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Frauen denken viel über die Liebe nach, unser gesamtes Liebesleben haben wir jedoch selten im Blick. Welche Erfahrungen haben wir gemacht, seit wir als Zwölfjährige den Jungen aus der Parallelklasse beäugten? Wer hat uns in der Liebe wie geprägt und was haben wir aus unseren Beziehungen mitgenommen? Frauen zwischen 19 und 76 Jahren erzählen ihre bezaubernden, erschütternden, lustigen und erotischen Geschichten - und liefern intime Einblicke in heutige Liebesbiografien.
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Seitenzahl: 294
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Jeannette Villachica
»Und dann kam der Richtige«
Frauen erzählen die Liebesgeschichten ihres Lebens
Titel der Originalausgabe: »Und dann kam der Richtige«
Frauen erzählen die Liebesgeschichten ihres Lebens
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80383-3
ISBN (Buch): 978-3-451-30350-0
Inhalt
Wir und die Liebe
»Uns verbindet das Dorf, aus dem wir kommen«Julia, 29, führt seit fünf Jahren eine Fernbeziehung
»Ich wünschte, ich müsste nicht lügen«Christine, 48, ist seit siebzehn Jahren mit Andreas verheiratet, zwei Söhne, ein Liebhaber
»Er war ein ganz toller Mann, aber er war verheiratet«Karin, 62, geschieden, lebt alleine, ein Sohn
»Ich habe bewiesen, dass ich nicht von ihm abhängig bin«Rana, 19, ist seit Kurzem zum zweiten Mal mit Ahmed zusammen
»Zum ersten Mal fühle ich mich komplett akzeptiert«Mona, 42, seit anderthalb Jahren mit Pablo liiert
»Manchmal frage ich mich, ob das mit uns eine Zukunft hat«Andrea, 30, seit drei Jahren mit Markus verheiratet
»Er ist mein Fels in der Brandung«Ursula, 63, seit vierzig Jahren mit Bernd verheiratet, vier Töchter
»Ich hatte schon früh ein Auge für Jungs«Simone, 33, lebt seit einem Jahr mit Ben zusammen, erwartet ihr erstes Kind
»Flucht ist für mich zum Verhaltensmuster geworden«Ilona, 44, Single
»Nach den Fernbeziehungen wollte ich jemanden, der greifbar war«Anne, 41, seit fünf Jahren mit Jan verheiratet, zwei Söhne
»Ich habe mich in Beziehungen immer wieder verloren«Susanne, 53, Single, zwei erwachsene Kinder
»Ich bin erst im Alter richtig glücklich geworden«Katharina, 76, seit 22 Jahren in zweiter Ehe mit Rainer verheiratet, ein Sohn
Zum Schluss
Es war einer dieser Abende, an denen ich gemütlich mit Freundinnen zusammensaß. Wir hatten über dies und das gesprochen, über unsere Arbeit, die Kollegen, unsere Kinder oder unseren Kinderwunsch – und irgendwann waren wir beim Thema Männer. Überraschend war das nicht. Wir waren zwischen Mitte dreißig und Ende vierzig, gestandene Frauen mit vielfältigen Erfahrungen, aber die Liebe und vor allem, wie man eine gute Beziehung führt, war selbst denjenigen, die schon lange glücklich liiert waren, immer noch ein Rätsel.
Als Teenager hatten wir stundenlang eine Geste unseres Schwarms analysiert. In unseren Zwanzigern diskutierten wir nächtelang und fragten einander, warum »der Richtige« auf sich warten ließ. Und warum das ganze Reden? Um uns klar zu werden, was wir wollen, wen wir lieben können und wer uns guttut. Um aus unseren eigenen Erfahrungen und den Erfahrungen der anderen zu lernen.
Und heute? Auch wenn wir vielleicht ruhiger geworden sind, hat sich nicht viel geändert. In Beziehungsdingen geht Frauen nie der Gesprächsstoff aus, egal wie alt sie sind. Eine hat immer etwas auf dem Herzen.
An diesem Abend machte Katja den Anfang. Ich kannte Katja erst seit zwei Jahren und war zwar einigermaßen über ihr unfreiwilliges Single-Dasein informiert, von ihrem früheren Liebesleben wusste ich jedoch so gut wie nichts. Sie war geschieden und hatte zwei Töchter, es musste also Männer in ihrem Leben gegeben haben. Katja erzählte nun von einem Mann, den sie zwei Wochen zuvor kennengelernt hatte. Er sei gleich schwer verliebt gewesen, sagte sie. Ihr sei es eigentlich genauso gegangen, aber sie werde versuchen, sich nicht in ihre Verliebtheit hineinzusteigern. Zu oft hätten die Männer sie verlassen, weil sie zu sehr klammerte.
Ich konnte mir das in diesem Moment gar nicht vorstellen. Katja erzog ihre Kinder seit acht Jahren alleine, war voll berufstätig und schien alles ganz gut hinzubekommen. Sicher, sie war oft erschöpft und wünschte sich einen Partner, aber warum sollte sie sich deswegen wie ein Klammeräffchen an einen Mann hängen? Ich fragte, warum sie das getan hätte und welche Männer das waren, merkte aber, dass Katja jetzt nicht ausführlich darüber sprechen wollte. Schon gar nicht in dieser großen Runde.
