Der Vorhang oder Das Stück ist nicht zu Ende, wenn der Vorhang fällt - Rohna Buehler - E-Book

Der Vorhang oder Das Stück ist nicht zu Ende, wenn der Vorhang fällt E-Book

Rohna Buehler

4,8

Beschreibung

Sofia, Anfang zwanzig, lebhaft, spontan und lebensfroh, heiratet gegen den Willen ihrer Adoptiveltern den fünfundzwanzig Jahre älteren Regisseur Stefan Berger und wird eine erfolgreiche Schauspielerin. Als Dreijährige unbekannter Herkunft adoptiert und von unerklärlichen Ängsten traumatisiert, sucht sie in allen Rollen nach der eigenen Identität. Sie verschweigt den vermeintlichen Makel ihrem Mann und verhindert die Erfüllung seines Kinderwunsches. Er verlässt sie. Nach dem Tod der Adoptiveltern findet sie Unterlagen über ihre Herkunft und entdeckt das schreckliche Geheimnis ... Ihr Kommentar: "Das Leben geht nicht geradeaus, es schlägt Haken, ebenso banal wie unglaublich."

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"Das Leben schlägt Haken, ebenso banal wie unglaublich."

(Zitat der Protagonistin)

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Sofia

Ina

Sofia

Ina

Sofia

Ina

Sofia

Ina

Sofia

Ina

Sofia

Ina

Teil II

Epilog

Martin

Teil I

Sofia

1. Tag

Freitag, 7. Juli 1972

"Können Sie die Augen aufmachen?"

Sie will ja sagen.

Aber sie kann nicht sprechen, sie kann auch nicht die Augen öffnen, taumelt in einem Gewitter von Lichtblitzen, ausgeliefert ihren Schlägen, wie Ohrfeigen prasseln sie auf sie ein, sie findet keinen Halt, bis sie schließlich auftaucht aus dem Ortlosen und weiß, wo sie ist. Und da ist auch der Schmerz, sie ist eingeschlossen in ihm, hört Stimmen wie unter einer Watteschicht, sie versteht nicht, was sie sagen, manchmal entfernen sie sich, kommen wieder näher, und sie kann immer noch nicht sprechen, ihr Leib brennt, wird von Händen gepackt, von links nach rechts gerollt, um die Mitte eingewickelt wie ein Gegenstand. Sie stöhnt, ihre Zunge will ihr nicht gehorchen. "Es tut weh", lallt sie. Eine Stimme über ihr sagt: "Die Operation ist gut verlaufen, wir werden Sie jetzt hinüber bringen." Ihr Körper wird hoch gehoben, wieder abgelegt, sie wird hinaus geschoben, irgendwo abgestellt. Jemand befingert ihren linken Handrücken. Eine Stimme über ihrem Gesicht sagt: "In der Infusion ist ein Schmerzmittel, Sie werden sich bald besser fühlen und schlafen können. Alles wird gut." Etwas wird über ihre Brust gelegt. "Hier ist die Klingel, wenn Sie mich brauchen, klingeln Sie." Schritte, die sich entfernen.

Wenn nur dieser Schmerz aufhört! Beweg dich nicht, lass die Augen zu, denk nicht an ihn, beobachte ihn nicht, er ist in deinem Körper, aber er gehört nicht zu dir, lass ihn nur zu, er wird schon gehen, wenn es soweit ist.

Sie stellt sich den Weg der Infusionsflüssigkeit vor, folgt ihr durch die Blutbahnen bis sie das Ziel erreicht, den Schmerz einkreist und ausmerzt. Dankbar überlässt sie sich der Dunkelheit des Schlafes.

*

Ina

Juli 1947

"Untersteh dich, das Licht anzumachen, Ina, du hast jetzt eine halbe Stunde Zeit zum Nachdenken."

Das Kind sitzt auf der obersten Stufe der Kellertreppe und wagt nicht, hinunter zu sehen. Die Mutter hat die Tür abgeschlossen, Ina hört ihrem schnellen Schritt auf den Steinfliesen hinterher. Sie umschlingt ihre Knie mit beiden Händen, legt den Kopf darauf und kneift die Augen zu. Niemand kann sie nun sehen, denn in ihr ist auch nichts zu sehen, nichts, vor dem sie Angst haben muss, alles ist so gleichmäßig schwarz, keine buckligen Schatten wie die da unten. Nur nicht bewegen! Sie werden sie sonst entdecken, zu ihr hinauf klettern, sie packen und mitnehmen. Sie bleibt ganz still sitzen. Einmal will sie aufstehen, um sich nach dem Lichtschalter zu recken, aber den hat die Mutter – die ist ja groß genug – immer selbst herumgedreht, wenn sie zusammen in den Keller gegangen waren, um ein Glas Kirschen herauf zu holen. Eins von denen, die die Oma im Sommer eingeweckt hatte, als es so heiß war und der Vater Wasser in die alte Badewanne im Garten hatte laufen lassen, weil sie mit Theo und Erika drin spielen wollte. Ab und zu war Theo heraus gestiegen und hatte ins Beet gepinkelt, Ina hatte gesehen, wie er es gemacht hatte, und als die Mutter oben aus dem Fenster geguckt hatte, war sie aus der Wanne hochgeschnellt, hatte das viel zu weite Stoffhöschen vorn zusammen gedreht und ausgewrungen, bis das Wasser in einem dünnen Strahl herauslief und gerufen: "Guck mal, ich kann auch wie der Theo!" Die Mutter war böse geworden und hatte befohlen, sofort herein zu kommen. Es gab nur ein Butterbrot zum Abendessen und dann ging's ab ins Bett!, obwohl es noch viel zu hell zum Schlafen war. Es war wohl nicht recht gewesen, den Theo nachzumachen. Es war auch nicht recht gewesen, sich aus dem Portemonnaie auf dem Küchentisch ein Geldstück zu nehmen und beim Eismann ein Schokoladeneis zu holen. Sonst hatte ihr die Mutter am Samstag immer eins gekauft. Aber heute war sie nicht da gewesen. Und den Vater durfte man nicht stören, wenn er am Schreibtisch saß. Der Schreibtisch war auch so etwas Dunkles, so etwas Großes und Dunkles. Aber nicht so dunkel wie der Keller. Unter dem Schreibtisch konnte man durchkriechen und sich zwischen den beiden Schubladenhälften verstecken. Im Keller verstecken war nicht so gut, die Tür musste offen bleiben, damit es wenigstens noch ein bisschen hell war. Hier unten konnte man es manchmal auch rascheln hören, das waren die Mäuse, die hatten ein schönes, weiches Fell, aber wenn sie in der Falle klemmten, war es ganz platt gedrückt. Es roch auch so komisch hier, so nach alter Luft, vielleicht kam das von den Kartoffeln, aus denen weiße Würmer heraus wuchsen, Mutter knipste sie einfach ab und machte Pellkartoffeln und davon dann Kartoffelsalat. Der schmeckte gut, besonders, wenn es dazu noch ...

