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Beim Abräumen einer Grabstelle werden dicht unter der Oberfläche Knochen und Kleidungsreste gefunden. Rechtsmedizinische Untersuchungen ergeben, dass es sich um zwei Frauen handelt, die vor fast zwanzig Jahren erschlagen wurden und sich sehr ähnlich gesehen haben mussten - ein Grund für das Verbrechen? Hauptkommissar Lutz Grübert findet eine noch lebende Enkelin des in dem Grab bestatteten Ehepaares und erfährt, dass deren Tochter Julia, Malerin und Besitzerin der Galerie Vienna in Köln, seit sechzehn Jahren verschwunden ist. Eine schwierige Suche hinein in die Welt der Künstler und Galerien beginnt, Angehörige und noch lebende Freunde werden befragt, JuliasTagebuchblätter tauchen auf, und Grübert gerät zunehmend in den Bann der faszinierenden Frau, die sie zu Lebzeiten gewesen sein musste.
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Seitenzahl: 367
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Für Enno
Protagonisten und Handlung sind frei erfunden
Die Tat
Der Fund
Der Ring
Erste Ermittlungen
Schwierige Befragung
Ein berühmter Künstler
Eine Suchanzeige
Tagebuch und eine alte Freundin
Die Zugehfrau und der Galerist
Ein Zeuge
Ein Krankenbesuch und neue Tagebuchblätter
Reminiszenzen
Ein neuer Verdächtiger
Erkenntnisse
Fehlanzeige
Gewissheit
Hausdurchsuchung
Vernehmung
Eine Überraschung
Epilog
ANHANG
Es war einfach gewesen. Die aufgeschüttete Erde. Das Loch. Ihr aufgerissener Mund, gefüllt mit Erde. Dieser Mund, so schön − böse Worte hatte er ausgespuckt. Der überraschte Schrei, mit dem sie hinuntergestürzt war, die Augen, die spöttischen, ihr Blick nun ins Leere gehend. Seine Hände hatten blind nach der Schaufel gegriffen, und die Schaufel hatte zugeschlagen. Und Erde in das Loch gestoßen. Schneller, schneller, nichts mehr sehen von ihr, nicht dieses Gesicht, nicht diese Haare, nicht den kleinsten Rest von Farbe in der Dunkelheit. Etwas war in ihm, das seine Hände angetrieben hatte, seine zärtlichen Hände.
Und dann aufatmen.
Die Schaufel in den lockeren Boden stoßen, da stehen und hinunter blicken. Wut und Trauer. Keine Angst. Er würde es überleben.
Den Rest würden andere besorgen.
Er kippte den Rest des Kaffees hinunter und sah aus dem Fenster. Niesel und leichter Nebel. Nicht ungewöhnlich für Ende Oktober. Kein Wetter für sein Joggingprogramm, eher für einen ruhigen Bürotag. Bericht schreiben über die gestrige Zeugenvernehmung − ein Unfall kurz vor der Autobahnausfahrt Woltersheim mit zwei Toten.
Lutz Grübert ging in die Diele und griff nach seinem Trenchcoat. Bis zur Dienststelle in der Hauptstraße brauchte er fünfzehn Minuten. Er war nicht der erste, Klopp saß schon an seinem PC und hieb auf die Tastatur ein.
„Bericht von eurer Vermisstenfahndung? Habt ihr die Frau endlich gefunden?“, sagte Grübert und hängte seinen Mantel an den Garderobenständer, ein schönes Möbel aus Bugholz, das einzige alte Stück im Büro, das ihm gefiel. Der andere schüttelte den Kopf und knurrte: „Heilmann sitzt mir im Nacken, der nervt mal wieder.“
Grübert nickte. Das kannte er. Heilmann wollte immer schnellstens schriftlichen Bericht haben, es hätte ja sein können, dass die Presse was wissen wollte, und da mussten alle auf Zack sein. Er blieb gelassen, hatte sich schon daran gewöhnt, wie er sich auch an dieses Büro gewöhnt hatte. Zu Anfang, nach seinem Wechsel von Tuttlingen zuerst nach Köln und dann in das dörfliche Woltersheim, war es ihm wie ein umfunktioniertes Wohnzimmer vorgekommen. Zwei Räume mit einer doppelflügeligen braunen Falttür, die immer offen gestanden hatte, bis sie ganz entfernt wurde.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den PC hoch. Der ließ sich Zeit, war wohl auch in die Jahre gekommen wie die schweren Schreibtische aus hellbraunem Holz mit seitlichen Schubfächern. Jüngeren Datums waren die beiden Stahlregale mit Aktenordnern und natürlich der große Drucker zwischen den beiden Fenstern, vor deren Scheiben eine Orchidee vor sich hinblühte. Er seufzte. Immerhin: Sie blühte, was sie wohl ihrer Pflegeleichtigkeit verdankte.
In seine Betrachtungen hinein schrillte das Telefon. Er griff zum Hörer. „Hauptkommissar Grübert, Woltersheim.“
„Sven Henseler hier.“ Der Klang der Stimme verhieß nichts Gutes. „Ich arbeite hier auf dem Friedhof mit meinem Kollegen, dem Piet. Wir sollten heute ein Vierergrab abräumen, da sollen neue Tote rein, übermorgen. Aber das geht nicht. Wir haben gerade was gefunden, was da nicht reingehört. Das müssen Sie sich mal ansehen, am besten sofort.“
„Was haben Sie gefunden?“
„Na ja, was man so im Grab findet: Knochen. Aber ohne Sarg.“
„Komme. Bin in zehn Minuten da.“
Grübert fuhr den PC wieder herunter und stand auf. Während er den Mantel anzog, trat Benno Krassinger ein, frisch gebackener Polizeianwärter, ein langer Schlacks mit angesagtem blonden Bürstenhaarschnitt.
„Du kommst mit“, sagte Grübert und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust, „es gibt Arbeit. Wir nehmen den Dienstwagen rauf zum Friedhof.“
„Zum Friedhof? Da gibt’s doch nur Tote!“, flaxte Krassinger.
„Eben deshalb, du Witzbold.“
Kaum im Auto, wollte Krassinger zum Blaulicht greifen.
„Nicht doch“, meinte Grübert und warf ihm einen amüsierten Blick zu, „keine Dramatik, da gibt´s nichts mehr zu retten.“
Sie nahmen die seitliche Treppe, die an Kirche und Pastorat vorbei nach oben führte. Das Nieseln hatte sich inzwischen in einen gleichmäßig rinnenden Landregen gewandelt. Grübert hustete, sein Asthma machte sich bei diesem Wetter unangenehm bemerkbar. Er sollte endlich zum Arzt gehen. Die jährliche Routine …
Oben erwarteten sie die beiden Friedhofsarbeiter neben einem teilweise ausgehobenen Grab: Ein Viereck, einsachtzig mal zwei Meter, schwarz glänzende Erde mit Trittspuren, auf die der Regen herunter troff, ein umgestürzter Grabstein auf dem Zufahrtsweg, daneben der Bagger mit herab hängender Schaufel.
„Na, was haben wir denn?“ Er schaute in die Grube. Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies er auf das, was da lag, Knochen und Kleidungsreste, durchmischt mit Erde. „Das da …?“ Er kratzte sich hinter dem Ohr und blickte suchend umher. Dann bückte er sich nach einem Stöckchen und schob die Reste auseinander, sie rochen nach Modder und faulen Lagerkartoffeln. Lederreste und vermoderte Stoffstücke, um die Reste eines Schuhs gewickelt, fielen zu Boden, dazwischen etwas Metallenes. Es sah aus wie der Metallkern eines High Heels.