Frauen denken viel über die Liebe nach, und insbesondere, wenn wir am Scheideweg stehen, fragen wir uns: Was ist in meinen Beziehungen wie verlaufen und warum? Wann war ich glücklich und was kann und will ich ändern? An diesem Abend mit meinen Freundinnen fiel mir auf, dass wir im Gespräch untereinander meist nur den einen Aspekt, den einen Mann, diese eine Beziehung, die uns aktuell beschäftigt, betrachten. Wann werfen wir je einen Blick auf unser ganzes bisheriges Liebesleben zurück? Wäre es nicht sinnvoll, sich einmal anzusehen, wie wir uns entwickelt haben, seit wir als Zwölfjährige den Jungen aus der Parallelklasse beäugten? Wie haben uns die Beziehung unserer Eltern und unser Umfeld geprägt? Welche Erfahrungen haben wir mit Männern und vielleicht auch mit Frauen gemacht, und was haben wir in spätere Beziehungen mitgenommen? Mit wem hatten wir warum zum ersten Mal Sex? Was waren unsere wildesten, längsten, problematischsten und beglückendsten Beziehungen? Wo stehen wir im Moment und was wünschen wir uns für die Zukunft?
Natürlich ist eine große Runde nicht der richtige Rahmen für so ein Gespräch. Viel zu intim und ausführlich. Davon abgesehen: Auch unter vier Augen vertrauen wir selbst der besten Freundin nicht alles an, was in unserem Kopf und Bett und an unserem Küchentisch vor sich geht. Aber die Frage ließ mich nicht los: Was wissen wir wirklich von den Liebesbiografien anderer Frauen? Nicht nur von Frauen, die uns nahestehen, sondern von Frauen jeden Alters in Deutschland. Frauen, deren sozialer Hintergrund, deren (Liebes-)Leben und (Beziehungs-)Profile ganz anders sind als unsere. Mein Empfinden war: nicht viel. Daraus ist dieses Buch entstanden.
Auf den folgenden Seiten erzählen zwölf Frauen die Liebesgeschichten ihres Lebens, von der ersten Schwärmerei als Teenager oder sogar als Kindergartenkind bis zur Gegenwart. Es sind bezaubernde, erschütternde, lustige, erotische Geschichten von Frauen zwischen neunzehn und 76 Jahren. Julia, Karin, Rana, Christine und die anderen kommen aus ganz Deutschland und stellen hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft einen Querschnitt durch die weibliche Bevölkerung unseres Landes dar. Ihr Rückblick ist natürlich subjektiv und eine Momentaufnahme. Dennoch vermitteln ihre Geschichten, so hoffe ich, eine Ahnung von den vielfältigen Wegen, die Frauen in unserem Kulturkreis heute in Liebesdingen beschreiten. Wir erfahren von ihren Wünschen und Hoffnungen in unterschiedlichen Lebensphasen, von Glücksmomenten, die sie nie vergessen werden, und von Momenten, die sie gerne ungeschehen machen würden. Und sie erzählen, wie ihre Lebensumstände ihr Liebesleben beeinflusst haben.
Die Frauen sprachen mit mir, der Journalistin, die nicht zu ihrem Leben gehörte und die sie womöglich nie wiedersehen, so offen und ehrlich wie oft nicht einmal mit ihrer besten Freundin. Die Voraussetzung dafür war, dass ich ihnen absolute Anonymität zusicherte. Deswegen wurden die Namen aller hier genannten Personen geändert.
Dieses Buch ist in jeder Hinsicht ein Herzensprojekt. Nicht nur für mich, auch für die Frauen, die für dieses Buch ihr Innerstes nach außen gekehrt haben. Viele sagten, das Erzählen ihres gesamten Liebeslebens am Stück und ohne dass sie ein Blatt vor den Mund nehmen mussten, hätte ihnen einige Entwicklungen in ihrem Liebesleben klarer vor Augen geführt. Einige weinten während unseres Gesprächs, aber wir lachten auch viel – mit zeitlichem Abstand wirkt eben manches sehr komisch. Und ich kam aus dem Staunen nicht heraus: über den Mut und die Energie, die zum Beispiel Susanne trotz all der Rückschläge in ihrem Leben immer wieder für eine neue Liebe aufbringt. Über Christine, die eine Paartherapie mit ihrem Mann macht, während sie über ihren Liebhaber sagt: »Er ist die große Liebe meines Lebens.« Über simple, aber lebensverändernde Fragen, die einem manchmal von Menschen gestellt werden, von denen man es am wenigsten erwartet. Über die Entschlossenheit, mit der Ursula um ihren Mann kämpfte, nachdem er sie mit einer jüngeren Kollegin betrogen hatte. Über die Klarsichtigkeit der neunzehnjährigen Rana. Und über Katharinas spätes, vom Berliner Mauerfall begünstigtes Liebesglück.
Dieses Buch ist kein Hohelied der Liebe. Wir alle wissen, dass die Liebe erhebend, aber auch niederschmetternd sein kann. Und doch: Als ich dieses Vorwort schrieb, hatte ich gerade erfahren, dass eine meiner Freundinnen schwanger war. Sie kannte ihren Freund erst seit ein paar Monaten, war mit ihm aber so glücklich und fühlte sich so sicher wie nie zuvor. Nun war sie mit vierzig Jahren ungeplant schwanger und das, wo sie ein halbes Jahr zuvor nicht mehr damit gerechnet hatte, »den Richtigen« zu treffen. Darum finden wir Liebesgeschichten wohl so spannend: Die Liebe kommt und geht im Grunde, wie sie will. Manchmal stülpt sie unser Leben komplett um und führt uns in eine andere Richtung.
