Und ewig lockt der Vampir - Lynsay Sands - E-Book

Und ewig lockt der Vampir E-Book

Lynsay Sands

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Beschreibung

Sexy, Single & Unsterblich

Eigentlich wollte der Vampir Raffaele Notte auf der Karibikinsel nur die Seele baumeln und alle Gefahren der letzten Zeit hinter sich lassen. Doch seltsame Dinge gehen vor. Als Raffaele eine hilflose junge Frau aus dem Meer rettet, überschlagen sich die Ereignisse: Jessica Stewart war in die Fänge abtrünniger Vampire geraten, die sich des Bluts unschuldiger Touristen bemächtigen. Raffaele stellt Jess unter seinen ganz speziellen Schutz - vor allem, als er feststellen muss, dass er ihre Gedanken nicht lesen kann. Sie ist seine Seelengefährtin! Aber kann Jess Raffaele überhaupt vertrauen, nach allem, was ihr widerfahren ist?

"Sands' Charaktere sind witzig und vielschichtig ... großen Respekt an die Autorin!" Romantic Times

Band 28 der ARGENEAUS

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Seitenzahl: 527

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

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15

16

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Lynsay Sands bei LYX

Impressum

LYNSAY SANDS

Und ewig lockt der Vampir

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

Zu diesem Buch

Für Jessica Stewart bedeutet Familie alles – deshalb erklärt sie sich auch gutmütig bereit, ihre anstrengende Cousine in dem idyllischen Inselresort in der Karibik im Auge zu behalten. Es gibt auch deutlich schlechtere Orte, um sicherzustellen, dass die Verwandtschaft sich keinen Ärger einhandelt. Als Jess jedoch dazu genötigt wird, einen Ausflug zu einer Haifischfütterung zu unternehmen, entpuppt dieser sich sehr schnell als gewaltige Katastrophe. Denn abtrünnige Vampire nutzen diese Schifffahrt, um unschuldige Touristen um ihr Blut zu erleichtern. Nur mit einem beherzten Sprung ins offene Meer kann Jess entkommen und treibt nun erschöpft und hilflos (und beinah nackt) im Wasser. Da kommt ihr überraschend Raffaele Notte zu Hilfe, der sie in letzter Minute retten kann. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt: Die Abtrünnigen sind Jess nach wie vor auf den Fersen. Dass Raffaele ihr nun seinen Schutz anbietet, kommt Jess gar nicht so ungelegen – fühlt sie sich doch unwiderstehlich zu dem charismatischen Fremden hingezogen. Aber sie ahnt nicht, dass Raffaeles Hilfsbereitschaft nicht ganz uneigennützig ist …

Prolog

»Heiß, was?«

Raffaele verzog den Mund, als er den Kommentar seines Cousins Zanipolo hörte, und ließ den Blick über seinen ausgestreckten Körper wandern, um sich zu vergewissern, dass er nach wie vor komplett im Schatten des Sonnenschirms lag. Das war auch der Fall, dennoch schien es gegen die frühmorgendliche Hitze nichts auszurichten. Es war einfach nur verdammt heiß. Und dazu die Luftfeuchtigkeit, die alles umso schlimmer machte. In den mehr als zweitausend Jahren, die er jetzt schon lebte, war er nicht ein einziges Mal an einen Ort gereist, an dem achtundachtzig Prozent Luftfeuchtigkeit herrschten, wie es hier in Punta Cana der Fall war. Das hatte er bislang auch bewusst vermieden, denn Raffaele mochte es gar nicht, ohne wirklichen Grund von Kopf bis Fuß nass geschwitzt zu sein. Wenn anstrengende Arbeit ihn in Schweiß ausbrechen ließ, dann war das eine Sache, aber allein vom Rumstehen komplett durchgeschwitzt zu sein, empfand er als sehr unangenehm.

Seufzend lehnte er sich auf seiner Liege nach hinten und betrachtete missmutig blinzelnd den im grellen Sonnenschein daliegenden Strand. Sie waren in der Nacht hergeflogen und um fünf Uhr gelandet. Nachdem sie ihr Zimmer im Resort bezogen hatten, war Zani nicht davon abzubringen gewesen, noch vor Sonnenaufgang eine Runde im Meer zu schwimmen, um dann den Rest des Tages zu verschlafen.

Raffaele hatte sich bereit erklärt, ihn zu begleiten, nur um kurz darauf das Wasser schon wieder zu verlassen. Da die bereits zu der Zeit herrschende Schwüle ihm arg zu schaffen machte, hatte er es sich auf seiner Liege bequem gemacht, um ein wenig zu dösen. Zanipolo sollte ihn dann wecken, wenn er so weit war und sie in ihr Zimmer zurückkehren konnten. Aber Zani hatte ihn nicht geweckt, und so war Raffaele erst drei Stunden später aufgewacht, als sich der Strand bereits mit Badegästen zu füllen begann und die Sonne längst vom Himmel brannte. Jetzt saß er hier bis Sonnenuntergang fest, wenn er sich nicht den schädlichen Sonnenstrahlen aussetzen wollte, was bedeutet hätte, dass er sich zum Ausgleich mehr als reichlich bei ihrem Vorrat an Blutkonserven hätte bedienen müssen. Genau das wollte er aber vermeiden, denn neues Blut zu bestellen war etwas anderes, als hier am Strand eine Margarita zu bestellen – erst recht in der Dominikanischen Republik. In solchen Ländern war es eine komplizierte Angelegenheit, und es gab keinen Grund, sich ein solches Problem aufzuhalsen, wenn er es umgehen konnte, indem er einfach hier liegen blieb.

Es bedeutete aber auch, dass ihr Cousin Santo ganz allein in ihrem Zimmer war. Der Gedanke ließ Raffaele einen Blick auf die Unterkünfte des Resorts werfen. Santo war der Grund, warum sie diese Reise überhaupt unternommen hatten. Nicht, dass es sein Wunsch gewesen wäre. Sie waren hier, weil Lucian Argeneau als Chef des nordamerikanischen Rats darauf bestanden hatte. Zwar waren sie als Europäer eigentlich nicht seiner Befehlsgewalt unterstellt, aber der Mann hatte so ziemlich auf alles und jeden Einfluss. Und durch Heirat gehörte er jetzt auch noch zur Familie, quasi.

Raffaele runzelte die Stirn, als er darüber nachdachte, wie vielschichtig die Beziehung zwischen Lucian Argeneau und seiner Familie war. Dann aber zuckte er mit den Schultern und beschloss, sich lieber Gedanken über seinen Cousin Santo zu machen, der ihm schon genug Sorgen bereitete. Santo Notte war von Natur aus ein stiller und grimmiger Typ, doch in den letzten vierzehn Monaten seit ihren Erlebnissen in Venezuela hatte er sich noch mehr in sich zurückgezogen und seine Miene einen noch ernsteren Zug angenommen. Der arme Kerl war einer von jenen Jägern, die mit zu den Letzten gehörten, die in die Gewalt des wahnsinnigen Dr. Dressler geraten waren, der sie alle unerbittlich gefoltert hatte. Körperlich hatte er sich genauso davon erholt wie alle anderen geretteten Vollstrecker, doch seelisch …

Raffaele kniff die Lippen zusammen. Sie waren alle außer sich gewesen, als sie erfahren hatten, dass es Dr. Dressler gelungen war, sich der Festnahme zu entziehen und aus Venezuela zu fliehen. Santo jedoch hatte diese Nachricht einen Rückschlag versetzt, denn seine Entschlossenheit, diesen Wissenschaftler aufzuspüren, der ihn unbeschreiblichen Qualen ausgesetzt hatte, grenzte schon an Besessenheit. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

Für Raffaele war klar, dass Dressler nicht lebend vor den Rat gestellt würde, um sein Urteil zu erhalten, wenn Santo derjenige sein sollte, der ihn als Erster fand. Er würde dem Mann den Kopf abreißen, was auch völlig in Ordnung ging. Immerhin war der Befehl ausgegeben worden, Dressler zu töten, wenn man ihm über den Weg laufen sollte. Der Mann war für Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen ein Risiko, und die Gefahr war einfach zu groß, dass er ein weiteres Mal entkommen könnte … wenn er überhaupt jemals gefunden wurde.

Bedauerlicherweise wurde jetzt schon seit über einem Jahr nach Dressler gesucht, ohne dass man irgendeinen Hinweis auf seinen Verbleib hatte finden können. Das wiederum machte Santo arg zu schaffen, der sich deswegen wütend und frustriert nur noch mehr in sich selbst zurückgezogen hatte. Dass er dazu auch noch von Albträumen geplagt wurde, machte es für sie alle nicht leichter. Zwar hatte Santo schon immer mit Albträumen zu kämpfen gehabt, doch traten sie inzwischen deutlich häufiger auf und schienen auch heftiger geworden zu sein. Zumindest legten die Schreie, mit denen er sich und alle anderen regelmäßig aus dem Schlaf riss, diesen Verdacht nahe. Weitaus schlimmer war jedoch noch etwas ganz anderes: Santo beharrte darauf, den Jägern bei der Suche nach Dressler zu helfen, aber seit Kurzem ignorierte er Mortimers Befehle und stürmte ohne Rücksicht auf Verluste und ohne jegliche Absprache mit anderen einfach das nächste Abtrünnigennest. Schlimm genug, dass er sich selbst damit in Gefahr brachte, aber weitaus verheerender war, dass er dadurch auch das Leben der Jäger an seiner Seite aufs Spiel setzte.

