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Rita freut sich auf einen ungestörten Fernsehabend, doch ihr Mann kommt zu früh von der Arbeit. Seine Frau sei zwar tüchtig aber eine schlechte Autofahrerin, meint Alfred; er sollte sie kennen, dann wäre ihrem Ehrgeiz nicht zum Opfer gefallen. Roberta, Sängerin im Opernchor, fühlt sich zu Höherem berufen und erhält eine vermeintliche Chance. Seine perfide Racheaktion hat Jean, Saxophon spielender Musikstudent, minutiös geplant, und umbringen wollte er eigentlich niemanden. Ein Dichter hat sich leer geschrieben und weiß nicht, wie er es überleben soll.
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Seitenzahl: 189
Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. 1
Goethe
oder anders herum? " ... die Gutes will und doch das Böse schafft."
So sind auch diese Geschichten. Sie beginnen böse und enden gut für den einen, böse für den anderen. Oder sie nehmen einen guten Anfang und enden böse.
1 Faust, Zitat Mephistos
Rita oder das Ei
Die Missachtung
Wo gehobelt wird, fallen Späne
Liebesleid
Eine kleine Nachtmusik
Kreuzungen
Das Seil
Der Entschluss
Das Vermächtnis
Urlaubsbilder
Die Sitzung
Echolot
Die Meisterschülerin
Der Silvesterwunsch
Das andere Leben
Wie sie dastand, an den Küchentisch gelehnt, sich mit der Hand in die Haare griff und ihn zurückhaltend aber doch mit einem leichtem Lächeln ansah … ach, das hatte soviel Wahrheit, wie Meryl das spielte! Eine Frau, die sich noch nicht sicher ist, was sie tun wird, obwohl sie es eigentlich doch schon weiß. Ich weiß es auch, dachte Rita, Clint könnte ich auch nicht widerstehen.
Sie beugte sich vor, goss sich noch ein Glas Rotwein ein. Hartmut würde später kommen, wie immer … der volle Schreibtisch, ja, ja, oder auch nicht, es war ihr egal, schon lange. Sie hatte den Fernseher, der ihr von der Liebe erzählte.
Werbepause.
Etwas mühsam erhob sie sich von der Couch und ging in die Küche. Schnell noch die Spülmaschine ausräumen, bevor es weiterging. Mit halbem Ohr achtete sie auf die Werbesprüche und die lauten musikalischen Untermalungen.
Dann, plötzlich, Stille. Schön, es geht schon weiter!
Sie stellte die Untertassen, die sie gerade in den Oberschrank schieben wollte, zwischen Küchenutensilien, Backformen und Nudelrolle ab und eilte ins Wohnzimmer zurück. In der Tür stoppte sie. Hartmut, noch im Mantel, stand vor dem Fernseher, der Bildschirm war schwarz.
"Du bist schon da?!" Sie starrte ihn an in einem Gemisch aus Überraschung und Enttäuschung.
"Wie du siehst", antwortete er knapp. "Wann essen wir zu Abend?"
"Wir?" Rita schüttelte den Kopf. "Ich hatte heute keinen Hunger, habe nur einen Apfel gegessen." Sie deutete auf den Fernseher. "Warum das? Die Werbung ist doch schon zu Ende!"
Hartmut sah zu ihr hin, während er seinen Mantel auszog, Tadel in den Augen-
"Wie kann man nur RTL gucken! So einen Primitivsender!" Kopfschüttelnd ging er hinaus, um seinen Mantel an den Garderobenhaken zu hängen.
"Aber es läuft ein ganz toller Film mit hoher Bewertung und Meryl Streep und Clint Eastwood, ich bin nur kurz weggegangen, als die Werbung anfing", rief sie hinter ihm her und sah ihm zu, wie er, bei offener Toilettentür, am Becken stand und sich die Hände wusch. Er blickte kurz zu ihr hinüber.
"Ich habe noch nicht zu Abend gegessen", warf er ihr entgegen.
Sie drehte sich abrupt um, ging zum Fernseher, schaltete ihn wieder ein und setzte sich auf die Couch. Hartmut stand in der Tür, blickte sie wortlos an. Ohne die Augen von der Szene abzuwenden – Meryl Streep deckte gerade den Tisch, Clint Eastwood saß vor seinem Teller und schaute ihren Bewegungen zu – sagte Rita: "Ich möchte jetzt den Film sehen, in der nächsten Werbepause mach ich dir was, du hast gesagt, du kommst spät."
