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»Und das Hirn wirbelt immer weiter wie im Hamsterrad ...« entstand nach der ADHS-Diagnose der Autorin, als ihr klar wurde, wie diese Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung ihr Leben beeinflusst hatte. Ihr Gehirn, durch zu viele Impulse ständig angetrieben, brachte sie als alleinerziehende Mutter mit dem Stress der Selbständigkeit in eine andauernde Überforderung hinein. Dass der vermeintliche Burn-out in Wirklichkeit eine noch nicht entdeckte ADHS war, zeigte sich erst viel zu spät. Die Autorin erzählt im Buch ihre Geschichte als ein Beispiel für eine jahrelang versteckte ADHS, was bei Mädchen und Frauen vermutlich häufiger vorkommt. Sie erklärt auch, woher ADHS kommt, wie sich die Leitsymptome Unaufmerksamkeit mit oder ohne Impulsivität und Hyperaktivität zeigen, zu welchen Folgen eine ADHS führen kann und wie eine Diagnose und Behandlung aussehen könnte. Am Ende gibt es noch etliche Tipps, wie sich das Leben mit ADHS besser gestalten lässt. Die Besonderheit hier ist, dass die Tochter der Autorin schon als kleines Kind die Diagnose ADHS bekommen hatte, aber die behandelnden Ärzte nicht darauf hingewiesen hatten, dass sie als Mutter auch von ADHS betroffen sein könnte. Warum auch, sie schien ja ihr Leben gut im Griff zu haben. So blieb ihre ADHS über viele Jahre hinweg unerkannt. Hätte sie die Diagnose früher bekommen, hätte sie früher darauf reagieren können. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich das Buch vor allem für Eltern von Kindern mit ADHS als Hinweis darauf, welche Folgen eine nicht entdeckte ADHS langfristig haben kann.
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Seitenzahl: 354
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Dieses Buch widme ich allen Eltern, die ein Kind mit ADHS haben.
Wir sind viele!
Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung
Über das Buch und wie es aufgebaut ist
Meine eigene Geschichte
Über meine Familie und mich
Meine frühen Jahre
Intelligent, aber nur mittelmäßige Noten
Mein Weg ins Studium
Der Einstieg ins Berufsleben
Selbständig mit Familie – der „Flow“ fällt weg
Eine nicht geglückte Familiengründung
Alleinerziehend, selbständig und im Dauerstress
Meine Tochter hat ADHS – und ich habe Stress
Die Struktur ist verloren gegangen
Das kostet zusätzlich viel Kraft: Familie und ein Kind mit ADHS
Ist es wirklich „nur“ ein Burn-out?
Am Ende ist es ADHS
Der nächste Abzweig ist immer nur einen Mausklick entfernt
Wie es beruflich weitergeht
Teil I: Was man im Vorfeld über ADHS wissen sollte
Zunächst einige (Fach-)Begriffe klären
ADHS
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeitsdefizit
Hyperaktivität bzw. Hypoaktivität
Impulsivität
Komorbidität
Neurokognitiv, neurotypisch, neurodivers, neurodivergent
Adaption bzw. Maladaption
Attribution
Coping / Coping-Strategien
Exekutive Funktionen
Konvergentes und divergentes Denken
Hyperfokus
Flow
Care-Arbeit und Kin-keeping
Masking
Neurofeedback
Psychoedukation
Selbstregulation
Resilienz
Reframing
Die falschen Mythen über Bord werfen!
Mythos 1: ADHS bei Kindern „wächst sich aus“
Mythos 2: ADHS lässt sich nicht sicher diagnostizieren
Mythos 3: Die Pharmaindustrie steckt hinter ADHS
Mythos 4: Die Medikamente schaden
Mythos 5: Menschen mit ADHS sollten nicht mit Medikamenten anfangen, weil die Einnahme ein Leben lang nötig ist.
Mythos 6: Falsche Ernährung verursacht ADHS
Mythos 7: Der unkontrollierte Medienkonsum verursacht ADHS
Mythos 8: ADHS kommt durch unsere Leistungsgesellschaft
Mythos 9: Hinter ADHS stecken ganz andere psychische Probleme
Mythos 10: Falsches Verhalten oder mangelnde Disziplin
Mythos 11: Die Diagnose ADHS stigmatisiert
Mythos 12: Menschen mit ADHS sind für viele Berufe ungeeignet.
Die Geschichte hinter ADHS
Teil II: Woher kommt ADHS überhaupt und was passiert hier im Gehirn?
Wie das Gehirn so tickt
Mehr über diese Neurotransmitter
Was unser Gehirn für die Menschheit geleistet hat
Die eigenen Anforderungen und Aktivitäten bewältigen
Mit den exekutiven Funktionen erledigen wir unsere Aufgaben – oder auch nicht
Gene oder Umfeld? Mögliche Ursachen der ADHS
Verschiedene Ursachen in der Diskussion
Ungünstige Faktoren während Schwangerschaft und Geburt
Ungünstige psychosoziale Bedingungen
Gute und stabile Bindungen können stärken
Weitere mögliche Faktoren
Könnte es an den Genen liegen?
Ein genetisches Erbe aus der Frühzeit der Menschheit?
Die Jäger-Bauern-Theorie
Statt Jäger und Bauern heute innovative Entwickler und Verwaltungsexperten?
Teil III: Was bedeutet es, ADHS zu haben und wie zeigen sich die Symptome?
Die wichtigsten Symptome oder Leitsymptome bei ADHS
Unaufmerksamkeit bzw. Konzentrationsdefizit
Hyperaktivität
Impulsivität
Die Subtypen oder Erscheinungsbilder im DSM
Die Subtypen im ICD
Gibt es mit CDS noch ein weiteres Erscheinungsbild?
Unterschiede bei Geschlechtern?
ADHS und die exekutiven Funktionen
Weitere Symptome und Begleiterscheinungen
Selbstwahrnehmung und Selbstwertproblematik
Depression
Andere affektive Störungen
Chronische Erschöpfung und Müdigkeit (Burn-out)
Schlafstörungen
Psychosomatische Störungen, Somatisierungsstörungen
Angststörungen
Tic-Störungen
Zwangsstörungen
Restless-Legs-Syndrom
Lichtempfindlichkeit, Lichtscheu
Teilleistungsschwächen oder -störungen
Vergesslichkeit und Gedächtnisstörungen
Organisationsprobleme bis hin zum Chaos
Vom Aufbewahrungsdrang bis zur Sammel„wut“
Überkompensatorisches Verhalten und Masking
Alkohol und andere Drogen: die Abhängigkeit von Suchtmitteln
Alkohol
Cannabis
Nikotin
Andere Substanzgebrauchsstörungen
Weitere Formen von Suchtverhalten
Mediensucht (vor allem Internet, Social Media)
Online-Spiele, Online-Gaming
Spielsucht
Kaufsucht
Esssucht und andere Essstörungen
Sensation seeking und die Liebe zum Risiko
Sensation seeking auch durch Sexualität
Persönlichkeitsstörungen bis zu Interaktionsstörungen
Probleme im Sozialverhalten
Soziale Probleme durch die Impulsivität und Affektlabilität
Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken
Schwierigkeiten bei Entscheidungen
Erklärungen und Begründungen bis zum Abwinken
Geringe Stresstoleranz und erhöhte Reizbarkeit
Fehlende Kritikfähigkeit und leichte Kränkbarkeit
Aufschiebe- und Vermeidungsverhalten
Von Konfabulationen bis hin zu richtigen Lügen
Oppositionelle Verhaltensweisen auch noch bei Erwachsenen?