„Liegt alles so wie vorgefunden?“
Piet nickte. „Na klar, Original!“
„Wegen dem Durcheinander“, ergänzte Sven und wies mit dem Kinn auf den Fund, „das sind Wildtiere, die buddeln auf Friedhöfen, wenn was dicht unter der Erde liegt. Die riechen das."
„Und wo ist der Schädel?“
„Vermutlich noch da drin.“ Sven wies auf das Loch. „Aber bevor wir weitermachen, fanden wir es richtig, die Polizei zu informieren.“
„Schon gut. Aber jetzt erst mal absperren, Benno.“
Grüberts Blick zuckte zu Krassinger, der sich sofort umwandte und zur Treppe eilte.
Er beugte sich über den Grabstein und wischte mit dem Ärmel über die aufgesetzten Buchstaben. In der oberen Reihe waren sie noch vollständig erhalten: Auf der linken Seite Maria Hambacher, 08.09.1907 - 23.05.1987, rechts Friedrich Hambacher, 28.01.1911 - 23.05.1987. Mit spitzen Fingern klaubte Grübert das Moos vom Stein, darunter wurde der Name Viktor sichtbar, Nachname und Sterbedatum fehlten.
„Also hier auf der rechten Seite liegt ein Viktor über dem Friedrich. Da hättet ihr erst in etwa neunzig Zentimer Tiefe auf Überreste stoßen dürfen. Und außerdem: ein Damenschuh auf der Männerseite …“ Er schüttelte den Kopf. Zwei Tage vor Allerseelen. Da war das ganze Dorf unterwegs mit Pflanzen, Lichtern und Gießkannen. Aber nah ran lassen sollte man die Leute nicht. Würde sich sowieso in Windeseile herumsprechen.
Und so kam es. Keine halbe Stunde, nachdem Krassinger die Grabstelle weiträumig abgesperrt hatte, standen Friedhofsbesucher tuschelnd hinter den im Herbstwind rotweiß flatternden Bändern. Was da genau ausgegraben wurde, konnten sie nicht sehen, Hälse recken half nicht.
Den Schädel fand Piet unter den Resten des Schuhs, daneben einen Unterschenkel, noch im Schuh steckend und Knochen unterschiedlicher Dicke und Länge, alles durcheinander gewürfelt.
„Weitermachen“, sagte Grübert, „aber vorsichtig mit der Schaufel, den Bagger brauchen wir nicht mehr.“
Ehe er die Gerichtsmedizin verständigen würde, wollte er sich selbst ein Bild machen. Dem Zustand der Knochen nach zu urteilen, mussten sie schon seit etlichen Jahren hier liegen. Die Grabinschriften halfen zunächst mal nicht weiter. Hier lagen Eltern und Sohn. Oder Schwiegersohn. Das Kirchenbuch musste eingesehen werden. Die linke Grabseite war in der oberen Etage nicht belegt. Bestimmt wahrscheinlich für Tochter oder Schwiegertochter. Die, wenn sie denn überhaupt noch leben sollte, jetzt, unter Berücksichtigung des Generationensprungs grob gerechnet zwischen siebzig und achtzig Jahre alt sein musste.
Er tat ein paar Schritte zwischen die anderen Gräber. Henseler, Schmidt, Breuer, Klinkenberg, Lautenschläger, Oebel – bekannte Namen, bekannte Familien. Hambacher kannte er nicht, die mussten zugezogen sein. Wann?
„Ja, was is´n das?“
Grübert schreckte zusammen. Piet stand in der Grube und starrte die Schaufel in seinen Händen an, vielmehr das, was darauf lag. Ein zweiter Schädel zwischen Erdbrocken. Ehe Grübert bei ihm war, rutschte alles von der Schaufel.
„Vorsichtig habe ich doch gesagt! Wo lag der Schädel?“
„Na hier, wo ich gerade stehe, am Kopfende … unter der Maria … ich meine, auf ihrer Seite, da, wo auf dem Grabstein der Name Maria stand, ja also, als der Stein noch da stand …“. Piet schien sichtlich verwirrt, „aber ein bisschen tiefer als der erste Schädel.“
„Schon gut“, beruhigte Grübert, „die weitere Grabung überlassen wir der Spurensicherung. Informieren Sie die Verwaltung, dass diese Grabstelle für eine eventuell geplante Beerdigung noch nicht freigegeben werden kann.“
Nach einer halben Stunde waren die Beamten der Spurensicherung vor Ort, der Dienststellenleiter Hauptkommissar Heilmann hatte den Gerichtsmediziner gleich mitgbracht. Der bestätigte nach einer kurzen Inspektion und nachdem unter dem Auge des Gesetzes auch die zweite Leiche ausgegraben worden war, eine Liegedauer von etwa zwanzig Jahren. Zu kriminalistisch relevanten Spuren könne er erst nach genauerer Untersuchung etwas sagen. Der Fotograf hielt alles aus verschiedenen Blickwinkeln fest, insbesondere die Position des zweiten Skeletts, mehr seitlich liegend in gekrümmter Haltung, alle Knochen in anatomisch korrekter Anordnung. Auch hier keine Sargreste.
Nachdem das, was die Erde freigegeben hatte, abtransportiert worden war, leerte sich die Szenerie schnell. Als letzte standen Piet und Sven hinter der Absperrung und sahen auf ihr Tagwerk.
„Scheißtag heute“, resümierte Sven, „hoffentlich können wir morgen die Fundamente rausholen. Peter Rübensteck hat das Grab gekauft, seine Frau soll hier rein. Übermorgen. Wird wohl warten müssen.“
„Ein Mördergrab …“, Piet stieß die Luft durch die Zähne, „schlechtes Ambiente.“
Übers Wochenende hatte sich der Friedhofsfund herumgesprochen, und Grübert meinte, das Dorf summen zu hören: Entsetzen, Neugierde, Gerüchte. Interessant, was die Leute so redeten, da war die Theke bei Hanni' s Kochtopf ein guter Ort, ihnen zuzuhören.
„Dot mer noch e Kölsch.“
Lutz Grübert schob sein Glas über die Theke. Er liebte es, im Umgang mit der Bevölkerung gelegentlich Dialekt einzuflechten. Er liebte Dialekte ganz allgemein, war selbst in Sipplingen, einem Dorf am Bodensee aufgewachsen und wusste um die emotionale Verbindung, die der Dialekt schaffen kann. Zudem lebte er schon lange genug im Rheinland, um glaubwürdig zu sein, wenn er so sprach. Seine erste Stelle hatte er nach Abitur und dreijähriger Ausbildung am Polizeipräsidium in Tuttlingen angetreten, war nach vier Jahren zum Kriminalkommissar befördert worden und nach weiteren fünf Jahren zum Kriminalhauptkommissar aufgerückt. Dann gab es einen Wechsel in der Leitung des Reviers, und er hatte sich an das Polizeipräsidium in Köln versetzen lassen. Dort erlebte er das, was er sein persönliches Bitterfeld nannte: Bei einem Brand im Chemiepark Knapsack atmete er giftige Dämpfe ein und erlitt anschließend eine schwere Lungenentzündung, von der er sich nur langsam erholte. Als Folge war ihm das Asthma geblieben, ein sogenanntes Belastungsasthma, das ihm bei körperlicher Anstrengung Probleme machte. Nebel, kalte Luft und Wind sollte er meiden, doch bei Ermittlungsarbeiten konnte man dem nicht immer aus dem Weg gehen. Die Arbeit vor Ort, unmittelbar am Tatort, interessierte ihn ebenso wie die Kopfarbeit danach.