Ein solches Verhalten konnte einfach nicht hingenommen werden, von daher hatte es Raffaele nicht gewundert, dass Lucian Argeneau und ihr Onkel Julius sich zusammengesetzt und beschlossen hatten, Santo zu einem Therapeuten zu schicken. Sie hatten ihn mehr oder weniger dazu gezwungen, mit Gregory Hewitt zu reden, einem unsterblichen Psychiater, der mit Lucians Nichte Lissianna Argeneau verheiratet war. Es hatte Raffaele auch nicht überrascht, als sich herausstellte, dass der Mann bei Santo keine Fortschritte erzielte. Santo war noch nie der geschwätzige Typ gewesen. Nach drei Sitzungen hatte Greg vorgeschlagen, dass man Santo eine Zwangspause auferlegen solle, vielleicht würde das ja etwas bewirken.

Natürlich hatte Santo keine Pause einlegen wollen, er hatte sich sogar rundweg geweigert und verkündet, die Jagd auf Dressler fortzusetzen – notfalls auch ohne die Unterstützung der Vollstrecker. Erst als Julius und Lucian ihm damit gedroht hatten, sich an den Rat zu wenden und ein Drei-zu-eins zu veranlassen, um all seine schrecklichen Erinnerungen zu löschen, hatte er nachgegeben. Nach seiner widerwilligen Zustimmung waren Raffaele und Zani dazu abgestellt worden, ihn zu begleiten. Sie sollten ihn im Auge behalten und darauf achten, dass er sich auch entspannte. Sollte sich im Verlauf seines Zwangsurlaubs jedoch keine Besserung abzeichnen, wartete auf Santo eine weitere Runde Therapie. Falls die ebenfalls ergebnislos blieb, würde ein Drei-zu-eins unvermeidbar werden.

Dieses Drei-zu-eins war eine Prozedur, bei der sich drei Unsterbliche zusammenschlossen, um gemeinsam die Erinnerungen eines vierten Individuums zu löschen. Raffaele stand dieser Möglichkeit mit gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits war das vielleicht die beste Lösung für seinen Cousin, der sich mit so vielen üblen Erinnerungen herumplagte, war doch Dressler nicht der Erste gewesen, von dem er gefoltert worden war. Andererseits war es ein riskantes Unterfangen mit allen möglichen Nebenwirkungen, unter anderem der Gefahr, dass er als lallender Idiot aus dem Ganzen hervorging. Aus diesem Grund war der Eingriff grundsätzlich verboten und bedurfte der ausdrücklichen Zustimmung des Rats. Aber der Tod war auch keine bessere Alternative, und wenn es gelang und Santo dadurch seinen Frieden ganz ohne nächtliche Albträume fand, dann war es vielleicht für ihn die beste Lösung.

Seufzend wandte Raffaele den Blick von den Gebäuden ab und lehnte sich wieder nach hinten. Seiner Einschätzung nach sollte Santo jetzt in ihrem Zimmer liegen und schlafen – und sich dabei die Lunge aus dem Hals schreien, da er wie üblich von Albträumen heimgesucht wurde. So heiß es hier am Strand auch sein mochte, war es vermutlich wesentlich erholsamer als das, was ihn in ihrem gemeinsamen Zimmer erwartete – sofern er es wagen konnte, am Strand einzuschlafen, während die Sonne hoch am Himmel stand.

»Ein Drink, Señor?«

Raffaele sah zu dem Kellner, der am Fußende der Liege gebückt stand, weil ihm der Sonnenschirm im Weg war.

»Nein … danke«, antwortete er seufzend. Es war erst halb zehn am Morgen und damit viel zu früh für Alkohol. Nicht, dass ihn Alkohol überhaupt interessierte – ganz im Gegensatz zu den Sterblichen. Aber selbst für die musste das doch etwas früh am Tag sein, oder nicht? Er hatte jetzt schon zum dritten Mal an diesem Morgen einen Drink ablehnen müssen, und er konnte davon ausgehen, dass spätestens in einer Viertelstunde entweder der gleiche hartnäckige Kellner erneut bei ihm auftauchen oder einer der anderen Männer in orangefarbenen Shorts und T-Shirt ihm etwas von dem Tablett anbieten würde, mit dem sie ständig durch die Gegend liefen.

»Er nimmt ein Wasser«, mischte sich Zanipolo ein. »Und eine Margarita. Für mich das Gleiche.«

Als Raffaele ihm einen finsteren Blick zuwarf, zuckte Zanipolo nur mit den Schultern. »Bei dieser Hitze darfst du nicht austrocknen.«

»Als ob Alkohol das verhindern könnte«, konterte Raffaele spöttisch.

»Das nicht, aber so werden die anderen glauben, dass du entspannt bist und deinen Spaß hast und Party machen willst, anstatt den mürrischen alten Bastard raushängen zu lassen, der du ja eigentlich bist«, meinte Zanipolo unbeeindruckt.

Raffaele reagierte mit einem mürrischen Brummen und fügte gereizt hinzu: »Was war noch gleich der Grund dafür, dass du mich nicht geweckt hast, als du aus dem Wasser gekommen bist? Dann könnte ich nämlich jetzt in unserem Zimmer sein und in Ruhe schlafen.«

»Weil wir nie unsere Lebensgefährtinnen finden werden, wenn wir den ganzen Tag in unserem Hotelzimmer rumhängen.« Zanipolo beschrieb eine ausholende Geste. »Hier müssen wir sein, wenn wir fündig werden wollen.«

»Genau. Hier am Strand in der Dominikanischen Republik. Und das auch noch im Mai, verdammt noch mal«, gab Raffaele aufgebracht zurück und fügte ungehalten hinzu: »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich dich diese ganze Reise habe vorbereiten lassen! Was war so schlimm an Italien? Oder einem anderen Land, wo nicht eine solche Hitze und Schwüle herrscht?«

»Wir haben ein Leben lang einen Bogen um die Sonne und um Orte wie diesen hier gemacht«, erklärte Zanipolo übertrieben geduldig, was vermutlich daran lag, dass er es Raffaele jetzt zum mittlerweile zehnten Mal seit der Landung erklärte. »Stattdessen suchen wir in Clubs und Nachtbars. Aber Christian hat seine Lebensgefährtin in einem solchen Resort gefunden.« Er machte eine Pause und zog die Augenbrauen hoch, als wäre das ein besonders wichtiges Argument. »Vielleicht haben wir bloß am falschen Ort gesucht. Vielleicht ist einer von diesen sonnigen Orten genau der, an dem wir unsere Lebensgefährtinnen finden werden.«

Raffaele seufzte laut, schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder zurück. Als sie noch im kühlen Kanada gewesen waren, hatte Zanipolos Vorschlag ganz überzeugend geklungen, doch hier bei diesen Temperaturen konnten sie froh sein, keinen Hitzschlag zu bekommen. Da sie sich nicht der Sonne aussetzen wollten, konnten sie weder ins Wasser gehen noch bei einer Partie Volleyball mitmachen. Sie konnten sich nicht an einer einzigen Aktivität beteiligen, bei der sie die Chance gehabt hätten, Frauen kennenzulernen. Sie konnten nur hier im relativen Schutz des Sonnenschirms liegen und auf den Abend warten, ehe sie in der Lage waren, den Strand zu verlassen. Bis dahin würden ihm garantiert alle Knochen wehtun, weil er so viele Stunden auf dieser elenden harten Liege zubringen musste. Und bis dahin würde er auch so erschöpft sein, dass ihn nichts anderes außer seinem Bett interessieren würde.

»Mach ein Nickerchen«, schlug Zanipolo ihm vor.

»Kann ich nicht«, knurrte Raffaele.

»Wieso nicht?«

»Weil die Sonne weiterwandert«, gab er aufgebracht zurück. »Sie könnte weit genug wandern, dass ich nicht länger im Schatten liege und ich einen Sonnenbrand bekomme. Ich muss wach bleiben, um mich davor zu schützen.«

»Ich werde dir Bescheid sagen, wann du mit dem Schatten mitwandern musst«, beteuerte Zanipolo.

»So wie du mir Bescheid gesagt hast, als du aus dem Wasser gekommen bist?«, fauchte Raffaele ihn an.

»Du hast gesagt, ich soll dich aufwecken, wenn ich so weit bin, in unser Zimmer zurückzugehen, nicht wenn ich lange genug im Wasser war«, beharrte Zanipolo und grinste dann. »Und bereit bin ich jetzt auch noch nicht.«

Verärgert verzog Raffaele den Mund und machte die Augen zu. Das kleine Würstchen hatte recht. Er hatte Zanipolo genau das gesagt, was sich nun als folgenschwere Unachtsamkeit entpuppte. Beim nächsten Mal würde er sorgfältiger über seine Wortwahl nachdenken müssen.

»Hast du die Einstiche bei der jungen Frau gesehen, die gerade eben an uns vorbeigegangen ist?«, fragte Zanipolo plötzlich.

