Und Action! - Gilbert Adair - E-Book

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Gilbert Adair

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Beschreibung

Die Schauspielerin Cora Rutherford, eine alte Freundin von Evadne Mount, wird vergiftet. Nicht nur vor laufender Kamera, sondern auch vor den Augen aller am Filmset. Sechs Menschen hatten die Gelegenheit, sie zu töten, aber keiner der Tatverdächtigen hat ein Motiv. In den Verhören fällt eines auf: Alle am Set hassen den Regisseur Alastair Farjeon – fettleibig, unerträglich, insbesondere Frauen gegenüber, und so eitel, dass er in jedem seiner Filme einen Kurzauftritt haben muss. Und Miss Mount, immer in Begleitung ihres treuen Partners Eustace Trubshawe, einst Chefinspektor von Scotland Yard, stößt auf ein anderes, früheres Verbrechen. Auch das ungelöst, für diese Tat allerdings hatten alle am Filmset ein Motiv – aber eigentlich keine Gelegenheit. Ein gemeiner, genialer Mord, für dessen Aufklärung es eine geniale Ermittlerin braucht!

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Gilbert Adair

Und Action!

Miss Mount und der Mord am Filmset

Aus dem Englischen von Jochen Schimmang

Oktopus

»Das Kino ist nicht ein Stück Leben,

sondern ein Stück Kuchen.«

Alfred Hitchcock

An Walter Donohue,

meinen Verleger

 

Lieber Walter,

 

als Du mir, begeistert von meinem Roman Mord auf ffolkes Manor, vorgeschlagen hast, eine Fortsetzung zu schreiben, habe ich diese Idee gleich abgelehnt, mit der Begründung, dass es immer ein Prinzip und eine Ehrensache für mich war, mich niemals selbst zu wiederholen. Später ist mir allerdings in den Sinn gekommen, dass ich noch nie eine Fortsetzung geschrieben habe (zumindest nicht von einem meiner eigenen Bücher), und deshalb wäre es, wenn man einer zugegeben etwas windschiefen Art von Logik folgt, etwas ganz Neues für mich, eine zu schreiben. Wenn also, um Hitchcocks Metapher hier zu gebrauchen, auch die Literatur ein Stück Kuchen sein kann, so hoffe ich daher, dass Du etwas Platz für Nachschlag gelassen hast.

 

Gilbert

Erster Teil

Erstes Kapitel

»Ach du meine Güte!«

Diese Stimme!

Chefinspektor Trubshawe – oder, um es ganz korrekt zu sagen, Chefinspektor Trubshawe a. D., ehemals Scotland Yard – hatte gerade den Teesalon des Ritz Hotels betreten, um seinen Füßen Erholung und seinem Gaumen eine Erfrischung zu gönnen, und als er nun versuchte, die Aufmerksamkeit einer Kellnerin auf sich zu lenken, war es diese Stimme, die ihn wie angewurzelt stehen bleiben ließ.

Um die Wahrheit zu sagen, war das Ritz nicht die Art von Etablissement, das er normalerweise bevorzugt hätte, ganz gewiss nicht für eine dampfende Tasse Tee, nach der er während der letzten Stunde buchstäblich gelechzt hatte. Er war noch nie einer von denen gewesen, die mit Geld um sich warfen, umso weniger jetzt, wo er hatte lernen müssen, mit der Pension eines Polizeibeamten auszukommen, und ein Lyon’s Tea Room wäre für seinen unverdorbenen plebejischen Geschmack gewiss das Passendere gewesen. Aber er war nun einmal zufällig am feineren Ende der Piccadilly gelandet, dessen einziger ganz gewöhnlicher Teesalon von Sekretärinnen und Stenotypistinnen wimmelte, die miteinander über die Schwierigkeiten ihres Arbeitstages plapperten, der nun für alle gleichzeitig zu Ende gegangen war. Also hieß es: das Ritz oder gar nichts; und als er sich die durchaus unpassende Verschiebung der Werte so recht bewusst machte, dachte er: warum nicht, ein sicherer Hafen im Sturm.

Also war er hier, in diesem unaufdringlich eleganten Raum – einem Raum, in dem der wohltönende Klang gehobener Konversation mit dem silbrigen Klirren feinsten Bestecks harmonisch zusammenstieß (wenn ein solches Oxymoron möglich und erlaubt ist), einem Raum, den er noch nie betreten und auch nie in seinem Leben zu betreten erwartet hätte –, und bevor er sich noch richtig orientiert hatte, war er schon geradewegs jemandem aus seiner Vergangenheit in die Arme gelaufen!

Die Person, die ihn begrüßt hatte, saß an einem der Tische in der Nähe des Eingangs, und man konnte ihr Gesicht gerade noch hinter einem wackligen Stapel grüner Penguin-Taschenbücher erkennen. Als er sich ihr zuwandte, dröhnte die Stimme ein zweites Mal:

»So wahr ich leibe und lebe! Täuschen mich meine trüben Augen, oder ist es tatsächlich mein alter Ermittlungspartner, Inspektor Plodder?«

Trubshawe sah sie jetzt direkt an.

»Ist es möglich!«, rief er überrascht aus. Dann nickte er zustimmend, wobei ein kaum wahrnehmbarer sarkastischer Unterton in seiner Stimme mitschwang: »O ja, es ist tatsächlich Plodder. Plodder, alias Trubshawe.«

»Also sind Sie es wirklich!«, sagte Evadne Mount, die berühmte Kriminalautorin, und ignorierte die leise, aber bedeutungsvolle Veränderung in seiner Tonlage. »Und nach all diesen Jahren können Sie sich noch an mich erinnern?«

»Aber natürlich kann ich das! Das ist ein unverzichtbarer Teil meiner Arbeit – ich meine, es war ein unverzichtbarer Teil meiner Arbeit –, niemals ein Gesicht zu vergessen«, lachte Trubshawe.

»Ah ja«, sagte die Schriftstellerin ein bisschen ernüchtert.