Ihr Mann kniff die Lippen zusammen, drehte sich um und ging.
"Was ist denn das für eine polnische Wirtschaft hier!", hörte sie ihn aus der Küche rufen. "Hausfrauen!"
Rita versuchte nicht hinzuhören. Meryl saß am Tisch neben Clint, seine Hand auf die ihre gelegt -, ach Gott! - wie ein Vögelchen verschwand sie darunter. In der Küche wurde die Tür der Spülmaschine energisch geschlossen. Die Kühlschranktür klappte.
"Wo ist denn der Schinken geblieben?"
Rita stöhnte. Meryl war aufgestanden und auf dem Weg zum Fenster. "Im Mülleimer!", rief Rita in Richtung Küche. "Er war schimmelig!"
"Das ist ja unerhört!" Hartmuts Stimme klang scharf.
"Hast du keinen Überblick über deine Vorräte? Ich möchte mir jetzt ein Schinkenbrot machen!"
Sie hörte ihn im Mülleimer kramen.
"Der Kühlschrank ist voll, da sind auch noch zwei Eier, hart gekocht, oder wärm dir die Gulaschsuppe von heute Mittag auf!",
"Immer muss man alles selber machen!" Einen Nachschlag konnte Hartmut sich nicht verkneifen.
Eine Weile blieb es ruhig. Meryl und Clint kamen sich näher. Rita schluckte, sie griff zu ihrem Rotweinglas.
"Für mich hast du kein Glas auf den Tisch gestellt!"
Hartmut kam herein, ein Tablett mit Brot und Aufschnitt vor sich hertragend. Rita ignorierte ihn. Ihr Blick klebte an der Mattscheibe. Gleich …
Es wurde schwarz vor ihren Augen, Hartmut und sein Jackettrücken hatten sich zwischen sie und das Liebespaar gedrängt.
"Ich kann diesen Mist nicht ansehen!", tönte er und ließ sich in seinen Sessel fallen.
Das war zuviel!
"Erst sagst du, du kommst spät nach Hause, und ich freue mich den ganzen Tag auf diesen Film, dann bis du plötzlich doch schon da, tadelst meinen mangelnden Anspruch an das, was du Kultur nennst, verlangst auf der Stelle dein Abendessen, wirfst mir meine angebliche Polenwirtschaft an den Kopf, gräbst nach verschimmeltem Schinken den Mülleimer um, machst mir erzieherisch den Fernseher … mitten im ... im Höhepunkt des Films aus, der …" – ihre Stimme wurde scharf –, "… der im übrigen mit sechs Qualitätspunkten bewertet ist …" – es sind nur fünf, dachte sie flüchtig, "und dann soll ich aufstehen und dir ein Glas aus dem Schrank holen, vor dem du gerade gestanden hast, schlägst mir wieder deine Kulturkeule um die Ohren und sonnst dich in den eigenen hohen Ansprüchen, du, der jeden Abend bei Tagesschau und Politik im Sessel einschläft."
Sie schnappte nach Atem und stand auf. Hartmut saß im Sessel und hatte, Gelassenheit demonstrierend, sein Brot geschmiert, während sie auf den Rand ihres Sitzes vorgerückt war, Wut in Augen und Stimme. Nun sah sie auf ihn hinunter, er biss in sein Brot, blieb stumm. Sie tat ein paar Schritte um den Tisch herum.
"Gute Nacht!", sagte sie zu seinem Rücken und ging hinaus.
"Die werde ich sicher haben, wenn du nicht wieder die ganze Nacht im Haus herum … herumschlafwandelst", rief Hartmut hinter ihr her. Zufrieden lehnte er sich in seinen Sessel zurück, sein Schlusswort hatte er gehabt. Er schaltete die Nachrichten ein, der Fernseher gehörte jetzt ihm.
