Gegend, in der ich wohne, wird sehr viel gebettelt – mein Rekord liegt bei 5 Bettlern auf 30 Meter. Das führt im Laufe der Jahre zu einem, wenn man so will, routinierten Umgang mit Notleidenden – und zu Irritation, wenn er versagt. So kam meine Routine abrupt ins Stocken, als ich einem Obdachlosen Geld in den Becher werfen wollte, aber nicht konnte. Der Mann wirkte, zusammengekrümmt und reglos, mit seiner über das Gesicht gezogenen Kapuze so abweisend und unzugänglich, dass ich förmlich an ihm abprallte. Es hat einige Tage gedauert und die Überwindung entstehender Aggressionen gebraucht – Betteln und dann diese Aura! – bis ich mein Kopfkino ausschalten und dem Mann Geld geben konnte. Es hat gedauert, aber ich begriff: Dieser Obdachlose schämte sich so sehr zu betteln, dass er eigentlich unsichtbar sein wollte. Heute sehe ich diesen Mann regelmäßig am U-Bahn-Eingang stehen. Sein Gesicht ist leicht verwittert und sehr freundlich, er steht mit seinem Becher in der Hand da und er schaut geradeaus. Ich gebe Geld, wir wechseln ein paar Worte. Ihm möchte ich diesen Text widmen.