Leise seufzend machte Raffaele die Augen wieder auf und sah sich um. Obwohl es eigentlich noch früher Morgen war, befanden sich allein in der näheren Umgebung mindestens fünfzig Frauen. Auch wenn mehr als die Hälfte von ihnen über vierzig war, stellten sie für einen Unsterblichen in seinem Alter alle noch junge Frauen dar. »Welche junge Frau? Was für Einstiche?«

»Die Blonde im gelben Bikini«, sagte Zanipolo und deutete in die entsprechende Richtung.

Raffaele entdeckte die besagte Frau in einer Gruppe Mittzwanziger. Sie standen zwischen den Liegen im Kreis, unterhielten sich und lachten. Raffaele musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte eine scharfe Figur, aber er konnte nichts Ungewöhnliches an ihr feststellen. »Also gut. Was für Einstiche?«

»Am Hals.«

Raffaele ließ den Blick wieder nach oben wandern, dann hielt er inne.

»Und? Was denkst du?«, wollte Zanipolo wissen.

»Dass wir uns dieses Resort mit einem Vampir teilen«, stellte Raffaele mit ernster Miene fest und nahm beiläufig wahr, dass der andere Mann ihn überrascht ansah. Normalerweise benutzte er den Begriff nicht, wenn er von Seinesgleichen sprach. Keiner von ihnen tat das, weil es eine Beleidigung darstellte. Vampire waren tote und seelenlose Kreaturen, die aus ihren Gräbern stiegen, um von Sterblichen zu trinken. Raffaele und seine Art waren dagegen Unsterbliche, die sehr lebendig waren, die immer noch ihre Seele hatten und die sich längst darauf beschränkten, Blutkonserven zu trinken. Aber er war schlecht gelaunt und hielt es von daher für angebracht, einen abtrünnigen Unsterblichen zu beleidigen, der gegen die Gesetze verstieß. Also bezeichnete er ihn als Vampir.

»Die meisten Sterblichen würden uns als Vampire bezeichnen«, meinte Zanipolo amüsiert.

»Ja«, stimmte Raffaele ihm zu und sah mit an, wie die Frau lachte und sich dann von der Gruppe entfernte. »Aber wir sind keine Beißer.«

»Richtig. Außer in einer Notlage«, gab Zanipolo zu bedenken und sah wieder zu der Blonden, die in Richtung der Gebäude weiterging. Grübelnd schürzte er die Lippen. »Vielleicht war ihr Beißer ja gar kein Abtrünniger, sondern einer von den Guten, der sich in einer Notlage befand.«

»Klar. Und wenn wir Glück haben, bekommen wir auch noch Besuch vom Weihnachtsmann«, gab Raffaele zurück und musterte aufmerksam die Gruppe, die die Frau eben verlassen hatte.

»Zyniker«, ermahnte Zanipolo ihn.

»Mit Zynismus hat das nichts zu tun«, versicherte er ihm. »Sieh dir lieber mal die Gruppe an, bei der sie vorhin gestanden hat. Aber nicht ihre Hälse.«

Während Zanipolo seiner Aufforderung nachkam, sah sich Raffaele selbst die Leute noch einmal genauer an. Jeder von ihnen wies die gleichen zwei Einstiche auf, die fast alle im identischen Abstand waren, abgesehen von dem einen oder anderen Millimeter. Einer hatte die Einstiche in der Armbeuge, ein anderer am Handgelenk, der Nächste am Fußgelenk. Bei einem jungen Mann fand sich die Stelle auf der Innenseite des Oberschenkels, ein Stück unterhalb des eng anliegenden Speedo-Schwimmanzugs.

Raffaele betrachtete die anderen Sonnenanbeter, die sich um sie herum am Strand tummelten. »Und die Gruppe da links von uns«, fügte er hinzu.

»Ein Nest«, flüsterte Zanipolo erschrocken, als er sich diese genauer ansah.

»So sieht es aus«, stellte Raffaele mit leiser Stimme fest.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Zanipolo irritiert.

Raffaele löste seinen Blick von der Gruppe und sah in Richtung Meer. »Du hast doch dein Handy dabei. Ruf Lucian oder Mortimer an. Die werden wissen, wer hier in der Dominikanischen Republik die Jäger leitet und ihnen Bescheid geben kann.«

»Sofern es hier überhaupt Jäger gibt«, überlegte Zanipolo besorgt. »Gehört das hier zum Südamerikanischen Rat?«

Raffaele schwieg einen Moment lang. »Wozu auch immer das gehört, Lucian wird schon wissen, was zu tun ist.«

»Ja«, murmelte Zanipolo und griff nach dem Handy, das zwischen den Stühlen auf seinem Handtuch lag. »Ich rufe an.«

1

»Kucke hier, schöne Señorita. Dir gefallen? Sí? Du kaufen? Gaaanz billig.«

Jess zwang sich zu einem Lächeln, während sie den Verkäufer, der auf gleicher Höhe mit ihr blieb, mit einem Kopfschütteln bedachte. Er ging dabei rückwärts und passte sich an ihr Tempo an, wobei er mit einer Hand über die zahlreichen bunten Umhänge strich, die er vor einem Geschäft aufgehängt hatte.

»Aber kucke! Ist wunderschön für dich. Und gaaanz, gaaanz billig«, beharrte er, wobei es ihm gelang, so zu klingen, als hätte ihr Desinteresse ihn zutiefst verletzt.

Jess schüttelte nur wieder den Kopf und ging schneller, um den Mann loszuwerden. Zu ihrer großen Erleichterung gab der auch auf und suchte sich ein neues Opfer, das er nun wieder vor guter Laune sprühend ansprach: »Kucke, schöne Señorita. Gaaanz billig. Dir gefallen? Sí? Du kaufen?«

Jess machte sich nicht die Mühe, einen Blick auf die Frau zu werfen, auf die er jetzt einredete. Sie wusste, jedes weibliche Wesen, das nach Touristin aussah, wurde von ihm als »schöne Señorita« bezeichnet, ganz gleich ob es sich um eine Acht- oder eine Achtzigjährige handelte, ganz gleich, ob sie fünfzig oder fünfhundert Pfund wog. Die Verkäufer hier machten in dem Punkt keinen Unterschied, aber sie waren auch unglaublich hartnäckig. Jess empfand das als ein wenig unangenehm. Es gefiel ihr nicht, dass die Aufmerksamkeit immer wieder auf sie gelenkt wurde, und es widerstrebte ihr, ständig Nein sagen zu müssen. Das würde sie ganz sicher nicht vermissen, wenn sie die Heimreise antrat. Das und die Luftfeuchtigkeit. Lieber Himmel! Immer, wenn sie das Hotel verließ, kam es ihr so vor, als würde sie ein Dampfbad betreten. Allerdings war es in ihrem Hotelzimmer nicht viel besser. Dort war es zwar etwas kühler, aber die Luft war genauso feucht. Damit war auch alles um sie herum feucht – ihre Kleidung, die Bettwäsche, die Handtücher, ihre Haut. Seit dem Moment ihrer Ankunft hatte sie nichts Trockenes in die Finger bekommen, weshalb sie sich sicher war, dass sie vor ihrer Abreise noch anfangen würde zu schimmeln.

»Ich kann unseren Bus nirgends sehen. Vielleicht steht er ein Stück weiter die Straße runter«, sagte Jess zu ihrer Cousine und suchte den freien Abschnitt vor ihr nach dem Bus ab. Die Tore zwischen den Ständen der Händler und der Straße hatten bei ihrer Ankunft weit offen gestanden. Jetzt waren sie so weit angelehnt, dass Fußgänger sie mühelos passieren konnten, für Autos jedoch nicht genug Platz blieb.

Als Allison nicht sofort reagierte, fügte Jess hinzu: »Was meinst du?« Da auch jetzt wieder keine Antwort kam, sah sie über die Schulter und blieb abrupt stehen, weil von ihrer Cousine nichts mehr zu sehen war. Als sie das Boot verlassen hatten, war sie noch hinter ihr gewesen.

»Allison?« Sie drehte sich um und sah eine Gruppe von bestimmt achtzig bis hundert Leuten auf sich zukommen, die alle den Ausflug zu Seaquarium mitgemacht hatten. Sie alle waren zuvor an Bord eines großen Boots gegangen, das man umgebaut hatte, damit es wie ein Piratenschiff aussah. Damit waren sie dann zum Seaquarium gebracht worden, wo sie mit Rochen und Haien »geschwommen« waren.

Da sie unbedingt an Land wollte, hatte Allison Jess vor sich hergetrieben, damit sie vor den anderen Reisenden das Boot verließen. Der größte Teil dieser gut hundert anderen Touristen bewegte sich jetzt wie eine Menschenwelle auf sie zu, manche nur in Badekleidung, andere etwas mehr bedeckt, einige mit Taschen bepackt, fast alle immer noch klatschnass vom Schnorcheln am Korallenriff, das im Anschluss an den Besuch im Seaquarium stattgefunden hatte. Und genau wie eine Welle teilte sich die Menge vor Jess, so als würde sie ihr wie ein Fels im Weg stehen. Alle strebten sie auf das halb geöffnete Tor und auf die dahinter wartenden Wagen zu.

»Allie?«, rief Jess etwas lauter, da sie sie nirgends entdecken konnte und auch nicht wusste, wo genau sie sie auf dem Weg hierher verloren hatte.