„Nach dem langen Wochenende schon was eraus jefunden heute?“
Franz Büderich, Wirt und Ehemann von Hanni, der Inhaberin und Köchin des nach ihr benannten Lokals, stellte ihm ein frisches Kölsch hin. Grübert nahm einen Schluck und wischte mit dem Handrücken über den Mund. Er schüttelte den Kopf.
„Nicht wirklich“, meinte er, „hab schon am Samstag das Kirchenbuch eingesehen, da gibt’s nur die Namen und die üblichen Daten. Leider ist der Wohnort nicht vermerkt, das würde die Suche vereinfachen.“
„Hambacher steht auf dem Grabstein, hab ich gehört? Also die gibt’s hier nicht und hats auch nie gegeben, das wüsste ich, das heißt, meine Omma, die weiß das, die ist jetzt neunzig und ganz klar im Kopp, die hat gesagt, kennt sie nicht.“
„Aber vielleicht“, mischte sich Grüberts Thekennachbar ein, „weiß doch irjend einer hier im Dorf oder kann sich erinnern, wer dieser Viktor is, von dem der Nachname fehlt, dann könnte man doch auch Hambacher finden - oder?“ Er sah Grübert fragend an.
„Das ist schwierig, nur mit einem Vornamen. Ìch habe gedacht, das Kirchenbuch, gibt Auskunft, aber da ist nur das Geburtsjahr 1925 und daneben das Bestattungsdatum noch zu lesen, die untere rechte Ecke leider abgerissen, genau da, wo der Nachname gestanden hat. Futsch, beim Blättern wahrscheinlich ein- und dann abgerissen. Der Eintrag stammt von 1988, ist ja lange her. Wahrscheinlich ist dieser Viktor Hambachers Schwiegersohn. Seine Frau lebt noch. Oder auch nicht. Frage: Wo ist sie, und wer sind die beiden ausgegrabenen Leichen?“
Grübert dachte nach. Es gab zwei Wege herauszufinden, wie Hambachers auf den Woltersheimer Friedhof gelangt waren. Entweder über den Steinmetz, der den Grabstein verkauft hatte - vermutlich der schnellere Weg, oder die Einwohnermeldeämter der umliegenden Ort-Schaften durchforsten. Wobei der Erfolg durchaus ungewiss war, sie konnten ja auch weiter weg gelebt haben.
Er entschied sich für den Steinmetz.
Und hatte Glück. Der Steinmetzbetrieb Kribben war ein alteingesessenes Unternehmen und weitum im Kreisgebiet tätig. Ein Blick ins Archiv des Betriebs allerdings brachte wenig Erhellendes zutage. Eine Julia Vienna, wohnhaft in Woltersheim, hatte den Stein im Juni 1987 bestellt und bezahlt, bar bezahlt, wie bei der Zahlungsweise vermerkt war. Das sei eher unüblich, wunderte sich Meister Kribben, eine solche Summe trage man nicht mit sich herum.
„Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?“
„Na ja …“, Hans Kribben machte eine vage Handbewegung, „zum einen habe nicht ich den Stein verkauft sondern mein Vater; zum anderen habe ich diese Frau nur im Vorbeigehen gesehen“, er warf einen Blick auf das Archivblatt, „und das ist achtzehn Jahre her, ich war Mitte Zwanzig.“
„Wie alt war diese Julia Vienna, was schätzen Sie?“
„Schwer zu sagen. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Irgendwas zwischen Vierzig und Fünfzig vielleicht. Sie fiel mir auf wegen ihres Huts, so was sieht man im Dorf sonst nicht. Ein Herrenhut, breitrandig, erinnerte mich an einen Mafia-Film, den ich ein paar Tage zuvor gesehen hatte.“ Er lachte verlegen. „Schon ungewöhnlich, diese Frau.“
„Haarfarbe? Größe?“
„Haare? Ich erinnere mich nicht. Größe?“ Er zuckte mit den Schultern. „Normal, zwischen einssechzig und einssiebzig.“
Statt einer Aufklärung waren nun zusätzliche Fragen aufgetaucht: Wer war Julia Vienna, welche Verbindung gab es zu Hambacher? Auf dem Weg nach Hause machte er einen Umweg über den Friedhof. Die Grabstelle sah noch so aus, wie er sie verlassen hatte. Eine Grube, daneben der Grabstein, Erdhaufen, Absperrbänder, die Arbeitsgeräte waren entfernt worden. Ein trauriger Ort für das, was übrig bleibt von einem Leben. Vielleicht auch ein Tatort. Er kam ins Grübeln. Möglich aber auch, dass die Frauen anderswo getötet und dann hierher gebracht wurden. Warum hierher? Gab es eine Verbindung der Toten untereinander? Heilmann hatte am Vormittag mitgeteilt, die Arbeiten am Grab dürften noch nicht wieder aufgenommen werden, möglicherweise müssten noch DNA der Verstorbenen entnommen werden, um verwandtschaftliche Bezüge abzuklären.
Er beugte sich über den Grabstein und sah sich die Schriften genauer an. Maria, gestorben am 23.05.1987, Friedrich, gestorben am 23.05.1987. Beide an demselben Tag. Ein Verkehrsunfall? Er zog sein Handy aus der Hosentasche und machte ein Foto. Dann müsste Hambachers Adresse im Unfallarchiv zu finden sein. Damit wäre er einen Schritt weiter und würde auch deren Nachkommen finden. Vielleicht gab es außer der Tochter, für die wohl der noch unbelegte Platz im Grab bestimmt war, noch weitere Kinder.
Er wollte sich wieder aufrichten, doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Dicht neben dem Stein, halb darunter, lag etwas. Er hob es auf und wischte die Erde ab. Ein Ring, breit und ziemlich schwer für so ein kleines Teil, gold- und silberfarbene Elemente in unregelmäßigem Wechsel. Sollte ein Friedhofsbesucher ihn verloren haben? Unwahrscheinlich, er hatte ja noch halb unter dem Stein gelegen. Eher zutreffend, dass er in dem Gemisch von Erde und Knochen nicht bemerkt worden war und beim Abtransport der sterblichen Überreste verloren wurde. Sträfliche Nachlässigkeit! Welcher Leiche war er zuzuordnen? Vorsorglich steckte er ihn in eines der Plastiktütchen, die er immer dabei hatte und verstaute es in der Hosentasche. Morgen würde er es in der Asservatenkammer deponieren.
Er fischte seine Wollmütze aus der Manteltasche und schob sie über die Ohren. Der Wind tat ihm nicht gut, und von einem auf den anderen Tag wurde es kälter. Morgen würde er sich endlich einen Termin bei Dr. Drielich geben lassen.
