Und Feuer wird fallen - Horst Hoffmann - E-Book

Und Feuer wird fallen E-Book

Horst Hoffmann

0,0

Beschreibung

"Rührt nicht an Dinge, die zu groß für euch sind! Wenn ihr eure kleine, heile Welt liebt, dann lasst die Toten in Ruhe!"Über dreißig Jahre lang dachten wir, dass sich unser bester Freund Axel F. – für mich geliebter Bruder und Vorbild – aus welchen Gründen auch immer den goldenen Schuss gesetzt hatte. Wirklich verstehen konnte das keiner. Wir schluckten Cappys, kifften und warfen ab und zu mal 'nen Trip ein. Aber an unsere Adern kam nichts und niemand ran, das war heiliger Kodex.Und dann, gute drei Jahrzehnte später, war plötzlich alles ganz anders. Ich wurde ins Kölner Polizeipräsidium geladen und traf Jutta wieder, Axels rattenscharfe Schwester und meine langjährige Freundin. Zusammen machten wir uns auf die Suche, tauchten zurück in die Zeit, in der alles begonnen hatte. Mit Jimi und Janis und all den schönen Verlierern.Und plötzlich waren sie fast alle wieder da: diejenigen, die überlebt hatten, aber auch die Neuen. Neue Menschen. Typen wie wir, aber schon weiter, viel weiter im Kampf gegen einen Gegner, der dabei war, die Welt in Brand zu setzen. Sie hatten nur eine Chance, die Aufgabe ihres Selbst in einem gigantischen Block der Abwehr.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 520

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Horst HoffmannUnd Feuer wird fallen

Horst Hoffmann

Und Feuer wird fallen

© 2020 BLITZ-VERLAG - ROCKET BOOKS, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenDruck: BookpressAlle Rechte vorbehalten.www.BLITZ-Verlag.dewww.fanpro.deISBN 978-3-95719-273-8

Rocket Books ist ein Imprint der BLITZ-Verlag e. K. und der Fanpro, Fuchs & Fuchs GbR

Die wilden Jahre sind noch nicht vorbei

Für Axel und Jutta, wo immer sie sind.

Für Elke und Knut und alle schönen Verlierer.

„Da bist du ja, Schwesterchen! Schön, dich zu sehen. War es sehr schlimm? Du bist nicht allein, oder? Darf ich raten? Horst? Jan? George? Auf jeden Fall einer aus dem alten Haufen!

Die Leute, auf die es ankommt, Schwesterchen, finden sich immer wieder. Sieh dir unsere kleine Thea an. Warst du sehr überrascht? Klar warst du das. Was damals auch passiert ist, war nicht umsonst. Nichts ist umsonst. Es waren so tolle Jahre, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.

Und jetzt weißt du alles. Tut mir leid, dass ich euch so erschreckt habe. Die Bullen sind voll drauf reingefallen, aber sie waren nie wichtig. Es kommt auf die anderen an, auf die, die wirklich die Macht haben. Diese Leute, ich denke, du hast sie kennengelernt, werden nie aufgeben. Sie sind und sitzen überall. Sie sind viel mächtiger, aber wir haben ebenfalls Kraft. Ich habe nur etwas angestoßen, andere werden weitermachen. Ihr seid es, Schwesterchen, du und Thea und all die anderen. Wir sind schon ganz viele, und wir werden jeden Tag mehr. Wir lernen, wir begreifen. Ihr dürft den Kampf niemals aufgeben!

Du bist endlich angekommen, Schwesterchen. Was immer du mitgemacht hast, es hat sich gelohnt. Du bist nicht ganz so wie wir, aber trotzdem eine von uns. Vertraue Thea und den anderen und vergiss mich nicht ganz, okay?

Du wirst kein Grab von mir finden. Denk einfach ab und zu an mich und mach weiter, Schwesterchen. Sie brauchen dich. Wir können gewinnen, ich weiß es. Ich bin auch angekommen, wenn du dies liest.

Was meinst du? Er redet mal wieder viel zu viel? Ich grins mir einen.

Lass mich jetzt doch noch mal raten: Es ist Jan, oder? Klar ist es Jan. Wer sonst tut sich das an mit meiner kleinen, zickigen, aber einfach tollen Schwester?

In Liebe

Axel

1. Die Ruhe der Toten

„Frank“, sagte Kappeler und fixierte mich erwartungsvoll. „Axel Frank. Sie kannten ihn sehr gut, Shruyver, nicht wahr? Er war ihr Freund, oder sollte ich vielleicht besser sagen …“

Ich weiß nicht, womit ich ihn unterbrochen habe. Keine Ahnung, ob ich es überhaupt tat. Auf jeden Fall brachte der gestresste Hauptkommissar den Satz nicht zu Ende, und egal was ich erwidert hätte, er hätte es eh nicht gehört. Denn in diesem Moment, als er auf meine Reaktion lauerte, ging es los. Der Effekt auf seine mit erheblichem Schwellton vorgetragene Eröffnung kam von anderer Seite, als er wahrscheinlich erwartet hatte. Oder hatte er mit etwas gerechnet? Vielleicht. Ich weiß nur, dass plötzlich alles ganz anders war, und wenn ich alles sage, meine ich alles.

Das Bild schlug wie ein Blitz aus seinem bauchigen Schirm, ein Flash, ein grelles Krachen ins Halbdunkel des sterilen Büros. Und das Bild war die Stimme, und die Stimme die Botschaft, die Botschaft die Warnung, die Ansage. Der Handschuh der Fehde, die Eröffnung des Kampfs, von dem in diesem Moment, lange bevor die Städte brannten, noch niemand den blassesten Schimmer besaß, mit welchen Ausmaßen er geführt werden würde.