In einigen Fällen auch kriminelles Verhalten
Wie verbreitet ist ADHS eigentlich? Zur Epidemiologie:
Frauen mit ADHS
Typische Symptome
Frauen mit ADHS und Freundschaften oder Beziehungen
Frauen mit ADHS im Beruf
Frauen mit ADHS als Mütter
Ältere Menschen mit ADHS
Der Blick der Gesellschaft auf ADHS
Berühmte Menschen mit ADHS heute
Bereits verstorbene Menschen, die möglicherweise ADHS hatten
Zusammengefasst: Die Schwächen bei ADHS
Auf der Gegenseite: Die Stärken von ADHS
Teil IV: Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten bei ADHS
Wie wird die Diagnose gestellt?
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Die Schweregrade der ADHS
Multimodales Vorgehen
Psychoedukation
Verhaltenstherapie
Ergotherapie
Gruppentherapie und Selbsthilfegruppen
Weitere Behandlungsformen
Akupunktur
Homöopathie
Coaching
Ernährung und Mikronährstoffe
Neurofeedback
Teil V: Das Leben mit ADHS besser bewältigen: Coping-Strategien
Herausforderungen im beruflichen Bereich
Herausforderung Berufswahl mit Ausbildung oder Studium
Herausforderungen bei der Ausbildung
Herausforderungen im Studium
Herausforderungen im Berufsleben
Herausforderungen im privaten Bereich
Herausforderungen in bzw. für Partnerschaft und Familie
Herausforderungen als Mutter oder Vater
Herausforderungen im und für das soziale Umfeld
Tipps für ein individuelles Coping-Strategie-Paket
Tipps und Hinweise rund um Coping-Strategien
Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis
Als Hinweis zum Setzen eigener Ziele
Umgang mit Glaubenssätzen, Blockaden und Ängsten
Die eigenen Stärken und Ressourcen (wieder)finden
Das eigene Coping-Strategie-Paket entwickeln
Tipps für die eigene Organisation
Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden lernen
Ordnung im Alltagskram
Organisation von Erledigungen und Terminen
Ordnung im Papierkram
Auch für die digitale Ordnung sorgen
Und noch an ein Wegwerfsystem denken
Tipps für die Konzentration auf wichtige Aufgaben
Aufgaben priorisieren
Salami-Taktik
Konzentriert arbeiten mit der 25+5-Technik (Pomodoro)
Konzentriert arbeiten mit der „Getting-Things-Done“-Methode
Wichtige Aufgaben mit Kanban im Blick behalten
Wichtig: Konzentrationsräuber und Zeitfresser ausschalten
Weitere Tipps fürs Abarbeiten
Tipps fürs Zeitmanagement
Die Zeit nicht vergessen
Die eigenen Zeiten kennen für Hochs und Tiefs
Realistische (!) Zeitpläne erstellen
Die „Regelmäßig-Pausen-Machen“-Strategie
Raus aus der Perfektionismusfalle oder das Pareto-Prinzip?
Gegenmaßnahmen zur Prokrastination
Tipps für die Finanzen
Tipps für den Haushalt
Tipps für gute Beziehungen
Tipps für die eigenen Ressourcen und Resilienz
Wichtig: Rituale schaffen und pflegen
Ein Positiv-Tagebuch führen
Auf eigene Ressourcen achten und auch mal Nein sagen
Tipps zum Entscheidungen treffen
Tipps zur Impulskontrolle
Statt dem Impuls zu folgen, einen alternativen Weg wählen
Statt dem Impuls zu folgen, bis zehn zählen
Wenn-Dann-Pläne erstellen zur Selbstregulation
Sich ein Token- oder Belohnungs-System entwickeln
Die Konzentration stärken
Für Stressabbau und Entspannung sorgen
Sport und Bewegung allgemein
Ein Nickerchen oder Power-Napping
Autogenes Training oder progressive Muskelentspannung
Yoga, Qi Gong oder Tai Chi
Musische oder andere künstlerisch-kreative Betätigungen
Auch das kann helfen: In guter Gesellschaft sein
Spiele zur Konzentration oder zur Entspannung
Meditationen und Achtsamkeitsübungen
Die 5-4-3-2-1-Übung
Resilienz stärken – auch mit einem „Reframing“ des „Mindset“
Als Ergänzung: Tipps für Partner, Familie & Freunde
Allgemeingültige Tipps? Eigentlich nur schwer möglich.
Tipps für eher lockere Freundschaften
Tipps für engere Beziehungen
Tipps für heftige Diskussionen und Streitereien
Schlusswort
Anhang
Empfehlungen für vertiefende Infos
Index
Im letzten Jahr erst habe ich das Ergebnis bekommen: eine Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung ist bei mir ganz deutlich sichtbar. Später zeigt sich: meine Hirnströme sind wie auf den Kopf gestellt. Die eine Linie, die normalerweise unten auf der Skala entlang läuft, ist ganz weit oben: Ich stehe also unter ständiger Anspannung. Die andere Linie, die oben entlanglaufen sollte, ist nach unten abgesackt und dümpelt dort vor sich hin: Die Konzentration ist bei mir buchstäblich im Keller.
Meine geistige Leistungsfähigkeit ist seit einiger Zeit weg! Dabei war ich früher einmal geistig hochgradig leistungsfähig, mit Uni-Abschluss und gelungener Selbständigkeit. Wie konnte es soweit kommen, dass mein Hirn durch eine jahrelang nicht entdeckte ADHS jetzt wie auf den Kopf gestellt ist? Wie kam es, dass mein Leben als selbständige und alleinerziehende Mutter eines ADHS-Kinds völlig aus den Fugen geraten ist? Dieser Frage will ich in diesem Buch nachgehen. Dazu noch viele Erkenntnisse und Einsichten aus der Wissenschaft ergänzen. Und schließlich noch Tipps geben und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.