Das Kind fuhr zusammen.

Da hatte sich doch etwas bewegt!

Es öffnete die Augen, ganz weit öffnete es sie, klammerte den Blick an den schmalen Streifen Helligkeit zwischen der geschwärzten, handbreit geöffneten Fensterscheibe und der Wand. Wenigstens ein bisschen hell war es da noch, sicher würde die Mutter gleich kommen und das Licht anmachen. Unten an der Wand glänzten die Brikettstapel. Erst in der letzten Woche hatten Männer die Kohlen mit ihren Schaufeln durch das Fenster in den Keller geworfen und sie aufgeschichtet. Ein schönes Muster war das, immer drei nebeneinander, mal so herum und dann wieder anders herum ...

Jetzt schrie das Kind auf, es hatte gekracht da unten, es rumpelte und klackerte, etwas klapperte hinterher.

Wieder Stille.

So still war es jetzt, dass es seinen eigenen Atem hörte, der ging so schnell und tat ihm weh in der Brust, und vor lauter Wehtun fühlte es kaum, dass da etwas war an seinem Bein, es war weich. Es miaute und rieb seinen Kopf an dem Bein. "Ach du bist es, Max", sagte es mit einer ganz hohen Stimme, so hoch, als ob es schon weinen wolle, "wo kommst du denn her?" Es schlang seine Arme um den großen Kater. Nun war es nicht mehr allein im Dunkeln.

Der Schlüssel knirschte im Schloss, die Tür knarrte, die Mutter stand da und drehte den Lichtschalter.

"Was ist denn da passiert!", rief sie über Inas Kopf hinweg, "wie konnte denn der ganze Stapel zusammenbrechen? Bist du da unten gewesen? "

"Ich sitz doch hier, die ganze Zeit sitz ich hier, und da ist der Max auf einmal da gewesen, als es so gekracht hat …"

"Komm jetzt", sagte die Mutter und zog das Kind hoch. "Hast du nachgedacht, Ina?"

"Ja", flüsterte das Kind, "ich muss immer erst fragen, wenn ich etwas haben möchte."

*

Sofia

2. Tag

Samstag, 8. Juli

Mitten in der Nacht wurde sie wach, fand sich nicht gleich zurecht im Dämmer des Krankenzimmers. Sie sah den Infusionsständer neben ihrem Bett, die baumelnde Flasche, ein ovaler Schatten vor dem blassen Viereck des Fensters hinter den geschlossenen Vorhängen, den dünnen Schlauch, der aus ihr heraushing, bevor er im Dunkel untertauchte. Ein Schalter glühte rot an der Wand im Eingang neben der Toilette, Tür und Decke schimmerten mattrosa in seinem Licht. Sie tastete nach der Klingel, stieß dabei an die Kanüle in ihrem linken Handrücken. Sie zuckte zusammen, ihre Bauchdecke spannte sich. Dieser scharfe Schmerz! Und alles war wieder da. Ihr Erschrecken über die Diagnose, die zuversichtlichen Worte des Arztes, die OP. Sie erinnerte sich an ihre Angst, die sie mit Ergebung ins Unvermeidliche hatte klein halten wollen, an die Narkoseärztin neben ihrem Transportbett. Über alle Flure und Aufzüge bis in den Operationssaal, die Hand beruhigend auf ihren Arm gelegt, war sie neben ihr hergegangen, während sie sich über Alltägliches unterhalten hatten, so, als müsse sie sich keine Sorgen über den Fortbestand des Alltäglichen machen. Auf dem Tisch in der Kälte des Operationssaales, dürftig bedeckt von dem dünnen OP-Hemd, hatte sie ein Zittern befallen, man legte ihr noch ein Tuch über, sie fühlte sich ausgeliefert, hingestreckt auf einem Opfertisch, ihr Körper den blinkenden Apparaturen dargeboten, ihren Skalen, Nadeln und Kurven. Gesichter hinter weißen Masken würden sich über sie beugen, scharfkantiges Werkzeug in latexumhüllten Händen, zielsicher unter grellem Licht. Für einen kurzen Moment hatte sie sich wie die Hauptdarstellerin in einem Theaterstück gefühlt, hatte versucht, in diese Vorstellung zu fliehen, sich abzulenken von der Wirklichkeit, von der Diagnose, die sie hierher gebracht hatte. Leiomyome seien gutartige Tumore der Organe mit glatter Muskulatur, vorwiegend des Uterus wie in ihrem Fall, hatte der Arzt ihr erklärt. Es gäbe auch die bösartige Variante der Leiomyosarkome, da komme fast immer jede OP zu spät, und da die Probeentnahme ein nicht unbedenkliches Zellwachstum gezeigt habe, empfehle er ihr die vorsorgliche Entfernung des Uterus. Ob sie noch Kinder wolle – er hatte einen Blick auf das Patientenblatt geworfen –, sie sei ja noch so jung. Sie hatte sich Bedenkzeit erbeten, um nicht wie eine karrieresüchtige Egoistin dazustehen. In Wirklichkeit hatte sie diese Zeit nur gebraucht, um abzuwägen zwischen ihrer momentanen Ablehnung und einem möglichen zukünftigen Kinderwunsch. Nie und nimmer aber um ein tödliches Risiko! Leben wollte sie! Ihr Leben, das eigentlich erst vor acht Jahren angefangen hatte.