Letztlich habe ich dieses Buch auch für mich und meine Freundinnen geschrieben. Für Frauen, die glücklich liiert sind und sich trotzdem ab und zu fragen: Kann dieser Zustand von Dauer sein? Wie schaffen wir es, die Leidenschaft zu erhalten? Die sich wie Anne in einem Kapitel wundern, dass sie, seit sie verheiratet sind, nicht mehr gefragt werden, ob in ihrer Beziehung alles in Ordnung sei. Für Frauen wie Andrea und Mona, die ihren Mann »abgöttisch« lieben, auch wenn er »einen Knall hat«, oder die sich erstmals in einer Partnerschaft »komplett akzeptiert« fühlen.
Und natürlich ist dieses Buch für alle, die »den Richtigen« für sich noch nicht gefunden haben. Man kann auch ohne den passenden Lebenspartner ein erfülltes (Sexual-)Leben haben, wie die Beispiele von Simone und Karin zeigen. Und doch, die Sehnsucht nach Zweisamkeit bleibt. Dauer-Single Ilona ist es trotz ihres Freiheitsdrangs mit Mitte vierzig leid, immer stark und unabhängig sein zu müssen. Immer öfter denkt sie: »Es wäre schön, jemanden eine gewisse Zeit des Lebens an der Seite zu haben.«
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Jeannette Villachica
Julia, 29,führt seit fünf Jahren eine Fernbeziehung
Es hat gedauert, bis Julia und Alexander ein richtiges Paar wurden. Und das, obwohl sie sich seit ihrer Kindheit kennen und sich bereits als Teenager ineinander verliebt hatten. Julia war es wichtiger, erst einmal die Welt zu sehen und herauszufinden, was sie aus sich machen kann. Sie ging nach England, studierte in Italien, hatte Beziehungen zu Italienern und genoss das italienische Familienleben. Jahrelang dachte sie kaum an Alex, obwohl sie sich regelmäßig in ihrem Heimatort sahen. Bis Julia nach dem Ende einer leidenschaftlichen Beziehung seelisch am Boden lag und ihr ein Bekannter, der sich in sie verliebt hatte, die Frage stellte: Wer ist der Mensch, den du nie verlieren möchtest?
Bis ich vierzehn war und anfing, in den Jugendclub zu gehen, haben Alex und ich einander nie besonders beachtet. Wir sind im selben 600-Einwohner-Dorf aufgewachsen und aufs selbe Gymnasium gegangen, er ist aber vier Jahre älter als ich. Im Jugendclub sah ich ihn dann öfter. Dort trafen sich alle Jugendlichen unseres Dorfes, die einigermaßen aktiv waren. Das waren nicht viele, vielleicht zwanzig. Das erste Mal haben wir voneinander Notiz genommen, als wir das Osterfeuer vorbereiteten. Das klingt jetzt sehr kitschig, aber ich stand auf einem Stapel Holz, und er hat mir Zweige hochgereicht – das war unser erster Blickkontakt. Ich dachte: Ah ja, du bist auch da. Und: Ist ja ganz niedlich. Trotzdem war er für mich sehr weit weg. Ich fühlte mich sehr jung, noch gar nicht bereit für eine Beziehung. Damals hätte ich nie etwas unternommen, damit wir zusammenkommen, und er auch nicht.
Ungefähr zwei Jahre später fand im Jugendclub eine Party statt – zwischendurch hatte ich andere Freunde gehabt, nichts Ernstes. Auf dieser Party lief ein Lied, das macht mir heute noch Bauchflimmern: »The Time of My Life« aus »Dirty Dancing«. Da hat Alex mich zum Tanzen aufgefordert, ohne dass wir uns je vorher groß unterhalten hätten. Ich war im siebten Himmel … An dem Abend haben wir uns auch geküsst. Weil ich aber total betrunken war, und er wahrscheinlich auch, war danach alles wieder wie vorher. Wir fanden einander wohl beide gut, uns fehlte aber der Mut. Vielleicht lag es auch daran, dass er immer extrem hübsche Freundinnen hatte, mit langen Haaren. Ich dachte, an die reiche ich nie ran, so werde ich nie sein. Außerdem hatte ich zu dem Zeitpunkt eine ziemlich coole Liebesgeschichte mit einem aus meiner Klasse, der Musik machte. Den fand ich wahrscheinlich noch ein bisschen besser, trotz des Erlebnisses mit dem Kuss und Dirty Dancing. Mit dem anderen hatte ich einfach mehr zu tun: Wir waren gleich alt, waren zusammen auf Klassenfahrten, hatten Kurse zusammen.