Beim Aufschließen der Wohnungstür kam ihm Leonie entgegen. Leonie lebte seit acht Jahren bei ihm, seit seiner Scheidung. Sie war intelligent, konnte Türen öffnen und hatte ein Fell wie ein Leopard, braungold gefleckt. Seine Bengalin, seine Tigerkatze. Sie war einfach eine Schönheit. Und ein bisschen Schönheit, die brauchte er. Allein schon deshalb, weil es Schönheit in seinem Beruf nicht gab. Sofern man von dem absah, was man ein schönes Ergebnis nennt: die erfolgreiche Aufklärung eines Deliktes. Daran würde er morgen weiter arbeiten.
Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, goss Milch in ein Schälchen, öffnete eine Dose mit getreidefreiem Katzenfutter. Fleisch gab es nicht alle Tage. Er nahm es sehr genau mit der richtigen Ernährung für Leonie; er hatte sie aus einem Tierheim „befreit“, wie er sagte, einige Jahre, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte. Was auch eine Art von Befreiung gewesen war. Ein Zusammenleben hatte es schon lange nicht mehr gegeben; seit seiner Erkrankung nach dem Chemieunfall hatten sich ihre latent vorhandenen Ängste allgemeiner Art in eine generalisierte Angststörung gesteigert, und da gab es nur noch die Entscheidung zur Trennung.
Beim Abendessen auf der Couch vor dem Fernseher, ein Kölsch und Schwarzbrot mit Matjes vor sich, die Katze neben ihm sitzend, Pfote neben Pfote, fiel ihm der Ring wieder ein. Er holte das Tütchen aus der Hosentasche und betrachtete seinen Fund. Ein schönes Stück!
„Schau Leonie, was hältst du davon?“
Er setzte sich wieder auf die Couch. Auf der flachen Hand präsentierte er der Katze das Schmuckstück. Leonie schnupperte daran, dann fuhr sie mit der Pfote tastend über das Tütchen.
„Was sagt dir der Fundort dieses kostbaren Stücks in einem Grab, in dem zwei Frauen verscharrt wurden? Was sagt es dir über den oder die Täter? − Na?“
Leonie duckte sich unter die erhobene Hand und streckte sich auf seinem Schoß aus. Er legte das Tütchen samt Ring auf den Tisch und machte ein Handyfoto. „Es sagt dir, dass unser Täter kein Raubmörder war.“ Der Mord war nicht geplant, der Täter hatte im Affekt gehandelt. Und es musste schnell gehen, sonst hätte er die Leichen tiefer unter die Erde gebracht. Möglicherweise war die Grabstelle Hambacher schon für eine Beerdigung vorbereitet gewesen. Für die Frau dieses unbekannten Viktor?
Leonie, die Augen zu einem schmalen Schlitz geschlossen, wärmte seine Oberschenkel und schnurrte wohlig, während seine Hand ihre Ohren kraulte.
Heute hatte er einen dienstfreien Tag vor sich und ließ sich mehr Zeit. Zudem lag eine schlechte Nacht hinter ihm!!!!! Bei jedem Aufwachen waren ihm sofort die Geschehnisse vom Vortag ins Hirn gestiegen. Der Blick in den Spiegel zeigte ihm müde Schatten unter den Au- gen, das Blau der Iris schien gedämpft.Vielleicht ganz normal für einen Mittfünfziger, dachte er und fuhr mit der Rechten durch die Haare. Dicht und grau, das gefiel ihm. Mit zwei Fingern prüfte er seinen Dreitagebart, heute konnte er sich das Trimmen sparen.
Noch im Bademantel rief er in der Gerichtsmedizin an. Seine Vermutung wurde bestätigt: Bei den Skeletten handele es sich um zwei Frauen, die eine gestorben im Alter von circa fünfzig Jahren, die andere war zum Zeitpunkt ihres Todes Mitte zwanzig. Die DNA zeige keinerlei Übereinstimmung; beide hatten seit annähernd zwanzig Jahren in der Erde gelegen, und beide Schädel wiesen eine Kalottenfraktur auf.
Die Frauen waren also zweifellos gewaltsam zu Tode gekommen, wahrscheinlich in kurzem zeitlichem Abstand. Das bestätigt meine Vermutung, dachte er, während er fürs Frühstück Haferflocken in einem halben Liter Milch kippte, der zeitliche Abstand musste äußerst gering gewesen sein, das Risiko der Entdeckung war sehr hoch. Ein Wunder, dass es erst jetzt passiert war. Wie hatte das Grab ausgesehen, bevor der Bagger in Tätigkeit getreten war?
Leonie strich um seine Beine und unterbrach seine Überlegungen. Er hob sie hoch und klemmte sie unter seine Achsel, ging in die Küche und füllte Fressnapf und Milchschälchen. Amüsiert sah er zu, wie sie sich darüber hermachte. „Du hast es gut hier drin“, meinte er beim Blick auf den trüben Himmel jenseits der Scheiben.
Sein Handy klingelte, Heilmann war dran.
„Ich halte es für äußerst wichtig, dass die Ermittlungen zügig vorangetrieben werden − jaja, ich weiß, dass Sie einen dienstfreien Tag haben, Herr Kollege“, wiegelte er einen möglichen Einwand ab, „aber eventuell könnte der Kollege Stadlhuber zusätzlich auf den Fall angesetzt werden.“
„Der hat genug mit der Drogenszene zu tun“, unterbrach Grübert, „und außerdem ist da ja auch noch der Krassinger, den setze ich auf die Recherche an.“
„Schön und gut“, lenkte Heilmann ein, „aber sollten in den nächsten Tagen keine Ergebnisse wenigstens im Ansatz vorliegen, ist ein DNA-Abgleich der getöteten Frauen mit Hambacher nötig, was ich natürlich lieber vermeiden will. Nach so langer Zeit ist es äußerst schwierig, die Identität der Frauen festzustellen; möglicherweise kann eine Rekonstruktion der Schädel zielführend sein.“
Er klang bedeutend. Grübert sah ihn vor sich, den kleinen Heilmann, in Uniform an seinem überdimensionierten Schreibtisch sitzend, weit zurückgelehnt mit großer Gestik telefonierend. Ein Entscheider!
„Ich nehme an, dass eine Rekonstruktion in jedem Fall nötig ist“, gab Grübert zu bedenken. „Am besten sofort veranlassen. Wenn wir Zeugen finden wollen, die die Frauen gekannt haben, müssen wir doch wissen, wie sie ausgesehen haben.“
Das würde dauern, fürchtete er, zwei Wochen mindestens. Und Stadlhuber? Kam überhaupt nicht in Frage! Dieser eingebildete Macho! Stänkerer! Besserwisser! Nach dem Wechsel von Köln nach Woltersheim hatte Grübert zunächst angenommen, zu einem Kollegen, der wie er auch aus dem süddeutschen Raum kam, schnell einen guten Kontakt zu finden. Das Gegenteil war der Fall. Heinrich Stadlhuber, fünf Jahre älter, entwickelte ein Konkurrenzverhalten, versuchte Fälle an sich zu ziehen, von denen er sich eine hohe Aufmerksamkeit in der Presse erhoffte. Und deren spektakuläre Auflösung ihm einen weiteren Stern auf der Schulterklappe einbringen und damit zu Heilmanns Nachfolger machen könnte. Wie sollte man mit so einem umgehen? Abperlen lassen, nicht beachten, solange er nicht in irgendeiner Weise die Arbeit behinderte. Sollte es tatsächlich so kommen, wäre eine neuerliche Versetzung fällig.