Sie war noch einmal eingeschlafen, nachdem die Nachtschwester eine Beruhigungstablette mit einem Glas Wasser gebracht und ihre Schulter leicht angehoben hatte, damit sie trinken konnte, jede Anspannung der Bauchmuskulatur zerrte schmerzhaft an der Wundnaht. Das scheuernde Geräusch beim Zurückziehen der Vorhänge weckte sie. Es war noch früh, der Tag begann vor dem Fenster mit einem dunstiggrauen Himmel.

"Haben Sie noch ein wenig schlafen können, Frau Berger? Was machen die Schmerzen?" Schwester Beate, die sie zwei Tage zuvor in Empfang genommen hatte, zog die Blutdruckmanschette stramm.

"Wenn ich mich nicht bewege, erträglich, momentan ist es nur ein Druckgefühl, Aber lassen Sie mir auf jeden Fall eine Schmerztablette hier."

"Sie werden sich etwas bewegen müssen, schon wegen der Trombosegefahr. Heute Nachmittag vielleicht mal hinsetzen und die Beine aus dem Bett hängen lassen." Sie sah auf das Messgerät. "Das ist okay. Ich hänge Ihnen noch eine neue Infusion an, ein Schmerzmittel ist drin."

"Wann kann ich etwas essen?"

"Heute Abend dürfen sie etwas Kartoffelpüree zu sich nehmen, trinken können Sie, soviel Sie wollen."

Sie würde sich gedulden müssen. Mit dem Essen, mit dem Genesungsprozess, mit dem Leben, dem so jäh eine Zäsur gesetzt wurde.

Sie war sehr spät von der Probe nach Hause gekommen – sieben Wochen war es nun her –, erschöpft von der Anstrengung, die Angst im Zaum zu halten, die sie regelmäßig in der Anfangsszene des neuen Stückes überfiel. Nach der Probe hatte sie eine Ablenkung gebraucht, war noch mit den Kollegen ins Theatercafé gegangen, während Stefan gleich nach Hause strebte. Mehrfach hatte sie ihn gebeten, ihre Rolle mit Irma tauschen zu dürfen, die Clea sei doch eher ihr wie auf den Leib geschrieben – spontan, mutwillig, gefühlsbetont und ein kleines bisschen böse –, Irma habe nichts dagegen, die Carol zu übernehmen. Stefan war hart geblieben. Er liebe ihr komödiantisches Talent, mit dem sie der jungen, hübschen, sehr verwöhnten und sehr dummen Verlobten eines talentlosen Künstlers Facetten abgewinnen könne, die sie sogar in deren Höhere-Tochter-Gehabe liebenswert machten. Die berechnende Clea, die aus der Dunkelheit eine dramatische Situation entwickelt, sei hingegen bei Irma gut aufgehoben.

Sofia hatte gezögert, mehr von den Ängsten preiszugeben, die sie nun immer häufiger befielen. Sie verstand sie selbst nicht. Probleme machte ihr nicht die Rolle, sie liebte sie sogar, jedenfalls den weitaus überwiegenden Teil. Der Beginn der Komödie jedoch mit einer Szene auf stockdunkler Bühne war jedes Mal beklemmend, plötzliche Versagensängste, die nichts mit Lampenfieber gemein hatten. Für sie hatte es immer nur die freudige Erregung gegeben, ein fiebriges Warten auf den Moment, in dem sie in eine andere Haut schlüpfte, sie auslotete nach dem, was sie in ihr von sich selbst zu finden hoffte. Sie richtete sich ein in dieser Person, konnte sie kaum wieder loslassen. Oft erst dann, wenn sie sich wieder in eine neue Rolle begab, in die sie mit derselben, unerbittlichen Aufgabe ihrer eigenen Person hineinkroch. Bei dieser Komödie im Dunkeln war sie erst in ihrer Figur angekommen, wenn das Bühnenlicht aufleuchtete und alle Schauspieler so agierten, als sei es dunkel – eine witzige Umkehrung der Spielweisen im Hellen und im Dunklen. Bis dahin aber, bis sie im Licht so spielen durfte, als taste sie sich durch die Dunkelheit, fühlte sie die Angst wie einen Eisenring um ihre Brust, konnte sich kaum über die Bühne bewegen und musste doch Sicherheit zeigen, fürchtete, ihren Text nicht präsent zu haben, weil sie so sehr damit beschäftigt war, ihren Atem ruhig zu halten. Endlich dann die Umarmungsszene mit Harald, nur ein kurzer Dialog mit ihrem Bühnenverlobten, der im Dunkeln seine Hände weiter wandern ließ, als die Rolle forderte. Sie ließ ihn gewähren, war nur froh, einen Körperkontakt zu haben, der ihr die Einsamkeit in der Angst nahm. Danach lief alles wunderbar. Bis zur nächsten Probe. In der entspannten Atmosphäre des Cafés, bei einem Glas Rotwein, verschwanden die Ängste.