Dann habe ich mein Abitur gemacht und bin für ein Jahr nach England gegangen. Als ich aus England zurückkam, hatte Alex angefangen, auf Partys Musik zu machen. Auf so einer Party saß ich bei ihm, und wir haben uns sehr genial unterhalten. Ich glaube, da hat es bei uns beiden so richtig gefunkt. Auf einer anderen Party hat er sich dann offenbart. Das war wieder ganz wild, denn wie gesagt, es ist ein kleines Dorf, und zu der Zeit ist er gerne mit Katrin, einer guten Freundin von mir, ins Bett gegangen. Das hat mich schon gestört. Und ich hatte extreme Schuldgefühle, weil sie mehr von ihm wollte als er von ihr. Auf der anderen Seite hatte ich extrem starke Gefühle für Alex, das konnte ich auch nicht leugnen. Es war ein holpriger Start, aber ab dem Zeitpunkt sahen wir uns dauernd. Wir lagen stundenlang zu Hause im Bett und erzählten. Es war sehr schön, wir waren beide total verknallt, haben das aber größtenteils heimlich gelebt, weil im Jugendclub meine Freundin war und wir nicht vor ihren Augen turteln wollten.
Ich war neunzehn und hatte bis dahin noch keinen Sex gehabt, nur Petting oder mal probiert, und es hatte nicht geklappt. Eigentlich wäre Alex der ideale Typ fürs erste Mal gewesen. Er ist sehr sensibel und kann sich total zurücknehmen. Ich wäre bei keinem besser aufgehoben gewesen, aber er hat mir sehr viel bedeutet. Mir schwirrten Horrorgeschichten im Kopf herum, was die Schmerzen angeht und was alles schieflaufen kann. Mein erstes Mal wollte ich lieber mit jemandem haben, bei dem es mir nicht so viel ausmachte, mich zu blamieren.
Obwohl ich so verliebt war, bekam ich nach zwei, drei Monaten zu Hause Panik. Aus England hatte ich so viele Ideen mitgebracht, was ich jetzt machen könnte, hatte so viel Energie … Ich wollte mich erst einmal selbst finden, herausfinden, was man alles aus sich machen kann, auch, wie sexuell die grundlegenden Dinge funktionieren. Deshalb habe ich versucht, wieder einen Auslandsaufenthalt anzukurbeln, auch weil ich mehrmals diesen Traum hatte: Mein Zimmer wird immer kleiner und ich komme nicht mehr raus. Wahrscheinlich lag das auch der Mentalität im Dorf, wo keiner über den Tellerrand guckte. Die Gespräche drehten sich um den Jugendclub – ich war interessiert an der Welt, an neuen Dingen. Das war mir in dem Moment wichtiger, als meine Beziehung mit Alex zu leben. Obwohl ich so starke Gefühle für ihn hatte und schon so lange, wenn auch irgendwie diffus, davon geträumt hatte, mit diesem Menschen zusammen zu sein, dachte ich: Irgendwie passt mir das jetzt gar nicht. Ich musste meine Energie erst loswerden, wollte etwas tun, etwas bewegen.
Deswegen habe ich bei einem Projekt in Italien angefangen. Das erste Jahr in Florenz bildete ich mir ein, Alex und ich wären weiterhin zusammen. Eigentlich hatten wir nie darüber gesprochen, ob wir überhaupt »zusammen« sind. In dem Jahr ist Alex kein einziges Mal nach Italien gekommen. Das nahm ich ihm damals ein bisschen übel. An Weihnachten haben wir uns wiedergesehen, aber wie das war, daran kann ich mich gar nicht erinnern.
Im neuen Jahr lernten eine Freundin von mir in Florenz und ich ein paar Typen kennen. In der Gruppe war auch Luca, der mir gut gefiel. Das habe ich meiner Freundin zu Hause am Telefon erzählt, und dann ging es los: Durch sie erfuhr ich, dass Alex wieder mit Katrin ins Bett stieg und Katrin völlig fertig war, weil er auf Dauer immer noch nicht mehr von ihr wollte. Als ich das hörte, war es für mich vorbei. Ich schrieb ihm eine SMS: »Jetzt können wir aber Schluss machen.« Und er schrieb zurück: »Lass uns doch Ostern darüber reden.« Aber das war mir zu viel. Dieses ganze Hin und Her und jetzt das noch mit Katrin … Ich dachte: Ihr könnt mich mal! Ich bleibe jetzt in Italien und studiere hier. Dann habe ich mit Luca angebändelt und an Ostern, drei Wochen später, war er bei mir zu Hause. Luca hatte ein Riesenauto, das stand dann bei meinen Eltern vor der Tür. Alex kam und wollte reden, und ich habe gesagt: »Äh, ich habe jetzt hier Luca.« Er wusste nicht, dass ich über ihn und Katrin Bescheid wusste. Vielleicht hat er es geahnt, aber er hat es Jahre später noch geleugnet. Na ja, das waren die wilden Zeiten.
Als Alex merkte, dass es wirklich aus war, ist er die Straße runtergegangen und hat geheult. Klingt wie eine Seifenoper, wenn ich das so erzähle. Ich war dann mit Luca drei Jahre lang zusammen. Es hat sich aus der Clique heraus so ergeben. Ich habe sicher auch Trost gesucht. Jedenfalls bin ich dann ziemlich schnell bei Luca und seiner Mutter eingezogen. Mit seiner Mutter verstand ich mich super. Das Problem war mit der Zeit, dass ich mehr mit ihr sprach als mit ihm, was daran lag, dass er lieber auf den Fernseher starrte und absolut nicht an Politik interessiert war – für eine Politikstudentin nicht ideal. Luca war zwar wie Alex der Typ bester Kumpel, witzig und fröhlich, ihn interessierte aber kaum, was in der Welt vorging. Das habe ich nach und nach gemerkt. Fußball war eher seine Welt. Alex interessiert sich auch für Fußball, aber eben noch für sehr viel mehr.
