Und dann kam Leon - Rohna Buehler - E-Book

Und dann kam Leon E-Book

Rohna Buehler

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Beschreibung

Zwischen Luisa und Robert, Rechtsanwälte in eigener Kanzlei, und einer jungen ehrgeizigen Mitabeiterin beginnt ein Spiel mit Schmeicheleien, Betrug, Rache. Es gipfelt in einem Todesfall. Noch bevor Leon da ist, bringt er das Leben dieser Menschen ins Wanken zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Triumph. Zum Ende bewirkt er, was niemand je für möglich gehalten hätte.

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Seitenzahl: 323

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Mit Dank an Heike

für die Initialzündung zu dieser Geschichte

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Gerlinde

Teil II: Luisa

Teil III: Robert

Sie fror. Mit einer hastigen Bewegung schob sie den Schal höher bis zum Kinn. Sie saß bewegungslos, den Blick auf das noch nächtliche Flugfeld gerichtet. Sah auf die Flugzeuge, wie sie da standen, in Reih und Glied, sie sahen aus wie Haie. Lauerten auf das Startsignal zum Angriff. Spitze Nasen und steile Heckflossen würden sich in den Himmel bohren.

Sie verzog die Mundwinkel Angreifen. Nein, gleiten würden sie, sich geschmeidig ihrer Umwelt anpassen. Das hatten sie ihr voraus. Und genau deshalb saß sie hier, weil Anpassen nicht ihr Ding war. Nicht in dieser Angelegenheit. Im Beruf schon, da gehörte es zum Erfolg, geschmeidig zu reagieren, Gesetzeslücken zu finden, Präzedenzfälle aufzutun, Schwächen des Gegners zu nutzen, da musste man kreativ sein. Aber angesichts der Fakten, die diese verschlagene Person präsentiert hatte, gab es keine Kreativität. Aushalten auch nicht. Im Moment nur Flucht.

Warten, warten, nur nicht nachdenken. Nur hinaus starren in die Dunkelheit, sich selbst da draußen sitzen sehen in den Spiegelbildern des Drinnen. Das Rollfeld unter kalt weißem Neonlicht, darüber der schwarze Himmel, gerastert von der Stahlkonstruktion der Hallendecke hoch über ihrem Kopf, ein verirrter Mond zwischen Deckenlichtern, ab und zu irrlichternde Leuchtspuren von Fahrzeugen, rote und weiße Linien zwischen Himmel, Flugzeugen und Eisenträgern.

Sie straffte die Schultern, widersetzte sich dem Sog der Bilder. Weit draußen hinter dem Flugfeld der erste Dämmerstreifen. Ein neuer Tag, ein Anfang. Anfang wovon. Vor einem Anfang musste es ein Ende geben. Wie würde es sein, wann? Alles war so verknotet, es ließ sich kein Faden finden, den sie einfach nur herausziehen musste und alles würde sich wie von selbst lösen. Vielleicht in einer anderen Umgebung, in der nichts an ihr Leben erinnerte, nicht an das richtige, nicht an das falsche. Einfach alles auslöschen, die Gedanken verbrennen, schwarze Asche. Ihr Leben, zerbröselt, in den Abfluss gespült. Von dieser Person, diesem Nichts. Ihr verhuschtes, devotes Immer-bereit-Sein, ihre heuchlerischen Schmeicheleien und dann, plötzlich, so herausfordernden Blicke und selbstsicheres Gehabe!

Sie stand auf, griff nach ihrem Bordcase und ging zum Schalter, ihr Flug war aufgerufen worden. Das Wissen um die Blicke, die ihr folgten, wo auch immer sie erschien, tat ihr gut, sie genoss das Gewicht ihres schweren, schwarzen Haars, auf dem Hinterkopf zu einer voluminösen Rolle gedreht zog es ihren Kopf in den Nacken und verlieh ihrem Profil die beabsichtigte elegante Strenge.

Aufrecht, mit erhobenem Kinn, ging sie die leicht geneigte Gangway hinunter, die Zehnzentimeterabsätze hackten ihren Rhythmus in den metallenen Bodenbelag, das Geräusch gefiel ihr. Beim Einstieg zog sie ein Exemplar der Süddeutschen Zeitung vom Stapel, entschlossen, Grübeleien mit Lesen zu überlisten. Der Flug würde nicht lange dauern, eineinhalb Stunden von Münster bis München.

Sie hatte einen Fensterplatz gewählt, wollte auf die entschwindende Stadt hinuntersehen. Sie blickte hinaus, bis die zurückgelassene Erde sich unter schwebenden Wolkenlandschaften ins Blaue aufgelöst hatte. Sie hütete sich, der Versuchung nachzugeben, mit Erinnerungen darin einzutauchen. Nicht Zeit, nicht Ort. Auf dem Sitz hinter ihr schrie ein Baby aus purer Lust am Schreien, seine Stimmbänder fanden nach mehrmaligem Anlauf eine Frequenz, die sie wie mit dem Messer angeritzt zusammen fahren ließ. Eine Nervenprobe für die zunächst sitzenden Passagiere. Da war sie froh, nicht die Mutter zu sein. Eine Mutter hatte sie nie sein wollen.

Und schon hatten die Grübeleien sie wieder im Griff, die Zeitung lag ungeöffnet auf ihrem Schoß, der Blick ging nach draußen ins nun milchige Grau.

Teil I

GERLINDE

Ein wenig Herzklopfen hatte Gerlinde schon. Donnerstag, der fünfte April, ihr Geburtstag und ihr erstes Vorstellungsgespräch! Eine Premiere, sozusagen; und die Kanzlei, in der sie sich um die Stelle einer Rechtsanwaltsfachangestellten bewerben wollte, eine der renommiertesten in Münster. Eigentlich die renommierteste. Fang ganz oben an, hatte sie sich gesagt, deine Qualifikation ist gut, zurückstecken kannst du immer noch. Die Sozietät Krogen & Partner in Osnabrück hatte sie nach dem Abschluss gleich für zwei Jahre übernommen und ihr ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt, ein Grund mehr, sich nun in ihrer Heimatstadt um eine Anstellung zu bewerben.