Rita versuchte, diese letzte Bissigkeit zu überhören. Wärst du nicht so ein elender Schnarcher, dachte sie, dann müsste ich nicht so oft des Nachts aufstehen und mir in der Küche eine Schlaftablette holen. Ich hätte dir das Feld auch nicht kampflos überlassen, wenn ich den Film nicht schon im Kino gesehen hätte. Dieser entsagungsvolle Schluss! Noch einmal diesen bittersüßen Verzicht auf Liebe miterleben, Meryls Schmerz teilen, Gefühle haben, eine Erinnerung an früher. Noch nicht einmal das gönnte Hartmann ihr! Sollte ihm doch verdammt noch mal der Bissen im Hals stecken bleiben!
Sie ging zu Bett, schloss die Augen und versuchte, ihre Wut zu vergessen.
Meryl stellte gerade einen Topf mit Suppe auf den Tisch. Die Tür ging auf, Hartmut trat ein und setzte sich an den Tisch. Meryl schöpfte Suppe in Clints Teller und sah ihm beim Löffeln zu. "Ich habe Hunger", sagte Hartmut und nahm Eastwood den Teller weg. Der sprang auf, zog seinen Revolver und feuerte ein Ei ab, es prallte an Hartmuts Stirn ab und fiel zu Boden, wo es mit zerdrückten Schalen in ein paar Eiweißbrocken liegen blieb. Meryl stürzte zum Küchenschrank, packte die Nudelrolle und zog sie Hartmut über den Hinterkopf. Der fiel krachend zu Boden, der Stuhl mit ihm.
Rita drehte sich auf die andere Seite. Sie sah Clints Gesicht vor sich, wie er im Regen stand und auf seine Liebe wartete, das Haar klebte ihm am Kopf, Meryl, sehnsuchtsvoll und bis zuletzt unschlüssig, ob sie ihre Familie verlassen sollte, saß im Auto neben ihrem ahnungslos plappernden Mann und fuhr davon.
Der Wecker klingelte um Sieben, und wie immer ging Rita zuerst in die Küche, um Kaffee zu machen.
Da lag Hartmut, rücklings auf dem Boden, Augen und Mund weit geöffnet und rührte sich nicht. Um ihn herum Scherben, Backutensilien, eine Kelle, Reste der Gulaschsuppe und die Nudelrolle. Etwas Zermatschtes klebte unter seinem linken Absatz.
Der Notarzt stellte als Todesursache eine stumpfe Verletzung am Hinterkopf fest, Folge eines häuslichen Unfalls.
Auch der herbei gerufene Polizeibeamte bestätigte Ritas Vermutung, Hartmut habe sich ein Ei gepellt, dann Suppe in einen Teller geschöpft, wobei er versehentlich das Ei mit einer unachtsamen Armbewegung vom Tisch gefegt habe, bei einem Schritt zur Seite sei er auf dem Ei ausgerutscht, habe im Fallen alles zu Boden gerissen, bevor er mit dem Hinterkopf unglücklich auf dem Boden aufgeschlagen sei. Es hätte auch umgekehrt gewesen sein können, fügte er bedächtig hinzu, zuerst habe er die Suppe in den Teller geschöpft, dann das Ei gepellt ...
Ei hin, Ei her, dachte Rita, die Nörgelei, die ist vorbei.
Am Morgen war alles wie immer. Aufstehen, Frühstück, ab ins Opernhaus. Von einem Mitglied des Opernchores wurde Präzision erwartet. Präzises Erscheinen zur Probe, präzise Einsätze, präzise Töne, präzises Agieren auf der Bühne. Alles war Gemeinschaft und homogener Klang. Keine solistischen Stimmfarben, bitte. Man war ein Chor, kein Solistenensemble.
Anfangs, nach ihrem mit Auszeichnung bestandenen Konzertexamen - Roberta hatte das Klavierstudium abgebrochen, weil ihr großer Sopran auf eine Gesangskarriere hoffen ließ - war es ihr schwer gefallen, hinter die Linien, wie sie es nannte, zurück zu treten. Doch das musste sie, auf eine Festanstellung konnte sie vorläufig nicht verzichten. Engagements für das eine oder andere Oratorium boten zwar Gelegenheit, ihr Einkommen aufzubessern, reichten aber nicht aus, ihr überragendes Talent - so meinte sie - ins rechte Licht zu setzen. Sie wollte große Rollen singen und auf berühmten Opernbühnen stehen. Das jedoch schien nach mittlerweile fünf Jahren hinter den Linien in weite Ferne gerückt.