Kurz zu meiner Person bzw. meinem Pseudonym: Der Name Katharina Ehret ist der Mädchenname meiner Lieblings-Urgroßmutter (die ich sogar noch kennengelernt habe, die anderen Urgroßmütter waren alle vorher schon verstorben). Auch wenn es in den letzten Jahren ein Trend geworden ist, die eigene Person öffentlich einem Seelen-Striptease zu unterziehen – bitte sehen Sie mir nach, dass ich diesem Trend nicht folgen möchte und unter einem Pseudonym veröffentliche, zumal es in meiner Geschichte ja auch um weitere Familienangehörige geht und diese ebenfalls ein Recht auf Privatsphäre haben. In diesem Sinne hoffe ich auf Ihr Verständnis und wünsche Ihnen unbekannterweise viel Spaß beim Lesen, beim Stöbern und beim Entdecken neuer Einsichten und vielleicht auch Ansichten rund um das Thema ADHS ...
„Katharina“
Das Ziel des Buches ist, möglichst umfassend über ADHS im Erwachsenenalter zu informieren und vor allem darüber zu informieren, dass man als Kind völlig unauffällig sein kann, um erst in einer späteren Lebensphase konfrontiert zu sein mit Unaufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, innerer Unruhe, Reizbarkeit und ähnlichen Symptomen.
In der Einführung erzähle ich zunächst meine eigene Geschichte, um einen solchen Werdegang exemplarisch aufzuzeigen, bevor es dann an die informativen Inhalte geht. Diese Geschichte zu lesen, ist kein Muss; wer möchte, kann direkt an die Kerninhalte gehen. Diese bestehen aus folgenden Teilen:
Teil I: Was man im Vorfeld über ADHS wissen sollte
Angefangen mit der Erläuterung von Fachbegriffen, mit falschen Mythen und mit der Geschichte hinter ADHS.
Teil II: Woher kommt ADHS überhaupt und was passiert im Gehirn?
Mit der Erklärung, wie das Gehirn eigentlich so tickt und mit den Erkenntnissen und Theorien, warum es Menschen mit ADHS gibt.
Teil III: Was bedeutet es, ADHS zu haben?
Hier werden die wichtigsten Symptome aufgezeigt, nämlich Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität, dazu noch die Auswirkung auf die sogenannten Exekutiven Funktionen.
Danach geht es zu den weiteren Symptomen und Begleiterscheinungen (auch komorbide Störungen genannt). Es geht auch um die Verbreitung von ADHS bei Frauen und älteren Menschen, wie die Gesellschaft auf ADHS sieht und welche prominente Personen vermutlich ADHS hatten bzw. welche es haben.
Und schließlich geht es um die Schwächen, aber auch um die Stärken von Menschen mit ADHS.
Teil IV: Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten
In diesem Teil geht es zunächst darum, wie die Diagnose gestellt wird, danach werden die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten vorgestellt: Zunächst gängigere Methoden, danach noch kurze Hinweise auf die eher weniger erforschten oder weniger anerkannten Methoden.
Teil V: Das Leben mit ADHS besser bewältigen: Die Coping-Strategien
Im letzten Teil werden zunächst die Herausforderungen von Menschen mit ADHS im beruflichen und im privaten Bereich beleuchtet. Danach folgen zahlreiche Tipps für ein individuelles Coping-Strategie-Paket: Was sind eigentlich Coping-Strategien, welche Tipps gibt es für die Organisation im Lebensalltag, welche Tipps gibt es für die Konzentration und fürs Zeitmanagement, dazu noch Tipps für Finanzen und Haushalt, Tipps für Beziehungen und – ganz wichtig! – Tipps für die eigenen Ressourcen und wie man sich selbst stärken kann.
Ergänzend gibt es noch Tipps, wie das Umfeld besser verstehen kann, welche Schwierigkeiten ein Mensch mit ADHS oft mit sich schleppt, und wie man einen besseren Umgang miteinander entwickeln kann.
Generell noch als Hinweis: Wichtige Inhalte können an mehreren Stellen auftauchen, das ist durchaus gewollt, denn wer das Buch anfängt zu lesen, legt es vermutlich zwischendurch wieder zur Seite und so ist bis zum Teil IV oder V womöglich nicht mehr so gut im Gedächtnis, was in Teil II erklärt worden ist. Natürlich wird nicht die komplette Erklärung geliefert, aber es kann durchaus vorkommen, dass wichtige Inhalte an mehreren Stellen zumindest kurz erwähnt werden.
Und zum Schluss noch der Hinweis zu grammatischen Geschlechtern:
Während es in der Biologie zwei Geschlechter gibt (die einen bilden Eizellen und die anderen die Spermien), hat sich in der deutschen Sprache eine Grammatik mit drei Geschlechtern gebildet (männlich/maskulin, weiblich/ feminin und sächlich/neutral). Diese Einteilung ist nicht umfassend, es gibt auch Sprachen ganz ohne Geschlechtsunterschiede.
In den letzten Jahren entwickelte sich bei einigen Menschen die Vorstellung, es gäbe noch das sogenannte soziale Geschlecht. Das grammatische Geschlecht und auch das häufig auftauchende generische Maskulinum (bei der die männliche Form für alle Geschlechter steht, ebenso wie die weibliche Form des generischen Femininums für alle steht) hat jedoch nichts zu tun mit dem biologischen Geschlecht und auch nichts mit dem sozialen Geschlecht. Daher werden in diesem Buch auch keine den Lesefluss störenden Unterstriche, Schrägstriche oder Gendersterne zu finden sein.
In der Regel werden die jeweils generischen Formen verwendet und stehen dabei für alle Geschlechter. An einigen Stellen werden Männer und Frauen gleichermaßen angesprochen, wobei auch das umfassend generisch gemeint ist und ebenfalls die anderen siebzig (oder so) neuerdings entwickelten Geschlechter inkludiert (auch wenn das einige nicht wahrhaben wollen, aber genau so verhält es sich nun einmal mit diesen generischen Begriffen: sie sind nicht spezifisch, sondern umfassend).
Um es nochmals zu betonen: Mit dieser Schreibweise soll niemand ausgeschlossen werden! Dieses Buch richtet sich an Menschen mit ADHS und auch an ihr Umfeld oder andere interessierte Menschen, und zwar ganz unabhängig von Rasse, Geschlecht, Alter, Haarfarbe oder Frisur, politischer Präferenz, Hobby oder Schuhgröße – ich orientiere mich hier nicht an postmodernen Identitätsfragen, sondern immer noch an dem Postulat der Aufklärung, demzufolge alle Menschen gleich sind. Aus diesem Grund will ich den Text des Buches auch nicht nach möglichen Geschlechtsvarianten zerstückeln. Das schadet am Ende nur der Lesbarkeit.