»Wenn Sie Ihre blonde Freundin suchen, die ist stehen geblieben, um mit einem dieser gefährlich aussehenden Piraten zu reden«, sagte ihr eine hilfsbereite ältere Lady in schwarzem Badeanzug, wobei sie den Kopf in den Nacken legen musste, um unter dem breitkrempigen Hut hervorzulugen.

»Einer der gefährlich aussehenden Piraten? Sie meinen diese Darsteller?«, gab Jess irritiert zurück.

Bei der Rückkehr an Land waren sie mit dieser »Überraschungs«-Darbietung einer Gruppe aus Männern und Frauen empfangen worden, die als Piraten kostümiert waren. Die hatten einen Schaukampf aufgeführt, getanzt und ein paar Tricks und Stunts vorgeführt, die gar nicht mal so übel gewesen waren. Auf jeden Fall hatte das Ganze besser ausgesehen als die Tanznummer, die die Bootsbesatzung zum Besten gegeben hatte. Als gefährlich würde Jess diese Truppe dennoch nicht bezeichnen wollen, vielleicht als ein bisschen verwegen, aber nicht gefährlich.

»Nein. Keiner von denen. Sondern einer von den Leuten, die sich unter das Publikum gemischt hatten, nachdem die Show zu Ende war«, stellte die alte Frau klar.

»Oh«, machte Jess und sah wieder zu den Verkaufsständen und den Geschäften. Ihr war zu heiß, sie war müde, die Füße taten ihr weh, und sie hatte einfach die Nase voll von Allisons ständigem Jammern, deshalb war sie auch so bereitwillig auf deren Beharren eingegangen, sich noch vor dem Ende der Show auf den Weg zum Bus zu machen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihre Cousine dann auf einmal beschlossen haben sollte, sich mit einem der kostümierten Männer zu unterhalten. Andererseits hatte Allison durchaus ein Faible für »gefährlich aussehende« Männer, wie Jess seufzend feststellen musste. So fand sie muskulöse Männer in engen Lederhosen schlicht unwiderstehlich. Dazu noch ein paar Tattoos und einen kahl rasierten Schädel, und für sie gab es kein Halten mehr.

Jess bedankte sich bei der älteren Dame, dann ging sie zurück zu den Verkaufsständen und warf jedem, der ihr entgegenkam, einen flüchtigen Blick zu. Allison war nirgends zu sehen, und das galt auch für jeglichen gefährlich anmutenden Piraten. Zumindest was ihre unmittelbare Umgebung betraf, aber dann fielen ihr ein paar kleinere Gruppen auf, die in die entgegengesetzte Richtung und damit in Richtung Anlegestelle unterwegs waren. Bei den meisten handelte es sich um Pärchen, von denen einer ein Piratenkostüm trug, während der jeweils dem anderen Geschlecht angehörende Begleiter in Badekleidung unterwegs war. Sie konnte aber auch ein paar Trios erkennen, und nach genauerem Hinsehen fand sie ausreichend Grund, um erleichtert aufzuatmen. Allison gehörte zu einem dieser Dreiergrüppchen, denn ihre blassblonden Haare waren umso auffälliger, weil sie sie am Tag zuvor von einem fahrenden Händler am Strand ihre Haare mit roten und grünblauen Perlen zu mehreren Cornrows hatte flechten lassen.

Allison war auf dem Weg zurück zu dem Boot, von dem sie erst vor ein paar Minuten an Land gegangen waren. Sie hatte sich bei einem gut aussehenden Piraten mit dunklen Haaren und dunklem Teint untergehakt. Als Jess seine Kleidung sah, staunte sie nicht schlecht, denn während die Schauspieltruppe deutlich erkennbar Kostüme getragen hatte, sah die Kleidung dieses Mannes authentisch aus. Aber womöglich hatte das auch nur mit seiner Gangart zu tun, die ein solches Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass man meinen konnte, er wäre dem Titelblatt einer GQ-Ausgabe aus dem 18. Jahrhundert entstiegen. Das weite, weiße Hemd, die dunkle Hose, die blutrote Schärpe um die Taille, braune Lederstiefel und dazu ein großer lederner Dreispitz auf dem Kopf – das alles ließ ihn wie den Anführer einer Piratenbande erscheinen. Jess musste zugeben, dass sie nachvollziehen konnte, wieso Allison ein Auge auf ihn geworfen hatte. Er machte wirklich etwas her. Es änderte aber nichts an der Tatsache, dass Allison vor ein paar Minuten noch ausgiebig über die Bootsfahrt hergezogen war, dass sie sich über Sand in ihrer Poritze und darüber beklagt hatte, seekrank geworden zu sein. Sie war erschöpft gewesen und hatte nur noch ins Resort zurückgewollt. Das hier war selbst für jemanden, der so wankelmütig war wie Allison, ein wirklich radikaler Meinungsumschwung.

Einen Moment lang überlegte Jess, ob sie zum Bus zurückkehren und dort auf ihre Cousine warten sollte. Immerhin würde der Bus nicht losfahren, solange nicht alle Passagiere an Bord waren, und wenn Allison zu lange trödelte, würde der Fahrer zweifellos losgehen und sie persönlich einkassieren. Doch das konnte sie nicht machen, denn sie hatte ihrer Cousine Krista – Allisons jüngerer Schwester – versprochen, dafür zu sorgen, Allison vor jeglichem Ärger zu behüten. Und Jess nahm jedes Versprechen ernst, das sie gab.

Vor sich hinmurmelnd setzte sie sich resigniert in Bewegung und bahnte sich ihren Weg zwischen den fröhlichen Touristen hindurch, um den beiden zu folgen. Ihre Resignation verwandelte sich jedoch schon Augenblicke später in Verärgerung. Jess war davon ausgegangen, dass der Mann Allison zu einem der Stände bringen würde, um ihr dann einen Anhänger aufzuschwatzen. Schließlich war es das, worauf die meisten Leute hier aus waren.

Doch der Mann folgte ein paar anderen Paaren, die auf dem Weg zu jenem Boot waren, das sie und Allison eben verlassen hatten. Jene Allison, die angeblich hundemüde und seekrank war. Und die jetzt bereitwillig, ja, sogar erwartungsvoll dorthin zurückkehrte, während sie den Mann an ihrer Seite anschmachtete und wie eine Klette an ihm hing.

»Allison!«, rief Jess energisch und lief etwas schneller über den Sand, der bei jedem Schritt nachgab. Wenigstens blieb Allison daraufhin stehen und drehte sich zu ihr um, auch wenn sie einen absolut verständnislosen Eindruck machte, als hätte sie Jess völlig vergessen und könne sich nicht erklären, warum die ihren Namen mit einem so verärgerten Unterton gerufen hatte.

»Der Bus!«, stieß Jess ungehalten aus und ging weiter auf sie zu. »Nun komm schon!«

Allison stand unschlüssig da, aber dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ganz dem Mann an ihrer Seite, der etwas zu ihr sagte. Schließlich drehte sich Allison wieder zu ihr um und lief ihr entgegen.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einfach …« Sie unterbrach sich verdutzt, als Allison ihren Arm packte, um sie hinter sich herzuschleifen – in Richtung des Piraten, der inzwischen weitergegangen war.

»Wir wollen die Haie füttern. Vasco sagt, du kannst auch mitkommen«, sagte Allison und drängte sie, ihr zu folgen.

»Was? Augenblick mal«, sagte Jess und stemmte sich gegen Allison. »Ich dachte, du bist müde und seekrank und dir ist heiß und …«

»Ach, das habe ich nur gesagt, damit Krista ein schlechtes Gewissen hat. Mir geht’s bestens«, versicherte Allison ihr.

»Was?« Jess stemmte sich daraufhin so gegen Allison, dass die sie nicht länger hinter sich her schleifen konnte. Etwas in dieser Art hatte sie von Anfang an vermutet, aber es war schon fast schockierend, ein solch freimütiges Eingeständnis zu hören.