Jetzt, am Abend, schien die Ferne näher gerückt, was soll man sagen: Ins Blickfeld gezogen. Der Anruf am Nachmittag aus dem künstlerischen Betriebsbüro der Oper hatte Roberta in Euphorie versetzt. Im Januar des kommenden Jahres sollte Henzes neuestes Werk, die Oper Venus und Adonis zur Uraufführung gebracht werden, sie - Roberta M., - solle eine der sechs Hirtenrollen, auch Madrigalisten genannt, übernehmen. Die Noten werde man ihr zuschicken, sobald Schott Music sie herausgebracht habe.
Roberta schwamm auf einer Woge der Erwartung, ihr Ziel war in greifbare Nähe gerückt. Nach den täglichen Chorproben stand sie noch für mindestens zwei Stunden am Klavier und schleuderte die Koloraturen nur so aus sich heraus - wie hatte doch ihre Gesangsprofessorin immer gesagt? Erhalte dir deine geläufige Gurgel! Sie erzählte niemandem von dem Anruf. Welche Überraschung für die vielen Neider im Chor, ihre Kollegin beim Start einer Solokarriere zu erleben!
Täglich wartete sie auf die angekündigte Zusendung der Noten, zunächst voller Zuversicht – Schott Music hatte wohl noch nicht geliefert. Sechs Wochen vor dem Termin der Uraufführung begann sie unruhig zu werden. Für eine Produktion brauchte die Regie sechs bis acht Wochen, und sie, Roberta, musste die Partie ja noch studieren.
Sie griff zum Telefon.
Sie solle sich keine Sorgen machen, das noch ausstehende Notenmaterial für die Madrigalisten sei endlich gekommen und gehe heute noch zur Post, sagte eine freundliche Stimme.
Roberta fühlte sich beruhigt.
Bis zum nächsten Mittag, an dem der Briefkasten weiterhin leer blieb. Aber war es zu erwarten, dass die Post nur einen Tag brauchte?
Also wartete sie. Und wartete. Versicherte sich, dass sie außerordentlich schnell lernte, einwandfrei vom Blatt singen konnte, ihr absolutes Gehör ihr schon beim Notenlesen den Ton in die Kehle legte. Sie stellte sich sogar vor, wie sie, auf der Bühne stehend, die Noten zum ersten Mal in der Hand hielt und ihre Partie einfach so vom Blatt sang. Ja, so etwas konnte sie! Sie hatte es als Einspringer für eine Kommilitonin bewiesen, die sich wenige Minuten vor einem Hochschulkonzert ein Bein gebrochen hatte.
Aber der Briefkasten blieb leer. Sie wollte nicht aufdringlich sein, aber nun hielt es sie nicht länger. Nach der Vormittagsprobe ging sie zum Betriebsbüro. Niemand da. Ach ja, Mittagspause. Am späten Nachmittag ging sie wieder hin und stand vor verschlossener Tür. Büroschluss? Gab es so etwas Bürokratisches in einem künstlerischen Organismus wie dem eines Opernhauses?
Sie schlief schlecht. Am Morgen fragte sie sich, ob sie alles nur geträumt hatte.
In den nächsten Tagen ging sie noch ein paar Mal ins Büro und stand jedes Mal vor verschlossener Tür. Sie wagte nicht, jemanden um Rat zu fragen, unliebsamen Fragen wollte sie sich nicht stellen. Also beschloss sie, es müsse alles nur ein Irrtum gewesen sein. Vielleicht sogar ein Scherz, den man sich mit ihr erlaubt hatte?
Dieser Gedanke nun bot die schlimmste aller üblen Varianten dessen, was ihr passiert war. Wie konnte sie noch singen mit dem Kloß der Demütigung im Hals, den ihr irgendeine neidische Kollegin aus dem Chor beschert hatte?
Sie ließ sich krankschreiben. Verbrachte ein paar Tage im Dämmerzustand auf der Couch, unfähig, irgendetwas zu tun, geschweige denn Töne von sich zu geben, die sich nach Gesang anhörten. Jedes Mal, wenn sie sich aufrappelte, ans Klavier trat und den einleitenden Akkord zu einer Übesequenz anschlug, jedes Mal, wenn sie einatmete, ihren Körper spannte und sich vorstellte, einen Tonbogen in die Weite eines großen Raumes zu schicken, brach sie innerlich zusammen, der Ton stürzte ab. Sie versuchte es noch ein paar Mal, aber die Erwartung eines neuerlichen Misserfolgs führte diesen stracks herbei.