Sie lächelte ihr Spiegelbild in dem polierten Messingschild an. Verzerrte Konturen, keine gute Idee. Dabei hatte sie sich heute besondere Mühe gemacht, die dünnen hellbraunen Haare am Hinterkopf zu einem kleinen Knoten zusammengedreht. Hübsch war sie nicht, das wusste sie, ihre Augen, obgleich groß und von einem feuchten Rehbraun, standen zu eng beieinander und ließen ihren Blick manchmal unangenehm konzentriert wirken – das jedenfalls hatte ihr mal … irgend so ein Typ… gesagt. Wimperntusche, eine Andeutung von Kajal im äußeren Augenwinkel, Lipgloss und etwas Rouge auf den Wangenknochen. Das musste reichen. Ein echtes Kapital waren ihre Beine, lang und wohlgeformt. Sie heute ins Blickfeld zu rücken, wie sie es gern mit schicken Strümpfen und High-Heels tat, hatte sie nicht gewagt. Besser bedeckte Knie und seriöse fünf Zentimeter.

Entschlossen drückte sie auf den Messingknopf.

"Ja bitte?" Eine Frauenstimme.

"Ich habe einen Termin bei Herrn Dr. Liberti, 15°° Uhr, mein Name ist Krantz, Gerlinde Krantz."

"Wir sind auf dem 2. Stock, Frau Kranz."

Ein Summton. Gerlinde drückte die schwere Tür auf. Imposantes Entree hinter der mittelalterlichen Fassade! Auf der rechten und linken Seite die Treppen in spiegelbildlichem Schwung, breite, geschnitzte Holzgeländer, hohe Fenster. Langsam stieg sie die Stufen hoch, wobei sie sich vorstellte, es sei ihre private Erfolgsleiter. Auf dem 2. Stock eine umlaufende Galerie, mehrere Türen. Ein Maklerbüro, eine Versicherungsagentur, eine Zahnarztpraxis. Dann die Eingangstür zur Kanzlei. Und wieder ein Messingschild:

Dr. Robert Liberti & Dr. Luisa Liberti-Krohn Rechtsanwälte

Ein Anwaltsehepaar. Diese Kanzlei hatte sie schon im Blick, als sie vor einem Monat von Osnabrück nach Münster gezogen war. Und nun wohnte sie bei einer Freundin, vielleicht nur vorübergehend. Sie hatte Roxana erst vor zwei Wochen, als sie auf Zimmersuche war, im Supermarkt kennen gelernt, wo sie ihren kleinen Sohn im Einkaufswagen zwischen Milchtüten und Windeln vor sich her schob. Sie waren gleich ins Gespräch gekommen und hatten sich ein paar Mal getroffen, zum Kaffeetrinken, Eisessen und so, hatten sich gleich gut verstanden, und Roxana hatte gemeint, sie solle erst mal zu ihr ziehen in ihre kleine Dreizimmerwohnung in der Weberstraße. Die lag günstig, mit dem Fahrrad brauchte sie nur eine knappe halbe Stunde bis Stadtmitte. Doch heute hatte sie die Bahn genommen.

Sie klingelte.

Wieder ein Summton, die Tür sprang auf.

Eine ältere Dame saß am Empfang, sehr gepflegt. Typ Erstverkäuferin, fand Gerlinde. Vertrauen erweckend, kompetent, mit dem für einen exquisiten Laden nötigen Schuss Vornehmheit. Schon ihr Mittelscheitel sah vornehm aus. Gerlinde kannte sich aus, hatte in der zehnten Klasse ein Praktikum in Modehaus Münsterkötter gemacht, weil sie beruflich etwas mit Mode machen wollte. Das war chic und sie selbst würde chic aussehen. Der falsche Weg für sie, wie sich herausstellte. Sie hatte ein Auge für Typen und Charaktere und einen Kopf für Zahlen, nicht für Farben, Figuren und Schnitte.

Die Empfangsdame wies in eine Ecke des Raumes zu einer schlichten Ledercouch und passenden Sesseln um einen niedrigen Glastisch. Hochglanzzeitschriften lagen da, als seien es Kunstwerke, nicht so durcheinander mit aufgebogenen Ecken wie beim Friseur.

"Bitte, gedulden Sie sich ein wenig, Frau Kranz, Herr Dr. Liberti ist noch im Gespräch mit einem Klienten. Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Wasser …?"

"Ein Wasser, bitte."

Gerlinde schlug eine Zeitschrift auf – Geo stand drauf – nicht um zu lesen, was sie ohnehin nicht interessierte, sie wollte nur cool erscheinen, nippte ab und zu an ihrem Wasser, tat so, als sei sie gewohnt, in vornehmer Umgebung herumzusitzen.

Ab und zu sah sie zu der Tür, hinter der die Empfangsdame mit einer Mappe verschwunden war und gleich danach wieder auftauchte – "Herr Dr. Liberti ist gleich frei für Sie", hörte Gerlinde, dann strich ihr Blick weiter unter der gesenkten Stirn über das Interieur, den hellen Steinfußboden – Marmor? –, der Teppich unter ihren Füßen, Schwarz und Weiß unregelmäßig verteilt und ein bisschen Rot mitten drin. Passte gut zu dem Bild an der seitlichen Wand, ohne Rahmen und riesengroß. Sah irgendwie gut aus, echt nach Power. Zwei hohe weiße Bücherregale, voll bepackt, sicher Fachliteratur. Am besten gefiel ihr die Hängelampe über dem Beistelltisch, knallrot und glänzend, viele Teile ineinander und übereinander, sah aus wie Plastik, modern eben. Vielleicht hätte sie doch ihre High-Heels anziehen sollen.

Sie rutschte ein wenig hin und her, schlug die Beine übereinander und kippte sie in eine parallele Diagonale, das rechte Knie höher als das linke, der Rock rutschte hoch, sie lehnte sich zurück. Die Tür, hinter der sie Dr. Liberti vermutete, wurde energisch geöffnet, zwei Männer traten heraus, ein älterer Herr, Einstecktuch, Schnauzbart, Hornbrille, hinter der sein Blick sofort zu ihren Beinen wanderte, der andere groß, schlank, angegrautes Blond, Rollkragenpulli unter dem Jackett.

Ihr zukünftiger Chef? Hoffte sie doch. Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und lächelte. Der ältere drehte sich zu dem jüngeren um, reichte ihm die Hand.

"Gut so, ich höre dann von Ihnen."

"Im Lauf der nächsten Woche, Herr Clausen …", nickte der Graublonde und begleitete ihn zur Tür.