»Du hast mich doch verstanden«, erwiderte Allison unbekümmert. Sie schämte sich nicht im Geringsten für ihr Verhalten. Wieder zog sie stärker an Jess’ Arm. »Auf dieser Reise dreht sich ohnehin schon alles viel zu sehr um sie. Ich wollte ihr einfach ein schlechtes Gewissen verpassen.«

»Natürlich dreht sich alles um sie. Das ist schließlich ihre Hochzeitsreise«, antwortete Jess ungläubig. »Auf dieser Reise geht es nur um sie und Pat.«

»Das ganze letzte Jahr über ging alles ständig nur nach ihr«, knurrte Allison ungehalten. »Seit sie ihre Verlobung bekanntgegeben hat, gibt es nur noch Geschenke und Glückwünsche für Krista, Partys für Krista und, und, und. Und dann die ständige Planerei und das ganze Theater um alles! Und was ist mit mir?«, fragte sie weinerlich. »Ich wollte, dass sie im Frühjahr heiraten, wenn das Wetter hier angenehmer ist. Aber nein, sie mussten ja unbedingt Ende Mai heiraten, wenn die Saison vorbei ist und wenn es hier brütend heiß und doppelt so schwül ist. Und wenn sich hier nicht ein einziger Kerl tummelt, mit dem man sich die Zeit vertreiben kann. Wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn sie im Februar oder März geheiratet hätten?«

»Viele von ihren Freunden studieren noch oder haben gerade ihren Abschluss gemacht. Im Februar und März hatten die noch alle Vorlesungen. Außerdem ist es günstiger für sie, im Mai herzukommen. In der Hauptsaison ist es viel zu teuer«, erklärte Jess. »Außerdem wollten Pat und Krista genau ein Jahr nach dem Tag heiraten, an dem er ihr den Antrag gemacht hatte.«

»Ja, schön. Ich will jedenfalls meinen Spaß haben«, sagte Allison mit mürrischer Miene. »Und jetzt beeil dich, sonst legen die ohne uns ab.«

»Sollen sie doch«, gab Jess zurück. »Der Bus wartet und kann erst losfahren, wenn alle eingestiegen sind. Wir müssen gehen.«

»Nein. Du kannst dich ja in den stickigen Bus setzen und warten, aber ich gehe mit Vasco.«

»Ach, verdammt noch mal, Allison«, knurrte Jess und versuchte sie zurückzuhalten. »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein, dass ein Bus voller Leute stundenlang warten soll, bis du …«

»Pass auf«, fiel ihr Allison ungeduldig ins Wort und deutete mit der freien Hand auf die Grüppchen, die zum Boot gingen. »Da fahren noch andere mit, die mit dem gleichen Bus hergekommen sind. Auf die muss schließlich auch gewartet werden. Willst du lieber in einem glutheißen Bus sitzen oder mit uns kommen und die Haie füttern?«

Jess sah zu den Zweier- und Dreiergrüppchen, auf die Allison gezeigt hatte. Sie stutzte, als sie tatsächlich einige von ihnen wiedererkannte. Da war sogar das Paar, das auf der Hinfahrt in der Reihe vor ihnen gesessen hatte. Der Bus würde tatsächlich auf sie alle warten müssen. Sie musste daran denken, wie heiß und unangenehm es im Bus selbst dann noch gewesen war, als durch die offenen Fenster Luft ins Innere gedrungen war, auch wenn es sich um warme Luft gehandelt hatte. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es sein würde, in einem Bus zu warten, der in der Sonne vor sich hin brütete. Ganz so, als würde man in einem Backofen schmoren.

»Also?«, hakte Allison ungeduldig nach.

»Ja, okay«, murmelte Jess und ließ sich von ihrer Cousine in Richtung Anlegestelle zerren, wo das Boot auf sie wartete. Noch während sie einlenkte, nahm sie sich vor, sich niemals dazu überreden zu lassen, mit Allison gemeinsam zu verreisen. Schon gar nicht, wenn sie dafür verantwortlich sein sollte, diese vor jeglichem Ärger zu bewahren. Einer solchen Aufgabe war niemand gewachsen, und unter normalen Umständen hätte sie sich auch nicht dazu bereit erklärt, wenn diese Bitte nicht von Krista gekommen wäre. Als Krista sie gebeten hatte, sich ein Zimmer mit ihrer älteren Schwester zu teilen, hatte sie ihr diese Bitte einfach nicht abschlagen können. Sie wusste, wie schwierig Allison sein konnte, und genau genommen vermutete Jess, dass Krista auch lieber eine andere Trauzeugin ausgewählt hätte. Doch im Hinblick darauf, dass Allison ihr die Hölle heißgemacht hätte, wenn ihr diese Aufgabe nicht zugefallen wäre, hatte sie sich – zweifellos auch auf Drängen ihres Vaters – dem Unvermeidlichen gebeugt und Allison gebeten, ihre Trauzeugin zu sein.

Natürlich hatte Allison es als ihre Pflicht angesehen, dieser Bitte nachzukommen, wenngleich sie sich vom nächsten Moment an pausenlos darüber beklagt hatte, wie viel Mühe und Arbeit damit verbunden waren. Diese Frau hatte einfach das Talent, alle in ihrem Umfeld in den Wahnsinn zu treiben. Niemals schaffte sie es, pünktlich zu sein. So hätten sie durch ihre Trödelei fast ihren Flug verpasst. Jess hatte sie am Arm gepackt und hinter sich her quer durch den Flughafen geschleift, sonst würden sie jetzt noch in Montana hocken, wo sie allenfalls via Facebook an der Hochzeit teilgenommen hätten.

Als wäre das alles noch nicht genug gewesen, war Allison am zweiten Tag der Reise keine Spur schneller gewesen. Sie hatte sich mit dem Frühstück endlos viel Zeit gelassen und darauf bestanden, anschließend schwimmen zu gehen. Dadurch hätten sie die Hochzeit fast schon wieder verpasst, und das, wo Allison die Trauzeugin war! Sie hatte es wirklich verstanden, die Braut am Tag ihrer Heirat zur Verzweiflung zu bringen. Anstatt in ihrer Funktion als Trauzeugin die Braut in jeder Hinsicht zu unterstützen, hatte sie es durch ihr rücksichtsloses Verhalten geschafft, dass Krista schließlich in Tränen ausgebrochen war.

Als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte Allison sich auch weiterhin als extrem widerborstig entpuppt. Die gesamte Hochzeitsgesellschaft war für zwei Wochen angereist, und die Jüngeren unter ihnen verbrachten fast die ganze Zeit gemeinsam – ob man nur am Strand in der Sonne lag, eine Disco besuchte oder essen ging. Dabei konnte man sich fest darauf verlassen, dass Allison stets aus der Reihe tanzte. Wenn alle sich einig waren, beim Mexikaner essen zu gehen, wollte sie zum Italiener. Wenn alle für ein Konzert an den Strand gehen wollten, dann wollte Allison in der Stadt in einen Club gehen. Sogar heute hatte sie eigentlich zum Seilrutschen anstatt wie der Rest von ihnen ins Seaquarium gehen wollen, und hatte zum Verdruss aller immer wieder die Vorzüge ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung aufgezählt.

Allison war von ihrem allzu nachsichtigen Vater über die Maßen verwöhnt worden, weil der ein schlechtes Gewissen hatte, dass er sie nach der Scheidung allein großziehen musste. Dadurch war sie so sehr daran gewöhnt, stets ihren Willen durchzusetzen, dass sie jedem anderen das Leben zur Hölle machte, der nicht sofort nach ihrer Pfeife tanzte. Mit dem Erfolg, dass alle anderen sich für gewöhnlich ihren Wünschen fügten, weil niemand es wagte, sich ihren Zorn zuzuziehen. Nur diesmal lief das nicht so, da es bei dieser Reise ausschließlich um Krista und Pat ging, um niemanden sonst. Was zur Folge hatte, dass die ganze Gesellschaft sich nach deren Wünschen richtete – was Allison nur noch mehr auf die Palme brachte, da es ihr absolut gegen den Strich ging, sich nicht gegen ihre jüngere Schwester durchzusetzen. Stattdessen machte sie dann allen anderen das Leben zur Hölle, indem sie sich unablässig beklagte – über das Resort, die Hitze, das Essen und, und, und … Da es nun einmal Jess war, die sich ein Zimmer mit Allison teilte, musste sie sich auch den Großteil der schier endlosen Beschwerden anhören.

»Nie wieder«, schwor sie sich mit finsterer Miene, während sie weiter hinter Allison herging und dabei an einer großen Barkasse vorbeikam, die zu einem täuschend echten Piratenschiff umgerüstet war, bis sie zu einer etwas kleineren Schaluppe gelangten, die ein echtes Piratenschiff hätte sein können. So wie die Kostüme der Besatzung wirkte auch dieses Schiff so authentisch, dass Jess ein Schauer über den Rücken lief, als sie Allison über die angelegte Planke an Bord folgte.

»Ah, du hast deine Freundin überzeugen können, uns Gesellschaft zu leisten.«

Jess hatte interessiert die Masten, die Segel und die Totenkopfflagge betrachtet, als sie an Bord gekommen war, doch jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Piraten, den Allison Vasco genannt hatte und der auf sie zukam. Dieser Mann sah fantastisch aus, musste Jess im gleichen Moment feststellen, als sie sein breites Lächeln und diese wunderschönen grünen Augen sah. Und er war unglaublich groß, wie ihr in dem Moment bewusst wurde, als er sich zwischen sie beide stellte und Allison und ihr je einen Arm auf die Schulter legte.

»Und auch noch so hübsch«, fügte er hinzu und sah Jess mit einem strahlendem Lächeln an, während er sich mit ihnen einen Weg durch das Gewimmel an Deck bahnte. »Heute habe ich wohl das große Los gezogen.«

Jess lächelte ein wenig gequält über seine Worte, weil sie sich so anhörten, als mache er sich Hoffnung auf einen flotten Dreier. Für so etwas war sie definitiv nicht zu haben. Zugegeben, er sah gut aus, aber sie wusste rein gar nichts über ihn. Dafür wusste sie genug über Allison, um sagen zu können, dass sie der letzte Mensch auf Erden war, den sie für einen flotten Dreier in Erwägung ziehen würde. Nicht dass sie überhaupt an so etwas interessiert gewesen wäre, aber darum ging es jetzt auch gar nicht.