Er grunzte und entschied sich für das Nächstliegende. Sollten Hambachers bei einem Verkehrsunfall umgekommen sein, gab es vielleicht einen Zeitungsbericht im Internet.
Und tatsächlich fand er unter dem Sterbedatum einen Bericht des Stern, betitelt „Schwarzer Freitag“.
Am 23.05.1987 rasten wegen überhöhter Geschwindigkeit und mangelndem Sicherheitsabstand bei Regen 182 Fahrzeuge ineinander. 92 Verletzte und zwei Tote waren zu beklagen. Die A9 nahe der Abfahrt Allershausen glich auf einer Länge von 9 Kilometern einem Schrottplatz.
Heureka! Sollten Maria und Friedrich die beiden Toten gewesen sein, dann mussten ihre Adressen im polizeilichen Unfallarchiv zu finden sein. Er rief Krassinger an, das war Recherchearbeit für den Auszubildenden. Der weil würde er sein Frühstück mit der Zeitungslektüre in Ruhe zu Ende bringen.
Krassingers Rückruf kam gegen elf Uhr: Maria und Friedrich Hambacher, wohnhaft zum Todeszeitpunkt in der Seniorenresidenz Beethoven in der Herderstraße 71, Bonn-Bad Godesberg.
„Gut, Benno. Am Nachmittag fahren wir hin.“
So weit, so gut. Er sah auf seine Uhr: Elf Uhr dreißig, noch Praxiszeit bei Dr. Drielich.. Er rief an. Ein Patient habe soeben abgesagt. Fabelhaft, dachte er, nach dem Arzttermin konnte er auf dem Rückweg dem Wohnstift einen Besuch abstatten, die Praxis lag unweit der Herderstraße.
So schnell, wie er gehofft hatte, ging es dann doch nicht.
Im Wartebereich der Gemeinschaftspraxis Drieling, Pneumologe/Altenberger, Urologe saßen zwei alte Frauen. Eine von ihnen, ihm gegenüber sitzend, graue Kräusellöckchen über der Stirn, unruhig und ständig in Bewegung mit Sucherei in ihrer Handtasche, mochte im Alter seiner Mutter sein. Die andere Patientin neben ihm studierte die Bildzeitung. Beim Umblättern sprang ihn eine Schlagzeile in blutigem Rot an:
GRAUSIGER FUND IN WOLTERSHEIM POLIZEI TAPPT IM DUNKELN
Er stieß die Luft durch die Zähne. Schreiberlinge! Nie in seinen vierunddreißig Jahren Dienstzeit hatte ihn interessiert, was in Zeitungen über die Arbeit der Polizei geschrieben wurde, mochte Heilmann sich aufregen oder bei Pressekonferenzen glänzen. Ihn interessierte allein die Aufklärung einer Tat, das Einkreisen des Täters, ihm nahe kommen in seinem Denken, in ihn hineinschlüpfen, kurz: ihn zu verstehen.
„Herr Grübert bitte.“ Die Lautsprecheranlage, er war dran.
Beim Betreten des Sprechzimmers begrüßte Dr. Drielich ihn, hinter seinem Schreibtisch sitzend, mit vor der Brust gefalteten Händen und einem leichten Kopfnicken. Er kannte Grübert schon seit dessen Chemieunfall und hatte ihn bei der nachfolgenden Lungenentzündung betreut. Grübert lächelte und erwiderte den Gruß in der gleichen Weise.
„Immer noch das alte Leiden“, sagte er und setzte sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl vor dem Schreibtisch, „vielleicht brauche ich ein anderes Medikament.“
Die üblichen Untersuchungen einschließlich eines Lungenfunktionstests wurden durchgeführt, ließen aber keinen veränderten Befund erkennen. Mit seinem Asthma bronchiale musste er leben. Für den Fall einer besonders hohen Belastung mit Atemnot in Stresssituationen verschrieb Dr. Drielich ein Asthmaspray. „Auch hilfreich“, meinte er, „wenn Sie je eine Allergie gegen Katzenhaare entwickeln sollten.“ Grübert bezweifelte, dass er sich in einem solchen Fall von Leonie trennen würde.
Kurz nach eins verließ er die Praxis. Der Himmel war milchig und die Luft roch nach Schnee. Mittagszeit. Er rief im Büro an und fragte nach Krassinger. Der sei nicht da, sagte Frau Clasen, Heilmanns Sekretärin, er sei bei einem Einsatz mit den Kollegen Gangel, Klopp und Stadlhuber: Durchsuchung einer Wohnung am Klütschpfad wegen des Verdachts auf Drogenhandel.
Aha. Stadlhuber und sein Drogenfall, mit dem er sich zu profilieren gedachte! Dem würde er Bescheid stoßen! Ihm den Krassinger weg zu schnappen! Der war wohl zur Polizei gegangen in der Hoffnung, ein James Bond zu werden, Ballerei und kugelsichere Westen und spektakuläre Razzien. Das war ihm natürlich aufregender erschienen als eine Befragung im Altersheim. Dabei wusste die gesamte Presse, dass Razzien nicht mehr abschreckend wirkten in der Szene. Überall, selbst in den kleinsten Dörfern, wurden Drogenlager eingerichtet, um das Risiko von Entdeckung und die Höhe des Strafmaßes zu minimieren. Nun also auch in Woltersheim.
Sein Magen meldete sich. Er stieg ins Auto und führ in die Herderstraße. Vielleicht gab es im Wohnstift ein Bistro für eilige Gäste.
Schon der Eingang zur Residenz überraschte ihn: Hinter der Taxushecke, die den Parkplatz vom Eingangsbereich abschirmte, eine breite Treppe mit bequem flachen Stufen, großes Portal unter einem kubistisch gestalteten Vordach, dahinter das helle Foyer, viel Glas, viel Licht und eine freundliche Dame am Empfang.
„Da muss ich ins Archiv“, meinte sie, nachdem er seinen Ausweis gezeigt und um Auskunft gebeten hatte, „die Namen der Angehörigen von Herrn und Frau Hambacher möchten Sie wissen? Und gestorben sind sie im Mai 1987? Das kann eine Weile dauern. Wenn Sie derweil etwas trinken möchten“, sie wies in den hinteren Bereich des Foyers, „im Wintergarten gibt's ein Café.“
Das war nun fast luxuriös, der Blick in den Garten jenseits der raumhohen Scheiben ein Foto wert. Inmitten eines parkähnlichen Gartens ein an das Haus angebauter Glaspavillon. Die teure Schlichtheit der Tische und Stühle und der wenigen, farbige Akzente setzenden Bilder ließen auf Bewohner schließen, die eine solche Ausstattung zu schätzen wussten und bezahlen konnten. Hambachers mussten über ein gewisses Vermögen verfügt haben.
Die Speisekarte bot außer Kuchen und Eisspezialitäten eine Auswahl an Gerichten für den kleinen Hunger. Er wählte ein Flammküchlein mit Salatbeilage und hoffte, es werde nicht allzu niedlich ausfallen.