»Wobei ich natürlich«, fügte er taktvoll hinzu, »schon im Ruhestand war, als wir uns kennengelernt haben, nicht wahr – was bedeutet, dass meine Erinnerung in diesem Fall persönlicher und nicht professioneller Art ist. Genau genommen«, schloss er, »war es die Stimme, die den Ausschlag gab.«

An dieser Stelle kehrte der leise Sarkasmus zurück. »Und der nicht besonders schmeichelhafte Spitzname natürlich.«

»Oh, Sie müssen mir verzeihen, dass ich mich ein bisschen mokiere. ›Sie tut es doch nur dir zum Hohn, und weil es dich verdrießt‹, das kennen Sie doch?[1] Meine Güte, Sie sind es tatsächlich!«

»Ziemlich lange her, oder?«, sagte Trubshawe verwirrt und schüttelte ihr die Hand. »Sehr, sehr lange, um genau zu sein.«

»Setzen Sie sich doch, guter Mann, setzen Sie sich. Gönnen Sie Ihrem Kopf eine Pause, hahaha! Wir müssen über die alten Zeiten plaudern. Über die neuen auch, wenn Sie wollen. Es sei denn«, sagte sie und senkte ihre Stimme auf die Lautstärke eines leisen Bühnenflüsterns, »es sei denn, Sie sind wegen eines Rendezvous hier. Wenn das der Fall ist: Sie kennen mich, ich verrate keinem ein Sterbenswörtchen. Ich würde nicht einmal de trop sein wollen.«[2]

Trubshawe ließ sich in dem Sessel gegenüber von Evadne Mount nieder, wobei seine breiten Boxerschultern sich hoben, als er sich die Hose an den Knien abklopfte.

»Hatte in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal so etwas wie ein Rendezvous«, sagte er ohne offensichtliches Bedauern. »Ich habe meine verstorbene Frau kennengelernt – Annie hieß sie –, als wir beide in dieselbe Klasse gingen. Ich habe sie geheiratet, als wir in den Zwanzigern waren und ich noch ein unerfahrener junger Streifenpolizist war. Unsere Hochzeitsfeier – eine Feier mit allem Drum und Dran – haben wir im Tanzsaal des Railway Hotels in Beaconsfield abgehalten. Und bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren habe ich nicht ein einziges Mal zurückgeschaut. Und auch nicht zur Seite, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Evadne lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah den Chefinspektor über den Tisch hinweg liebevoll an.

»Wie bezaubernd, wie heimelig, wie beneidenswert normal das klingt, wenn Sie von Ihrem Leben erzählen«, seufzte sie, und vermutlich sollte ihre Wertschätzung dieses Lebens durchaus nicht so herablassend klingen, wie sie wohl wirkte.

»Und richtig, jetzt erinnere ich mich, beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben – der Mord auf ffolkes Manor[3] –, waren Sie gerade Witwer geworden. Und Sie sagen, das ist schon zehn Jahre her? Kaum zu glauben!«

»Und was für zehn Jahre das waren, nicht wahr – der Krieg und der Blitz und der VE-Day und der VJ-Day[4], und jetzt diese sogenannte schöne neue Nachkriegswelt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Miss Mount, aber ich finde, dass London sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hat – und nicht zum Besseren. Nichts als Schieber, soweit das Auge reicht, Schieber, kleine Gauner, Schwarzhändler, motorisierte Banden und diese Cliquen von Nylonschmugglern, über die ich ständig lese! Und Bettler! Bettler direkt hier auf der Piccadilly! Ich bin gerade eine halbe Stunde durch den Green Park spaziert, dann habe ich es nicht mehr ertragen. Pausenlos bin ich von einer Horde schmieriger Straßenbengel belästigt worden, die mich um ein paar Pennys angebettelt haben, und als ich ihnen keine geben wollte, haben sie mich einen Westentaschen-Himmler – nein, auf gut Cockney einen ›Westentaschen-’immler‹ – genannt. Ich bin hauptsächlich hierhergekommen, um ein bisschen Ruhe und Frieden zu suchen.«

»Hm«, stimmte die Autorin zu, »dazu muss ich sagen, dass dies hier auch nicht gerade der Ort ist, den ich mit Ihnen in Verbindung bringe.«

»Ich auch nicht. Ich war auf der Suche nach einem ehrlichen, einfachen Café für jedermann. Sie hingegen scheinen mir hier wirklich zu Hause zu sein.«

»O ja, gewiss. Ich komme täglich um diese Zeit zum Nachmittagstee hierher.«

Dieser Austausch von Belanglosigkeiten wurde durch die Ankunft einer älteren weißhaarigen Kellnerin mit weißer Haube unterbrochen, die nun erwartungsvoll über Trubshawe schwebte.

»Nur ein Kännchen Tee, Miss. Und sagen Sie bitte Bescheid, dass er stark sein soll.«

»Wie belieben, Sir. Und möchten Sie ein bisschen Brot und Butter dazu? V’lleicht Gurkensandwiches?«

»Nein, vielen Dank. Nur Tee.«

»Sofort, Sir.«

Nachdem er zu den benachbarten Tischen hinübergesehen hatte, von denen die meisten mit drallen, wohlgenährten Witwen besetzt waren, die ihre Pelzstolen lässig um den Hals geschlungen trugen wie ebenso dralle und wohlgenährte Schoßfüchse, wandte sich Trubshawe wieder Evadne Mount zu.

»In diesen Tagen wird viel von freiwilliger Selbstbeschränkung gesprochen. Davon sehe ich hier nicht viel.«

Sie lächelte ihm liebenswürdig zu.

»Ich weiß, was Sie meinen«, antwortete sie mit einer Stimme, deren eingeschliffener Tenor so übermäßig laut war, dass sich ihr noch drei oder vier Tische weiter die Köpfe auch dann zugewandt hätten, wenn sie nur »Geben Sie mir bitte den Zucker« gesagt hätte. »Der Krieg hat alles komplizierter gemacht. Nicht nur London hat sich verändert – das ganze Land hat sich verändert, die ganze Welt, würde ich sagen. Keine Manieren mehr, kein Respekt, keine Rücksichtnahme. Nicht wie zu unseren Zeiten.

Aber wenn ich’s mir recht überlege, Trubshawe, diese schmierigen Straßenbengel, die Sie erwähnt haben, diese kleinen Gassenjungen mit den blassen Gesichtern. Vergessen Sie nicht, erst vor ein paar Jahren sind sie von der Luftwaffe aus Haus und Heim gebombt worden. Wenn sie Sie beleidigen und einen Westentaschen-’immler nennen, also, für die ist das nicht nur irgendein Name. Durchaus möglich, dass die Nazis für den Tod ihrer Mütter und Väter verantwortlich sind oder für den einiger Schulfreunde. Ich glaube, in diesen furchtbar schwierigen Zeiten sollten wir alle etwas nachsichtiger sein als sonst.«

Trubshawe stimmte ihr zu.