Gerlinde sah zu, wie Dr. Liberti die Tür hinter seinem Klienten schloss. Er stand einen Moment da, fuhr sich mit der Rechten durchs Haar, dann wandte er sich zu ihr um.

"Frau Krantz, wir haben einen Termin. Bitte …". Seine Hand wies zur offenen Tür des Büros.

Sie nickte und ging hinein.

Kein stylisches Büro, eher enttäuschend schlicht, wie sie aus den Augenwinkeln feststellte. Bis auf den aktenbeladenen Schreibtisch vor dem hohen Fenster. Der war 'ne Wucht, sah aus wie der Esstisch einer italienischen Großfamilie. So was hatte sie mal im Film gesehen. Dr. Liberti schloss die Tür hinter sich, ging mit schnellem Schritt zu seinem Arbeitsplatz, schwang den Drehstuhl in Position, wies auf die beiden Besucherstühle und setzte sich.

Gerlindes Blick schweifte zur gegenüber liegenden Wand. Dort an dem runden Beistelltisch sitzen, sie in dem einen Sessel und Dr. Liberti in dem anderen, nicht dieses Aktenschiff zwischen ihnen. Dann rückte sie entschlossen einen der Stühle zur Mitte und nahm Platz.

Dr. Liberti schlug die vor ihm liegende Mappe auf, blätterte, überflog die Seiten.

"Sie haben Ihre Ausbildung bei Herrn Krogen in Osnabrück gemacht, sehr guter Abschluss, sind im Anschluss übernommen worden, das spricht für Sie. Er hat Ihnen …", er nahm ein Blatt in die Hand, "…wie ich sehe, ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt, lobt Ihre Einsatzbereitschaft, Ihre Kompetenz im Umgang mit Klienten und Ämtern. Gerlinde hob die Mundwinkel, nickte. Wenigstens das hatte er ihr zugestehen müssen, dieser Krogen, der geile Sack, an die Wäsche hatte er ihr gewollt, der fette Glatzkopf, in seinem Büro, nebenan ein Klient. Ein Bullterrier, dieser Mann. Dagegen ein Dr. Liberti …

"Es gibt noch drei weitere Bewerber", hörte sie ihn sagen, "beziehungsweise …", er zögerte, dann schob er die Papiere zusammen. "Erzählen sie mir doch, warum Sie sich ausgerechnet in unserer Kanzlei beworben haben."

"Oh, das ist einfach zu beantworten! Ihre Kanzlei ist sehr bekannt in Münster und erfolgreich, und es reizt mich, hier auf verschiedenen Gebieten arbeiten und lernen zu können, nicht nur im Steuerrecht, vielleicht auch in anderen Rechtsfällen." Sie nickte bekräftigend. "Sie können mich überall einsetzen, ich arbeite mich schnell ein."

"Schön", meinte Dr. Liberti, "das hört sich gut an. Aber dies ist Ihre erste Stelle, sicher gibt es noch Schwachpunkte, alles kann man ja nicht auf Anhieb. Wo sehen Sie am ehesten Ihre Schwächen?"

Auf diese Frage hatte Gerlinde sich vorbereitet.

"Meine Schwächen sind vielleicht auch meine Stärken, ich bin hartnäckig und auch zielstrebig, so sehr, dass ich meiner Umgebung schon mal auf die Nerven gehe mit Nachfragen und Dranbleiben, bis etwas erledigt ist. In der Ausbildung haben sie mir gesagt, ich sei so penetrant ehrgeizig."

"Nun, Zielstrebigkeit ist ja nicht schlecht, Frau Krantz." Er legte die Papiere in die Mappe zurück. "Der Kollege Krogen ist mir bekannt, ich setze auf sein Urteil und Sie scheinen mir geeignet. Wann wollen Sie anfangen?"

"Na sofort!", stieß Gerlinde heraus.

Dr. Liberti schmunzelte. "Ich habe nichts anderes erwartet. Am kommenden Montag können Sie anfangen, zunächst für eine halbjährige Probezeit."

Gerlinde riss die Augen auf und lächelte angenehm überrascht. Das war ja schnell gegangen! Sie hatte sich auf ein längeres Gespräch vorbereitet und genau überlegt, wie sie ihre Kompetenzen überzeugend und dennoch unaufdringlich darstellen würde. Fast tat es ihr leid, um die Chance einer ausführlichen Selbstdarstellung gebracht worden zu sein, aber sei's drum.

"Also, Frau Krantz …", Dr. Liberti war aufgestanden und streckte über ihr über den Schreibtisch hinweg die Hand entgegen, "auf gute Zusammenarbeit! Frau Siebenthal, unsere Schreibkraft, wird sie in alles Nötige einweisen, unsere Bürovorsteherin Frau Jonsch haben Sie ja schon kennen gelernt, sie hilft Ihnen gern in Fragen der Organisation."

Gerlinde beugte sich vor und ergriff die dargebotene Hand − der Schreibtisch war echt kolossal, und dieser Händedruck über dem Aktenberg musste eine besondere Bedeutung haben. Symbolik eben. Übereinstimmung oder so ähnlich. An ihr sollte es nicht liegen.

Die Tür ging auf.

"Hast du vielleicht die Akte Grünberg … ach entschuldige, ich wusste nicht …"

Eine große, dunkelhaarige Frau stand da, die Hand auf der Klinke.

"Ist schon gut, Luisa, das hier ist Frau Krantz, unsere neue Mitarbeiterin." Dr. Libertis Hand wedelte in Richtung Tür. "Meine Frau, sie macht Familienrecht. Vorwiegend", fügte er hinzu.

"Schön, Frau Krantz", sagte Luisa, "mein Mann wird froh sein über die Entlastung, zuviel Kleinkram … wann fangen Sie an?" Sie ging auf Gerlinde zu und streckte ihr die Hand entgegen.

"Montag schon."

Gerlinde ergriff die Hand, ihr Wangenmuskel zuckte. Ein Händedruck wie der eines Maurers, nicht, dass sie einen kannte, aber solche Hände konnten zupacken. Sie zog dir Mundwinkel noch eine wenig höher und brachte ein Lächeln zustande. Luisa nickte freundlich. Im Hinausgehen sagte sie zu ihrem Mann: "Heute Abend bin ich nicht da, Ratssitzung, es wird spät werden."