»Es sind alle an Bord, Capitán.«

Jess drehte sich um, als sie diese Worte hörte, und wollte ihren Augen nicht trauen, als sie in das Gesicht eines Johnny-Depp-Doppelgängers schaute. Der Mann hatte den gleichen Bart wie Depp als Captain Jack Sparrow, und auch er trug ein beiges Stirntuch, um zu verhindern, dass seine Dreadlocks ihm ins Gesicht fielen. Sogar das Kostüm war so gut wie identisch: dunkelbraune Hose, weißes Top, dunkelbraune Weste. Es fehlte nur noch der Kapitänshut.

»Gut, dann sag den Männern, dass wir ablegen«, erwiderte Vasco in ernstem Tonfall. Das charmante Lächeln kehrte jedoch gleich wieder zurück, als er sich Jess und Allison zuwandte. Wie eine Maske, ging es Jess durch den Kopf. »Es bricht mir das Herz, Mädels, aber die Arbeit ruft. Ihr könnt mir aber gern am Steuer Gesellschaft leisten, wenn ich uns aus dem Hafen bringe.«

»O ja«, antwortete Allison begeistert, die sich wieder bei ihm untergehakt hatte, und begleitete ihn zum Oberdeck am Heck des Schiffs, wo ein großes Steuerrad aus Holz darauf wartete, betätigt zu werden.

Jess folgte den beiden mit ein wenig Abstand und sah sich aufmerksam auf dem Schiff um. Die Besatzung war mit den vielen kleinen Aufgaben beschäftigt, die an Bord so anfielen, sodass die Besucher für den Augenblick sich selbst überlassen waren, sich umsahen oder in Unterhaltungen vertieft waren. Jess erkannte vier junge Leute, die auch zur Hochzeitsgesellschaft gehörten, außerdem einige Leute aus ihrem Hotel, die mit demselben Bus hergebracht worden waren.

Krista und Pat waren nicht unter ihnen, doch das überraschte sie gar nicht. Selbst wenn Krista Interesse an einer Haifütterung gehabt hätte, wäre das Thema in dem Moment erledigt gewesen, als sie sah, dass Allison mitfahren wollte. Jess konnte das nur zu gut verstehen. Allerdings hoffte sie auch, dass die beiden nicht im überhitzten Bus saßen und warteten, sondern dass sie auf die Idee gekommen waren, sich ein Taxi zurück zum Hotel zu nehmen. Mit etwas Glück ließen sie es sich bereits bei einer Massage gut gehen, oder vielleicht waren sie auch schwimmen gegangen.

»Mädel?«

Jess sah zu Vasco, der sie gerufen hatte. Er war stehen geblieben und sah sie abwartend an.

»Kommst du?«, fragte er, als hätte er längst vergessen, dass Allison sich nach wie vor an seinen Arm klammerte und ihn anschmachtete. »Da oben am Steuer weht eine angenehme Brise, wenn wir erst einmal Fahrt aufgenommen haben.«

Es war die Aussicht auf eine Abkühlung, die für Jess den Ausschlag gab, denn diese drückende Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren eindeutig nichts für sie. Sie nickte und ging zu Vasco, der sie am Ellbogen fasste, um ihr die kurze Treppe hinauf zum Oberdeck zu helfen. Sie überlegte, ob dieser Teil des Schiffs, so wie sie meinte, wohl Quarterdeck genannt wurde, aber sicher war sie sich dessen nicht. Schließlich war sie ja kein Seemann, der so etwas hätte wissen müssen.

»So, dann stellt ihr zwei Hübschen euch mal genau hier hin und seht einfach nur hübsch aus. So steht ihr nämlich nicht im Weg, während wir Männer arbeiten«, verkündete Vasco fröhlich, während er sie zum Steuerrad führte.

Jess presste die Lippen zusammen, als sie diesen Kommentar hörte. Lieber Himmel, ging es noch sexistischer? Mit Mühe hielt sie sich davon ab, die Augen zu verdrehen. Sie entschied, seine Anweisung zu ignorieren, und stellte sich stattdessen an die Reling und sah hinunter, wo zwei Crewmitglieder damit beschäftigt waren, den Landungssteg an Bord zu ziehen. Als sie Richtung Strand sah, fiel ihr auf, dass der mittlerweile fast menschenleer war. Genau genommen hielten sich praktisch nur noch die Händler dort auf, die ihre Stände zusammenräumten. Offenbar war ihre Fahrt zum Seaquarium die letzte für den heutigen Tag gewesen, was sie reflexartig veranlasste einen Blick auf die Armbanduhr zu werfen. Erst dabei fiel ihr ein, dass sie die Uhr gar nicht angezogen hatte, weil sie nicht wollte, dass sie ihr womöglich im Seaquarium abhandenkam.

Sie sah zum Himmel, um sich am Stand der Sonne zu orientieren. Mit Erstaunen musste sie feststellen, dass die Sonne dem Horizont viel näher war als erwartet. Sie mussten weitaus mehr Zeit im Seaqarium verbracht haben, als es ihr bewusst gewesen war. An den letzten beiden Abenden war die Sonne jeweils gegen Viertel vor sieben untergegangen, also musste es jetzt ungefähr sechs Uhr sein. Das erklärte dann auch ihren knurrenden Magen, was sie wiederum an die Leute aus ihrer Gruppe denken ließ, die nicht an dieser Haifütterung teilnahmen. Die wurden zweifellos mit jeder Minute ungeduldiger, weil sie zurück ins Resort wollten, um dort zu Abend zu essen.

Wieder schaute Jess in Richtung Strand, stellte aber fest, dass sie von ihrer jetzigen Position aus die Straße sehen konnte … wo sich soeben ihr Bus in Bewegung setzte. Einerseits war sie froh darüber, dass die Leute nicht noch stundenlang in einem viel zu heißen Bus ausharren mussten, andererseits hatte sie jedoch keine Ahnung, wie sie nun zum Resort zurückkommen sollten. Würde der Bus wieder herkommen, um diejenigen abzuholen, die auf diese Haifütterung gelockt worden waren? Falls nicht, wären sie gezwungen, ein Taxi zu nehmen.

Ihr nächster Gedanke drehte sich um die Frage, ob ihnen wohl auf dieser Fahrt auch Snacks angeboten würden. Auf der Fahrt zum Seaquarium hatte es Getränke und etwas zu essen gegeben, doch es war inzwischen Stunden her, dass sie etwas zu sich genommen hatte. Die Verköstigung war im Fahrpreis enthalten gewesen.

Das wiederum warf die Frage auf, was dieser Ausflug hier kostete, denn kostenlos konnte das Ganze wohl kaum sein. Sie sah sich um, entdeckte Allison und winkte sie zu sich. Ihre Cousine zögerte, sah kurz zu Vasco und verließ dann sichtlich widerstrebend den ihr zugewiesenen Platz.

»Was ist?«, knurrte Allison gereizt.

»Was kostet dieser Ausflug?«, wollte Jess wissen und ging über Allisons ungehaltenen Tonfall kommentarlos hinweg. Das war bei ihr schließlich nichts Neues.

Allison zuckte desinteressiert mit den Schultern. »Vasco hat nichts von einer Gebühr gesagt. Er hat nur gefragt, ob ich mitkommen und die Haie füttern will.«

»Dann solltest du ihn vielleicht mal fragen«, schlug Jess verärgert vor. »Im Leben wird einem nie etwas geschenkt, Allison. Wenn er zu viel verlangt, will ich hier gleich wieder weg.«

»Meinetwegen«, blaffte Allison sie an und stampfte missmutig zurück zu Vasco. Jess bemerkte aber, dass sich ihr Gesichtsausdruck gleich wieder änderte, als sie Vasco gegenüberstand. Allison schien förmlich dahinzuschmelzen, wie Jess empört feststellen musste. Von ihrer Cousine hatte sie noch nie viel gehalten, doch diese Reise führte dazu, dass sie Allison immer mehr zu hassen begann. Nicht nur, dass sie keine weitere gemeinsame Reise mit ihr unternehmen würde – vermutlich würde sie auch einen Bogen um alle Familientreffen machen, an denen diese Frau teilnehmen würde. Jess hatte keine Ahnung, wie Krista es mit ihr so lange ausgehalten hatte, ohne dass es zu Mord und Totschlag gekommen war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr das gelungen wäre, wenn sie Allison zur Schwester gehabt hätte.

Ein warmer Wind und das Flattern der Segel holten sie aus ihren Überlegungen heraus. Sie sah sich um und musste erkennen, dass sie sich bereits ein deutliches Stück von der Anlegestelle entfernt hatten und auf dem Weg Richtung offene See waren. Jetzt war es eindeutig zu spät, um noch von Bord zu gehen. Sie würde die Teilnahmegebühr bezahlen müssen, ob es ihr gefiel oder nicht. Blieb nur zu hoffen, dass der geforderte Betrag nicht allzu hoch sein würde.

»Abtrünnige Unsterbliche?«, wiederholte Santo die Worte, als hätte er noch nie davon gehört. »Hier?«

Raffaele nickte ernst. Es war kurz nach sechs. Die Sonne stand inzwischen niedrig genug am Himmel, um eine Rückkehr ins Hotel noch vor Anbruch der Nacht wagen zu können. Als sie ins Zimmer gekommen waren, hatte Santo fertig angezogen dagestanden, da er im Begriff gewesen war, sich auf die Suche nach ihnen beiden zu machen. Raffaele hatte ihm erklärt, wo sie den Tag verbracht hatten, und war dann auf ihre Entdeckung am Strand zu sprechen gekommen.