Für Menschen mit einer Konzentrationsschwäche dürfte es sowieso leichter sein, ein Buch zu lesen, in dem es nicht so von typografischen Zeichen wimmelt. Ich persönlich merke jedenfalls, dass ich ein Schriftbild mit zu vielen zusätzlichen Zeichen in den Zeilen als irritierend wahrnehme. Vielleicht liegt es auch an der schlechteren Konzentrationsfähigkeit. Als Mensch mit einer Konzentrationsschwäche empfinde ich einen Text voller Gendersterne oder ähnlicher Zeichen als Zumutung, daher soll es mit diesem Buch oder in diesem Buch auch niemandem zugemutet werden.
Bitte nutze zur Bearbeitung der Aufgaben die Kommentar- oder Notizfunktion deines e-Readers oder ein seperates Blatt Papier.
Ich möchte das Buch beginnen mit meiner eigenen Geschichte. Nicht weil ich mich persönlich für so wichtig halte (denn dann hätte ich nicht auf ein Pseudonym zurückgegriffen). Stattdessen möchte ich anhand meiner Geschichte aufzeigen, wie ein scheinbar ganz normales Mädchen als erwachsene Frau durch besondere Lebensumstände und besonders viel Stress immer mehr in einen Zustand von Verzetteltheit und Vergesslichkeit hineingeraten kann, der zunächst als Burn-out betrachtet wird, bis einige Jahre später die Diagnose ADHS kommt. In meinem Fall war der Auslöser bzw. diese besonderen Lebensumstände eine Selbständigkeit, dazu noch sehr viele weitere Interessen und Ideen für Projekte und schließlich noch das Da-Sein und die Fürsorge für andere Menschen (was jetzt neuerdings als Care-Arbeit bezeichnet wird).
Wenn ich also die ersten Seiten relativ ausführlich mein Leben und meine Entwicklung erzähle, dann aus einem einzigen Grund: Meine Geschichte soll als ein Beispiel dienen für viele weitere Entwicklungen in dieser Art. Ich schätze, es gibt noch ganz viele andere Menschen, die ähnlich wie ich in ihrer Kindheit nie auffällig waren, die aber dennoch im Lauf ihres Lebens in eine ADHS hineingeraten sind – weil sich bei ihnen irgendwelche Lebensumstände ergeben haben, durch die sich eine vorhandene Veranlagung zu ADHS stärker ausgeprägt hat, möglicherweise bis hin zu so massiven Problemen wie bei mir.
Aus meiner Geschichte weiß ich jetzt, dass eine frühzeitigere Diagnose und eine frühzeitigere Behandlung möglicherweise geholfen hätten, früher eine Lösung zu finden. Mit meiner Geschichte möchte ich vor allem Eltern ansprechen, bei deren Kind(ern) eine ADHS diagnostiziert worden ist, denn möglicherweise könnte auch bei ihnen diese Diagnose zutreffen und dann wäre es hilfreich, sich frühzeitig um eine Lösung zu kümmern (welche Möglichkeiten es gibt, wird später im Buch aufgezeigt).
Wenn ich mir anschaue, wo ich heute stehe, so schaue ich vor allem mit sehr viel Verwunderung auf mein Leben zurück, denn als Kind oder auch als junger Erwachsener war ADHS bei mir nie deutlich geworden.
In der Mitte der 1960er Jahre wurde ich in eine normale bürgerliche Familie hineingeboren. Der Opa väterlicherseits war Gärtner, der Opa mütterlicherseits arbeitete bei der Bundesbahn in der Verwaltung, beide Omas waren Hausfrauen. Mein Vater hatte durch gute Noten ein Hochschul-Stipendium erhalten und war Ingenieur geworden, meine Mutter hatte eine Ausbildung zur Sekretärin gemacht. Als wir Kinder klein waren, war sie zu Hause, als wir halbwüchsig waren, ist sie halbtags arbeiten gegangen. In meiner Familie war also niemand hinsichtlich seiner Aufmerksamkeit oder Leistungsfähigkeit auffällig, alles schien völlig normal zu sein.
Nun ja, im Nachhinein ist mir etwas in den Sinn gekommen: Mein Opa väterlicherseits ist leider schon früh verstorben, aber von den Großeltern mütterlicherseits ist mir später erzählt worden, dass er ein sehr angenehmer und charmanter Mensch war, allerdings konnte er bei einer Kaffeetafel nicht lange stillsitzen. Kaum hatte er Kaffee getrunken und etwas gegessen, wurde er unruhig und stand auf. Statt mit den anderen am Tisch zu sitzen, beschäftigte er sich lieber uns Kindern. Er konnte einfach nicht so lange stillsitzen bleiben. Möglicherweise würde man meinen Opa heute als hyperaktiv bezeichnen, aber damals war das kein Thema und da dieser Opa als Gärtner ja körperlich aktiv war, dazu in seiner Freizeit in seinem Schrebergarten ackerte und dann noch laufen ging und Handball spielte, hatte er ja sehr viel Bewegung zum Ausgleich.
Ob mein Vater als Kind hyperaktiv war? Er sagt, er wäre völlig normal gewesen, aber in der Zeit, als er aufgewachsen ist, waren Kinder auch viel mehr draußen, sie waren körperlich viel aktiver und in der Schule waren die Lehrer auch noch viel strenger und ließen Unaufmerksamkeiten nicht durchgehen. Möglicherweise ist er aus diesem Grund nach den heutigen Kriterien für ADHS nicht auffallend gewesen. Jedenfalls tut sich mein Vater schwer mit der Diagnose ADHS bei seiner Tochter und der Enkelin und ist fest davon überzeugt, das hätte nichts mit ihm oder seinem Vater zu tun. In gewisser Hinsicht mag es tatsächlich so aussehen, der Opa hatte seinen Beruf und nach dem Krieg sein geregeltes Leben mit viel körperlicher Aktivität, mein Vater hat eine Ausbildung und ein Studium geschafft, er war jahrelang im Beruf, er hatte einen Job, der ihm viel Abwechslung, viele Herausforderungen und viele Geschäftsreisen bescherte – ihm war nie langweilig, er war auch privat viel unterwegs und unter den passenden Umständen (das habe ich inzwischen gelernt) lässt sich ADHS auch gut kompensieren. Jedenfalls ist das Thema ADHS und von wem es kommt ein recht strittiger Punkt zwischen uns und auch ein Grund, warum ich das Buch unter dem Namen einer Urgroßmutter veröffentliche.