Dr. Liberti war aufgestanden und machte eine einladende Geste. "Kommen Sie mit." Im Empfangsbereich stellte er sie Frau Jonsch vor: "Ihre neue Kollegin, Rechtsanwaltsfachgehilfin Frau Krantz. Weisen Sie sie in alles Nötige ein und zeigen Sie ihr ihren Arbeitplatz."

Der lag in einem Büro gleich nebenan − sozusagen Wand an Wand mit dem Chef, konstatierte Gerlinde; Schreibtisch vor dem Fenster, Blick nach draußen, Himmel über der gegenüber liegenden Häuserfront, Akten lagen schon auf der hellgrauen Schreibplatte. Frau Siebenthals Platz vor dem anderen Fenster war unbesetzt. "Sie hat sich heute frei genommen, längerer Arzttermin mit ihrem Sohn, der ist Fünf", klärte Frau Jonsch sie auf.

"Ich habe kein Kind, bin ja auch erst zwanzig. Auch keinen Mann. Aber die Freundin, bei der ich momentan noch wohne, die hat einen kleinen Sohn, der ist zwei."

"Dann werde ich mal gleich Ihre Daten aufnehmen, Frau Krantz."

Zurück zum Empfang, Gerlinde folgte ihr.

"Also ich wohne in der Weberstraße 25 bei Roxana Nieverding in der dritten Etage." Sie wartete, während Frau Jonsch in den Computer tippte. "Mein Geburtsdatum ist der 14.10.1992 im St. Vinzenz in Haselünne."

Frau Jonsch hob den Kopf: "Ihre Eltern?"

"Der Name meiner Mutter ist Christine Krantz."

"Ihr Vater?"

"Meine Mutter war nicht verheiratet, mein Vater schon. Aber nicht mit meiner Mama."

Frau Jonsch sah auf. Dann nickte sie. "Sie sind also ohne Vater aufgewachsen, nicht leicht für Ihre Mutter."

"Ja, so ist es, sie musste viel arbeiten. Aber nun habe ich ja meine erste Stelle und kann Geld verdienen, auch für sie mit. Geschwister hab ich nämlich nicht."

"Für Ihre Mutter mit?"

"Ja, sie verdient nicht soviel, und momentan geht es ihr nicht gut."

Gerlinde sprach nicht weiter. Sie war drauf und dran, der Bürovorsteherin, die sie erst vor einer Stunde kennen gelernt hatte, Details zur Krankheit ihrer Mutter zu erzählen. Absolut uncool, hier gleich ins Private abzudriften. Es hätte aufdringlich wirken können.

Frau Jonsch fragte noch nach den Daten ihrer Versicherungen, sie würde alles Nötige veranlassen. Sie hob ihren vornehmen Mittelscheitel und sah Gerlinde freundlich distanziert an, während sie ihr die Hand entgegenstreckte: "Nun begrüße ich Sie als neue Kollegin und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit."

Gerlinde schlug ein: "Ich freu mich schon drauf!"

Den Rest der Woche und das Wochenende verbrachte Gerlinde in erregter Erwartung.

Ihre erste Stelle, und in einem so vornehmen Laden! Sie musste sich beherrschen, Roxana nicht auf die Nerven zu gehen mit ihrem Gerede über den tollen Job, die hatte genug damit zu tun, Studium und Kind und Einkäufe und Tagesmutter zu organisieren. Sie studierte Jura − ausgerechnet! − war im fünften Semester und sagte, sie habe keine Eile, fertig zu werden. Tobias' Vater − seinen Namen nannte sie nicht − zahle Unterhalt für sie und das Kind und die Miete für ihre Wohnung. Sie hatte noch nicht einmal verlangt, dass sie, Gerlinde, etwas für das Zimmer zahle. Sei ja nur vorübergehend, hatte sie gemeint und sie könne, bis sie etwas anderes gefunden habe und sich an ihrer Arbeitsstelle eingelebt habe, an den Wochenenden vielleicht mal auf Tobias aufpassen oder mal kochen oder die Wohnung putzen. Na ja, putzen war nicht gerade ihr Ding, aber der Kleine war putzig.

Am Montag war sie sehr pünktlich im Büro. Frau Siebenthal, eine zierliche Blondine mit Stupsnase, begrüßte sie mit einem Seufzer der Erleichterung:

"Gott sei Dank, dass wieder jemand neben mir sitzt. Es hat nun doch fast zwei Monate gedauert, bis der Chef einen Ersatz für Lilly, ich meine Frau Krott, gefunden hat und in der Zeit musste ich zusehen, wie ich mit der zusätzlichen Arbeit klar kam. Ich bin eigentlich vorwiegend für die Chefin zuständig."

"Frau Krott? Hat er ihr gekündigt?"

"Nein, nein, sie hat gekündigt."

"Aber ... ", Gerlinde guckte verständnislos, "so eine Arbeitsstelle kündigt man doch nicht, so was kriegt man doch nicht wieder!"

"Nun, liebe Frau Krantz, Sie werden schon noch merken, was hier gefordert wird. Vor allem an Überstunden. Die waren Lilly schließlich über, da hat sie sich was Ruhigeres gesucht für weniger Gehalt aber mehr Privatleben."

"Guten Morgen, die Damen." Dr. Liberti stand in der Tür, in der Hand einen Aktenordner. "Für Sie, Frau Krantz." Er legte ihn auf ihren Schreibtisch. "Sichten Sie die Unterlagen zum Fall Clausen und legen Sie eine Akte an." Zu Frau Siebenthal gewandt: "Alles okay mit ihrem Sohn?"

"Es wird schon wieder, aber wahrscheinlich muss er die Mandeln raus haben, er ist zu oft erkältet, und jetzt hatte er auch noch Ohrenschmerzen und dicke Backen. Diagnose: Mumps." Sie lachte." Peter, du hast Ziegenpeter, hat Dr. Bader zu ihm gesagt. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, Herr Dr. Liberti, und wie blöd er es fand es, eine Krankheit zu haben, die seinen Namen mit einer Ziege verknüpft."

"Kann ich mir vorstellen, Frau Siebenthal, der eigene Name ist etwas, mit dem man sich identifiziert, und da hat eine Ziege nun mal nichts zu suchen." Er lachte trocken und wandte sich zum Gehen. "Wenn Sie noch Fragen haben, Frau Krantz − ich bin nebenan."