Während er wartete, sah er sich um. Zwei Tische weiter ein Paar − er schätzte in den hohen Siebzigern − in angeter Unterhaltung über ein Papier gebeugt, sie mit Perlensteckern im Ohr und weißer Bluse unter blauem Blazer, er in sandfarbenem Sakko mit offenem Hemdkragen. Ihm gegenüber an einem Nischentisch neben der Theke eine alte und eine jüngere Dame, Mutter und Tochter vielleicht. Die Tür zum Garten wurde geöffnet und ein älterer Mann trat ein, groß gewachsen und bemerkenswert gut aussehend. Er sah sich um, die ältere der beiden Damen hob die Hand und winkte ihm zu, worauf er den Gruß erwiderte und zu ihrem Tisch strebte. „Meinen Glückwunsch zum fünfund …“, hörte Grübert sie sagen, der Rest des Satzes ging im Tellerklappern unter, mit dem ihm gerade sein Flammküchlein serviert wurde. Das dann sehr gut schmeckte, aber doch eher etwas für den hohlen Zahn war.
Die freundliche Dame am Empfang erwartete ihn schon.
„Ich bin fündig geworden“, sagte sie und reichte ihm einen Ausdruck, „Hambachers hatten eine Tochter Brunhild, wohnhaft in Mönchengladbach. Ob die Adresse noch zutrifft, steht dahin.“
Grübert warf einen flüchtigen Blick auf das Papier, steckte es in die Innentasche seines Mantels und tippte grüßend an die Stirn: „Danke, Frau …?”, er schaute fragend. Siebenborn, war die Antwort − „das hilft weiter, Frau Siebenborn.“
Draußen segelten erste zarte Flocken durch die Luft. Er schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch und stieg ins Auto. Vor kurzem hatte er sich einen Oldtimer zugelegt, einen Miserati Coupé, viel Platz für seine langen Beine. Insgesamt ein kompaktes, eher vierschrötiges Fahrzeug, dessen Schönheit mehr in seinem Inneren lag. Er ließ sich in das Hellbraun des Lederpolsters fallen und nahm den Zettel zur Hand. Brunhild Glüsen geb. Hambacher, wohnhaft Saasfelder Weg 81 in Mönchengladbach. Eine unter diesem Namen registrierte Telefonnummer gab es nicht, wie ihm sein Smartphone mitteilte. Wäre wohl auch zu einfach gewesen. Sollte doch Krassinger das zuständige Einwohnermeldeamt nach der Adresse befragen, er hatte seinen dienstfreien Tag schon zur Hälfte mit Arbeit verbracht. Aber Krassinger war nicht im Büro und Frau Clasen, Heilmanns Sekretärin, versprach, ihm eine Notiz auf den Schreibtisch zu legen.
Er ließ den Motor an und wendete. Im Vorbeifahren erfasste sein Blick die repräsentative Außengestaltung der Residenz und eine junge Frau, die soeben die Stufen hochlief, vielleicht eine Besucherin. Seine Mutter fiel ihm ein, die er wieder einmal besuchen sollte. Silberdistel nannte sich das Wohnheim, in dem sie seit nunmehr zwei Jahren lebte. Hübscher Name, aber keine Residenz wie das Beethoven.
Er nahm die Ausfahrt nach Woltersheim, sechs Kilometer über die Felder. Die Flocken fielen nun dicht, wie aus dem Nirgendwo, kein Oben, kein Unten, nur wirbelndes, kreisendes, die Straßenränder verwischendes Gewimmel Zu früh, dieser Schneefall Anfang November, dachte er, in den letzten Jahren hatte es kaum Schnee gegeben. Ein barmherziges Leichentuch für einen Ort, an dem zwei Frauen ums Leben gekommen waren.
Er fröstelte. Eine heiße Gulaschsuppe täte ihm jetzt gut nach dem Happen von Flammküchlein am Mittag. Hannis Kochtopf lag am Weg.
Die Gaststätte war bis auf einen Gast leer. Piet stand an der Theke, ein Kölsch vor sich. Wie weit er mit seinen Nachforschungen gekommen sei, wollte er wissen, und wann die Grabstätte freigegeben werde.
„Sobald wir wissen, wer die ermordeten Frauen sind“, erwiderte Grübert, „wir arbeiten dran.“
Er wollte nicht detailliert auf die Frage eingehen, bestellte eine Gulaschsuppe und verzog sich an einen Tisch am Fenster. Die Frage, die er sich beim Frühstück gestellt hatte, fiel ihm wieder ein.
„Piet!“ Er stand auf und ging zurück zur Theke. „Wie sah das Grab aus, bevor ihr angefangen habt, es abzuräumen? Nur Bepflanzung?“
„Nee, 'ne große Marmorplatte mit 'nem Pflanzenrondell in der Mitte, die hat Kribben schon am Tag vorher abtransportiert.“
„Machte das Grab einen gepflegten Eindruck?“
„Weiß nicht so recht. Sagen wir mal, es sah ordentlich aus. Keine frischen Blumen, Heidekraut im Rondell, das hält sich ja.“
Franz Büderich erschien mit der dampfenden Suppe, und Grübert nahm sie gleich in Empfang. Beim Löffeln legte er die Planung für den nächsten Tag fest: Kribben noch einmal wegen der Platte befragen und mit der Gärtnerei wegen eines möglichen Auftrags für die Grapflege telefonieren – Arbeit für Krassinger. Hoffentlich hatte der inzwischen Adresse und Telefon von dieser ... er griff nach dem Zettel in seiner Brusttasche – ach ja, Glüsen, Brunhild Glüsen, herausgefunden.
Am nächsten Morgen war er schon sehr früh im Büro. Gangel saß an seinem Platz, einem Doppelschreibtisch, den er sich mit Stadlhuber teilte.
„Na, habt ihr sie gestern geschnappt, die Dealer?“
„Fast.“ Gangel hieb weiter auf die Tastatur seines Computers ein, als gelte es, einen Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen.
„Also nicht“, stellte Grübert fest.
„Aber wir haben massenhaft Drogen sicher gestellt“, gab der andere an ohne aufzusehen.
„Krassinger war ja erstmalig dabei. Hat er gute Figur gemacht?“
„Der Stadlhuber wollte ihn unbedingt dabei haben, er sollte lernen, wie so was abläuft.“
Grübert stieß die Luft durch die Lippen. Stadlhuber! Wo war der überhaupt? Offensichtlich hatte er Gangel abkommandiert, den Bericht zu schreiben. Auf seinem Schreibtisch fand er Krassingers Notitz vor: Brunhild und Viktor (!) Glüsen, Volksgartenstraße 95, 41065 Mönchengladbach-Waldhausen, Telefonnummer 02166-8265398.
Er stand wie vom Donner gerührt. Viktor, von Krasger mit Rufzeichen etikettiert, der Mann aus dem Vierergrab, der Schwiegersohn? Ein Stück näher an der Aufklärung? Er griff zum Hörer.
Frau Glüsen sei nach dem Tod ihres Mannes ausgezogen, erklärte eine jung klingende Frauenstimme, sie lebe inzwischen im Seniorenheim im Ludwig-Weber-Haus in der Ehrenstraße. Wann ungefähr Herr Glüsen verstorben sei, wollte Grübert wissen. „Vor ungefähr zwei Jahren“, war die Antwort, „wir sind die Nachmieter und wohnen hier seit einem Jahr.“
Irgendetwas stimmte nicht an dieser Antwort. Viktor lag seit mehr als fünfzehn Jahren auf dem Friedhof. Ein weiterer Besuch in einem Seniorenheim stand also an. Er griff zu Schal und Mantel und tastete nach dem Autoschlüssel in der Tasche. Gott sei Dank waren die Straßen über Nacht wieder schneefrei geworden.