Die Kindheit meines Vaters habe ich natürlich nicht miterlebt, aber dafür die meines jüngeren Bruders. In den 1970er Jahren war ADHS noch weitgehend unbekannt, aber im Nachhinein betrachtet, war das Erscheinungsbild des Zappelphilipps bei meinem Bruder sehr ausgeprägt. Ich empfand ihn als Störenfried, weil ich oft etwas aufgebaut hatte, das er mir dann umgeworfen hat. Das führte natürlich zu viel Geschrei und von meiner Mutter hörte ich immer nur, als Ältere sollte ich doch vernünftig sein. Ich fand das sehr ungerecht und habe mir vorgenommen, später einmal für mehr Fairness und Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen. Am liebsten habe mich zu meinen Großeltern verkrümelt, die im selben Haus wohnten. Dort konnte ich in Ruhe lesen und spielen; gerne Quiz- und Memory-Spiele, weil ich darin gut war.
Mein Vater hat mich schon früh in die Welt der Buchstaben eingeführt. Mit vier Jahren konnte ich die ersten Buchstaben entziffern und mit fünf lesen. Als ich in die Schule kam und die Lehrerin merkte, dass ich flüssig lesen konnte, durfte ich mir aus der Schulbücherei immer wieder neue Bücher holen und lesen, während die anderen um mich herum das Lesen erst noch lernen mussten. Durch dieses Privileg, nämlich sich aus dem Unterricht ausklinken zu dürfen, weil man so viel weiß und kann, hatte Wissen für mich früh einen hohen Stellenwert bekommen. Zu Hause war Lesen zudem ein Mittel gegen Langeweile, vor allem an Regentagen, wenn man nicht rausgehen konnte. Ich liebte Geschichten über vergangene Zeiten, über Entdecker und Erfinder. Wenn meine Mutter zum Essen rief, überhörte ich das oft. Dann rief sie ein zweites oder drittes Mal, irgendwann stand sie in der Tür zum Zimmer und es gab Ärger, weil ich sie nicht gehört hatte – so vertieft war ich in meine Lektüre.
Bei meinen Großeltern durfte ich auch Dokumentarfilme schauen. Ich fand es unglaublich spannend, viel von den Dingen in der Welt zu hören und zu sehen. Wenn dann Erwachsene zu Besuch kamen und ich zeigen konnte, was ich schon alles wusste, und wenn ich dann dafür ein Lob bekam, dann hat mich das angespornt, noch mehr wissen zu wollen. So war ich zumindest in den ersten Jahren eine gute Schülerin, einfach weil mich alles interessiert hat. Abgesehen von dieser Wissbegier scheint mir, dass ich ein ganz normales Mädchen war, so wie viele andere auch.
Das mit der guten Schülerin änderte sich im Gymnasium. Dort gab es plötzlich Fächer, die ich weniger mochte, und auch in Deutsch wurden die Noten schlechter, weil ich beim Aufsatzschreiben noch zu viele weniger wichtige Gedanken reinpacken wollte und mir am Ende die Zeit davonlief. In anderen Fächern hing meine Aufmerksamkeit vom Thema ab. In Erdkunde fehlte mir beispielsweise das Interesse an Themen wie der Landwirtschaft in Indien oder dem Bergbau in Südamerika. Hier war ich zwar körperlich anwesend, aber geistig eher abwesend.
Wenn mich ein Thema interessierte, war ich gut, wenn nicht, gab es nur mittelmäßige Noten und ingesamt war ich ein eher mittelmäßiger Schüler. In dieser Art ging es in der Oberstufe weiter: Hier hatte ich meine Lieblingsfächer, darunter Deutsch und Geschichte, als Leistungsfächer gewählt und relativ gute Noten. Der Rest war weiterhin nur mittelmäßig. Irgendwelche Höhenflüge habe ich mir nicht zugetraut und mich daher auch nicht besonders angestrengt. Eigentlich war ich zufrieden damit, irgendwo im Normalbereich zu liegen.
Mein Bruder hingegen hatte von Anfang viel mehr Schwierigkeiten in der Schule. Das ging schon in der Grundschule los, weil er viel zu lebhaft war und nie stillsitzen konnte: Oft plapperte er mit dem Banknachbarn, kippelte mit dem Stuhl oder zappelte in anderer Weise herum, aber das wurde damals in den 1970er Jahren einfach als Lebhaftigkeit erklärt. Von seinen Leistungen her konnte er aufs Gymnasium. Dort ging es jedoch nicht lange gut, ich weiß zwar nicht, wie er im Unterricht war, aber ich kann mich noch erinnern, wie es mit den Hausaufgaben zu Hause war: Er konnte nicht ruhig sitzenbleiben, stand oft auf, um etwas zu holen, unsere Mutter musste ihn ständig ermahnen, doch an den Aufgaben zu bleiben, es war nervend für alle. Viele Hausaufgaben hat er auch vergessen oder übersehen, dafür gab es dann schlechte Noten. Am Ende musste mein Bruder (trotz eines hohen IQ) auf die Realschule wechseln – und dort wurde es auch nicht viel besser, weil die unruhige und zappelige Art ja geblieben ist. Dann ist er in eine Clique geraten ist, die nicht unbedingt gute Gesellschaft für ihn war.
Nach der Schule hat er eine Lehre angefangen, die er mit Ach und Krach geschafft hat. Danach hat er den Beruf gewechselt und sich selbständig gemacht. Sorgfältige Buchhaltung war jedoch gar nicht sein Ding, es gab immer wieder Schwierigkeiten mit Fristen beim Finanzamt bis hin zu Bußgeldern, was dann wieder zu weiteren Schwierigkeiten führte. Es gab Probleme aller Art, aber ich will nicht negativ über meinen Bruder berichten, im Grunde genommen mag ich ihn, seitdem wir keine Kinder mehr sind und er mir nicht mehr meine Spielsachen über den Haufen wirft.
Im Nachhinein betrachtet lässt sich viel von diesem gar nicht glatt verlaufenen Lebensweg auf eine ADHS-Symptomatik zurückführen, allerdings ist mein Bruder nie getestet worden, früher war ADHS ja völlig unbekannt. Mittlerweile hat mein Bruder einen Job, in dem er viel unterwegs ist, viel Abwechslung hat, gleichzeitig hat er auch seine geregelten Strukturen, so dass er sein Leben von außen betrachtet ganz gut im Griff hat – vielleicht ist er immer noch ein klein wenig zu leichtsinnig bei finanziellen oder anderen vertraglichen Entscheidungen, aber ich hoffe, dass er sich nicht mehr so leichtfertig in Schwierigkeiten bringt wie als junger Mensch.
Aber zurück zu meinem weiteren Werdegang: Mit dem mittelprächtigen Abi in der Tasche wusste ich nicht recht, wohin ich steuern soll. Ich hatte mich für zwei Lehrberufe interessiert und auch bei Betrieben nachgefragt, aber im Gespräch hat sich gezeigt, dass es nicht richtig passte. Aber auch Jura oder BWL hätte nicht gepasst, also habe ich ein Allerweltsstudium mit Germanistik begonnen. Das lief nicht besonders geradlinig, weil es an der Uni über das „Studium generale“ auch noch Kurse und Vorlesungen zu ganz anderen Themen gab. So habe ich mich einmal spontan eingetragen zu einem Polnischkurs, weil ein Uropa im 19. Jahrhundert von dort gekommen ist. Später habe ich noch zwei Semester in einer anderen Sprache gemacht, einfach weil ich mal „reinschnuppern“ wollte.