Am Morgen der Uraufführung – es war der 11. Januar, ein Samstag – klingelte das Telefon. Die freundliche Stimme bat, pünktlich gegen 16°° Uhr in der Maske zu erscheinen.
Roberta war, als würde sie in ein fremdes Leben gestoßen. Sie stammelte Unzusammenhängendes: "Aber … aber … ich habe doch keine Noten bekommen, ich kann doch gar nicht …"
Die Stimme schnitt ihren Einwand ab: "Keine Sorge, es ist alles in Ordnung, haben Sie nur Vertrauen."
Wollte man sie auf die Probe stellen? Jedermann wusste, dass sie eine perfekte Blattsängerin war. Sollte sie ihr Können nun auch vor einem Premierenpublikum unter Beweis stellen?
Ihre Lebensgeister erwachten. Zaghafte Zweifel unterdrückte sie, stellte sich ans Klavier und spulte ihre Einsingübungen ab, bis sie sich ihrer Stimme wieder gewiss war. Dann fuhr sie ins Opernhaus. Gefragt, für welche Rolle die Maskenbildnerin sie herrichten solle, sagte sie: "Ich singe die erste Hirtin." Die Maskenbildnerin betrachtete ihr Gesicht, meinte, es habe nichts Griechisches an sich und bearbeitet Robertas niedliche Nase, bis sie in ein klassisch adeliges Profil verwandelt war. Eine stilisierte Perücke aus Pappmachélocken, hoch aufgebaut wie ein Helm, krönte ihr Werk. Gekleidet in ein von den Schultern bis zu den Zehen gelb herab fließendes Gewand, erhielt Robertas Erscheinung die Strenge, die eine kommentierende Rolle verlangt. Roberta fühlte sich bereit. Bis auf die Tatsache, dass sie noch keinen Blick in die Noten hatte werfen können.
"Gehen Sie nur hinauf, Sie werden erwartet", meinte die Maskenbildnerin.
Auf der Hinterbühne ging es hektisch zu. Schwarz gekleidete Bühnenarbeiter liefen überall herum, Roberta sah Sänger, wie sie in pastellfarbenen Gewändern mit Lockenputz, die Starsopranistin in einer üppigen purpurroten Robe, wahrscheinlich die Sängerin der Venus, wartete schon auf ihren ersten Auftritt, andere Schauspieler oder Tänzer in Tierkostümen standen und liefen herum, aus dem Orchestergraben klang die Kakophonie herauf, die sie immer in freudige Erwartung auf den nachfolgenden musikalischen Genuss versetzte. Das alles war Roberta vertraut. Doch jetzt fühlte sie sich allein gelassen, und noch ehe sie sich fast in Panik eingestand, völlig fehl zu sein an diesem solange herbei gesehnten Platz, wurde es still, Beifall rauschte auf, der Dirigent war vor das Orchester getreten. Roberta wurde in einem Pulk von Sängern und Darstellern auf die Bühne geschoben, der Vorhang hob sich, die Oper begann. Wie gelähmt blieb sie weit hinten auf der Bühne stehen, unfähig, an irgendetwas anderes zu denken als an ihr bevorstehendes Versagen.
Wie lange sie dort gestanden hatte, wusste sie später nicht mehr. Sie erinnerte sich nur, alles wie in Trance wahrgenommen zu haben. Die ihr zugesagte Rolle wurde von einer anderen Sopranistin gesungen, während sie, Roberta, da gestanden hatte wie ein Teil der Bühnendekoration. Sie schaffte es, bis zur Pause durchzuhalten, dann hatte sie sich auf der Toilette ihrer Maskerade entledigt und war nach Hause gegangen.
Am nächsten Morgen setzte sie eine Anzeige in die Zeitung: "Klavierunterricht für Anfänger und Fortgeschrittene".
Vor dem Fenster begann es hell zu werden.