„Danke für die Notiz!“, rief er Krassinger zu, der soeben eintrat, „bin am Nachmittag zurück. Du kannst inzwischen bei Kribben nachfragen, wer die Marmorplatte für das Grab ausgesucht hat und in der Friedhofsgärtnerei, ob es einen Auftrag für die Pflege gibt.“ Er wandte sich zum Gehen. „Eigentlich …“, er drehte sich wieder um, „kann das bis heute Nachmittag warten. Komm mit, wir fahren zusammen dahin. Ich möchte mir das Grab von Glüsen ansehen.“
Draußen strebte Krassinger zum Dienstfahrzeug. Grübert blieb stehen und packte ihn am Ärmel.
„Sag mal, was hast du dir denn dabei gedacht?! Razzia mit Stadlhuber! Gestern solltest du mit mir zur Recherche nach Bad Godesberg!“
Krassinger wirkte verlegen. „Der hat mich quasi abkommandiert, aber …“
„… aber das kam dir sicher ganz gelegen, hast gedacht, das gibt ordentlich action.“
„Naja, ist was dran, Chef, hat mich schon interessiert, die Razzia“, lenkte Krassinger ein.
„Du hättest ablehnen können mit Verweis auf meine Planung.“ Er ließ den Ärmel los und setzte sich wieder in Bewegung. „Also? Alles klar für die Zukunft?“
Krassinger nickte.
Grübert zeigte auf den Maserati. „Hier, Benno“, sagte er und warf ihm seinen Autoschlüssel zu, „kannst fahren, wenn du willst.“
„Aber Chef!“ Benno Krassinger machte Augen. „Das ist Ihrer? Hab mich schon gefragt, wem der gehört. So`n Auto! Ist ja `ne Wucht! N` Oldtimer. Von wann?“
„1989.“
„Der hat Charakter, muss ich schon sagen, oben rum rot, unten schwarz, und die Felgen ….“, er lachte, „silberne Scheiben mit fünf Löchern in der Mitte, sehen aus wie riesige Hemdenknöpfe.“
„Charakter eben. Nun fahr` schon los.“
„Was hat er denn so drauf?“
„Mäßige zweihundertzwanzig. Die ich noch nicht ausprobiert habe. Und du solltest auch nicht.“
Krassinger ließ den Motor an.
„Toller Sound“, lobte er und legte den Gang ein.
„Lass dich nicht verführen! Das ist kein Toyota 2000 und du bist nicht James Bond. À propos: Wie war denn die Durchsuchung am Klütschpfad? Aufregend?“
„Mäßig. Keiner da. Die haben Wind gekriegt und sind ausgeflogen. Wir mussten die Tür aufbrechen. Im Spülkastenhaben wir fünf Tütchen gefunden. Mageres Ergebnis.“
Grübert grinste.„Vonwegen massenhaft, wie Gangel sagt. Tiefschlag für Stadlhuber?“
„Schätze ja.“
„Wird Zeit, dass der runterkommt von seinem Ego.“
Das Ludwig-Weber-Haus erwies sich als eine verwinkelte, dreistöckige Wohnanlage, gepflasterte Wege zwischen Rasenflächen und Blumenkübeln, Stahlbänke am Rand schmaler Pflanzbeete. Das Foyer war leer, an der Rezeption gab es statt des Empfangspersonals einen Klingelknopf. Der schrille Ton zeigte Wirkung. Eine Dame unfinierbaren Alters erschien und entschuldigte sich wortreich, sie habe Hilfestellung …
Grübert unterbrach sie: „Schon gut. Mein Name ist Grübert und das ist mein Kollege Krassinger. Wir möchten Frau Glüsen sprechen.“
„In welcher Angelegenheit?“
„Wir ermitteln …“, er zückte seinen Ausweis, „in einem Leichenfund im Zusammenhang mit Frau Glüsens Familie.“
Die Dame riss kurz die Augen auf. Dann gab sie sich einen energischen Ruck. „Da muss ich Sie begleiten. Frau Glüsen reagiert auf neue und fremde Gesichter verstört, sie wird Ihnen nicht antworten wollen beziehungsweise können. Wenn ich dabei bin, ist sie vielleicht entspannter.“ Sie drückte ein paar Tasten an der Hausrufanlage. „Ich klingle kurz durch, dann fahren wir hoch.“
Im dritten Stock lange, braun geflieste Flure, braune Türen, an den hellen Wänden sparsam gesetzte Blumenbilder. Am Ende des Flurs eine offene Tür, eine weißhaarige Frau mit Gehstock im Türrahmen, helle, wässrige Augen in einem runden Gesicht. „Da sind sie ja, Frau Zechel.“ Ein flackernder Blick zu den beiden Männern.
„Kommen Sie, Frau Glüsen, wir gehen hinein.“ Mit einem Wink in Grüberts Richtung: „Das ist Herr Grübert und sein Kollege, die Herren möchten Sie etwas fragen.“
Drinnen, in einer Mischung aus Gelsenkirchener Barock und Chippendale ― Grübert streifte eine Erinnerung an seine Kindheit im Haus der Großeltern – nahmen sie Platz auf zierlichen Stühlen. Um eine vertrauensvolle Atmosphäre bemüht stellte Grübert zunächst einleitende Fragen, ob sie sich im Heim wohl fühle, ob sie Freundschaften pflege, sicher vermisse sie ihren Mann, worauf sie ihm gleich ins Wort fiel, der sei im Krankenhaus, werde aber bald entlassen. Worauf wiederum Frau Zechel mit sanfter Stimme ermahnte: „Aber Frau Glüsen, wir haben uns gestern doch noch erinnert, dass er im Krankenhaus von uns gegangen ist.“
Frau Glüsen senkte den Kopf und bewegte ihn hin und her.
Grübert: „An welcher Krankheit ist er denn gestorben? Wann?“
Keine Reaktion.
„Sie hat es verdrängt“, sagte Frau Zechel. „Ihr Mann ist vor zwei Jahren an einem Schlaganfall verstorben, das hat sie nicht verkraftet. Zunächst hat ihre Tochter sich um sie gekümmert, aber dann ging das nicht mehr, und so ist sie im vergangenen Jahr hier eingezogen.“
„Wissen Sie, auf welchem Friedhof Herr Glüsen beigesetzt wurde? Ich möchte mir das Grab ansehen.“
„Oh, leider nicht, und Frau Glüsen brauchen Sie gar nicht erst zu fragen.“
„Aber für unsere Ermittlungen wäre es schon wichtig zu sehen, wo er begraben liegt”, warf Krassinger ein, „und …”
„Fragen Sie ihre Tochter. Ich werde Sie gleich vom Empfang aus mit ihr verbinden.“ Und etwas leiser, während sie aufstand: „Sie ist nicht sehr zugänglich, diese Barbara.”
Bei der Verabschiedung sah Frau Glüsen kurz auf, ein Blick, der durch alle hindurchging, ohne jemanden wahrzunehmen.
Frau Zechel hatte Recht gehabt. Ohne ihre Vermittlung hätte Grübert auf telefonischem Weg kaum erfahren, was er wissen wollte. Er versuchte, die Angelegenheit, in der er ermittelte, so sachlich wie möglich darzustellen: In dem Grab ihrer Großeltern in Woltersheim sei eine dritte Person mit dem Vornamen Viktor beerdigt, der Nachname sei verwittert und auch dem Kirchenbuch nicht mehr zu entnehmen. Er suche nach …
Er kam nicht weiter. „Ja und?“, kam die unwirsche Antwort, „mein Vater ist da nicht, der liegt auf dem Friedhof an der Viersener Straße gleich neben der Kapelle, davon können Sie sich selbst überzeugen.“ Damit war das Gespräch beendet. Grübert hob bedauernd die Schultern, Krassinger notierte die Telefonnummer, beide bedankten sich bei Frau Zechel und gingen.