"Fand er das nun lustig oder eher nicht?", wunderte sich Gerlinde, als er draußen war.

"Ach, der hat keine Kinder und außerdem anderes im Kopf." Frau Siebenthal wies auf Gerlindes Schreibtisch. "Das da zum Beispiel."

Bis zum Mittag arbeitete Gelinde an der Akte Clausen./. Oschmeyer. Clausen − war das nicht der Schnauzbärtige, den sie bei ihrem Vorstellungstermin gesehen hatte, der mit der dicken Hornbrille, der aussah wie ... wie ... ja, wie Friedrich Thun in "Hochzeit auf Gut Hohenbrück"? Sah aus wie ein richtiger Grandseigneur, dieser Clausen, und die Nummer, unter der sie nach einem Blick in den Computer seine Akte einordnete, gefiel ihr ebenso: 777/07. Sie legte ein Aktenblatt mit den Daten von Auftraggeber und Gegner an, fügte Korrespondenzadressen und Rechtschutzbestätigungen hinzu, ordnete Kopien von Kontoauszügen, Verträgen und Schriftverkehr der Parteien. Vollmachten und eidesstattliche Versicherungen ab in die hintere Lasche des Aktendeckels. Kostenblatt hinzufügen, leere Vollmachtsvorlagen beilegen. Tja, man sollte vorsichtig sein mit Geld, selbst wenn man es einem guten Freund leiht, der einen Supermarkt übernimmt, renoviert und dann pleite geht, weil die Straße vor seinem Laden aufgerissen wird für den Bau einer U-Bahn, der dann nicht vorangeht, weil der Stadt das Geld ausgegangen ist. Keine Kunden mehr und aus die Maus. Schicksale steckten in diesen Akten! Sie würde viele davon auf dem Schreibtisch haben und in das Leben fremder Menschen hinein sehen können.

Spannend!

Als sie um siebzehnuhrdreißig auf ihr Fahrrad stieg, war sie hochzufrieden mit sich und ihrem ersten Arbeitstag. Sie hatte einen interessanten Beruf gewählt und würde sich ihr leben schon zurechtzimmern.

Roxana lag auf der Couch, als Gerlinde die Wohnungstür aufschloss. Sie blickte nur kurz auf und legte mit Blick zur Schlafzimmertür den Zeigefinger auf die Lippen. Gerlinde verstand: Der Kleine schlief, letzte Nacht hatte er sie mit seinem Weinen ein paar Mal geweckt.

Sie ging in die Küche und packte ihre Einkäufe fürs Abendessen aus. Roxana liebte Spagetti mit Meeresfrüchten, wie sie schon bei ihrem ersten Kennenlernen im Aldi gesagt hatte, als sie vor den Nudeln standen. Ziemlich abgehoben. Deshalb, und weil sie ihr ein Freude machen wollte, hatte sie heute extra einen Umweg über den Fischwagen an der Wolbeckerstraße gemacht, die hatten so was, und das dünne Hemd hinter der Theke hatte ihr auch ungefragt sein Privatrezept verraten: kurz unter Wasser halten, mit Zewa trocken tupfen, in heißem Öl mit gehacktem Knoblauch und Ingwer zwei Minuten braten und dann unter die Nudeln geben. Klang einfach und war auch nicht kompliziert zu machen. Vielleicht noch Salat dazu?

Es dauerte dann doch etwas länger als die paar Minuten, von denen der Fischverkäufer gesprochen hatte.

Gerlinde stand vor dem Küchentisch und betrachtete ihr Werk, die bunten Keramikteller auf der rustikalen Kiefertischplatte, Besteck mit Holzgriffen, blaue Papierservietten hatte sie leicht angeknautscht in der untersten Schrankschublade gefunden, der Salat knackig grün und die Nudeln dufteten vor sich hin mit ihrem Meeresgetier. Weingläser noch, mit Wein kannte sie sich nicht so aus, hatte sich einfach einen gegriffen aus dem Regal, auf dem trocken stand, das war wohl ein Qualitätsausweis. Dachte an ihre Mutter, die kannte sich mit so was aus, nein, eigentlich mehr mit den härteren Sachen. Ja, und das hatte sie nun davon und helfen konnte sie ihr eigentlich wenig, jetzt, wo sie nicht mehr auf sie aufpassen konnte. Dann lieber auf Tobias.

Sie lauschte, ging hinüber zu Roxanas Zimmer und legte ihr Ohr an die Tür. Mucksmäuschenstille. Gut, dann jetzt in Ruhe essen, ehe der Kleine wieder das Plärren anfangen würde.

Im Wohnzimmer lag Roxana immer noch auf der Couch. Sie schlief, den rechten Arm angewinkelt und die Hand entspannt auf dem Bauch, das Gesicht zur Wand. Gerlinde berührte den nackten Oberarm mit den ausgestreckten Fingerspitzen, streichelte ihn, dann umschloss sie ihn mit der ganzen Hand. Roxana sollte doch jetzt langsam wach werden und mit ihr am Tisch sitzen und ihr Lieblingsgericht essen, sie hatte sich doch Mühe gegeben damit. Sie drückte ein wenig fester zu und bewegte ihre Hand hin und her.

Mit einem plötzlichen Atemzug wandte Roxana ihren Kopf und fuhr hoch.

"Mein Gott, ich bin eingeschlafen" − sie wischte mit dem Handrücken über die Stirn −, "ich muss doch noch das Referat bis morgen fertig haben!"

"Na ja, kannst du doch auch, aber erstmal essen wir jetzt, Sohnemann schläft noch."

"Ich glaube, er kriegt seine Backenzähne. Das wird noch manche schlaflose Nacht werden."

"Und wie lange dauert das mit den Zähnen bis alle da sind?"

"Der Kinderarzt meint, noch ein bis zwei Monate."

"Das werden wir schon überstehen, Roxana."

Beim Essen gab es eine neue Vertrautheit, so etwas wie ein Wir-Gefühl.

"Warum tust du dir das an", hatte Gerlinde wissen wollen, "Studium mit Kind, das ist doch anstrengend, konntest du oder konntet ihr nicht warten oder war es ein Unfall?"