Walter Sensus lag schon seit einer Weile wach in seinem Bett. Er blickte auf die blass schimmernde Decke über sich, unfähig, irgendeinen Gedanken zu fassen. Fast eine Viertelstunde verharrte er unbeweglich auf dem Rücken. Schließlich wandte er den Blick von der Decke ab, quälte sich hoch und ging ins Bad.
Im Spiegel sah ihn sein Gesicht an, distanziert-blauer Blick unter der schmalen, hohen Wölbung der Stirn, große Nase, stoppelkörnige Haut auf Kinn und Wangen. Es schien ihn zu beobachten.
Eine Weile schaute er hin, fand aber nicht darin, was ihn berührte. Er rasierte sich, putzte die Zähne, ging unter die Dusche, es war, als täte es der Fremde, der ihn aus dem Spiegel angesehen hatte.
Nach dem Frühstück ging er mit einem dampfenden Kaffee hinüber in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch.
Diese frühe Stunde, begleitet vom ersten Coffein-Schub des Tages, gehörte dem Nachlesen und der Korrektur des am Tag zuvor Geschriebenen. Er hatte mit der Niederschrift eines Kriminalromans begonnen. Die Geschichte begann damit an, dass eine Frau ihren Mann ohne erkennbaren Grund verließ. Walters Trennung von seiner eigenen Frau lag nun ein Jahr zurück, und auch er wusste nicht, warum sie gegangen war. Ein anderer Mann, glaubte er, war nicht der Grund. Die eigene Ratlosigkeit hatte er zum Ausgangspunkt für seinen Roman gewählt. Als Autor hatte er sich einen Namen gemacht, geschätzt wegen der überraschenden Wendungen in seinen Geschichten, mehr aber noch gerühmt für seine sensible Darstellung von Empfindungen. Erst kürzlich hatte man in der Zeitung lesen können: "Sensus ist ein Schriftsteller mit bildmächtiger Sprachkraft. Er zeigt uns seine Figuren und das, was sie innerlich umtreibt, nicht in Beschreibungen ihrer Gefühle, vielmehr lässt er diese in Bewegung, Gestik und Mimik vor dem inneren Auge des Lesers glaubhaft erscheinen."
Nun blätterte er zurück in den Aufzeichnungen des Vortages, las von der Verzweiflung des Mannes, dessen Frau nach dem Frühstück mit heiterer Miene sagte: „Also, ich gehe jetzt“, aufstand, ihre Handtasche nahm, ging und nie mehr wiederkehrte. Er hatte den Prozess der Erkenntnis geschildert, vom ersten Nicht-Verstehen über Unruhe und Sorge bis hin zu Panikattacken und schierer Verzweiflung, nichts zu wissen, nichts tun zu können, nicht helfen zu können.
Seine Augen glitten über die handgeschriebenen Zeilen. Ab und zu stoppte sein Blick bei eingefügten Korrekturen, wechselte zu Ergänzungen am Blattrand. Er konnte sich nicht wie gewohnt konzentrieren und verstand nicht, was ihn hinderte, der Erzählung zu folgen.
Er begann noch einmal von vorn.
Doch je weiter er in seiner Lektüre vorankam, desto merkwürdiger kam ihm alles vor, desto merkwürdiger kam er sich selbst vor.
Nichts von dem, was er las, berührte ihn. Und doch wusste er, am gestrigen Tag alles aus seiner Erinnerung hervor gezogen zu haben, was ein Verlassener an schmerzlichen Erfahrungen in Worte fassen kann. Er wusste um sein Talent, sein Kopf wusste es, aber sein Gefühl oder das, was er dafür hielt, lag wie verschüttet unter den Wortschichten. Er horchte in sich hinein, wollte dem Schmerz und dem Schrecken nachspüren – es gelang nicht. Mit kleinen Änderungen versuchte er, seinen Schreibfluss in Gang zu bringen, akzentuierte Situationen, durchkämmte sein literarisches Hirn nach bedeutungsschwangeren Adjektiven - eine Übung, für die er noch gestern jeden Autor verachtet hätte -, strich sie wieder. Seine Fähigkeit, Worte und Wortkombinationen, aaaaaaaauf ihre Tauglichkeit zu prüfen, schien abhanden gekommen zu sein.