Beim Nachhausekommen sah sie noch Licht in Stefans Arbeitszimmer.

"Du bist noch auf?"

Er saß am Schreibtisch, den Kopf über ein Papier gebeugt.

"Da bist du ja endlich, Sofia!"

Er drehte sich um zu ihr, erhob sich, Vorwurf und Ungeduld in der Stimme, blieb stehen, die Hand auf der Stuhllehne.

"Ich muss mit dir reden.“

Er sah müde aus, wenn auch seltsam entschlossen in der Art, wie sich die dichten schwarzen Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammenzogen, so, als habe ihn der Entschluss Kraft gekostet. Oder war es Wut, die ihm zusetzte und ihn nicht länger auf einen günstigeren Zeitpunkt warten lassen wollte?

"Jetzt?" Ihr Blick ging zur Uhr. "Ist es so wichtig? Ich muss ins Bett."

"Jetzt, Sofia." Er setzte sich auf die Couch, ruhig jetzt, da er den Anfang gefunden hatte. "Komm, setz dich.“

Sie zögerte. In ihrer Müdigkeit hatte sie nicht die Kraft, sich seinem Wunsch zu widersetzen. Sie streifte den Mantel von der Schulter, ließ sich in den Sessel fallen, sah ihn an. Er wich ihrem Blick aus, sah geradeaus über ihren Kopf hinweg in die Nacht hinter der Fensterscheibe.

"In der nächsten Spielzeit werde ich nach Hamburg gehen, das Thalia hat mir einen Vertrag angeboten. Schon vor einem halben Jahr. Ich habe angenommen."

Sie war plötzlich hellwach, richtete sich kerzengerade auf.

"Das ist ja wunderbar! Warum erzählst du mir erst jetzt davon?" Sie warf den Kopf in den Nacken. "Mein Gott, welche Perspektiven!"

"Ich werde allein gehen, Sofia."

Stefan sah sie nun an, nachdrücklich, direkt.

Sie holte Luft, ihr Oberkörper richtete sich auf, als wolle sie etwas sagen, dann schüttelte sie den Kopf, starrte ihn an.

"Das kannst du nicht tun", sagte sie leise, "du kannst mich nicht allein lassen. Warum sagst du so etwas?"

Er griff in seine Hosentasche, warf wortlos eine Tablettenpackung auf den Tisch. Als wolle er die Reaktion in ihrem Gesicht nicht mit ansehen, stand er auf und ging zum Fenster, blickte hinaus, obwohl es außer der Finsternis da draußen nichts zu sehen gab. Die Scheibe spiegelte den Raum, ihren Schatten, über die Knie gebeugt, die Hände vors Gesicht geschlagen, fast verschwunden unter der Wolke ihrer Haare.

"Ich kann nicht", hörte er sie flüstern, "ich bin noch nicht so weit, lass mir Zeit."

Alle Zeit der Welt hatte er ihr gegeben, acht lange Jahre. Er hatte ihr zu dem verholfen, was sie nun war und immer hatte sein wollen – eine Schauspielerin, die keine Rollen darstellte sondern lebte, und es war fast beängstigend, darauf warten zu müssen, wann sie wieder sie selbst sein würde. Die einzige Rolle – das wusste er nun –, die sie nicht hatte annehmen wollen, war die einer Mutter, der Mutter seiner Kinder. Er war vernarrt gewesen in sie, schon fast sofort, als er sie kennen lernte, eine zwanzigjährige Musikstudentin, war fasziniert von ihrem schauspielerischen Temperament, der Spontaneität, mit der sie sich in die Figur der Krächze in John Ardens Stück Leben wie die Schweine hinein gefunden hatte. Kurzerhand hatte er sie für die erkrankte Greta Ganden eingesetzt, drei anderen Schauspielerinnen vorgezogen. Sofia konnte singen, hatte während ihrer Schul- und Studienzeit in einer Theatergruppe Erfahrung für die Bühne gesammelt. Aus der alten Krächze wurde eine junge, schrullige Person, eine verhinderte Diseuse, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihren Kommentar singend abgab. Sie machte aus der Nebenrolle eine Figur, die den Szenen etwas Kabarettistisches gab, auch eine Leichtigkeit, die dem sozialkritischen Engagement des Autors den pädagogischen Zeigefinger mit Lust verdarb. Das Stück hatte unerwarteten Zulauf, der Regisseur wurde in der Presse gelobt, seine Behandlung der Thematik als neu und originell gefeiert. Sofia blieb. Wurde seine Muse, bald schon seine Frau. Er, der Mittvierziger, mit einer jungen Frau! Endlich würde er eine Familie haben, Kinder, begabt mit der Fröhlichkeit und Lebenslust ihrer Mutter, für ihn mit neuen Aufgaben und Veränderung seines im Ernsthaften erstarrten Lebens. Er sehe verjüngt aus, hatten Freunde ihm schon wenige Monate nach der Hochzeit zugeflüstert, ob er Vaterfreuden entgegensehe. So wie sie, hoffte – ja, erwartete auch er, Sofia bald in einer Mutterrolle zu sehen. Er hatte vergeblich gehofft, Monat für Monat, Jahr für Jahr. An einem Tag vor acht Wochen war seine Hoffnung gestorben.