»Sie haben natürlich völlig recht. Ich bin nur ein mürrischer alter Griesgram, ein verschrobener, ungeselliger alter Kauz.«

»Papperlapapp!«, sagte Evadne Mount. »Es ist zehn Jahre her, dass ich Sie gesehen habe, und Sie sind kein bisschen gealtert. Das ist wirklich sehr bemerkenswert.«

»Jetzt, wo ich Sie mir genauer ansehe«, gab Trubshawe zur Antwort, »muss ich sagen: Sie auch nicht. Mein Gott, ich wette, wenn ich Ihnen das nächste Mal wieder in zehn Jahren über den Weg laufe, sind Sie immer noch nicht älter geworden. Es ist fast so, als ob die Zeit stehen bliebe – jedenfalls für Sie. Für mich auch, wenn Sie so wollen. Und natürlich für Alexis Baddeley. Sie scheint auch nicht zu altern.«

»Alexis Baddeley, ja? Mein Alter Ego – oder sollte ich sagen, meine alte Egoistin? Hören Sie, Trubshawe, sind Sie etwa einer von meinen Lesern geworden? Einer von denen, die ich die ›Happy Many‹ zu nennen pflege?«

»Ja, das bin ich. Ich habe tatsächlich, seitdem wir in dieser scheußlichen ffolkes-Manor-Sache, äh, zusammengearbeitet haben, jeden Ihrer Krimis gelesen. Den letzten erst vor einer Woche. Wie heißt er noch gleich? Tod: Eine Gebrauchsanweisung. Ja, den habe ich tatsächlich letzten – letzten Mittwoch zu Ende gelesen, genau.«

Nun folgte anhaltendes Schweigen. Offenkundig begann Evadne Mount es als kleine Unhöflichkeit seitens des Chefinspektors zu werten, dass er den Titel ihres letzten Buches genannt und zugegeben hatte, es gelesen zu haben, es dann aber in aufreizender Weise dabei hatte bewenden lassen. Obwohl sie im Umgang mit Verlegern und Lesern, Bewunderern und Kritikern ziemlich unverblümt war, war es dennoch nicht ihr Stil, selbst mit dem Anstimmen von Lobeshymnen zu beginnen – sie hätte behauptet, dass sie das nicht nötig hatte –, aber sie fand Trubshawes unverbindliche Antwort so enttäuschend, dass sie schließlich fragte:

»Und das ist alles?«

»Was alles?«

»Alles, was Sie über mein neues Buch zu sagen haben? Dass sie es letzten Mittwoch zu Ende gelesen haben?«

»Nun, ich …«

»Finden Sie nicht, Sie sind es mir schuldig, mir zu sagen, was Sie davon halten?«

In diesem Augenblick wurde Trubshawe nicht nur der Tee serviert, den er bestellt hatte, sondern auch ein glasiertes und mit einer Kirsche verziertes Eclair, das er nicht bestellt hatte. Aber bevor er die Chance bekam, die Kellnerin auf ihren Irrtum aufmerksam zu machen, hob Evadne Mount schon ihr Glas – er merkte erst jetzt, dass sie einen doppelten Pink Gin trank, einen Drink, den es von Rechts wegen im Teesalon gar nicht geben sollte – und brachte einen Toast aus:

»Auf das Verbrechen.«

Zweifelnd sah er sie an, denn er war es nicht gerade gewohnt, ausgerechnet auf jene schändlichen Aktivitäten zu trinken, deren Bekämpfung er sein ganzes Berufsleben gewidmet hatte, beschloss dann aber, dass es aufgeblasen und humorlos von ihm wäre, sich zu weigern.

»Auf das Verbrechen«, sagte er und hob seine Teetasse.

Er nahm einen ordentlichen Schluck Tee und biss, während die Kellnerin schon verschwunden war, überraschend gierig in das Eclair.

»In der Tat«, fuhr er fort, gleichzeitig verlegen und doch frisch gestärkt, »muss ich gestehen, dass – also, das ist die Ansicht eines einzelnen Mannes, bedenken Sie –, also ich muss gestehen, dass ich nicht glaube, dass das Buch je zu meinen Lieblingsbüchern gehören wird.«

»Nicht?«, erwiderte die Autorin und beäugte ihn mit ihren scharfen Augen wie ein Habicht. »Und darf ich fragen, warum nicht?«

»Nun ja, es ist natürlich überaus gescheit, die Spannung wird wie gewöhnlich sehr gut aufgebaut, und als ich weiterlas, ging ich immer mehr mit, genau wie Sie es wohl beabsichtigt hatten.«

»Seltsam, dass Sie das sagen«, unterbrach sie ihn sofort. »Gerade letzte Woche habe ich über das Thema einen Vortrag im Detection Club gehalten. Wissen Sie, meine Theorie ist, dass die Spannung, die wirkliche Spannung, der wirkliche Kitzel bei einem Kriminalroman – genauer gesagt, auf den letzten paar Seiten eines Kriminalromans – weniger mit der Enthüllung etwa der Identität des Mörders zu tun hat oder mit der Klärung seiner Motive oder mit sonst etwas, das die Autorin ausgeheckt hat, sondern mit der wachsenden Befürchtung des Lesers, dass sich das Ende nach all der Zeit und Mühe, die er in das Buch investiert hat, wieder einmal als Reinfall herausstellt. Mit anderen Worten, was die Spannung erzeugt, von der Sie sprechen, ist nicht etwa die Angst des Lesers, dass der Detektiv versagen könnte – er weiß, das passiert nie –, sondern dass der Autor versagt.«

»Aber gerade darum geht es«, bestätigte Trubshawe und ergriff die Gelegenheit, das Wort gleich wieder an sich zu reißen. Er war außergewöhnlich schonend mit ihr umgegangen, wenn man bedenkt, dass sie ihn nach seiner Meinung gefragt hatte, aber da er sie von früher nun einmal sehr gut kannte, wusste er sehr wohl, dass er nie dazu kommen würde, ihr zu sagen, was er wirklich von ihrem Buch hielt, wenn er sie weiter wie gewohnt abschweifen ließ.

»Wie ich schon sagte, die Spannung baut sich gut auf, bis zu der Szene, in der Ihre Detektivin, Alexis Baddeley, die Alibis der Verdächtigen noch einmal überprüft. Dann kommt diese ganze bizarre Sache mit diesem betrunkenen Lackaffen, der überall aufkreuzt, und … und da bin ich, um ehrlich zu sein, ausgestiegen. Tut mir leid, aber Sie haben mich ja gefragt.«

»Und doch ist das ganz einfach«, beharrte Evadne Mount.

»Sie wissen, was ein Running Gag ist, oder?«

»Ein Running Gag? Ja-a«, sagte der Chefinspektor, der sich nicht ganz sicher war, ob er es wirklich wusste.