"Ein Unfall ...", Roxana nickte, "kann man wohl so nennen. Ein Unfall war der Anlass für eine Anzeige am Schwarzen Brett in der Uni. Jemand suchte einen Ersatz für seine Bürokraft, die wegen eines schweren Verkehrsunfalls ausgefallen war, PC, Schreibarbeiten und so. Bin hin und hab den Job bekommen, die Bezahlung war sehr ordentlich." Einen Moment lang schwieg sie ihren Teller an. Dann sah sie auf. "Und der Boss auch." Sie schickte einen Lacher hinterher.

"Aha! Und?"

"Kannst du dir denken. Ich hab's ihm gesagt und geglaubt, er kündigt mir, dann hätte ich abgetrieben. Aber er wollte, dass ich es behalte. Er würde alles bezahlen. Hat mir diese Wohnung zur Verfügung gestellt. Er hat mehrere, die er vermietet, aber natürlich zahle ich hier keine Miete. Und im Büro kann ich natürlich auch nicht mehr arbeiten, muss ja für seinen Sohn sorgen. Und mein Studium voranbringen. Aber sag mal ...", sie griff zur Nudelschüssel, "wo hast du Kochen gelernt? Nach der Fast Food oder dem Mensaessen ist das hier richtig gut."

"Kochen gelernt hab ich nicht, hab das gekocht, was zuhause so da war in unserer Küche, Christine war ja nie da, wenn ich aus der Schule kam, war putzen, da hab ich dann schon öfters mal abends was gekocht, damit sie 'ne warme Mahlzeit am Tag hat. War ja alles nicht einfach für sie, weiß ich, aber für mich auch nicht." Sie drehte das Glas in der Hand.

"Verstehe." Roxana griff zur Weinflasche und schenkte nach.

"Glaube ich nicht, Roxana, dass du wirklich verstehst. Dir geht's doch gold! Du hast ein Kind von einem verheirateten Mann, der bezahlt alles, und du kannst sogar weiter studieren − kriegst du nicht auch noch Bafög? Mein Vater − stell dir vor, ich kenne ihn noch nicht mal − hat meine Mutter hängen lassen, sie musste ihre Ausbildung zur Verkäuferin abbrechen und Geld verdienen für uns beide."

"Du kennst deinen Vater nicht? Heißt das, du weißt nicht, wer es ist?"

"Meine Mutter wollte es mir nicht sagen." Gerlinde zögerte. "Vielleicht war sie sich auch nicht sicher."

"Aber sie hätte einen Vaterschaftstest beantragen können, das heißt bei deiner Geburt noch nicht, da gab' s den DNA-Test noch nicht. Aber jetzt könnte sie ihn noch machen lassen, meine Mutter übrigens auch, sie ist mit einer Vaterschaftsklage gescheitert.“

"Ach ja? Dann weiß sie wenigstens, wer dein Vater ist. Meiner lebt nicht mehr, sagt meine Mutter, vor Jahren schon hat sie mir das gesagt."

"Sogar du selbst könntest diesen Test verlangen, sogar eine Exhumierung verlangen, ich kenne entsprechende Rechtsfälle. Falls du wüsstest, wer es ist."

"O Gott, nein!" Gerlinde riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. "Exhumieren! Das geht gar nicht, und Christine kann ich damit schon überhaupt nicht kommen. Außerdem: Dessen Familie würde doch protestieren, da könnte ich womöglich ja noch als Erbberechtigte auftauchen, falls es überhaupt etwas zu erben gäbe."

"Das Gericht entscheidet das, nicht die Familie."

"Und wenn schon ..." Gerlinde schwieg. Eine Familie hatte sie nie gehabt, eine richtige Mama, die da war, wenn sie sie brauchte, auch nicht. Ihre Mutter hatte immerzu Geld verdienen müssen, meistens Putzjobs, auch, um ihr, dem Zufallskind einer Sechzehnjährigen, eine Ausbildung zu finanzieren, die sie selbst nicht hatte haben können. Halt dich fern von Jungs, hatte sie ihr immer gesagt, als sie alt genug war, sich für Jungs zu interessieren, halt dich fern oder schütze dich, damit es dir nicht so geht wie mir! Warum sie sich nicht geschützt habe, hatte Gerlinde einmal nachgefragt. Mit Fünfzehn habe sie noch keine Erfahrung gehabt mit so was, war die Antwort gewesen, und sie sei schwanger geworden, ohne zu erfahren, was eine Orgasmus ist. Ihr eigene Mutter, also Gerlindes Großmutter, habe sechs Kinder geboren, von denen sie die Älteste war und sie sei gestorben, ohne je einen Orgasmus gehabt zu haben. Immer schwanger ist auch ein geregeltes Leben, habe sie bitter hinzugefügt, jedenfalls ein geregeltes Leben in einer Familie. Bitter war für Christine, dass ihre Eltern, weitgehend von Sozialleistungen abhängig, einen zusätzlichen Balg – sie hatten tatsächlich Balg gesagt – nicht ernähren konnten. Christine musste ihre Ausbildung abbrechen und eine Arbeit annehmen. Als Gerlinde mit Drei in den Kindergarten kam, hatte sie sich eine Zweizimmerwohnung gesucht.

Irgendwann, als Gerlinde um die Zehn war, hatte ihre Mutter abends, wenn sie von der Arbeit kam, angefangen, zum Essen einen "Entspannungsschluck", wie sie es nannte, zu nehmen, sie brauche das, um Abstand zu kriegen vom Job. Zunächst waren es zwei Gläser Bier zum Essen, dann noch eins nach dem Essen, dann noch eins zum Schlafengehen. Irgendwann brauchte sie Nachhaltigeres, wobei sie allerdings gewisse Grenzen unter der Woche nicht überschritt. Samstags dann aber, nach dem Wocheneinkauf, den sie allein bewältigte, meinte sie, ein Recht auf Erholung zu haben und überließ Gerlinde alles weitere, den Haushalt betreffend, Gerlinde kochte, putzte, zunächst nach ihren Anweisungen, dann, nachdem sie Zwölf geworden war, zunehmend selbstständig. Ihre Mutter lag auf der Couch, der Fernseher lief den ganzen Tag, die Bierflasche stand auf dem Tisch, abends gab's billigen Rotwein zum Essen. Danach wieder Fernsehen. Christine Krantz sackte nach einer halben Stunde weg, Gerlinde weckte sie später und half ihr ins Bett. Am Sonntagmorgen schlief Christine bis in den späten Vormittag, ehe sie sich zum Frühstück aufraffte: Müsli mit Schokoflocken und Rotwein. Bis zum Abend trank sie nur noch Wasser aus dem Kran − Sprudelwasser war zu teuer − um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Zum Schlafengehen genehmigte sie sich dann wieder ein bis zwei Glas Bier als Einschlafhilfe, ein Rhythmus, der sich mit den Jahren beschleunigte.