Auf der Suche nach seinem Script war er in die Künstlergarderobe gegangen, vielleicht hatte Sofia es versehentlich mit den eigenen Unterlagen gegriffen. Aber sie war nicht da, sei nur kurz hinausgegangen, erklärte Irma. Er schob Sofias Sachen auf ihrem Platz vor dem Garderobenspiegel hin und her, ein zusammengefalteter Zettel fiel auf den Boden, er hob ihn auf, hielt den Beipackzettel eines Verhütungsmittels in der Hand. Er warf nur einen kurzen Blick darauf – Irma schaute zu ihm herüber –, dann schob er ihn, während er so tat, als suche er immer noch, wieder zurück. Sofia kam herein, er sah sie lächeln, fühlte ihre Hand auf seinem Arm, hörte sie etwas sagen, er hatte nur ein Nicken für sie und ging hinaus. Bei der Probe war er sehr unkonzentriert, sein Script fehlte ihm, er improvisierte aus dem Gedächtnis, ständig belagert von irritierenden Vorstellungen. War das seine Frau da oben auf der Bühne, seine Sofia, die die Carol gab, hübsch, sexy und triebhaft? Die keine Kinder wollte, weil sie nicht in ihr Leben passten? Schließlich hatte er die Probe abgebrochen, starke Kopfschmerzen vorgeschützt. Zuhause hatte er in Sofias Abwesenheit nach dem Medikament gesucht. Ein paar Tage später hatte er es unter ihren Schminkutensilien in der Theatergarderobe gefunden.

*

Ina

März 1949

Es war Sonntag, und die Straße glänzte nach den starken Regenfällen der vergangenen Nacht. Zu fünft liefen sie durch das Dorf – Erika, Theo, Ina, Elisabeth, Maria vorneweg. Sie war die älteste und ging schon in die dritte Klasse.

"Ihr verschiebt das besser auf morgen, Ina", hatte die Mutter gesagt, "es ist zu nass, und im Unterdorf ist der Kanal übergelaufen, da kommt ihr gar nicht durch."

"Wir passen schon auf! Wir können auch nicht länger warten, am nächsten Sonntag wollen wir doch schon unser neues Stück spielen, Riese Döres heißt das."

"So, so, ein Riese. Und wer spielt den?"

"Die Maria, weil sie am größten ist, aber ich habe mir das Spiel ausgedacht. Guck mal!"

Ina öffnete die Klappe ihrer Kindergartentasche, holte mehrere Papierstreifen heraus und legte sie auf den Tisch. "Die habe ich alle ausgeschnitten aus der Kirchenzeitung, weil die Schrift so schön gedruckt ist. Da steht überall drauf, was man nicht tun darf, und wenn man es doch tut, dann kommt der Riese Döres hinter dir her und will dich kriegen, die Maria macht dann ganz hohe Schritte mit den Beinen, ganz lange und ganz hohe Schritte und brüllt und macht die Hände wie mit Krallen, dann muss die Erika schreien und ganz schnell weglaufen und sich überlegen, wie sie das wieder gutmacht, und dann kommt der Riese und lobt sie und sagt: Selig bist du, weil du den Armen dein Brot gegeben hast."

Die Mutter lachte. "Ein tolles Spiel! Und wo spielt ihr es?"

"Unten im Hof, und wir spielen auch noch das Stück vom wilden Wassermann und der schönen Lilofee, die bin ich."

"Die rotgoldenen Feenhaare dazu hast du jedenfalls", meinte die Mutter.

Ina war losgerannt, die Ermahnung der Mutter wegen des übergelaufenen Kanals hatte sie nicht beachtet, sogar die Papierstreifen auf dem Tisch liegen lassen, wichtig in ihrer Tasche waren nur die Zettel mit der Ankündigung der Theateraufführung. Alle Kinder im Dorf waren eingeladen, zehn Pfennig sollte der Eintritt kosten. Mit Heftzwecken drückten sie die bunt bemalten und beschrifteten Blätter an die Hoftore und Haustüren.

"Das ist nicht hoch genug, Ina", sagte Maria, "lass mich das machen, du bist noch zu klein, da muss sich ja jeder bücken, wenn er es lesen will."

"Ich bin nicht klein, ich habe das Spiel erfunden! Da steht es sogar geschrieben! Der Riese Döres – von Ina Schwarz."

"Ina ist gar kein richtiger Name."

"Doch!“

"Nein! Das ist nur ein kleines Stück von einem Namen."

"Ist es nicht!"

"Dann frag mal deinen Vater, der ist doch Lehrer und muss es wissen, ob du richtig Regina oder Martina oder Katharina heißt oder Josephina."

"Ist mir doch egal, ich heiße Ina, und das ist ein schöner Name."

Sie gingen weiter, da waren noch Zettel zu verteilen.

Im Unterdorf, an der tiefsten Stelle, dort, wo neben der Straße ein schmaler Bach herlief, stand das Wasser bis zu den Knöcheln. Es quoll und gurgelte aus dem Kanaldeckel, dass es eine Pracht war! Sie zogen die Schuhe aus, stopften die Strümpfe hinein und platschten in dem lehmigen Wasser herum.

"Ich bin der Riese Döres", rief Maria, hob ihr rechtes Bein, drohte mit erhobenen Armen und Händen, Schuhe samt Söckchen schwenkte sie hoch über ihrem Kopf.