Ich war anfangs sicher mehr in Alex verliebt als in Luca. Luca habe ich aber mit der Zeit lieben gelernt. Er war zwar kein idealer Gesprächspartner für mich, dafür hatte er sozial viel drauf, hat ein Picknick hier organisiert, Volleyballspielen da, wollte mit mir ans Meer fahren oder raus zu seiner Schwester. Ich selbst tendiere sehr zum Arbeiten und ergreife praktisch nie die Initiative für solche Dinge, obwohl ich sie total gerne tue. Irgendwie habe ich immer viel zu viel zu tun – wahrscheinlich nehme ich die Arbeit zu ernst. Andererseits: Politik macht man nun mal mit Leib und Seele. Jedenfalls war das bei all meinen Freunden so, dass sie mich bei Freizeitaktivitäten mitgerissen haben.
Mit Luca hatte ich dann mein erstes Mal. Das war okay. Danach war ich ein bisschen beruhigt, was den Sex angeht. Es lief ganz gut sexuell bei uns, bis von seiner Seite nicht mehr viel kam. Er fing an, auf dem Sofa zu schlafen und ohne mich auszugehen. Ein Grund war sicher, dass ich mich für ein Erasmus-Stipendium in Frankreich beworben hatte, ohne ihm davon zu erzählen. Als ich ihm sagte, ich hätte die Zusage für ein Jahr in Lyon, war er entsetzt und meinte: Nein, das geht nicht. Ich hätte nie gedacht, dass er das nicht mitmacht. Am Anfang wollte Luca noch mit nach Deutschland kommen. Durch unsere Reisen nach Deutschland, Belgien und nach England hat er aber verstanden, dass das nicht so einfach ist, wenn man kein Deutsch oder wenigstens gut Englisch spricht. Bevor wir zusammenkamen, war er ja nie außerhalb Italiens gewesen.
Lyon habe ich dann abgesagt, auch weil ich bei ihm wohnte und nicht wusste, wohin mit meinen Sachen, falls das mit uns auseinandergeht. Zwei Monate später haben wir uns trotzdem getrennt. Es krachte richtig, wir warfen Dinge nacheinander … Gut, dass seine Mutter gerade nicht zu Hause war. Bis ich ein WG-Zimmer für mich gefunden hatte, kam ich bei einer Freundin unter.
Als mit Luca Schluss war, wollte ich erst mal nichts Festes. Kurze Zeit später habe ich meine Cousine in Nürnberg besucht. Mit der erlebe ich immer abgefahrene Sachen. Wir waren tanzen in einer Disco. Wenn wir zwei zusammen sind, tanzen wir auch gerne mal etwas … extrovertierter. Dann kam ein Typ auf mich zu, der mich schon vorher angeflirtet hatte. Meine Cousine kümmerte sich daraufhin um einen Typen, der ihr gut gefiel.
Gegen vier oder fünf sind wir beide mit ihnen nach Hause gegangen. Mein Typ – ich weiß gar nicht mehr, wie er hieß – wohnte in einer Villa. Er war offenbar schrecklich reich und sah richtig geil aus. In der Villa waren noch ein paar andere Typen, die alleine rumstanden. Der eine in einem Raum mit einer Disco-Anlage, ein anderer gab seine Aktienkurse telefonisch sonstwohin durch. Wie im Film.
Wir sind dann hochgegangen, in sein Riesenzimmer. Er hatte gleich eine Zahnbürste für mich parat, war also gut vorbereitet … Und dann hatten wir total geilen Sex, so hatte ich noch nie Sex gehabt. Er lag unten, ich auf ihm und er hat mich von hinten genommen. Kann ich sehr empfehlen. Später habe ich es nicht mehr probiert, weil ich nicht genau weiß, wie es funktioniert hat.
Irgendwann war Luca anscheinend in sich gegangen und wollte es noch einmal probieren. Meiner Meinung nach hatte das überhaupt keinen Sinn, aber gut. Wir haben geredet, ich bin mit zu ihm nach Hause gegangen und wir haben eine Nacht nur nebeneinander geschlafen. Am nächsten Tag war Sonntag, da gab es das typische Sonntagsessen. Danach wollten wir in seinem Zimmer Sex haben, da fragt er mich: »Hattest du in der Zwischenzeit Sex?« Ich habe geantwortet: »Ja.« Ich wusste ja, dass er auch … Da stand er auf und sagte: »Das sage ich jetzt Mama!« Ich habe ihn nur angeguckt und gesagt: »Luca, ich gehe jetzt.« Ich weiß nicht, was das sollte. Vielleicht hatte seine Mutter ihn gedrängt, noch mal auf mich zuzugehen.
Nach Luca war ich nervlich ziemlich am Boden. Wenn man zusammen wohnt, gewöhnt man sich doch sehr an den anderen. Wir wären fast in eine eigene Wohnung gezogen, aber wir verstanden uns so gut mit seiner Mutter – wozu dann das Geld für eine eigene Wohnung ausgeben? Sie hat alles gemacht: gekocht, unsere Wäsche gewaschen, geputzt. Ich revanchierte mich ab und zu, brachte Blumen mit oder so, aber selbst das wollte sie nicht. Sie sagte immer, sie sei ja sowieso den ganzen Tag zu Hause. Die typische italienische Mama.