Schon immer leicht vom Hundertsten ins Tausendste gekommen.
Ansonsten war ich eine ordentliche Studentin und habe mich ziemlich ins Zeug gelegt. Im Sommer an den Baggersee wäre gar nicht mein Ding gewesen. Ich bin ein paar Mal mit Freundinnen an den See, aber während sich die anderen stundenlang zum Bräunen in die Sonne legen konnten, bin ich nach fünf Minuten unruhig geworden. Einfach nur herumliegen war langweilig. Insofern habe ich nicht dem Klischee des faulen Studenten entsprochen, im Gegenteil, ich war eine Bücherratte, mein Lieblingsplatz war die Bibliothek mit ihren altehrwürdigen Beständen. Wenn ich für eine Seminararbeit recherchiert und Quellen oder Sekundärliteratur gelesen habe, bin ich schnell vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Hier noch ein Buch aus der Bibliothek holen, da noch einen Artikel kopieren und mit nach Hause nehmen. Zu Hause haben sich immer Papierstapel gebildet, weil ich so viel wie möglich an Wissen mitnehmen wollte. Den manchmal nötigen „Mut zur Lücke“ hatte ich nie.
Während des Studiums lief das Arbeiten perfekt, es gab so viele Themen, die mich interessierten und ich konnte mich stundenlang in etwas hineinvertiefen, oft bin ich in diesen Hyperfokus oder „Flow“ gekommen, in dieses Gefühl höchster Konzentration, bei dem man Raum und Zeit hinter sich lässt, um sich ganz intensiv mit etwas zu beschäftigen und auf diese Weise enorm produktiv zu arbeiten.
Im Nachhinein betrachtet, war ich damals auch perfekt organisiert, sogar inmitten der vielen Papierberge. Damals hatte immer zwei oder drei Papierstapel mit einer Höhe von rund 40 bis 50 Zentimeter am Rand des Schreibtischs sowie weitere Unterlagen auf weiteren Ablageflächen. Und kurioserweise wusste ich genau, wie viel Zentimeter von oben oder von unten dieser oder jener kopierte Artikel lag. Mein Gedächtnis für Dinge und ihre Aufbewahrungsorte war damals erstklassig – umso extremer empfinde ich den Vergleich mit heute, nachdem mein Arbeitsgedächtnis nicht mehr so gut abspeichert, was wo abgelegt ist.
Jedenfalls habe ich mein Magisterstudium mit Erfolg beendet, auch wenn ich über die Regelstudienzeit weit hinaus gekommen bin. Ich fand so vieles interessant, habe mich in so viele Themen hineingestürzt. Am Ende stand ich allerdings etwas planlos da, was die Jobsuche anging; ich wusste gar nicht genau, was ich mit meinem Abschluss anfangen sollte. Durch eine Empfehlung bin ich auf eine befristete Stelle ins Projektmanagement eines Unternehmens gekommen. Der Job war in Ordnung, die Kollegen waren in Ordnung, eigentlich war alles in Ordnung, alles lief wunderbar, in der Firma wurde eine unbefristete Festanstellung in Aussicht gestellt…aber mir stellte sich die Frage, ob das dann alles im Leben wäre. Ich hatte Zweifel, ob die stets sehr ähnlichen Aufgaben nicht eines Tages zu langweilig wären.
Also habe ich beschlossen, mich noch einmal umzuorientieren und habe nach Stellenanzeigen geschaut. Ein Zeitungsverlag hatte ein Volontariat angeboten, das hat dann auch geklappt. Aus finanziellen Gründen habe ich mein Apartment aufgegeben und bin wieder zurück zur Familie gezogen, in mein Zimmer von früher. Das Volontariat hat Spaß gemacht, aber es war auch stressig, wenn man abends an einer Gemeinderatssitzung teilnimmt, die erst um 20 Uhr beginnt und der fertige Text bis 22 Uhr geliefert sein musste. Aber es hat geklappt, ich habe gemerkt, dass ich enorm belastbar bin und dass ich unter Zeitdruck sogar zu Höchstform auflaufe.
Mit der Zeit habe ich auch Kontakte zu Unternehmen bekommen und angefangen, neben normalen journalistischen Texten auch PR-Texte zu verfassen. Das war auch spannender als Berichte aus einer Gemeinderatssitzung oder von einem Vereinsjubiläum. Bei der Zeitung ist nach dem Volontariat auch eine Festanstellung im Gespräch, aber ich stelle fest, von zu Hause aus arbeiten passt bei mir besser, zumal meine Großeltern mit ihren über 80 Jahren allmählich in eine Hilfs- und Pflegebedürftigkeit rutschen. Ihre Tochter (also meine Mutter) war ja Vollzeit außer Haus, mein Stiefvater ebenso (meine Eltern hatten sich während meiner Studienzeit getrennt und beide neu geheiratet), da war es einfach gut, wenn jemand im Haus bleiben konnte und sich um Mittagessen und andere Erledigungen kümmert, die Oma zu einem Arzttermin bringt und so weiter. Auch zu diesem Zeitpunkt noch hatte ich den Eindruck, dass ich perfekt funktioniere und meine ganzen Aufgaben gut im Griff habe. Es schien alles bestens zu laufen.
Also habe ich kurz vor der Jahrtausendwende den Sprung in die Selbständigkeit gewagt. Erste Kontakte und Aufträge waren bereits vorhanden, es lief gut an. Allerdings wurde die Situation mit den Großeltern immer schwieriger, weil sie immer weniger tun konnten. Jeden Morgen bin ich um sechs Uhr aufgestanden, hatte bereits die ersten Ideen im Kopf und habe mich hingesetzt und gearbeitet. Aber mitten im Gedankenfluss musste ich gegen acht Uhr aufhören, um den Großeltern zu helfen und dann auch mit dem Hund rauszugehen. Gegen neun Uhr saß ich wieder am Schreibtisch, aber spätestens um elf musste ich dort weg und Mittagessen kochen. Dann ging es wieder an die Arbeit, aber kaum war ich wieder im Thema drin, musste ich unterbrechen, damit die Großeltern am Nachmittag noch einmal versorgt waren; später kam dann meine Mutter mit den Einkäufen von der Arbeit und hat sich dann den Rest des Tages gekümmert.