Das Grab hinter der Kapelle, ein Doppelgrab mit einem Grabstein in schwarz glänzendem Marmor, war schnell gefunden, in golden eingravierten Buchstaben die Inschrift In Liebe und Dankbarkeit, darunter Victor Glüsen geb. 1935 − gest. 2003.
Grübert las zweimal.
„Siehst du, was, Benno? Victor mit c, der andere in Woltersheim schreibt sich mit k, in dieser Familie gibt`s also Viktor im Doppelpack.“
Eine Erkenntnis, die nun doch den persönlichen Besuch bei Barbara Glüsen zwingend notwendig machte. Sie war vermutlich die einzige, die sich an ihre Großeltern erinnern konnte und vielleicht auch an den WoltersheiViktor.
Barbara reagierte erwartungsgemäß ablehnend; erst nachdem Grübert den Leichenfund im Grab erwähnt und sie als die einzige Person, die Licht ins Dunkel bringen könne, angesprochen hatte, war sie bereit, sich zu lassen. Seine Kalkulation, ihr eine wichtige Rolle in einer polizeilichen Ermittlung zuzuschreiben, könne für diese kühle Person attraktiv sein, war aufgegangen.
Eine hoch gewachsene, hagere Frau öffnete die Tür, Mitte bis Ende Vierzig, schätzte er, sehr kurze und sehr schwarze Haare, fast männlich wirkend, bleiches Gesicht, dunkle Kleidung. Er nannte seinen Namen, Krassinger den seinen, sie nickte stumm und ging voran in das hinter dem schmalen Flur gelegene Wohnzimmer. Es roch nach Staub und Bohnerwachs. Sie wies auf zwei Sessel, sie setzten sich. Barbara Glüsen nahm gegenüber auf einer Couch Platz, deren eine Hälfte unter einer bunten Decke verschwand. Sie saß da, in ihrem grauen Pullover über der schwarzen Jeans, mit ihrem bleichen schmalen Gesicht und den viel zu schwarzen Haaren. Eingerahmt von der farbenfrohen Häkeldecke zwischen Cocktailsesseln und Nierentisch und weißen Gardinen mit Seitenschals, wirkte sie fehl an diesem Platz.
„Was wollen Sie wissen?“ Sie legte die Handflächen auf die Knie und sah ihn an.
„Tja, eine mysteriöse Angelegenheit“, begann Grübert. In knapper Form schilderte er den Ablauf und den momentanen Stand der Ermittlungen bis hin zu der Frage, die ihn hierher gebracht hatte.
„Wer ist dieser Mann im Grab Ihrer Großeltern, der auch Viktor heißt, und für wen ist der vierte Platz bestimmt? Und wo ist diese Person jetzt? Welche Beziehung hatten Ihre Großeltern zu Woltersheim und wo haben sie gelebt, bevor sie in die Seniorenresidenz Beethoven gezogen sind? Viele Fragen, ja. Aber nur über Hambacher lernen wir das Umfeld kennen, aus dem der Täter stammt.“
Barbara Glüsen räusperte sich. „Das Umfeld“, meinte sie, „kenne ich nur, soweit es sich auf meine eigene Familie bezieht und natürlich auf die Großeltern. Zu den Geschwistern meiner Mutter hatte ich keine Beziehung, Tante Juliane wurde totgeschwiegen und Onkel Klaus habe ich als Kind nur ein paar mal gesehen, er war Notar und lebt jetzt schon lange im Ausland − wenn er noch lebt. Beide sind etwas jünger als meine Mutter. Und mein Vater hatte keine Geschwister.“
„Freunde?“
„Ja, schon, vorwiegend aus dem beruflichen Umfeld meines Vaters, er arbeitete als Amtmann bei der Stadt. Meine Mutter hat ein paar Jahre als Kindergärtnerin gearbeitet, den Beruf aber nach meiner Geburt aufgegeben.“
„Eine konservativ geprägte Familie.“
„Das kann man so sagen. Meine Mutter wurde sehr katholisch erzogen, so eine wie Tante Juliane hatte es da schwer.“
Grübert zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Ich weiß nur, dass sie ihr BWL-Studium in Köln von heute auf morgen hingeschmissen hat, nachdem sie einen Typen kennen gelernt hatte, einen Künstler oder einen, der erst noch einer werden wollte, und dass sie dann zuhause ausgezogen ist und ein Kunststudium angefangen hat. Opa Friedrich hat daraufhin alle Zahlungen, das Studium betreffend, eingestellt.“
„Aber Ihre Tante hat durchgehalten?“, warf Krassinger ein.
Barbara Glüsen hob die Schultern. „Ich weiß das alles nur so, wie meine Eltern es mir erzählt haben. Über Juliane wurde damals nicht gesprochen, ihre Welt war wohl zu anders. Ich habe sie auch nur einmal gesehen, da war ich sechs Jahre alt, und wir, mein Vater und ich, waren in Köln im Kreishaus, wo er einen ehemaligen Kollegen aufgesucht hat. Wir sind an einem Schaufenster vorbeigekommen, und mein Vater sagte: Hier hat deine Tante Juliane ihre Galerie und hat auf zwei Leute gezeigt, die da standen und gesagt: Das ist sie.“
„Das ist interessant!“, meinte Grübert, „sie hatte also eine eigene Galerie?“
Krassinger beugte sich vor: „Welchen Eindruck hatten Sie? Wie sah sie aus?“
„Ich bitte Sie!“ Barbara Glüsen sah ihn empört an und schüttelte den Kopf. „Ich war sechs, ich sah eine fremde Frau, die meine Tante sein sollte. Mehr weiß ich nicht.“
Grübert: „Gibt es Fotos?“ „Möglicherweise. Wenn überhaupt, dann aus ihrer Kinder- und Jugendzeit. Ich muss meine Mutter fragen, ob sie alte Fotoalben bei ihrem Umzug ins Heim mitgenommen hat.“
„Auch ein Jugendfoto könnte eine Hilfe sein, die digitale Technik vermag so einiges.“ Er zog sein Notizbuch aus der Jacketttasche. „Was können sie mir über Ihre Großeltern sagen?“
„Nun …“, begann Barbara Glüsen und legte die Hände ineinander. Sie blickte zum Fenster und schwieg einen Moment. Dann gab sie sich einen Ruck. „Wie gesagt: Konservativ und streng. Opa Friedrich war Prokurist bei Ford in Köln, meine Großmutter arbeitete vor ihrer Heirat als medizinisch-technische Assistentin am St.Franziskus-Krankenhaus in Köln. Dort haben die beiden sich auch kennengelernt.“ Sie schwieg wieder.
„Eine gute Position hatte ihr Großvater also“, versuchte Grübert sie zum Weiterreden zu animieren. Mit einer Prokuristenrente konnte man sich eine Residenz wie das Beethoven leisten.
Barbara Glüsen holte Luft, dann stieß sie die angestaute Luft wieder aus und schüttelte fast unmerklich den Kopf.