Zu dem Zeitpunkt sprach ich noch nicht so gut Italienisch, aber das wurde zwischen Luca und mir nie thematisiert. Mich selbst hat erst später gestört, dass man eine Fremdsprache nie perfekt sprechen und schreiben wird; vor allem, als ich meine Masterarbeit schrieb und schon acht Jahre in Italien lebte. In Beziehungen war das aber nie ein Thema. Ermias, mein Freund danach, war zwar Italiener, hatte aber auch ausländische Wurzeln. Seine Eltern kamen aus Äthiopien.
Ermias war ein fast zwei Meter großer, schlaksiger, schöner Mann. Wir hatten uns zum ersten Mal in einem Park gesehen. Meine Freundin Fabienne betreute ehrenamtlich Roma-Kinder, und ich ging manchmal mit. An diesem Tag waren wir mit den Kindern im Park und trommelten auf Bongos und tanzten. Ermias war auch da und ist mir sofort aufgefallen. Er ist so liebenswürdig, extrem fröhlich, und wenn er lacht … Er hat schöne weiße Zähne und ist wahnsinnig hübsch. Das heißt, ich fand ihn sehr hübsch, andere fanden ihn hässlich. Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich war jedenfalls gleich total verliebt und er auch, denke ich.
Er hat Soziologie studiert und einen Kurs besucht, den ich auch besuchte. Das geistige Level hat also auch gepasst. Zufällig hatten wir beide Jobs in derselben Straße. An Silvester haben wir beide gearbeitet und hatten verabredet, dass er mich nach der Arbeit abholt und wir noch etwas zusammen unternehmen. Als er um vier Uhr früh in dem Pub saß, in dem ich arbeitete, bin ich fast ohnmächtig geworden vor Herzklopfen und Aufregung. O Gott, mein Traummann! Dann sind wir losgezogen in einen Salsa-Club. Dort haben sie mir die Tasche ausgeräumt – ich war ja geistig benebelt, bekam überhaupt nichts mit. Alles war weg: Schlüssel, Geld, Handy. Wir sind dann zu ihm gegangen. Er wohnte in einer WG, sein Bett war von jemand anderem belegt, also haben wir uns auf das schmale Sofa in der Küche gelegt, und er ist eingeschlafen. Mir war schrecklich kalt, ich bin dann einfach, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, gegangen.
Ein paar Tage später haben wir uns zufällig getroffen, uns wieder verabredet, und dann hieß es nur noch: Erst mal wir, dann der Rest der Welt. Das waren viel heftigere Gefühle als bei Luca. Bei mir hatte es eingeschlagen wie eine Bombe. Ein halbes oder dreiviertel Jahr lang war ich permanent high … Im Sommer sind wir durch Italien und Griechenland gereist, das war ein Wahnsinnsurlaub.
Bergab ging es, nachdem die Tochter der besten Freundin seiner Mutter im Herbst nach Florenz zog. Ermias und dieses Mädel kannten sich seit der Kindheit, und sie hat ihn ziemlich vereinnahmt. Sie gingen öfter alleine auf Partys – ich hatte auch nicht immer Lust – und sie übernachtete auch mal bei ihm … Ich war furchtbar eifersüchtig und habe das auch gezeigt. Vorher waren Ermias und ich so eng gewesen, jetzt lief es sexuell auch nicht mehr so gut – und das, wo der Sex mit ihm so ein überwältigendes, geniales Erlebnis gewesen war. Als das alles zusammenbrach, konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen. Ich glaube auch heute noch, dass meine Eifersucht nicht unbegründet war.
Im Oktober sagte Ermias, er brauche eine Pause. Das verletzte mich extrem. Ich war fix und fertig. Vielleicht war ich auch vorher schon mehr verliebt in ihn als er in mich. Ich fing an, richtig viel zu rauchen und zu trinken. Nicht wie eine Alkoholikerin, aber viel mehr als vorher.
Ich war froh, dass ich meine beste Freundin Elena dort hatte, und Sonia, mit der ich mir ein Zimmer teilte. Zu Hause hatte ich ein paar Erfahrungen mit Freundinnen gemacht, nach denen ich dachte: Freundinnen sind nicht unbedingt die besten Ratgeber in Beziehungsdingen. Sonia half mir allerdings damals sehr, sie ist auch so eine Frohnatur wie Ermias. Ich ließ mich richtig gehen. Elena und Sonia haben versucht, mich aufzubauen, und immer wieder gesagt: »Du bist eine tolle Frau. Du brauchst ihm nicht hinterherheulen.« Na ja, es hat lange gedauert, bis es etwas genützt hat.
Zu dieser Zeit sprach mich einmal ein junger Mann an, der auf der Straße Comics verkaufte. Wir unterhielten uns und er fragte mich: »Würdest du mit mir ausgehen?« Ich habe Ja gesagt. Claudio lebte auf der Straße und hat mir nach und nach seine Lebensgeschichte erzählt. Er war heroinabhängig und seine Eltern hatten ihn ausgesperrt, weil er die Wohnung ausgeräumt hatte.
Damit man versteht, wie sehr ich neben mir stand, erzähle ich das jetzt noch: In den Gesprächen hat er immer wieder einen Schriftsteller zitiert. Ich weiß den Namen nicht mehr, aber mit der Zeit habe ich mir eingebildet, er sei selbst dieser Schriftsteller, der undercover recherchiert. Er konnte sich gut ausdrücken und hat so schräge Sachen erzählt. Und dann sah er auch noch aus wie der Schriftsteller. Was es bei mir zu recherchieren gebe, daran habe ich in meiner Umnebelung gar nicht gedacht.