"Bäh, und ich bin die Lilofee und der Wassermann hat mich gefreit und der beschützt mich", schrie Ina und reckte ihr Kinn. Maria wollte nach ihr greifen. Ina gab ihr einen Schubs, in dem schlammigen Wasser konnte sich der einbeinige Riese nicht halten, rutschte aus und fiel in seinem Sonntagskleid samt Schuhen und Strümpfen ins Wasser. Das war nun ein Malheur, Maria heulte, die anderen lachten.

Aber Marias Eltern fanden es gar nicht lustig. Inas Vater und Mutter fanden es auch nicht lustig, dass Ina die Ermahnung nicht befolgt hatte.

"Aber du hast es mir doch nicht wirklich verboten!", weinte Ina, es gab eine Ohrfeige.

"Glaub mir, mir tut das viel mehr weh als dir, wenn ich dich strafen muss", hatte der Vater versichert, es gab ein Minus für ihr Verhalten in der Liste am Küchenschrank. Da musste sie zusehen, wie sie das wieder mit einem Plus ausgleichen konnte. Für zehnmal Plus gab es fünfzig Pfennig Taschengeld mehr.

*

Sofia

Ein kurzes, energisches Klopfen riss Sofia aus ihrer Erinnerung an jenen unseligen Tag und an Stefans mit eisiger Wut vorgetragene Anklage. Chefarzt Dr. Erich Klapphofer trat temperamentvoll ein, sein offener Kittel umwehte ihn. Sophia erfasste sofort die Bedeutung, mit der Interpretation von Gesten war sie vertraut. Klapphofer war ein gut aussehender Mann Anfang vierzig, schmaler Kopf, edelstahlgraue Schläfen, markant gekerbtes Kinn. Die Entscheidung eines Mediziners, Frauenarzt zu werden, fällt vor dem Spiegel, hatte Stefan einmal gesagt. Recht hatte er. Der wehende Mantel bei einem räumlich derart begrenzten Auftritt in einem Krankenzimmer signalisierte die Gewissheit, eine positive Nachricht zu überbringen, die in Szene gesetzt werden wollte. Oberarzt Dr. Wingen, der ihm mit einem Meter Abstand folgte, postierte sich am Fußende des Bettes, neben ihm Schwester Beate mit den ärztlichen Unterlagen.

Klapphofer fragte nach Sofias Befinden. Sie meinte so la-la, wenn sie sich nicht bewege, es sei ihre erste OP. Klapphofers ausgestreckte Hand forderte das Krankenblatt, er warf einen kurzen Blick darauf, nickte und reichte es der Schwester zurück.

"Alles okay", sagte er, "und die erfreuliche Nachricht, Frau Berger…", – er beugte sich leicht vor – "mit dem Uterus haben wir natürlich auch alle Myome entfernt, die Laboruntersuchung hat keine bösartigen Veränderungen ergeben. Sie sind gesund." Er lächelte aufmunternd. "Ich denke, in einer Woche können Sie nach Hause, sollten sich aber noch etwa sechs Wochen schonen. Keine Engagements!"

"Nein, nein, sicher nicht. Ich habe genügend Text zu lernen."

"In welcher Rolle werden wir Sie denn demnächst auf der Bühne bewundern dürfen? Es ist stets ein Vergnügen, Ihnen zuzusehen." Er schmeichelte ein Lächeln um ihre Augen, während er entspannt beide Hände in den Taschen seines blütenweißen Kittels versenkte.

"Tennessy Williams. Endstation Sehnsucht zur Eröffnung der nächsten Spielzeit", antwortete Sofia. Stefans Nachfolger würde die Inszenierung machen, ein Gedanke, den sie jetzt nicht zu Ende denken wollte. "Ob es ein Vergnügen sein wird …?" Sie ließ die Frage in der Luft hängen. "Wir arbeiten dran. Bis es zu einem Vergnügen werden kann, macht es Arbeit."

"Na, dann kommen Sie mal schnell wieder auf die Beine!"

Klapphöfer nickte ihr zu, der Oberarzt hob kurz seine Hand zu einem Gruß, Schwester Beate lächelte, der Tross verließ das Krankenzimmer. Unter der Tür drehte sich Schwester Beate noch einmal um.

"Heute Mittag bekommen Sie Gesellschaft, die Geriatrie ist momentan überbelegt. Frau Laufenstein bleibt allerdings nur für eine Nacht. Eine ältere Dame, eher unauffällig."

Sofia schloss die Augen, war für einen Moment versucht, sich eine unauffällige Kranke vorzustellen, fühlte sich dann aber zu müde. Nachwirkungen der Narkose. Gern hätte sie sich in den wohligen Nebel fallen lassen, der sie einzuhüllen begann, sich dem Gefühl hingegeben, alles gut überstanden zu haben.

Doch nur der leichtere Teil war überstanden. Stefan hatte sie verlassen, zwei Tage nach jenem Abend. Am nächsten Morgen gab es eine hässliche Szene, er hatte sie eine Betrügerin genannt, nur durch Zufall sei er ihr drauf gekommen. Vielleicht sei sie es auch noch in einer anderen Hinsicht, die hätte er eher ertragen können. Sie hatte heftig widersprochen, und als sie schließlich einen zaghaften Ansatz machte, von ihren Problemen zu reden – viel zu spät, das wusste sie nun –, wollte er nicht zuhören.