Damals schon, als Zwölfjährige, hatte Gerlinde begriffen, wie wichtig eine Ausbildung war, eine den eigenen Fähigkeiten angemessene, sie vielleicht sogar herausfordernde Tätigkeit, ein mit Freude ausgeübter Beruf. Sie schämte sich für ihre Mutter, fühlte sich gleichzeitig verantwortlich für sie. Sie wollte nicht vom Leben überrollt werden, entdeckte ihren Ehrgeiz und hielt sich von Jungs fern, hatte wenige und nur kurz andauernde Mädchenfreundschaften, kümmerte sich wo nötig um ihre Mutter, auch aus einem unbewussten Schuldempfinden heraus. Erfolg und Anerkennung wurden ihr zunehmend wichtig. Mit ihrem Aussehen konnte sie nicht punkten, als sie noch klein war, hatte Christine gemeint, Gerlinde werde ihrem Vater immer ähnlicher. Ob sie auch die Beine von ihm hatte?

"Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, wer mein Vater ist, hat sich einfach verdünnisiert, und vielleicht weiß meine Mutter es auch nicht so genau. Immer mal wieder hat sie einen Kerl angeschleppt und vielleicht hat sie es früher auch so gemacht." Sie stand abrupt auf. "Lass uns von ..."

"Und was ist jetzt mit ihr? Sie ist doch noch nicht so alt?"

Gerlinde schaute zur Seite, schüttelte kurz den Kopf, druckste. Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen.

"Lebt sie nicht mehr, bist du deshalb allein?"

"Aber nein!", kam es zurück, es klang fast wütend. Sie füllte die Nudelreste in eine kleinere Schüssel und stellte sie in den Kühlschrank. Nach einer Pause: "Da kannst du mal sehen, aus was für einer ..."sie zögerte, "Familie ...", sie spie das Wort durch die Zähne, "ich komme, kein Vater, keine Geschwister, war ja nichts mit Familie, sonst müsste ich mich jetzt nicht allein um Christine kümmern. Meine Mutter, " fügte sie mit Blick zu Roxana hinzu, "sie ist auf Entzug, Alkohol, allein kriegt sie das nicht hin, weder finanziell noch sonst. Wenn sie durch ist mit dem Entzug, werde ich sie unterstützen müssen, bis sie wieder 'ne Arbeit hat."

"Verdienst du genug?"

"Na ja, es ist mein Anfangsgehalt, aber nicht schlecht." Sie schwieg einen kurzen Moment. Dann fügte sie mit einer Kopfbewegung zur Kinderzimmertür, hinter der Tobias angefangen hatte zu weinen, hinzu: "Damit scheint es dir ja besser zu gehen als mir."

Roxana lächelte leise, kniff das rechte Auge zu und zog die linke Braue hoch.

"Ganz recht, besser als vorher. Ich muss nicht mehr jobben, um mein Studium zu finanzieren, die Tagesmutter für Tobias wird bezahlt, später auch die Kita, die Babykleidung und andere Anschaffungen, der Kinderarzt, die Wohnung, ich kriege Betreuungsgeld, von Vater Staat Kindergeld und bis Tobias ein Jahr alt war, zusätzlich Elterngeld, ich muss auch nicht durchs Studium hetzen, um möglichst schnell auf eigenen Füßen zu stehen. Mir geht's richtig gut. Und nun bist du da, und ich kann auch abends mal weg." Sie lachte zufrieden. "Zwei Mütter für ein Kind."

"Und warum hat dein Boss − wer ist das überhaupt? − das so geregelt?"

"Der har gar nichts geregelt, Vater Staat hat das gesetzlich geregelt. Erzeuger unehelicher Kinder müssen zahlen, nolens volens" − sie bemerkte Gerlindes verständnislosen Gesichtsausdruck −, "ob sie wollen oder nicht, und wenn man die Gesetze kennt, kann man richtig abkassieren."

"Ohne Gegenleistung?"

"Na ja, ich bin schließlich die Mutter und ziehe unseren Sohn allein auf. Und ich darf nicht rum erzählen, wer sein Vater ist, das hat er verlangt, seine Frau würde sich scheiden lassen, und das könne er sich nicht leisten. Schon wegen der Reputation nicht, er ist Ratsmitglied."

Sie stand auf und ließ Wasser ins Spülbecken laufen.

"Vielleicht schaffe ich es noch, ihm eine Spülmaschine aus den Rippen zu leiern."

"Wie du sprichst, Roxana! Liebst du ihn nicht? Oder nicht mehr?"

"Liebe! Ein großes Wort! Er sieht gut aus, hat Geld, und schließlich hat er sich an mich rangemacht und nicht ich mich an ihn, er war mein Boss und also hab ich ihn gelassen. Und dann wurde ich schwanger und hab ihm klar gemacht, dass ich nicht allein dafür gerade stehe. Mit seiner Frau hat er keine Kinder und weißt du was?" Sie stemmte die Armen in die Seite. "Ich glaube sogar, er war ganz glücklich, seine Manneskraft bewiesen zu haben."

Sie fing an abzuwaschen und Gerlinde griff nachdenklich zum Trockentuch. Ihr Chef Dr. Robert Liberti und seine Frau Dr. Luisa Liberti-Krohn, auch keine Kinder. Konnte sie nicht oder konnte er nicht? Es sollte ihr egal sein, Hauptsache: Sie hatte einen tollen Job und konnte den Anforderungen genügen.

In den nächsten Tagen versuchte sie trotzdem mit vagen Bemerkungen etwas aus Frau Siebenthal herauszuholen. Die sprach von einem guten Arbeitsklima, freundlich-sachlichem Umgang der Chefs mit den Angestellten, Frau Dr. Liberti manchmal gestresst. "Die zerreißt sich zwischen der Arbeit hier im Büro, den Terminen bei Gericht und im Stadtrat, sie ist nämlich im Stadtrat, Vorsitzende des Kulturausschusses und auch noch Vorsitzende im Weißen Ring. Wie die das alles schafft! Und dann die vielen Abendtermine!"