Mit Claudio war ich nur an drei Abenden unterwegs, wir waren nicht zusammen. Als Sonia erfuhr, dass er auf der Straße lebt, war sie entsetzt: »Mensch, der zieht dich noch mehr runter! Was tust du da?« Heute kann ich ihre Angst verstehen. Andererseits waren die Gespräche mit Claudio offenbar genau das, was ich damals brauchte. Ich habe durch ihn extrem viel gelernt. Er kam gerade aus einer Community, wo sie ihn wieder einigermaßen aufgerichtet hatten, und konnte mich wohl gut verstehen. Und er hat mir seltsame, aber gute Fragen gestellt. Zum Beispiel: »Wer ist der Mensch, der dir am meisten bedeutet, den du nie verlieren möchtest?« Mir kam Alex in den Sinn ohne dass ich in den Jahren zuvor viel an ihn gedacht hatte. Da war Luca, da war Ermias, der wie eine Bombe eingeschlagen hatte … Aber in diesem absoluten Tief und im Gespräch mit diesem Menschen dachte ich an Alex. Ab und zu hatte er mir Karten von Studienfahrten geschickt, und ab und zu hatten wir gemailt, ansonsten hatte ich ihn aus meinen Gedanken verbannt. Wenn ich bei meinen Eltern war, wollte ich aber immer Zeit mit ihm verbringen.
Das war im Dezember. An Weihnachten war ich zu Hause und habe Alex wiedergesehen. Wir haben sehr lange geredet und kurze Zeit später sind wir zusammengekommen. Das ist jetzt fünf Jahre her. Claudio habe ich im Januar noch einmal gesehen. Er hatte sich in mich verliebt, aber ich mich eben überhaupt nicht in ihn. Das war eine total verrückte Zeit.
Ermias war übrigens nie bei meinen Eltern, weil mein Vater das nicht wollte. Es gab auch kaum eine Gelegenheit, aber ich hatte ein Gespräch mit meinem Vater, das mich sehr mitnahm, weil er sagte: »Ich hätte ja gehofft, dass dein Mann Europäer ist.« Ermias war für mich Europäer, er ist in Rom aufgewachsen. Damals habe ich zum ersten Mal gedacht: O Gott, was ist denn mit meinem Vater los?! Eigentlich waren wir immer auf einer Wellenlänge und sind es immer noch, denke ich. Aber das war schon krass. Zumal Ermias zwar dunkelhäutig war, ich aber schon einmal, damals aus England, einen Freund mitgebracht hatte, der dunkelhäutig war. Der war Inder. Damals, denke ich, hatte mein Vater einen Schock erlitten. Einmal hatten wir versucht, Sex zu haben, und die Tür nicht abgeschlossen. Das ist mir erst jetzt wieder eingefallen. Vermutlich war das mein Vater, der die Tür aufgemacht und uns kurz gesehen hat. Er hat wahrscheinlich gleich an kleine dunkelhäutige Kinder gedacht und dann auf dem Dorf … Da zerreißen sich alle die Mäuler. Ich glaube, wenn mein Vater in der Stadt wohnen würde, hätte er kein Problem damit.
Als ich mit Ermias zusammen war, machte mein Vater sich viele Gedanken darüber, wie unsere Kinder ausgegrenzt würden. Ich fand den Gedanken, ich könnte mit Ermias Kinder haben, einfach nur genial. Unsere Verhütung war nicht immer ganz sicher. Natürlich wollten wir keine Kinder haben, wir studierten beide und hatten kein Geld. Aber ich war so verknallt …
Mit Luca und Ermias habe ich nie über Kinder oder übers Heiraten gesprochen. Luca hat vielleicht Pläne geschmiedet, ohne mir das zu sagen. Er war zehn Jahre älter als ich, vielleicht hatte er deswegen schon ernstere Absichten. Wenn, dann hat meine Erasmus-Bewerbung sie zunichte gemacht. Ich selbst muss nicht unbedingt heiraten. Kinder? Ja, schon … Je mehr Kinder meine Freundinnen bekommen, desto mehr kann ich mir vorstellen, selbst Kinder zu haben. Alex hat es vor zwei Jahren zuerst ausgesprochen: »Ich hätte so gern ein Kind mit dir.«
Für mich ging, vor allem nach dem Studium, die Arbeit vor. Es war nicht einfach, einen Job zu finden, der etwas mit meinem Studium zu tun hat. Mein erster Job in Italien hatte nicht wirklich etwas damit zu tun. Als ich keine Perspektive mehr in Italien sah, bewarb ich mich überallhin. Ich war heilfroh, dass das mit der Stelle hier in Berlin geklappt hat.
Alex hat voll hinter mir gestanden, dass der Job erst mal vorgeht. Ich finde, das gibt es nicht oft, dass ein Mann seiner Partnerin genauso die Realisierung ihrer Ziele zugesteht. Wir haben ja von Anfang an eine Fernbeziehung. Er ist Architekt und arbeitet seit ein paar Jahren in Kopenhagen, ich bin jetzt in Berlin. Nächstes Jahr wollen wir zusammenziehen. Entweder in seine Richtung oder, wenn mein Job hier entfristet wird, in meine Richtung. Zumindest wollen wir es versuchen.