Achselzuckend verschob er mögliche Korrekturen auf einen späteren Zeitpunkt.
Stattdessen warf er ein paar Sätze aufs Papier, die den Gang der Handlung vorantreiben sollten. Es gelang ihm nur halbwegs; denn sowie die agierenden Personen an einen Punkt kamen, an dem ihre Gefühle ins Spiel kamen und den Fortgang der Handlung bestimmten, versagte er. Er wusste nicht, was sie fühlten.
Mit einem Ruck schüttete er den Rest des Kaffees in sich hinein. Eigentlich sollte er zornig sein über sein Unvermögen, aber selbst das brachte er nicht zustande. Beide Hände flach auf dem Tisch neben seinem Manuskript, den Rücken steil gegen die Stuhllehne gepresst, saß er eine Weile da und starrte vor sich hin. Die Routine seines Tagesablaufs war gestört.
Er entschied, die leicht abgestandene Zimmerluft gegen die frische Kühle des Oktobermorgens einzutauschen, nahm Mantel und Schal vom Haken und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. Vielleicht würden die Eindrücke auf einem Spaziergang ihm über seine momentanen Probleme hinweghelfen.
Er schlug den gewohnten Weg ein, zuerst die ruhige Seitenstraße hinunter, dann zwischen Hecken den Weg hinüber zum Fluss, der hier nur wenige Meter breit war und dicht am Wasser entlang führte. Der Pfad wurde immer schmäler, die Böschung zur Linken steiler, bis er unter einer alten Bogenbrücke hindurchführte, über die gelegentlich Spaziergänger den Weg in das Wäldchen auf der anderen Seite des Flusses fanden.
Es war dämmrig hier, die Helligkeit am anderen Ende des Bogens blendete ihn. Zu seiner Linken bewegte sich etwas, beim Gehen war er mir dem Fuß dagegen gestoßen. Er blieb stehen, versuchte, seine Augen an das Zwielicht zu gewöhnen.
Jemand schälte sich aus einem Schlafsack, unter seinem erhobenen Arm sprang eine Katze heraus, buckelte genüsslich und begann sich die Pfoten zu lecken.
"Pardon", sagte er zu dem Mann, der ihn mit müde zusammengekniffenen Augen anstarrte und nun vollends aus seinem Schlafsack stieg, "ich konnte nichts sehen."
Es war ein junger Mann. Eigentlich sieht er nicht wie ein Penner aus, fand Walter Sensus. Er blieb unschlüssig stehen, sah zu, wie der andere sich bückte, den Schlafsack zusammenrollte und sich mit einem Seufzer darauf fallen ließ.
Ein paar Sekunden lang starrte der junge Mann auf den spärlichen Grasbewuchs zu seinen Füßen. Zuerst leise, dann immer lauter werdend, murmelte er Unverständliches vor sich hin, bis er schließlich aufsprang und: "Verdammt, verdammt, verdammt!" hervor stieß.
Walter Sensus wich zurück. "Was ist los, was haben Sie denn?"
Der andere warf die Arme in die Luft.
"Was hab ich denn! – Hab ich was?", äffte er den fragenden Tonfall nach. "Nichts hab ich mehr! Meine Papiere geklaut, mein Geld, mein Rucksack, und was das Schlimmste ist: Mein Instrument, mein Saxophon!" Er ließ sich wieder auf seinen Schlafsack fallen.
"Ihr Saxophon?", echote Walter, während er den rechten Ärmel hochschob und sein Handgelenk rieb – eine zerstreute Geste, Überbleibsel einer überstandenen Sehnenscheidenentzündung. "Sind Sie Musiker?"
Der junge Mann warf ihm einen ärgerlichen Blick zwischen die Augen.
"Nein! – Ja –, ich verdiene mir damit mein Studium. Halte mich soeben über Wasser damit." Mit dem Absatz des rechten Schuhs scharrte er wütend auf der Grasnarbe herum. "In Jazzkellern, bei Tanzveranstaltungen und so."
In seinen jungen Jahren hatte Walter als begehrter Tänzer gegolten. Ein flüchtiger Gedanke daran streifte ihn und stimmte ihn zugänglich.
"Was studieren Sie denn? Wo wohnen Sie?"
Der andere presste ein höhnisches Lachen heraus.