»Welcher Unsterbliche sollte so dumm sein, in dieser mörderischen Hitze zu leben?«, wunderte sich Santo.

»Offenbar einer, der weiß, dass er sich problemlos bei den Menschen bedienen kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden«, sagte Raffaele. Als Santo verdutzt die Augenbrauen hochzog, fügte er an: »Zani hat sofort Lucian angerufen, der ihm zugesichert hat, Kontakt zu Vollstreckern hier in der Gegend aufzunehmen, damit sie sich bei uns melden. Das ist bislang nicht passiert, und es sieht ganz danach aus, als würde es sie gar nicht kümmern.«

»Vielleicht sollte ich noch mal Lucian anrufen«, schlug Zanipolo vor. »Möglicherweise hat er ja irgendwelche Neuigkeiten.«

»Oder wir überlassen es den hiesigen Jägern, sich um diese Angelegenheit zu kümmern«, fügte Raffaele mit einem Blick in Santos Richtung an. Immerhin sollten sie dafür sorgen, dass der Mann sich entspannte und nicht auf die Jagd nach Abtrünnigen ging.

»Das könnte auch Dressler sein«, gab Santo mit angespannter Miene zu bedenken. »Er mag das warme Klima.«

»Das waren zu viele Bisse, die können nicht von einer einzelnen Person stammen«, widersprach Raffaele ihm.

»Auf keinen Fall«, bestätigte Zanipolo. »Wir haben heute allein am Strand schon Dutzende von Bisswunden gesehen.«

Santo schaute skeptisch drein. »Und keinen wundert das? Niemanden stört es, solche Bisswunden zu haben?«

»Alle sind der Meinung, dass es sich um Insektenstiche handelt, die halt ziemlich dicht beieinanderliegen«, antwortete Raffaele, der die Gedanken zahlreicher Sonnenanbeter gelesen hatte, um herauszufinden, wieso niemand auch nur ansatzweise beunruhigt war. »Auf jeden Fall geht es hier um mehr als nur einen einzigen Unsterblichen, der sich bei diesen Leuten bedient hat.«

»Dressler könnte ein paar Gehilfen gewandelt haben«, überlegte Santo. »Er hatte ein Jahr Zeit dafür. Also kann er Dutzende gewandelt haben, und ich bin davon überzeugt, dass der Mann fähig ist, sich eine eigene Armee zuzulegen.«

Raffaele legte die Stirn in Falten. Eine solche Möglichkeit war ihm bislang noch gar nicht in den Sinn gekommen. Großer Gott! Dressler mit einer eigenen Armee aus Unsterblichen! Was für eine Horrorvorstellung, und sie würde diesem Mann auch noch gefallen! Dressler war genau der größenwahnsinnige Irre, dem es Spaß machen würde, eine eigene Armee zur Verfügung zu haben.

»Ich rufe Lucian an, damit wir wissen, ob er irgendetwas in Erfahrung gebracht hat«, beschloss Zanipolo und ging zum Schlafzimmer. Dabei zog er das Handy aus der Strandtasche, die er am Morgen mitgeschleppt hatte, als sie zum Schwimmen an den Strand gegangen waren.

Raffaele schaute dem Mann hinterher, wie der im Schlafzimmer verschwand. Dann drehte er sich zu Santo um und musterte ihn besorgt. Sie hatte dafür sorgen sollen, dass dieser Urlaub für Santo die reinste Entspannung wurde. Aber davon konnte so gar nicht mehr die Rede sein, wenn sie jetzt erfahren sollten, dass es hier irgendwo ein Nest voll mit Abtrünnigen gab.

»Er muss sich hier im Resort aufhalten«, erklärte Santo plötzlich. »Er lebt hier und hat das Personal gewandelt.«

Verdutzt zog Raffaele die Augenbrauen hoch und fragte: »Das Personal des Resorts?«

Santo nickte und machte ihm klar: »Das Personal hat Zugang zu allen Zimmern. Sie können sich nachts reinschleichen, wenn die Gäste schlafen. Ach, was rede ich da? Sie können auch am helllichten Tag reingehen und jeden kontrollieren.«

Sofort schüttelte Raffaele den Kopf. »Mir ist hier noch kein Unsterblicher über den Weg gelaufen, der zum Personal gehört.«

»Wir sind erst seit fünf Uhr heute Morgen hier«, gab Santo zu bedenken. »Außer dem Mann an der Rezeption, bei dem wir eingecheckt haben, sind wir keinem Menschen begegnet. Dann seid ihr beide direkt zum Strand gegangen und nur Leuten begegnet, die in einer der Tagschichten arbeiten. Die Unsterblichen würden tagsüber dienstfrei haben.«

Dummerweise konnte Raffaele dieser logischen Schlussfolgerung nichts entgegensetzen.

»Lucian meldet sich nicht, ich lande nur auf seiner Mailbox«, rief Zanipolo ihnen zu, als er aus dem Schlafzimmer kam. »Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.«

Raffaele nickte, dann fasste er nach Santos Arm, um ihn davon abzuhalten, zur Tür zu gehen. »Wohin willst du?«

»Ich will herausfinden, ob ich irgendwelche Unsterblichen aufspüren kann«, erklärte Santo mürrisch und versuchte, seinen Arm aus Raffaeles Griff zu befreien.

»Jetzt warte mal eine verdammte Minute, damit wir uns umziehen können, und dann kommen wir mit«, machte er Santo klar. »Wir können uns umsehen, ob wir irgendwo Unsterbliche entdecken, und danach kehren wir in eines der Restaurants ein, damit Zani zu Abend essen kann. Jedenfalls schauen wir uns lediglich um, mehr nicht«, fügte er nachdrücklich an. »Wir sind hier, um Urlaub zu machen, weißt du noch? Du solltest dich ausruhen und entspannen. Wenn wir also unter dem Personal einen Unsterblichen entdecken, werden wir diese Information an die Vollstrecker weitergeben. Mehr auch nicht. Ist das klar?«

Als Santo ihn nur finster ansah, ohne etwas zu entgegnen, fügte Raffaele hinzu: »Ich will wirklich nicht, dass du ein Drei-zu-eins durchmachen musst, cugino. Aber du weißt, Julius und Lucian werden darauf beharren, wenn wir dir nicht helfen können, über das hinwegzukommen, was auf der Insel passiert ist. Darauf müssen wir uns konzentrieren, nicht auf noch mehr Abtrünnige.«

Santo machte die Augen zu, sackte ein wenig in sich zusammen und nicke zustimmend.

Erleichtert ließ Raffaele seinen Arm los und klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. »Wir beeilen uns mit dem Umziehen.«

2

Jess verließ das winzige Badezimmer des Schiffs und verharrte im schmalen Gang davor, da sie nicht versessen darauf war, an Deck zurückzukehren. Anscheinend war »Haifütterung« nichts anderes als Punta-Cana-Jargon für Party. Jedenfalls war das die einzige Erklärung, die ihr in den Sinn kommen wollte. Über eine Stunde waren sie inzwischen übers Meer gesegelt, ohne ein einziges Mal zu stoppen, und inzwischen war die Sonne untergegangen. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie im Dunkeln Haie füttern wollten. Welchen Sinn ergab das, wenn man die Haie dabei nicht beobachten konnte?

Abgesehen von dieser Ungereimtheit war die Crew in dem Moment, als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, von einer seltsamen Veränderung erfasst worden. Die Musik wurde lauter gestellt und dröhnte seitdem aus den im ganzen Schiff verteilten Lautsprechern. Als Nächstes schien sich die Besatzung ihrer Kleidung zu entledigen, denn alle Männer hatten ihre Jacken, Westen und Hemden ausgezogen und liefen seitdem nur noch mit Hose bekleidet umher. Die weiblichen Crewmitglieder waren noch einen Schritt weiter gegangen und trugen so knappe Bikinis, dass einem bei deren Anblick noch heißer wurde als ohnehin schon.

Vasco hatte sich bislang als Einziger nicht frei gemacht, sondern noch immer die gleichen Sachen an wie zu dem Zeitpunkt, als Allison sie gepackt und zu ihm gezerrt hatte. Was sich jedoch verändert hatte, war irgendetwas an seiner Persönlichkeit, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Er war ihr nicht angespannt vorgekommen, daher konnte man nicht sagen, dass er jetzt entspannter wirkte. Er war so charmant wie zuvor, und doch wirkte seine Einstellung irgendwie verändert. Vielleicht war es ein Hauch von Vorfreude auf irgendetwas, verbunden mit einem listigen Lächeln, das ihm hin und wieder anzusehen war, so als würde ihn etwas amüsieren, von dem sie nicht die geringste Ahnung hatte, was es sein sollte.