Alex ist der erste Mensch, an den ich mich wende, wenn mir etwas auf dem Herzen liegt. Ich bin neu in der Stadt, und meine beste Freundin aus Italien lebt jetzt in der Türkei und hat ein Kind. Wir können uns nicht mehr so oft sprechen, und sie kennt die Leute nicht, mit denen ich zu tun habe. Die Männer, die mir viel bedeutet haben, waren aber immer auch sehr gute Freunde, nicht nur für mich.
Während der Schulzeit war ich mit Tom zusammen, einem supercoolen Typ, der, ähnlich wie Alex, sehr wortgewandt und witzig war. Ich mag Männer, die sich ausdrücken können, die witzig sind, gebildet und gefühlvoll und die gewisse ethische Ansprüche haben. Wie sich jemand in der Gruppe verhält, finde ich extrem wichtig. Tom, Alex, Ermias und auch Luca sind Menschen, die sich nicht aufspielen müssen. Sie sind die besten Kumpel. Aufgrund ihrer Art stehen sie sowieso ziemlich im Mittelpunkt.
Erst im Nachhinein fällt mir auf, dass die Freunde aus meinen drei längeren Beziehungen ziemlich feminin waren. In gewisser Hinsicht bin ich, glaube ich, ein bisschen männlich. Beim Sex bin ich letztlich schon meistens die Unterwürfige, aber meine Freunde haben sich auch gerne mal unterworfen. Das war bei anderen, die ich zwischendurch hatte, nicht so. Das ist vielleicht bei jeder längeren, harmonischen Beziehung so, das erfordert ja auch Vertrauen. Und alle hatten tolle Augen. Ich verliebe mich, glaube ich, immer in die Augen, dann in die Hände und in den Hintern. Wenn jemand einen süßen Hintern hat, dann bin ich hin und weg.
Trotz der Gemeinsamkeiten war doch jede Beziehung anders und ging aus anderen Gründen auseinander. Ich habe keinen Kontakt mehr zu Luca und Ermias. Ich wüsste auch nicht, warum ich zu Luca Kontakt aufnehmen sollte. Ein paar Jahre habe ich seine Mutter noch zu ihrem Geburtstag angerufen. Sie ist eine ganz liebe Frau. Ich glaube, sie freut sich, wenn sie von mir hört. Ermias hatte ich zwischendurch mal kontaktiert. Einfach, um zu wissen, wie es ihm geht und was er so macht. Das letzte Mal hat er in Hamburg gelebt, auch weil dort die Musikszene stark ist. Das verbindet meine Freunde auch: Die meisten haben etwas mit Musik gemacht, als Hobby, nicht beruflich.
Seit Luca achte ich darauf, dass ich mit meinem Freund mehr Gesprächsstoff habe als mit seiner Mutter. Aus der Beziehung mit Luca habe ich mitgenommen, dass der intellektuelle Part beim Partner extrem wichtig ist. Durch ihn habe ich aber auch das typisch italienische Familienleben mitbekommen, die grenzenlose Fürsorge für die Familienmitglieder, dieses herzliche Miteinander. Es ist gut, dass ich die Erfahrungen mit Luca und auch die mit Ermias gemacht habe. Wenn ich gleich mit Alex zusammengeblieben wäre, hätte ich vielleicht jetzt das Gefühl, etwas verpasst zu haben.
Obwohl ich mit neunzehn den schlimmen Traum vom Eingesperrtsein hatte, können Alex und ich uns beide vorstellen, irgendwann wieder in unser Heimatdorf zu ziehen. Vielleicht, wenn wir alt sind. Solange wir arbeiten, ist es schwierig, weil es dort für uns keine Jobs gibt. Für mich noch weniger als für Alex. Aber auch wenn wir alt sind, wer weiß … Man gewöhnt sich an die Stadt und die Verhältnisse, in denen man lebt.
Alex und mich verbindet vor allem das Dorf, aus dem wir kommen. Mittlerweile natürlich auch gemeinsame Erlebnisse, aber das ist unser Hauptverbindungspunkt, denke ich. Wir lieben beide diesen Ort und die Leute dort. Alex erzählt mir immer, was im Dorf passiert. Diese Verbindung über ihn gefällt mir. Ich telefoniere natürlich auch mit meinen Eltern und mit alten Freundinnen, aber er hat noch mehr Kontakt zu den Leuten dort.
Wenn wir zu Hause sind, sehen wir viele seiner Freunde, was mir aber nicht in die Quere kommt, weil ich kaum mehr sehr gute Freundinnen in der Gegend habe. Ich war zu lange weg und meine engsten Freunde aus der Schulzeit sind wie ich ins Ausland gegangen. In Italien hatten wir tolle Partys. Dort kannte ich nicht vierzig, sondern 300 Leute! Ich bin froh, dass wir jetzt über seinen Freundeskreis zu Hause ein paar Partys, Hochzeiten und so weiter mitmachen können. Für Alex war Italien zuerst sehr anstrengend. Er hat dann zwar drei Jahre lang an der Volkshochschule Italienisch gelernt, aber als er mich das erste Mal besucht hat, hat er gesagt: »Ich hasse Italien.« Er hat nichts verstanden und es war einfach chaotischer als bei uns. Das Gefühl hat sich aber ganz schnell umgekehrt. Das gute Essen, die Sonne, die Herzlichkeit der Leute …