Ich will mich nicht beklagen, sondern nur die Situation aufzeigen, in die ich plötzlich gekommen war. Es war überhaupt keine Frage, dass ich für meine Großeltern da sein wollte – immerhin waren sie ja auch immer für mich da gewesen, wenn ich Unterstützung gebraucht habe. Mein Problem war nur, dass ich immer nur höchstens zweieinhalb Stunden hatte, um dann wieder aus meinem Gedankengang herausgerissen zu werden. Während ich im Studium und im Volontariat auch unter Zeitdruck Höchstleistungen wie aus dem Ärmel schütteln konnte, fiel mir die Arbeit mit den ständigen Unterbrechungen sehr viel schwerer: Kaum war ich in einem branchenspezifischen Thema drin, kaum hatte ich Ideen und Formulierungen im Kopf, musste ich unterbrechen und viel ging wieder verloren. Die Lockerheit war weg und ich fing an, mich zu verkrampfen.
Im Ergebnis führte diese Situation dazu, dass ich zwar beispielsweise acht Stunden an einem Projekt saß, aber durch das Unterbrechen und Wieder-Hineinfinden ein Arbeitsergebnis hatte, das in nur drei oder vier Stunden hätte erreicht werden können. So habe ich angefangen, nicht die tatsächliche Arbeitszeit zu berechnen, sondern die Zeit, die ich eigentlich hätte brauchen sollen. Dass ich nicht effizient war, wollte ich nicht meinen Auftraggebern anlasten. Es wäre aber auch nicht denkbar gewesen, die Großeltern in ein Pflegeheim zu geben. Also habe ich die Zähne zusammengebissen, um das irgendwie zu schaffen. Glücklicherweise haben nach zwei Jahren mein Bruder und seine Frau einen Sohn bekommen, meine Schwägerin blieb dann zu Hause und konnte bei den Großeltern einspringen. Als ich nicht mehr so dringend gebraucht wurde, bin ich auch wieder ausgezogen, in ein kleines Haus ganz in der Nähe, wo ich wieder ungestört am Schreibtisch arbeiten konnte. Mein Hirn schien wieder voll leistungsfähig zu sein und ich bin in meiner Arbeit wieder aufgeblüht: Ich war wieder in der Lage, 12 oder 14 Stunden hochkonzentriert zu arbeiten und es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. In dieser Phase hatte ich zwar auch viel Stress, aber damals war es dieser beflügelnde Eustress (im Gegensatz zu diesem kräftezehrenden Distress).
Damals hatte ich einen Mann kennengelernt, in den ich richtig verliebt war, der mir auch sehr imponiert hat, weil er geschieden und Teilzeitvater von zwei Kindern war und das mit einer selbstständigen Tätigkeit unter einen Hut bringen musste. In seinem Job war er sehr viel unterwegs, oft mehrere Tage am Stück und daher oft nur am Wochenende zu Hause. Und an den Kinder-Wochenenden wollte er sich Zeit für seine größere Tochter und den kleineren Sohn nehmen. In der Beziehung vorher hatte er schlechte Erfahrungen gemacht mit Kindern und Freundin, weil die damalige Freundin eifersüchtig war, wenn er mit den Kindern spielte. Daher war er zögerlich, die Kinder mit mir zusammenzubringen. Ich hatte Verständnis dafür, zudem hatte ich selbst genug zu tun. Also haben wir uns nur alle zwei Wochen gesehen und manchmal auch nur mit einem Abstand von vier Wochen, beispielsweise wenn er am kinderfreien Wochenende krank war oder wenn er mit einem Freund eine längere Motorradtour unternommen hat.
So verging zunächst Monat um Monat und irgendwann war es Jahr um Jahr. Alles blieb so, wie es war und irgendwann wurde mir deutlich, das reicht mir auf Dauer nicht. Und immer wenn ich das Thema angesprochen habe, bekam ich von ihm zustimmende Worte zu hören: Ja, ich hätte recht, wir müssten bald mal etwas ändern. Aber gerade jetzt hatte er so viel zu tun, musste sich noch um den Bruder kümmern, dessen Krebserkrankung zurückgekehrt war, und dazu noch um die Eltern. Von diesem Familiensinn war ich wiederum sehr beeindruckt und hatte daher Verständnis, dass ich in dieser Situation nicht an erster Stelle stand.
Und dann kam ein Betrug heraus! Mein erster Impuls war gewesen, laut schreiend davonzurennen. Aber ich wollte nicht so aus dem hohlen Bauch reagieren, sondern wollte das stattdessen auf rationaler Ebene verarbeiten. Allerdings war mein Gehirn so am Gedankenkreiseln, dass ich ständig unkonzentriert war und abends nicht einschlafen konnte. Ich war zum Nervenbündel geworden und vermutlich hat die ganze Aufregung meinem sonst so stabilen Monatszyklus geschadet, jedenfalls bin ich schwanger geworden, habe das aber zunächst nicht bemerkt und erst einmal Schluss gemacht. Und als ich die Schwangerschaft bemerkt habe, habe ich das Kind kurz danach verloren! Die nächsten Monate waren die Hölle, doch ich habe so gut es ging meinen Job erledigt und war auch weiterhin für meine Familie da. Ich habe versucht, diesen Mann zu vergessen.
In dieser Zeit wurde mir schmerzhaft bewusst, wie viele Jahre so nutzlos für diese komplizierte Beziehung verloren gegangen waren. Es würde nicht mehr lange dauern und mein 40. Geburtstag wäre da. Und zugleich wurde mir bewusst, wie wichtig es für mich wäre, ein Kind zu bekommen und es ins Leben begleiten zu können. In meiner Umgebung gab es durchaus andere Männer, die sich für mich interessierten. Ich mochte sie auch und der eine oder andere wäre auch das gewesen, was man „eine gute Partie“ nennt. Das Problem war jedoch: Es gab keinen Mann, in den ich ernsthaft verliebt war und ich konnte mir nicht vorstellen, eine Beziehung einzugehen, wenn es kein richtiges Gefühl des Verliebtseins oder der Liebe gibt. Ich hatte gehofft, mir würde jemand begegnen, in den ich mich verlieben würde, aber dem war leider nicht so. Stattdessen ist mir durch einen Zufall der wieder begegnet, für den ich so lange Zeit diese starken Gefühle hatte. Ich war dann einfach zu schwach, um die Trennung weiter durchzuziehen, also kamen wir wieder zusammen.
Um es abzukürzen: Es hat nochmal eine Weile gedauert, aber dann war es soweit, dass wir uns auf ein gemeinsames Leben mit einem gemeinsamen Kind einlassen wollten – und kaum war das beschlossen, bin ich schwanger geworden! Mit knapp 40! Ich war glücklich! Es war nur schade, dass meine Großeltern das nicht mehr miterlebt haben, sie waren beide einige Jahre vorher im hohen Alter verstorben.