Jess empfand das als ein wenig beunruhigend, weshalb sie gar nicht davon begeistert war, zum Steuer zurückzukehren. Vor allem, weil Vasco bereits angekündigt hatte, ihnen dann die Kabine des Kapitäns zu zeigen. Jedenfalls hatte er das so ausgedrückt, als sie die Toilette hatte aufsuchen wollen und er ihr den Weg dorthin erklärt hatte. »Mein Erster Maat Cristóval wird das Steuer übernehmen, wenn du wieder da bist, und dann zeige ich dir und deiner Cousine meine Kabine.«

Weder die Wortwahl noch der Tonfall hatten irgendetwas Zweideutiges an sich, und doch hatte sein begehrlicher Blick sie argwöhnisch werden lassen.

Ein erschrockener Aufschrei, der sogleich wieder verstummte, ließ Jess aufhorchen und in die Richtung schauen, aus der er gekommen sein musste. Es hatte sich wie ein Schmerzensschrei angehört, den jemand irgendwo weiter hinten auf dem Schiff ausgestoßen hatte. Und zwar aus der entgegengesetzten Richtung, in die sie gehen musste, um zurück an Deck zu gelangen. Das allein war für Jess Grund genug, erst einmal der Ursache für den Aufschrei auf den Grund zu gehen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Schließlich konnte ja jemand verunglückt sein, dem geholfen werden musste, nicht wahr?

Jess folgte dem schmalen Gang und sah im Vorbeigehen in die Kabinen, da sämtliche Türen offen standen. Jede Kabine bestand aus einem in die Wand integrierten Bett und ein paar weiteren Möbelstücken. Nicht eine Kabine erweckte den Eindruck, dass sie momentan belegt war. Der Korridor endete in einem Raum, der sich über die ganze Breite des Schiffs zu erstrecken schien und zwischen fünf und sechs Meter lang war.

Am Eingang zu diesem Raum blieb Jess stehen und sah sich neugierig um. Ihr Blick wanderte über die Wandschränke und die zwei langen Holztische mit Sitzbänken zu beiden Seiten. Offenbar war das hier die Messe, überlegte sie und wollte eben kehrtmachen, als sie ein Pärchen bemerkte, das ein Stück von ihr entfernt stand. Der Mann gehörte zur Hochzeitsgesellschaft, er stand in sich zusammengesunken da und wurde von einer Frau, die zur Schiffsbesatzung gehörte und die jetzt vor ihm kniete, gegen die Wand gedrückt. Die andere Hand hatte sie um seinen Penis gelegt, dessen Spitze sie mit den Lippen umschlossen hielt.

Jess war keine Voyeurin, und normalerweise hätte sie sofort den Blick abgewandt und den Rückzug angetreten. Sie wollte den beiden ihre Privatsphäre lassen, auch wenn dies schwer zu realisieren war, wenn man es in einem für jedermann zugänglichen Raum öffentlich trieb. Doch Jess konnte sich nicht zurückziehen, weil sie wie erstarrt dastand und den Blick nicht abzuwenden vermochte von dem Bild, das sich ihr bot. Denn der Frau lief Blut aus dem Mund, das von ihrem Kinn auf den Holzboden tropfte.

Voller Entsetzen sah Jess den Mann an, den sie nicht näher kannte. Sie wusste nur, er gehörte zu den Gästen, die von der Seite des Bräutigams eingeladen worden waren. Er war ihr vorgestellt worden, und sie glaubte sich erinnern zu können, dass er Tyler hieß. Er hatte einen netten Eindruck gemacht, da er ihr freundlich und gut gelaunt vorgekommen war. In diesem Moment jedoch stand er da und starrte voller Entsetzen auf die Frau hinab. Sein Mund war aufgerissen, als wollte er vor Angst und Schmerzen schreien, doch es kam kein Ton über seine Lippen.

»Hmm, gut.«

Jess sah wieder zu der Frau hin, die von Tylers geschundenem und blutendem Penis abgelassen hatte und Jess mit einem Lächeln auf den blutverschmierten Lippen anschaute. Das Lächeln ließ Jess zwei lange, nadelspitz zulaufende Eckzähne erkennen.

»Ich möchte wetten, dass du auch so köstlich schmeckst«, redete die Frau weiter und schmatzte auf eine seltsam obszöne Weise. »Zu schade, dass du heute Abend schon auf Vascos Menükarte stehst. Aber vielleicht beim nächsten Mal, hm?«

»Jessica!«

Jess drehte sich abrupt um und entdeckte Allison, die weiter hinten im Gang am Fuß der Treppe stand, die hinauf aufs Hauptdeck führte.

»Komm schon«, rief ihre Cousine gereizt, die sie mit mürrischer Miene ansah. »Vasco will mir seine Kabine nicht zeigen, wenn du nicht mit dabei bist. Er hat mich geschickt, damit ich dich hole, während er seinen Ersten Maat Cristo sucht.«

»Na, lauf schon, Kleine«, forderte die Frau bei Tyler sie amüsiert auf. »Du solltest Vasco nicht warten lassen, er ist in dem Punkt sehr empfindlich. Außerdem ist er ganz anders als ich. Er wird dafür sorgen, dass es dir gefällt. Das kann ich dir versprechen.«

Als Jess sich wieder zu der Frau umdrehte, sah die sie sehr konzentriert an und sagte: »Geh jetzt zu Vasco und gib ihm einen dicken Kuss. Sag ihm, er ist von Ildaria.«

Und sogleich machte Jess kehrt und verließ die Messe, wobei ihr einziges Bestreben darin bestand, zu Vasco zu gelangen.

»Was machst du hier?«, wollte Allison in verärgertem Tonfall wissen, als Jess sich ihr näherte. »Ich dachte, du wolltest zur Toilette. Die ist hier vorne, nicht dahinten!«

»Ich muss zu Vasco gehen«, erwiderte Jess und ging zielstrebig an ihrer Cousine vorbei.

»Quatsch. Das habe ich dir doch gerade eben gesagt«, knurrte Allison und sputete sich, um ihr nach oben zu folgen. »Nicht so schnell, warte auf mich. Ich habe ihn entdeckt, also gehört er mir. Merk dir das, und verzieh dich bei der erstbesten Gelegenheit. Sonst mache ich dir die Hölle heiß!«

Jess erwiderte nichts, sondern ging die Stufen hinauf. Wie aus weiter Ferne hörte sie Allison unablässig hinter ihr nörgeln und meckern, während sie das Deck überquerte und die Stufen zurücklegte, die zu dem Deck führten, wo Vasco am Steuer stand. Nichts von dem, was Allison ihr an den Kopf warf, konnte jedoch die Blase durchdringen, in der Jess sich befand. In dieser Blase existierte nur der Gedanke, zu Vasco zu gehen, ihn zu küssen und ihm zu sagen, dass der Kuss von Ildaria kam.

»Ah, da seid ihr ja. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.« Vasco grinste sie beide an, als sie zu ihm auf das Quarterdeck kamen. Er gab dem großen Piraten neben ihm ein Zeichen, damit der den Platz am Steuerrad übernahm. Dann machte er einen Schritt zur Seite und sah den beiden Frauen zu, wie sie näher kamen. Er zog die Augenbrauen hoch, als er Jess’ Gesichtsausdruck bemerkte, und murmelte erstaunt: »Na, was haben wir denn hier? Hast du dich etwa in Ecken herumgetrieben, in denen du nichts zu suchen hast?«

Jess antwortete nicht und blieb auch erst stehen, als sie kurz vor Vasco stand. Dann stellte sie sich auf Zehenspitzen, legte eine Hand an seinen Nacken, zog ihn zu sich heran und flüsterte ihm zu: »Von Ildaria.«

Vasco lächelte amüsiert und beugte bereitwillig den Kopf, damit Jess ihre Lippen auf seine drücken konnte. Es hatte nur ein kurzer Schmatzer sein sollen, doch als sich ihre Lippen berührten, da war es, als würde Jess ein Stromschlag durchzucken, der sie verwundert nach Luft schnappen ließ. Allisons empörtes Aufheulen nahm sie nur am Rande wahr, ebenso den erschrockenen Laut, den Vasco von sich gab. Nach kurzem Zögern presste er seine Lippen fester auf ihre und ließ die Zunge in ihren Mund vordringen. Im gleichen Moment wurde sie von einer plötzlichen, fast schon brutalen Leidenschaft mitgerissen, die wie eine Springflut über ihr zusammenschlug.

So etwas hatte Jess noch nie erlebt. Sie war längst keine Jungfrau mehr, doch das hier was das erste Mal, dass sie sich so völlig in einem Kuss verlor, dass sie vergaß, wo sie war und wen sie da überhaupt küsste.

»Was soll denn das? Himmel, Jess! Ich habe dir gesagt, er gehört mir! Lass die Finger von ihm! Geh weg von ihm! Weg!«

Jede geschriene Aufforderung ging einher mit einem Schlag auf Schulter und Rücken, bis sie nach einem brutalen Treffer in der Nierengegend vor Schmerzen so nach Luft schnappen musste, dass sie nicht anders konnte, als den Kuss zu unterbrechen. Sie löste sich von Vascos Mund und sah sich verwirrt um, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich an den Mann klammerte wie ein Koala an einen Ast. Vascos Hut war zu Boden gefallen, da sie die Finger in seine Haare gekrallt hatte. Noch immer wollte sie ihn nicht loslassen, zudem hatte sie die Beine so um seine Taille geschlungen, dass ihre Lenden fest gegeneinander gedrückt wurden.