»Aber natürlich wissen Sie es. Sie müssen doch diese Hollywoodkomödien gesehen haben – man nennt sie, glaube ich, Screwball Comedies –, in denen also der Running Gag ist, dass irgendein Zecher mit Zylinder, ganz wie Sie sagen, an den unwahrscheinlichsten Orten aufkreuzt und den Helden mit schleppender Stimme fragt: ›Sie habe ich doch schon mal gesehen?‹ Stimmt’s?«

»Hm, ja«, sagte er so vorsichtig wie möglich.

»Wenn also der Leser dieser Art von Figur in Tod: Eine Gebrauchsanweisung begegnet, denkt er: Aha, das ist jetzt die komische Nummer, wie in den Filmen. Aber nein, Trubshawe, in meinem Buch hat der Zecher den Helden tatsächlich schon mal irgendwo gesehen. Und wo? Natürlich, als der den Tatort des Mordes verlassen hat. Weil er blau ist, hört ihm aber keiner zu. Außer Alexis Baddeley, die darauf besteht, dass er ein Zeuge wie jeder andere ist, betrunken oder nicht, und deshalb auch wie jeder andere ernst genommen werden muss. Für mich ist das meine Version von Der unsichtbare Mann – die Pater-Brown-Geschichte, Sie wissen schon.«

Nachdem er ihren Argumenten ebenso geduldig zugehört hatte, wie sie ihm dargelegt worden waren, schüttelte Trubshawe seinen mächtigen Kopf.

»Nein, tut mir leid, Miss Mount, das funktioniert nicht.«

»Funktioniert nicht?«

»Nun, ich versichere Ihnen, nachdem Sie mir alles so gründlich dargelegt haben, denke ich, dass ich die Idee verstehe. Aber sie ist nicht gut genug.«

Evadne Mount wurde allmählich ärgerlich.

»Was soll das heißen?«

»Ich habe inzwischen genug Kriminalromane gelesen – hauptsächlich Ihre, muss ich sagen, aber als ich die alle gelesen hatte, war ich so süchtig geworden, dass ich sogar einen Blick in ein paar von den härteren Thrillern geworfen habe, James Hadley Chase, Peter Cheyney …«

»Die Abenteuer von Lemmy Caution, meinen Sie? Pfui, das ist überhaupt nicht mein Fall!«

»Meiner auch nicht. Aber egal, wie ich schon sagte: Ich habe genug davon gelesen, um zu wissen, dass man in den besten und wirklich erfolgreichen Kriminalromanen keinen Satz oder Absatz, geschweige denn eine ganze Seite, zweimal lesen muss, wie das vielleicht bei den – na ja, Klassikern der Fall ist, um zu verstehen, worauf der Autor hinauswill. Ich möchte weder Ihre noch die Kriminalromane von anderen herabsetzen. Alles, was ich sagen will, ist: Wenn die Enthüllungen eine nach der anderen herauspurzeln, dann muss die Wirkung auf den Leser unmittelbar einsetzen. Sie müssen wie ein Schlag ins Gesicht kommen, praktisch wie eine Ohrfeige. Es ist wie bei einem Witz. Wenn man nicht sofort über ihn lacht, wird man nie darüber lachen. Und nun komme ich auf den Punkt: Ist das nicht das, was mit dem perfekten Verbrechen gemeint ist – wenigstens in Kriminalromanen? Kein Verbrechen, bei dem der Täter unentdeckt bleibt – ich meine: bei dem der Mörder unentdeckt bleibt, denn heutzutage sind die Leute so blutrünstig, dass ich glaube, unter einem Mord geht gar nichts –, kein Verbrechen also, bei dem der Mörder unentdeckt bleibt – so ein Buch kann es nicht geben, der Leser würde sein Geld zurückverlangen –, sondern ein Verbrechen, bei dem alles perfekt zusammenpasst, bei dem es weder zu viel noch zu wenig Beweismaterial zu verarbeiten gibt und bei dem die Aufdeckung der Identität des Mörders sich als ebenso folgerichtig wie unvorhersehbar erweist. Er kann es gar nicht sein, sagt man sich – aber zugleich kann es gar kein anderer sein. Genau das ist das perfekte Verbrechen.«

Trubshawe beendete seine Ausführungen in beinahe entschuldigendem Ton, als sei er sich seines Affronts bewusst, der Großen Alten Dame des Verbrechens eine Vorlesung über Kriminalromane zu halten, und dann noch eine so ausführliche! Als er schließlich seine Pfeife anzündete, nachdem er die Tabakreste in einen gläsernen Aschenbecher geklopft hatte, der sofort von einer bis dahin völlig unsichtbaren Kellnerin entfernt und durch einen identischen, aber makellos sauberen ersetzt wurde, warf er der Schriftstellerin einen vorsichtigen Blick von der Seite zu.

Einen Augenblick lang schien sie sprachlos. Dann brach sie zu seinem Erstaunen in stürmisches Gelächter aus.

Der Detektiv neigte den Kopf fragend zur Seite.

»Habe ich etwas Komisches gesagt?«

»Nein«, war ihre Antwort, nachdem sie sich hinreichend beruhigt hatte, um wieder sprechen zu können. »Sie haben nichts Komisches gesagt, Sie haben etwas Ehrliches gesagt. Deshalb musste ich lachen – so laut lachen, dass ich glaube, ich habe eine Laufmasche im Strumpf! Ich bin inzwischen so erfolgreich, verstehen Sie, so ein Star, dass es keiner mehr wagt, ehrlich zu mir zu sein. Meine Verleger, meine Leser, meine Kritiker – nun, wenigstens die meisten«, schränkte sie ein und konnte dabei ein leichtes Grummeln nicht ganz unterdrücken –, »alle erzählen mir, dass mein jüngstes Buch, egal welches es gerade ist, wunderbar ist, hinreißend, dass es das bisher beste ist, obwohl wir alle wissen, dass es ein Blindgänger ist. Und selbst wenn die Kritiken ein kleines bisschen weniger ekstatisch ausfallen, als ich es gewohnt bin, hindert das den Verlag nicht daran, es auf dem Umschlag ›hochgelobt‹ zu nennen. Ich sage Ihnen, Trubshawe, in diesem Land ist noch nie ein Buch veröffentlicht worden, das nicht ›hochgelobt‹ wurde. Sie werden sehen, es dauert nicht mehr lange, und wir haben Reklame für die hochgelobte Bibel und das hochgelobte Telefonbuch, haha! Damit«, fuhr sie fort und schaltete ohne Übergang wieder auf ihre ernsthafte Tonlage um, »will ich nicht sagen, dass Tod: Eine Gebrauchsanweisung wirklich ein Blindgänger ist, verstehen Sie. Es gehört nicht zu meinen wenigen, meinen überaus seltenen Fehlschlägen. Aber Sie haben recht, es ist einfach gescheiter, als ihm guttut. Es ist, was man blitzgescheit nennen könnte, was heißen könnte: doppelt so gescheit wie einfach nur gescheit, aber in Wahrheit nur halb so gescheit.«