Sie würden keine Kinder haben können, nun nie mehr. Gleich zu Beginn ihrer Ehe hätte sie versuchen sollen, ihm zu erklären, was sie bei der Vorstellung fühlte, eine Mutter zu sein. Doch sie war zu verliebt gewesen, auch ängstlich, ihn mit Erklärungen zu enttäuschen oder zu verwirren. Sie konnte sie ja selbst kaum formulieren. Ein Kind zu haben bedeutete, ihm etwas von sich selbst zu geben. Nicht nur biologisch. Und sie wusste nicht, was sie ihm da geben würde. Sie fühlte sich immer noch wie in einem Niemandsland auf der Suche nach sich selbst. Wie also sollte sie einem Kind – ihrem Kind – Sicherheit geben können? Nie hatte sie gewagt, davon zu sprechen. Stefan war so stark, so klar in dem, was er tat, was er wollte, er würde ihre Unsicherheiten nicht verstehen. Obwohl er ihr hätte helfen können, er war es doch, der sie zu ihrem eigentlichen Leben erst befreit hatte.

Manchmal hatte sie geglaubt, in einer Bühnenperson Eigenschaften zu finden, die ihre ureigensten waren, so sehr fühlte sie sich eins mit ihnen. Dann staunte sie: Das also bin ich? Und sah sich selbst wie eine Fremde an, die sie gerade kennen lernte. Bis dasselbe wieder bei einer ganz anderen Figur geschah und sie wieder unsicher machte in ihrer Selbstbetrachtung. So war es gewesen bei der Arbeit an Bernarda Albas Haus, Lorcas Drama um Liebe, Tod und Eifersucht, viel zu tief war sie eingetaucht, ja hineingeraten in die Person der Adela und hatte dadurch vielleicht selbst die schmerzhafte Wendung in ihrem Lebens ausgelöst. Sie fühlte sich wie ein leeres Gefäß. Jede Figur konnte sie in sich aufnehmen und lebendig machen. Nur die eigene Mitte fand sie nicht.

*

Ina

Dezember 1951

Ina lief mit blutigem Knie nach Hause, ein paar Blutstropfen sickerten aus dem zerfransten Loch im Wollstrumpf. Sie schluchzte.

"Ist doch nicht so schlimm", tröstete die Mutter, " komm, lass mich mal sehn, zieh den Strumpf aus."

Sie streute Puder auf die Wunde und klebte ein Pflaster darauf. Ina hörte nicht auf zu schluchzen, ihr Brustkorb hob und senkte sich mit jedem mühevollen Atemholen.

"Aber so weh kann es doch gar nicht tun, Ina!"

"Tut es ja auch nicht … ich bin ja nur so schnell gerannt, weil ich … weil ich … ich wollte es nicht mehr hören …"

"Nicht mehr hören?"

Ina wischte sich mit dem Handrücken durchs Auge.

"Sie rufen es immer hinter mir her. Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Volksgenossen, rufen sie immer. Und dann hören sie gar nicht mehr auf damit. Und dann muss ich wegrennen, damit ich es nicht mehr höre."

"Diese Kinder sind ganz dumm, Ina, mach dir nichts draus."

"Aber warum habe ich denn rote Haare, du hast doch auch keine und der Vater auch nicht, die Oma auch nicht, die hat jetzt graue Haare, was hatte die denn früher für Haare?"

Ina hörte nicht mehr auf mit dem Fragen, wollte sich nicht zufrieden geben mit den Antworten der Mutter, die ihrer Tochter zu erklären versuchte, warum Menschen verschieden sind, was Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern und noch ältere Vorfahren ihren Nachkommen mitgeben, wie manchmal Eigenschaften und Merkmale Generationen überspringen. Dass vielleicht jemand, der vor hundert Jahren gelebt hatte, ihr diese wunderschönen Haare vererbt hatte.

Hundert Jahre! Nein, das konnte Ina sich nicht vorstellen. Sie mochte diese Farbe nicht, schwarze Haare wollte sie haben, wie die Mutter. Aber das ging ja nun gar nicht.

Der Vater kam aus dem Studierzimmer.

"Nun hör schon auf zu weinen", sagte er, "ich kann dir etwas sehr Schönes sagen, da wirst du das alles ganz schnell vergessen." Er macht eine bedeutungsvolle Pause, Ina sah mit verheulten Augen zu ihm auf.

"Du kannst doch so schön singen. Der Herr Pastor meint, du solltest zu Weihnachten in der Christmette die Herbergssuche singen. Du bist die Maria und der Richard aus deiner Klasse der Josef. Was meinst du?"

Die Tränen versiegten, die Augen trauten sich, zaghaft zu lächeln. Zunächst. Aber dann begannen die Mundwinkel wieder zu zucken.

"Das geht doch gar nicht! Die Maria hat doch schwarze Haare, ich kann doch die Maria gar nicht sein!"

"Komm mal her."

Der Vater nahm Ina bei der Hand, ging mit ihr ins Studierzimmer und holte die große Bibel mit den bunten Bildern aus der Schublade.

"Schau mal."

Sein Finger wies auf eine Abbildung, Maria und Josef an der Krippe. Inas roter Schopf beute sich darüber, dann ging ihr Blick zum Vater hoch. Sie strahlte.

Die Gläubigen in der Christmette ließen sich anrühren von der Reinheit der Kinderstimmen zur leisen Orgelbegleitung, der ernsten Andacht in den Gesichtern von Maria und Josef auf ihrer Suche nach einer Herberge. Wer klopfet an? – Ach, zwei gar arme Leut'! –, der Josef in härenem Sackgewand mit Kopf- und Armlöchern, die Maria im weißen Nachthemd mit blitzeblauem Kopftuchschleier, unter dem sich kein Haar hervortraute.

Am nächsten Tag, beim Spiel mit den Weihnachtsgeschenken – Ina hatte die neue Puppenstube nach unten zu Maria und Erika getragen – wurde sie gelobt.

"Du hast sooo schön gesungen, Ina, wie ein Engel, und man konnte dich überall in der Kirche gut hören."