Die erste Zeit war ich selig und auch der Umzug in sein Haus ging gut über die Bühne. Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass (wie bisher) seine Kinder an den Wochenenden besuchsweise da wären und wir die restliche Zeit für uns und das gemeinsame Kind hätten.
Aber es kam ganz anders als gedacht, denn die große Tochter hatte sich mit ihrer Mutter zerstritten und ist mit ihren knapp 19 Jahren zu ihrem Vater gezogen. Dann lernte sie den ersten Freund kennen, dessen Eltern in ihrer Trennungsphase waren und Stress machten, also wohnte auch er mehr oder weniger bei uns. Ihr Vater war glücklich, sein Lieblingskind jetzt ganz bei sich zu haben, alle ihre Wünsche wurden erfüllt. Leider war sie (wie so viele Teenager) nicht soweit, die einfachsten Ordnungsregeln zu befolgen oder bereit, sich an der Hausarbeit zu beteiligen und so wurde ich gebeten, „mal mit ihr zu reden“. Ich ahnte schon, worauf das hinauslaufen sollte: Er wollte die Rolle des lieben und verständnisvollen Vaters behalten (in einem Krimi wäre das quasi der „good cop“) und ich sollte die Rolle der strengen, nörgelnden Stiefmutter übernehmen (also der „bad cop“). Bei einem Besuch seines zweiten Kindes habe ich dann noch mitbekommen, wie gegenüber der leiblichen Mutter ein falsches Spiel gespielt wurde: Sein Sohn hatte eine schlechte Note, die unterschrieben werden musste, das hat der Vater dann übernommen mit einem Spruch à la „aber deiner Mutter sagen wir nichts, sonst regt die sich wieder so auf“. Aha, dachte ich mir, käme es bei uns zu einer Trennung, müsste ich also davon ausgehen, dass er nicht ehrlich wäre, sondern mich ebenso hintergehen würde, um bei dem gemeinsamen Kind der liebe Papa sein zu können. Diese Unehrlichkeit, diese Verlogenheit hat sicherlich dazu beigetragen, dass ich angefangen habe, innerlich auf Distanz zu gehen.
Nach einigen Wochen hatte ich das Gefühl, ich wäre in den falschen Film geraten: Ein paar Monate zuvor hatte ich mich noch auf ein Zusammenleben zu zweit mit dem gemeinsamen Kind gefreut. Und plötzlich finde ich mich in einer Situation wieder, wo ich mit zwei halbwüchsigen Teenagern unter einem Dach lebe. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Am schlimmsten war, wenn ich mit den beiden allein war, weil der Vater beruflich bedingt tagelang weg war. Ich fragte mich wirklich, was ich in diesem Haus soll, ich fühlte mich in diesem Leben wie fremd.
Um die Geschichte abzukürzen: Die gemeinsame Tochter kam auf die Welt, der Vater war beschäftigt mit seinem Beruf und mit den Problemen durch die große Tochter, davon habe ich mich ferngehalten, ich wollte nicht den ‚bad cop‘ spielen, sondern habe mich stattdessen um die Kleine gekümmert und zwischendurch habe ich versucht, wieder ein paar Aufträge abzuarbeiten. Das war schwierig, denn ganz oft war das Kind frisch versorgt worden, es war frisch eingeschlafen, aber bis ich im Thema drin war, musste ich schon wieder aufhören, weil sich die Kleine zu Wort meldete, damit sie gefüttert oder die Windel gewechselt wird. Danach fiel es mir schwer, wieder ins Thema reinzukommen und so hatte ich das Gefühl, ich komme mit der Arbeit überhaupt nicht voran, ich trete nur auf der Stelle.
Als das Baby etwa drei Monate alt war, kam für den Vater eine längere berufliche Abwesenheit im Ausland, gleich zwei Wochen sollten es sein, eventuell auch länger. Meine Mutter (die inzwischen in Rente gegangen war) hatte mir daraufhin angeboten, ich könne doch in dieser Zeit zu ihnen ins Gästezimmer, sie könne mich dann mit dem Kind entlasten, damit ich mal ein paar Stunden am Stück arbeiten kann. Das schien mir ein guter Vorschlag zu sein und so bin ich besuchsweise wieder zu ihr zurück.
Als die Auslandsreise zu Ende ging, habe ich gemerkt, dass sich mein Herz verkrampft. Wenn ich an den Mann dachte, an dem ich so viele Jahre so stark gehangen hatte, wurde mir bewusst, dass die ehemals große Liebe vertrocknet und verschrumpelt war. Mir war inzwischen schmerzhaft deutlich geworden, dass es ihm gar nicht so sehr um mich gegangen war. Er wollte eigentlich nur irgendein weibliches Wesen im Haus haben, das gut funktioniert, das ihn und seine Kinder versorgt, das nebenbei noch eigenes Geld verdient und ansonsten keine Ansprüche an ihn stellt.
Er schien aber auch gemerkt zu haben, dass die Beziehung nicht so lief wie gedacht und so kam von ihm bei einem Anruf der Vorschlag, bevor ich ins Haus zurückkehre, sollten wir uns erst einmal treffen und miteinander reden. Aber leider musste er direkt schon wieder für mehrere Tage weg. Es dauerte mehrere Wochen, bis es zu einem Treffen kam. Das, was ich ihm sagte, fand er interessant und wollte nachdenken. Und dann war er wieder unterwegs. Und dann habe ich kurz danach über seine Eltern mitbekommen, dass er schon eine neue kennengelernt hatte und mir ihr mehrere Tage in Urlaub fuhr. Er hat sich auch gar nicht mehr bemüht, irgendetwas mit mir zu klären.
Mein Leben als alleinerziehende Mutter hat sich von Anfang an sehr schwierig gestaltet. Ich lebte mit meiner Mutter und ihrem zweiten Mann zusammen, mein Hab und Gut sowie meine geliebten Bücher habe ich dann bei einer Freundin im Keller untergestellt. Vom Kindsvater habe ich kärgliche 200 Euro im Monat an Unterhalt bekommen. Hätte ich einen Anwalt eingeschaltet, hätte ich sicherlich mehr erhalten können, aber ich hatte keine Lust, mich mit diesem Mann zu streiten. Ich wartete ab, ob er sich wegen seines jüngsten Kindes melden würde, aber da kam: nichts. Erst nach zwei Jahren kam ein Anruf, dass jetzt jemand bei ihm einziehe und er wolle nun seine Tochter alle zwei Wochen holen. Mir kam in den Sinn, wie er bei seinem Sohn eine schlechte Note unterschreibt und ihm sagt, er solle aber der Mutter nichts davon erzählen, sonst rege diese sich so auf. Solche Lügereien wollte ich nicht, also habe ich Widerworte geäußert, daraufhin hat er wütend aufgelegt und sich nie wieder gemeldet.