»Deshalb danke ich Ihnen, Trubshawe«, sagte sie. »Ich danke Ihnen wirklich sehr.«

»Wofür bedanken Sie sich?«

»Dass Sie so offen waren. Offen – und interessant. Sie mögen ja noch ein ziemlicher Neuling sein, was Kriminalromane angeht, aber in der Theorie sind Sie schon sehr weit.«

»Also, wissen Sie, ich möchte nicht, dass Sie denken, ich hätte Ihren Roman nicht mit Vergnügen gelesen. Doch, das habe ich, nur nicht mit so großem wie Ihre früheren.«

»Sehr nett von Ihnen, das zu sagen. Und Sie müssen mich ab jetzt Evadne nennen. Schließlich sind wir alte Kumpel und Verbündete. Oder noch besser, nennen Sie mich Evie. Lassen wir den Zwischenschritt weg, ja? Sie werden es sowieso tun, warum nicht gleich damit anfangen?«

»Evie«, sagte Trubshawe wenig überzeugend.

»Und kann ich Sie – nun, wie nennen Ihre Freunde Sie?«

Der Detektiv zog an seiner Pfeife.

»Von denen habe ich nicht mehr allzu viele, fürchte ich. Aber wenn Sie nach meinem Vornamen fragen, nun, ich heiße Eustace.«

»Eustace? O je. O je, o je! Ich kann Sie mir überhaupt nicht als Eustace vorstellen.«

»Ich mich auch nicht«, grummelte Trubshawe. »Aber so ist es nun mal. Das ist der Name, den man mir gegeben hat, das ist der Name auf meiner Geburtsurkunde, und das ist der Name, bei dem ich mich umdrehe, wenn ihn jemand laut auf der Straße ausruft. Heutzutage also gar nicht mehr, um ehrlich zu sein.«

Evadne Mount betrachtete ihn einen Augenblick.

»Hören Sie, Eustace«, sagte sie und sah schnell auf ihre Armbanduhr, »haben Sie heute Abend irgendetwas Besonderes vor?«

»Ich?«, antwortete er niedergeschlagen. »Ich habe an den meisten Abenden nichts Besonderes vor.«

»Ich entnehme dem, dass Sie nicht aus einem besonderen Anlass in London sind?«

»Ich lebe inzwischen in London. Habe mir eine Doppelhaushälfte in Golders Green gekauft.«

»Tatsächlich? Das Cottage in Dartmoor haben Sie nicht mehr?«

»Ich hab’s verkauft und bin vor sechs, sieben Jahren umgezogen. Es wurde einfach zu einsam für mich, nachdem der arme Tobermory tot war. Sie erinnern sich an meinen blinden Labrador, der im Moor erschossen wurde?«

»Natürlich erinnere ich mich, natürlich. Sie müssen also heute Abend nirgendwo sein?«

»Nirgends auf der ganzen Welt.«

»Warum kommen Sie dann nicht einfach mit mir? Um der alten Zeiten willen?«

»Mit Ihnen?«, wiederholte er. »Ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstehe.«

Evadne Mount erdete ihren massigen Körper fest in dem wehrlosen kleinen Stuhl.

»Zufällig ist dies für mich heute ein ganz besonderer Abend. Am Haymarket – im Theatre Royal am Haymarket – wird eine große Wohltätigkeitsshow für die Waisen aus dem East End gegeben. Ganz London wird da sein«, schwärmte sie und gebrauchte das Klischee bewusst, »Bobbie Howes, Jack and Cicely, die Smith Brothers, Tessie O’Shea, das Zweitonnenweib, und was weiß ich, wer sonst noch. Sie treten alle umsonst auf. Schließlich ist es für einen guten Zweck. Ich bin eine der Autorinnen – ich habe mir ein kurzes Präludium ausgedacht, eine Art Mini-Krimi –, und Sie werden nie erraten, wer darin Alexis Baddeley spielt.«

»Wer?«

»Noch eine alte Bekannte von Ihnen. Cora.«

»Cora?«, wiederholte Trubshawe verwirrt.

»Cora Rutherford! Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten Sie vergessen?«

Ein paar Augenblicke strapazierte er noch sein Hirn. Dann war plötzlich alles wieder da.

»Cora Rutherford! Aber natürlich! Jetzt erinnere ich mich! Sie war doch auch unter den Gästen in ffolkes Manor, nicht wahr?«

»Das stimmt.«

»Und Sie sind immer noch unzertrennlich?«

»Na ja … Um ehrlich zu sein, hatte ich den Kontakt zu ihr ziemlich verloren, bis diese Show uns wieder zusammengebracht hat. Sicher, wir hielten gelegentlich einen Schwatz an der Strippe, aber wir kriegen es nie wirklich hin, unsere Uhren in Einklang zu bringen. Wenn ich Zeit habe, hat sie zu tun; wenn sie Zeit hat, habe ich zu tun. Aber trotzdem, Sie wissen ja, was man so sagt. Unsere besten Freunde sind nicht die, die wir am häufigsten sehen, sondern die, die wir am längsten kennen. Wenn es wirklich drauf ankommt, sind wir beide immer noch Busenfreundinnen.«

»Ja-a«, murmelte Trubshawe, der die Wortwahl der Autorin eine Spur zu lebhaft und zu fleischlich fand. Nachdenklich wiederholte er ihren Namen.

»Cora Rutherford … Es stimmt schon«, fuhr er fort, »ich war nie ein großer Kinoliebhaber, selbst als Annie noch lebte. Wir haben uns zusammen Filme angeschaut, weil sie sie mochte, auch wenn ich nichts davon hielt. Aber trotzdem, ich kann nicht behaupten, dass ich in letzter Zeit viel von ihr gehört hätte. Von Cora Rutherford, meine ich. Sie hat sich doch nicht zur Ruhe gesetzt, oder?«

»O nein«, sagte Evadne Mount. »Cora hält immer noch tapfer durch. Sie hat mich sogar neulich erst angerufen und mir erzählt, dass sie eine Rolle in einem brandneuen Film ergattert hat. Im Vertrauen gesagt, sieht sie sich selbst gern als eine Art Einsiedlerin, die man gelegentlich wie eine seltene Vogelart durch die Bond Street huschen sieht – die Sorte Filmstar, die man nur ausnahmsweise mal zu Gesicht bekommt!«

Die Schriftstellerin lachte nachsichtig über ihre exzentrische Freundin.