Da freute sie sich und hatte beim Abendessen keck gefragt:

"Was kann ich denn eigentlich besser: Singen oder Theater spielen? War da vielleicht schon mal eine Frau vor hundert Jahren, die mir das vererbt hat?"

Der Vater hatte sie so merkwürdig angesehen, und die Mutter hatte gesagt: "Jedes Kind kann singen, Ina, manche gut, andere weniger gut, aber du kannst es besonders gut."

*

Sofia

Kurz nach Mittag wurde sie wieder wach, Schwester Beate stand an ihrem Bett. Es sei an der Zeit, etwas aufrechter im Bett zu sitzen, befand sie, der Kreislauf brauche Anregung. Sie gab ihr das elektrische Bedienungsgerät in die Hand, das Kopfteil des Bettes richtete sich auf, Sofia ertrug es mit angehaltenem Atem. Die Schwester richtete die Kissen in ihrem Rücken, schob den Nachttisch näher heran, zog das Tischtablett in die Waagerechte und schwenkte es halb über das Bett. Sie stellte ein Glas und die Wasserflasche darauf.

"Noch etwas? Vielleicht die Modezeitschrift? Oder lieber den Stern? Das Buch auch?"

Sofia nickte.

"Alles. Für später vielleicht. Bin immer noch nicht ganz da."

"Das wird schon. Morgen werden Sie sich schon viel besser fühlen."

Sie öffnete die Tür bis zum Anschlag. Dann ging sie zum Nachbarbett, löste die Rollen aus der Arretierung und bugsierte es auf den Flur.

"Für Frau Laufenstein", sagte sie über die Schulter gewandt, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

Sofia ließ den Kopf in die Kissen sinken, rutschte ein wenig tiefer. Morgen sollte sie sich schon viel besser fühlen, hatte die Schwester versprochen und den Körper gemeint. Der würde es schon machen, ganz von allein, ja, und natürlich mit ärztlicher Unterstützung. Alles würde sich wieder richten, einrenken, die Narbe heilen, verblassen, fast unsichtbar werden, alles wie immer. Fast wie immer. Sie musste nicht viel dafür tun. Für das andere konnte sie auch nicht viel tun. Eigentlich gar nichts. Wie sollte sie sich mit dieser Hilflosigkeit arrangieren? Sich damit abfinden, dass Stefan sie im Stich ließ? Wie Leonardos Frau in Lorcas Bluthochzeit sich abfindet … Leonardo wird getötet, seine schwangere Frau trauert. Aber ich, Sofia Berger, kann das Verlassenwerden nicht hinnehmen, meine Bühnenrolle vor Augen haben und mich in Trauer ergeben. Auch nicht mit untätiger Hoffnung begnügen. Also nur Erinnerung an einen, der mein Leben geteilt hat? Da hat ja Leonardos Frau mehr als ich, denn sie wird sein Kind gebären! Wenigstens das. Etwas, das bleibt.

Ihr Gedankenstrudel stockte für einen Moment, blieb hängen an dem Etwas-das-bleibt. Eine kurze Zeit nur war ihr geblieben nach jenem Abend, der mit Stefans kaltem Zorn und ihrer Wort- und Hilflosigkeit geendet hatte. Zwei Wochen noch waren angesetzt für die Proben an der Komödie im Dunkeln. Die Anspannung, ihn täglich zu sehen, acht Stunden am Tag. Kein Problem, solange die Probe dauerte, da war alles wie immer, er, der sie anleitete, in das Innere der Figur einzutauchen. Ich will die Figur verstehen, die ich auf der Bühne sehe, dann ist sie richtig war einer seiner Glaubenssätze. Aber in den Pausen, beim Essen in der Kantine, so zu tun vor den Kollegen, als ob alles beim Alten sei, harmonieüberstrahltes Miteinander, das verlangte ihr etwas ab. Sie war dann in der Rolle der Nora, die bei ihrem Mann bleibt, obwohl er sie nicht verstehen wollte. Irgendwie half ihr der fremde Schmerz über den eigenen hinweg. Dann, zurück im Haus, wo Stefan ihr aus dem Weg ging – er schlief in seinem Arbeitszimmer, ging morgens früh und kam abends spät zurück – dann, zurück in dem, was seine Gegenwart atmete, war sie nicht mehr fähig, irgendeine Rolle zu spielen. Da war kein Publikum. Der Schmerz griff sie an, als sei er eine Person, sie musste sich ihm stellen, ihn aushalten, kein Zurückschlagen, nur Stillhalten. Am nächsten Tag wieder Probe, wieder seine Gegenwart, wieder ein Vergessen in die Rolle hinein, danach wieder die Nora. Alles war unaufhaltsam auf den letzten Tag der Spielzeit, die letzte Aufführung, den letzten Vorhang zugelaufen. Nach dem allerletzten Applaus hatte Stefan das Ensemble und die gesamte Crew zu einem Umtrunk ins Theaterrestaurant eingeladen, sich bedankt für die gute Zusammenarbeit und seinen Wechsel ans Thalia bekannt gegeben. Erstaunen, Beifall, Glückwünsche, Bedauern, Fragen nach einem Nachfolger, die nicht beantwortet wurden. Kein Wort darüber, dass sie sich trennen würden, eine Wochenendehe war bei Schauspielern nichts Ungewöhnliches. Ein paar Tage später hatte sie den alljährlichen Kontrolltermin bei ihrem Arzt wahrgenommen. Es gab eine Diagnose, ein OP-Termin wurde festgelegt, den sie Stefan mitteilte. Er hatte ihre Mitteilung mit versteinertem Gesicht entgegen genommen, sie hatte nicht versucht, seinen Panzer