Na ja, dachte Gerlinde und griff sich die oberste Akte vom Stapel auf ihrem Schreibtisch, keine Zeit für Kinder, weder sie zu machen noch zu erziehen. Werde mir heute Abend gleich mal den Tobias schnappen und knuddeln, der ist so süß.

Nachdem sie für die Mandantenbesprechung am Nachmittag − Termin mit Clausen − die nötigen Buchhaltungsunterlagen vorbereitet hatte, die letzten Bankauszüge kontiert und ins Buchhaltungsprogramm eingegeben, Summen- und Saldenliste und die üblichen betriebswirtschaftlichen Auswertungen ausgedruckt hatte, gönnte sie sich eine Pause. Beim Durchqueren des Entrees hinüber zum Kaffeeautomaten neben dem Eingang begegnete sie Frau Dr. Liberti, die das gleiche Ziel hatte. Sie trug ein helles Kostümjäckchen, kurz und tailliert, zu einem schwarzen, knapp die Knie bedeckenden Rock, hohe Hacken, auch schwarz.

Gerlinde trat einen Schritt zur Seite und lächelte sie an.

Während Luisa den Kaffee in den Becher laufen ließ, betrachtete Gerlinde ihre Chefin von der Seite. Solche Haare hätte sie gern gehabt! Üppig und schwarz, im Nacken locker von einer breiten Spange gehalten, breiteten sie sich wie ein Fächer über den Schultern aus.

"Haben Sie sich gut eingelebt, Frau Krantz? Kommen Sie zurecht?", sagte Luisa über ihre Schulter hinweg.

"Oh ja, die Arbeit macht mir Spaß, ich fühle mich sehr wohl hier." Aus einem plötzlichen Impuls heraus, so, als wolle sie sich keine Zeit geben, es sich noch anders zu überlegen, fügte sie schnell hinzu: "Sie haben tolle Haare!"

Überrascht wandte Luisa sich zu ihr um. "Nanu? Komplimente?" Sie sah an Gerlinde hinunter und deutete auf ihre Beine, heute bewegte Gerlinde sich auf acht Zentimentern. "Und Sie haben tolle Beine!"

"Sie aber auch!", rief Gerlinde und blickte ihrem schnellen Schritt nach, mit dem Luisa hinter der Tür ihres Arbeitzimmers verschwand.

Für die Mittagspause bestellte sie sich wie Frau Siebenthal eine Pizza und eine Cola, mit der sie sich in den Aufenthaltsraum zurückzogen, einen kleinen Raum gleich neben dem Entree gelegen, ausgestattet mit einem runden Esstisch und sechs Stühlen, einer großen bequemen Couch und drei kleineren Sitzgruppen, den Fenstern gegenüber ein Einbauschrank mit Garderobe, Pantryküche und Fächern für die Angestellten. Gerlinde hob die Pizza − einmal Diavolo und für ihre Kollegin Quattro Staggione − aus den Kartons, Frau Siebenthal holte Besteck und Gläser.

"Was ist mit Frau Jonsch?", wollte Gerlinde wissen, "die hab ich mittags hier noch nie gesehen."

"Die geht meistens ins Bistro gegenüber, da hat sie ihre Ruhe, sagt sie, manchmal sitzt sie da auch mit der Chefin."

"Die ist etwas unnahbar, die Chefin, meine ich, ein bisschen kühl, oder? Ich dachte heute, ich sag mal etwas Persönliches zu ihr, über ihre tollen Haare, da hat sie mich erstaunt angeguckt und nanu Komplimente gesagt. Hätte ich das nicht sagen sollen?"

Frau Siebenthal lachte. "Warum eigentlich nicht? Die kriegt dauernd Komplimente, weil sie tüchtig ist und dann natürlich von Leuten, die das beurteilen können. Na ja, und außerdem sieht sie echt gut aus und das weiß sie natürlich." Sie goss Cola in die Gläser. "Der Chef ist schon mal etwas persönlicher."

"Und er arbeitet viel, auch noch spät abends, das hab ich neulich gesehen, als ich um zehn rum aus dem Open-Air-Film auf dem Markt kam, da war immer noch Licht in seinen Fenstern."

"Na, dann warte mal ab, bis er dir Überstunden anbietet ...", Frau Siebenthal lächelte bedauernd, "wird sicher nicht mehr lange dauern. Frau Jonsch hat mir vorgestern die Termine für die nächsten Verhandlungen gegeben, Post hab ich schon rausgeschickt, der Termin für die Hauptverhandlung Clausen./. Oschmeyer ist in zehn Tagen, da gibt's sicher noch Arbeit für dich."

Sie behielt Recht.

Zwei Tage später, am Donnerstag, Aktenkoffer in der Hand und die Robe über dem Arm, steckte Dr. Liberti den Kopf zur Bürotür herein und bat Gerlinde, nach der Arbeitszeit noch zur Verfügung zu stehen. Er sei im Laufe des Nachmittags zurück und erwarte für siebzehn Uhr Herrn Clausen mit den Steuerbescheiden der letzten drei Jahre, die müssten unbedingt noch heute überprüft werden.

"Oder haben Sie für den Abend schon etwas Besseres vor, Frau Krantz?", fügte er hinzu und legte den Kopf schief.

"Nein, nein", beeilte Gerlinde sich zu sagen, "ich bleibe natürlich." Sie würde Roxana anrufen müssen und ihr sagen, dass sie zum Fernsehabend mit Heidi Klum und ihren Topmädeln wahrscheinlich zu spät kommen werde. Sie liebte diese Sendung, die Mädels waren in ihrem Alter und machten was her und trugen tolle Klamotten. Nicht, dass sie sie beneidete, aber sie kämpften um das, was sie sich für ihr Leben ersehnten. Und das würde sie auch tun.

Als sie gegen acht die Aktendeckel zuklappte, fühlte sie sich keineswegs erschöpft von ihrem langen Arbeitstag. Der Einblick in die Vermögensverhältnisse des Mandanten Clausen, Reitstallbesitzer, mit mehreren Häusern, Vermietungen in großem Umfang, aber auch Sponsor für diverse Hilfsorganisationen, unter anderem