»Das ist natürlich ziemlich grotesk, denn nach allem, was ich so höre, ist sie noch immer dieselbe Streunerin wie früher. Aber wenn es Cora das Älterwerden leichter macht, wenn sie sich für die britische Garbo hält, warum soll ich ihr den Spaß verderben?«

»Und Sie sagen, sie tritt in der Show auf?«

»Sie spielt Alexis Baddeley im Eröffnungssketch, der von meiner Wenigkeit geschrieben wurde. Danach gibt es ein bisschen Gesang, ein bisschen Tanz, ein paar komische Nummern, ein paar Tränen und ein großes, spektakuläres Finale. Also, wollen Sie als mein Gast mitkommen?«

Trubshawe fand das verlockend. Ganz offensichtlich war sein Leben in letzter Zeit wenig durch Gesang, Tanz oder Komik aufgeheitert worden. Aber er war als Privatmann so vorsichtig und bedacht, wie er es als Gesetzeshüter gewesen war, und er musste die Vor- und Nachteile jeder Veränderung seiner Pläne erst gründlich abwägen, besonders die kurzfristigen, bevor er eine Entscheidung traf. Kurz gesagt, er wollte unbedingt zu der Show gehen, aber er wollte sich auch im Voraus schon sicher sein, dass er es hinterher nicht aus irgendeinem Grund bereuen könnte.

»Die Frage ist«, sagte er schließlich und kratzte sich am Kinn, das ihn keineswegs juckte, »gibt es denn noch Karten? Ich meine, nach allem, was Sie sagen, hört es sich nach einer sehr prestigeträchtigen Veranstaltung an.«

»Es gibt keine einzige Karte mehr, weder für Geld noch für gute Worte. Die Show ist schon seit Wochen ausverkauft, selbst bei den Preisen, die da verlangt werden – fünf Guineen für einen Parkettplatz, stellen Sie sich das mal vor. Aber keine Sorge. Ich habe einige Freikarten bekommen, also ist das kein Problem.«

Nun sah Trubshawe an sich herunter, auf Anzug und Krawatte. Beides war absolut ansehnlich, der Anzug graues Kammgarn, die Krawatte das Signum eines der weniger bedeutenden Londoner Clubs. Aber selbst er, obwohl kein Habitué der Theaterwelt, wusste, dass keiner in diesem voraussichtlich außerordentlich glanzvollen Publikum ihn nach dem Namen seines Schneiders fragen würde.

Die Schriftstellerin sah den kleinen Schatten, der sich über seine Gesichtszüge legte.

»Sie sehen gut aus, sehr gut!«, sagte sie laut und ermunternd. »Außerdem gucken Sie mich mal an, und dann sagen Sie mir noch mal, dass Sie sich nicht richtig angezogen fühlen.«

Das stimmte. Sie war, wie ihm jetzt auffiel, so gekleidet wie schon vor zehn Jahren, in ein formloses Tweedkostüm, das sich an den Stellen wölbte, an denen sie selbst sich wölbte, sich aber an einigen anderen Stellen von selbst zu wölben schien. Auf dem Tischtuch lag außerdem, auf jede erdenkliche Art zerknittert, in der ein Hut nur zerknittert sein kann, der marineblaue Matrosendreispitz, der in den literarischen Kreisen Londons so lange schon als ihr Markenzeichen galt. Nein, Evadne Mount hatte sich wirklich nicht verändert.

»Also, Eustace«, sagte sie, »wollen wir aufbrechen? Die Show beginnt um halb acht, also eigentlich erst um viertel vor, bis dahin haben wir noch zwanzig Minuten Zeit.«

Trubshawe willigte ein. Außerdem bestand er darauf, nicht nur für sein Kännchen Tee, sondern auch für die Bestellung seiner Gefährtin die Rechnung zu übernehmen, die sich, wie sich herausstellte, nicht nur auf einen, sondern auf zwei Pink Gin belief und sich als teurer erwies, als er gedacht hatte.

Macht nichts, sagte er sich, während er eine Handvoll Silbermünzen auf den Tisch warf und seiner Gefährtin mit einer gekonnt ungeschickten Handbewegung den ganzen Stapel grüner Penguin-Bücher auf einmal in ihre geräumige Handtasche fegte. Wo Evadne Mount ist, da passiert etwas. Sie hatte ihn mit ihren Scherzen schon aus seiner üblen Laune gerissen, ihn aus seiner Einsamkeit gelockt, ihn schon halb geheilt von dem, was er in seinen seltenen grüblerischen, sogar poetischen Momenten als »seelische Gicht« bezeichnete, und jetzt war er aus heiterem Himmel drauf und dran, sich einer glänzenden Theatergala der Kulturelite anzuschließen. Das war die zwölf Shilling und Sixpence allemal wert.

»Übrigens«, fragte er, während er sie aus dem Ritz eskortierte und ihnen die Tür von einem prachtvoll uniformierten Lakaien aufgehalten wurde, der sie mit allergrößter Korrektheit unter Verbeugungen auf die Straße geleitete, »wie heißt die Show, die wir sehen werden?«

Sie zog den Dreispitz tief auf den Kopf und verpasste dem mittleren Knick einen brutalen Schlag.

»Langsamer Wälzer«, antwortete sie. »Ich weiß, das ist ein alberner Titel, aber ich fürchte, es ist auch eine ziemlich alberne Show. Ausgenommen«, setzte sie hinzu, »ausgenommen meinen eigenen kleinen Sketch. Der ist todernst, das können Sie mir glauben.«

Und mit diesen geheimnisvollen Worten marschierten sie in der heraufziehenden Dämmerung eines frühen Freitagabends im April gemeinsam zur nächsten Bushaltestelle.

Zweites Kapitel

Der leuchtendrote Bus, der sie die ganze Piccadilly entlanggefahren hatte und auf dessen offenem Oberdeck sie so majestätisch zu sitzen glaubten wie der Maharadscha auf seinem Elefanten, setzte sie etwa eine Viertelstunde später am hinteren Ende des Haymarket ab, nur ein paar Meter vom Theatre Royal entfernt.

Der Haymarket selbst war, man muss es sagen, nur noch ein Schatten dessen, was er vor dem Krieg gewesen war. Die Fußgänger sahen meist abgerissen aus, die minderjährigen und unterernährten Bettler hohlwangig und hohläugig. Selbst die trüben Straßenlaternen dienten nur dazu, die vorherrschende Düsterkeit noch zu verstärken. Aber das Theater selbst, mit seinem Säulengang aus sechs weißen Pfeilern, die die Theaterbesucher, welche zwischen ihnen hindurchgingen, weit überragten, hatte viel von seiner schon leicht verblassten Pracht behalten. Wie aus Protest gegen das triste, glanzlose Ethos der Nachkriegszeit hatte sich die Crème der Theater- und Kinowelt, der politischen, journalistischen und gesellschaftlichen Prominenz gemeinsam entschlossen zu zeigen: London hielt, in der harten Nachkriegszeit ebenso wie im Krieg, London hielt stand!

Man hatte Pelze aus Speichern, Halsketten aus Tresoren, Abendkleider und Abendanzüge aus der Einmottung wieder hervorgeholt und alles so trotzig angelegt wie noch vor nicht allzu langer Zeit Tarnanzüge und Gasmasken. Zwar sahen manche Pelze etwas mitgenommen aus, nicht wenige der Perlen waren gewissermaßen außerehelicher Herkunft, und die Mehrzahl der Abendanzüge und Abendkleider waren mit ihren Besitzern gealtert und abgenutzt, aber es war trotz allem irgendwie ein glanzvolles Schauspiel. Für die Menge der Schaulustigen, die mit offenem Mund die Rolls-Royce und Bentleys anstarrten, welche sanft und geräuschlos den Haymarket entlangglitten, war dieses Schauspiel auf seine Art so blendend wie dasjenige, dessentwegen die Gäste selbst gekommen waren.

Selbst Trubshawe, der sich mit seinen Ellbogen diskret einen Weg durch das gemeine Volk bahnte, als er und seine Gefährtin das Foyer betraten, konnte sich eines Gefühls der Überwältigung nicht erwehren.

Sicher, er war beim Yard einer der führenden Männer gewesen, und zu seiner Zeit und im besten Alter hatte er mit den herausragendsten und mächtigsten Personen des Landes zu tun gehabt. Trotzdem war er der Sohn eines Drechslers aus Tooting und hatte sich langsam in die höheren Dienstränge hochgearbeitet, eine Tatsache, die nur für ihn sprach, mehr als wenn ihm der Zutritt zu dieser Sphäre durch irgendwelche bedeutenden familiären Beziehungen ermöglicht worden wäre. Das hieß aber auch, dass es ihm nie ganz gelungen war, den Stallgeruch seiner bescheidenen Herkunft loszuwerden. Er kannte die Fallstricke, aber er hatte nie die Furcht abgelegt, sich selbst darin zu verfangen. Im Umgang mit den Reichen und Mächtigen hatte er immer einen leisen Hang zur Beflissenheit verspürt und sich dafür gehasst, selbst wenn er sie belehren musste, wie einige Male geschehen, dass alles, was sie nun sagten, gegen sie verwendet werden könnte. Und jetzt war er hier und verkehrte auf Augenhöhe mit Herzögen und Herzoginnen, Ministern und Diplomaten, Schauspielern und Dramatikern.

Er entdeckte auf der Treppe des Theaters sogar jemanden, den er kannte. Der Mann war früher Minister im Kabinett gewesen, und Trubshawe wollte eben seine Kappe abnehmen und ihn grüßen, als ihm rechtzeitig einfiel, worauf ihre Bekanntschaft beruhte. Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts war es Trubshawe gelungen, das einzige Exemplar vom Bauplan des X-27-Kampffliegers wiederzuerlangen, das Agenten einer mitteleuropäischen Macht in die Hände gefallen war und das, hätte diese es auswerten können, den Ersten Weltkrieg zweifellos um einige Monate, wenn nicht um Jahre verlängert haben würde. Als ihm nun klar wurde, dass bei genauer Abwägung der Tatsachen der Minister ihm mehr verpflichtet war als umgekehrt, erwiderte er das zurückhaltende Nicken des anderen und schloss sich Evadne Mount an.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte sie und winkte einem Gast nach dem anderen zu, wahllos, wie es schien, denn einige derjenigen, denen sie zugewinkt hatte, starrten sie mit einer leicht verwirrten Kenne-ich-diese-Frau?-Miene an.

»Hier ist Ihre Karte. Gehen Sie doch schon zu Ihrem Platz!«

»Aber, ich …«, antwortete Trubshawe alarmiert. »Und wohin gehen Sie?«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin gleich bei Ihnen. Ich will nur kurz hinter die Bühne gehen und Cora Hals- und Beinbruch wünschen.«

»Sie wollen was?«, rief Trubshawe aus.

»Theaterjargon, mein Lieber«, sagte die Schriftstellerin. »Ich will ihr für die Vorstellung alles Gute wünschen. Also, seien Sie ein braver Kerl und nehmen Sie Ihren Platz ein.«

Ohne ihm Gelegenheit für weiteren Widerspruch zu geben und indem sie sich aus purer Angst an ihren Dreispitz klammerte, stürmte sie in die entgegengesetzte Richtung davon, weg von der schwatzenden, johlenden Menge. Trubshawe unterdrückte einen Seufzer, ließ sich von der wogenden Masse des privilegierten Teils der Menschheit weiterziehen und fand sich gleich darauf im Zuschauersaal wieder.

Er ging den Mittelgang hinunter, wobei er seine karierte Golfmütze nervös zwischen den Fingern knetete. Und erst als er die allerletzte – um genauer zu sein: die allererste – Reihe des Parketts erreicht hatte und seine Kartennummer überprüfte, erkannte er erschrocken, dass man Evadne Mount und ihm Plätze am Mittelgang in der ersten Reihe direkt unterhalb der Bühne zugewiesen hatte, sodass sie für den Rest des Publikums praktisch genauso gut zu sehen sein würden wie die Schauspieler selbst. Obwohl er niemals ein Liebhaber der Bühnenkunst gewesen war, hatte er doch gelegentlich ein Stück gesehen – aber in der ersten Reihe zu sitzen: Das war eine Premiere.

Er zog seinen Mantel aus und faltete ihn sorgfältig auf dem Schoß zusammen, nachdem er sich hingesetzt hatte, und schlug dann das luxuriöse Programm mit Silberprägung auf, das ihm ein Platzanweiser beim Betreten des Theaters in die Hand gedrückt hatte. Er sah sofort, dass der erste Punkt im Programm Ene-Mene-Mörder-Muh hieß, mit Cora Rutherford als Alexis Baddeley in der Hauptrolle, und den Untertitel »Ein tödlicher Knalleffekt von Evadne Mount« trug. Nachdem er die Namen der anderen Schauspieler überflogen hatte, von denen ihm kein einziger etwas sagte, ließ er seinen Blick noch einmal langsam durch den Zuschauerraum schweifen und wartete dann auf Evadne.

Sie kam erst wenige Augenblicke bevor der Vorhang sich hob, wobei sie zur allgemeinen Belustigung den Gang hinunterraste, als alle anderen schon saßen. Trubshawe bemerkte, dass sie erneut nach links und rechts Küsse an verschiedene Bekannte austeilte, von denen viele vermutlich nicht einmal wirklich Bekannte waren, da sie nicht das geringste Wort mit ihnen wechselte. Tatsächlich war ihr Auftritt in dem nun beinahe stillen Zuschauerraum so auffällig, dass es beinahe schien, als benehme sie sich absichtlich so aufdringlich.

Schließlich ließ sie sich neben Trubshawe auf ihren Stuhl fallen.

»Ich hatte schon gedacht, Sie wollen mich im Stich lassen«, flüsterte er.

»Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie vielmals! Ich fürchte, ich bin länger aufgehalten worden, als ich gedacht hatte. Ich habe eine ziemlich scheußliche Neuigkeit gehört. Scheußlich für Cora, meine ich.«

»Tut mir leid, das zu hören«, stieß Trubshawe im Flüsterton hervor. »Und das, kurz bevor sie auf die Bühne muss. Das muss der größte Albtraum für eine Schauspielerin sein.«

»Ganz bestimmt. Aber sie hat die Neuigkeit selbst noch gar nicht gehört, und ich habe mich gehütet, ihr davon zu erzählen. Das kann bis nach der Show warten.«

»Hoffentlich kein Todesfall in der Familie?«

»Nein, es betrifft Alastair Farjeon.«

»Alastair Farjeon?«

»Der große Filmregisseur. Es scheint …«

Bevor sie weitersprechen konnte, ging das Licht aus. Auch Trubshawe würde auf die Erklärung warten müssen.

Als sich der Vorhang wenige Sekunden später hob, konnte er kaum erkennen, was vor ihm lag, denn die Bühne war beinahe so dunkel wie der Zuschauersaal. Man bekam eine Ahnung – aber wirklich nur eine Ahnung – von deckenhohen Bücherregalen, einem riesigen Kamin, in dem kein Feuer brannte, zwei tiefen Armsesseln aus Leder und ganz links einer geschlossenen Tür, unter der ein schmaler Lichtstreifen für die einzige wirkliche Beleuchtung auf der Bühne sorgte. Dann dämmerte ihm allmählich, dass hinter der Tür eine Art Party stattfand. Man konnte aus dem Raum, der vermutlich direkt an die dunkle, noch immer völlig leere Bühne angrenzte, eine Menge fröhlicher Stimmen hören, putzmunter und schrill, außerdem die Klänge synkopischer Jazzmusik und gelegentlich das explosive Knallen eines Champagnerkorkens.

»Die Szenerie ist ein bisschen unterbelichtet, oder?«, flüsterte er Evadne Mount zu. »Sollte man da nicht etwas tun?«

»Psst!«, machte sie mit einem Bühnenflüstern, das dreimal so laut war wie seins, während ihre Blicke buchstäblich an der Bühne klebten.

Dann passierte endlich etwas. Die geschlossene Tür öffnete sich einen Spalt weit, was die ohnehin schon laute Musik, so unvermittelt wie bei einem Grammophon, noch lauter werden ließ. Ein junger Mann im Abendanzug schlich auf Zehenspitzen in das Zimmer, gefolgt von einer noch jüngeren Frau in einem weißen Satinkleid. Leise schloss er die Tür hinter sich, wandte sich ihr zu und legte den Zeigefinger auf seinen Ronald-Colman-Schnurrbart.

Ein paar Augenblicke lang standen sie zusammen auf der unbeleuchteten Bühne; keiner von beiden sagte ein Wort, sondern sie lauschten angestrengt dem gedämpften Lärm aus dem Nebenzimmer. Als schließlich klar war, dass ihre Abwesenheit wenigstens vorläufig unbemerkt geblieben war, knipste der junge Mann das Licht an.

Sofort als man ihre Gesichtszüge erkennen konnte, erhob sich ein enormer Beifallssturm im Publikum, eine Salve, die die ganze Skala vom kräftigen, aber manierlichen Klatschen (im Parkett) bis zum regelrechten Lärm (auf der Galerie) durchlief. Auch wenn der Chefinspektor keines der beiden Gesichter erkannte, geschweige denn, dass er sie mit Namen verbunden hätte, konnte er ihren Gesichtern doch deutlich ablesen, dass beide Stars sich brennend gern von ihren Rollen gelöst und sich ihrem Publikum direkt zugewandt hätten, um den Applaus dankbar entgegenzunehmen.

Sie widerstanden dieser Versuchung jedoch und fielen einander stattdessen in die Arme.

Dann, als die junge Frau endlich ihre Lippen von denen ihres Liebhabers gelöst hatte, rief sie:

»Oh, Harry! Was für ein schrecklicher Abend! Ich glaube nicht, dass ich das noch eine Minute länger ertragen kann!«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er tröstend.

Worauf er mit der Faust in seine geöffnete linke Hand schlug.

»Er ist ein Vieh, ein Schwein! Wie er dich die ganze Zeit vor allen Leuten verhöhnt hat! Oh, ich hätte ihn umbringen können!«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Ich weiß, was wir tun. Wir werden zusammen fliehen.«

»Fliehen?«, wiederholte sie mit zitternder Stimme. »Aber – aber wann?«

»Heute Nacht. Jetzt.«

»Himmel! Und wo wollen wir hingehen?«

»Irgendwohin. Irgendwo, wo es uns gefällt. Ich bin reich, Debo, sehr reich. Ich kann dich überallhin mitnehmen, wohin auch immer du willst. Ich kann dir alles geben, was auch immer du dir wünschst. Eine Villa am Mittelmeer, eine Jacht, einen Stall mit Poloponys …«

»Aber, Harry« – der erste Anflug eines leisen Lächelns lag auf ihren Lippen –, »… was um alles in der Welt soll ich mit einem Stall voller Poloponys?«

»Debo, Liebling, wie naiv du bist! Wie hinreißend naiv! Mit Poloponys soll man nicht irgendetwas. Man hat sie einfach. Deshalb ist man doch reich.«

»Ich mache mir nicht das Geringste aus Reichtum. Alles, was ich will, ist, mit dir zusammen zu sein, so weit weg von diesem Ekel wie möglich.«

Genau in diesem Moment – aber man musste gut aufpassen, so verstohlen, so beinahe unsichtbar waren die Vorgänge auf der Bühne – öffnete sich hinter ihnen wieder die Tür. Die fünf Finger einer männlichen Hand schoben sich einer nach dem anderen um den Türrahmen