Lasst die Toten in Ruhe!, schmetterte es aus den Lautsprechern des Monitors. Rührt nicht an Dinge, die euch zu groß sind! Wenn ihr eure kleine, heile Welt liebt, dann lasst es sein!

Etwas weniger Dramatik hätte es wahrscheinlich auch getan, dachte ich noch in meiner trägen Naivität. Kappeler meinte das sicher auch, oder vielmehr hätte er es gedacht, wenn sie ihm auch nur eine Sekunde Zeit gelassen hätten.

Wir hatten keine Chance.

Die Beleuchtung fiel aus, was vielleicht noch Sinn gemacht hätte, weil das einzige Licht im Raum – und wahrscheinlich im ganzen Gebäude – das des skurrilen Musters war, aus dem die Botschaft uns in die Augen flammte. Grelles Rot auf brennendem Schwarz und Gelb. Sämtliche Geräte meldeten sich ab, um allein durch ihr Schweigen die Stimme zu unterstreichen, die uns in die Ohren schallte wie die Ansage des jüngsten Gerichtes.

Lasst die Toten in Ruhe! Rührt nicht an Dinge, die euch zu groß sind! Wenn ihr eure kleine, heile Welt liebt, dann lasst es sein!

Ich weiß nicht mehr, was ich fühlte. Eine losgegangene Bombe hätte keine größere Wirkung gehabt. Es war stockdunkel, bis auf das grelle Bild und die Schrift, die aus dem Computer herausquoll. Kappelers Gesicht war in diese grausame Helligkeit gebadet, seine Züge schienen im Flackern des Hintergrunds zu tanzen, die Blutschrift sich darin wie ein farbiger Schatten zu reflektieren.

Die Stimme beherrschte die Szene, dominierte die Sekunden, schluckte alles andere. Die plötzlichen Schritte draußen auf dem Gang, die Rufe, die Schreie. Selbst die Türen, als sie aufgerissen wurden und Kappelers Leute hereinstürmten. Männer und Frauen mit bleichen Gesichtern, Fragen in brennenden Augen und Worte auf zitternden Lippen, die keiner verstand.

Die Freunde mit den MPs kamen so ziemlich als Letzte, als der Spaß eigentlich schon vorbei war – wie wir in unserer gnadenlosen Naivität glaubten.

Als ich endlich wieder so weit war, nach einem klaren Gedanken zu suchen, als sich die Typen mit den Kugelspritzen im Anschlag wieder beruhigten, als das Durcheinandergeschrei endlich abebbte, als Kappeler sich wieder in den schweren Drehsessel sinken ließ, als ich mich fragte, weshalb ich immer noch so still saß, als drehe sich ein verrückter Film um mich, aus dem ich jederzeit raus konnte, ging das Kreischen der Telefone los. Nicht nur sie. Mein Handy vibrierte in der Hosen­tasche, Kappelers iPhone tanzte auf seinem Schreibtisch, die Telefone in den Nachbarbüros … alles bimmelte und klingelte und sang und spielte in nie gehörten Klingeltönen und hörte nicht auf, schrillte weiter, und ich schwöre, dass es dabei immer noch lauter wurde.

Kappeler starrte mich an. Warum? Er griff nach dem Hörer und mit der anderen Hand nach dem Handy. „Haben Sie etwas damit zu tun, Shruyver?“, presste er durch die Zähne hervor. „Wissen Sie etwas?“

Bevor ich ihn nach seinem Verstand fragen konnte, hörte ich – hörten wir alle – die Stimme aus dem Telefon, aus dem Handy, wahrscheinlich aus allen elektronischen Kommunikationsgeräten in diesem gottverdammten gelb-blauen Palast der Ordnung.

Lasst die Toten in Ruhe! Rührt nicht an Dinge, die euch zu groß sind! Wenn ihr eure kleine, heile Welt liebt, dann …

Ich wollte weg. Ich wusste nicht wohin, aber ich musste da raus. Ich wollte vom Stuhl springen und aus dem Büro rennen. Es ging nicht. Ich versuchte es, aber meine Glieder waren gelähmt. Wenn ich nur die Kraft gehabt hätte! Es war, als klebte ich an dem verdammten Drehstuhl fest, oder mein Körper nahm meine Befehle nicht an. Wahrscheinlich streikte er, weil er mich für durchgeknallt hielt.

Das Licht flammte wieder auf. Nach und nach schalteten sich alle elektrischen Geräte ein. Den Jungs mit den Knarren schien das noch weniger zu gefallen als der Ausfall vorher. Irgendetwas stimmte hier absolut nicht, und sie wollten in ihrer beamtisch genormten Sturheit wissen, was es war und in welche Vorschriften es sich pressen ließ.

„Haben Sie etwas damit zu tun, Shruyver?“, zischte Kappeler mich wieder an und fixierte mich, als wären wir beide allein im Raum. Er ignorierte seine noch immer wie aufgescheucht herumstolpernden Mädels und Jungs, schickte sie mit einem wütenden Abwinken weg. „Haben Sie das?“

Ich begriff es nicht. Der Mann musste verrückt sein. Das alles war verrückt. Ich schielte um mich. Da standen die Freunde mit der staatlich geförderten Armierung und starrten mich an. Da standen die Kollegen und Sekretärinnen und Assistentinnen und Kaffeekocherinnen wie festgefroren im Nachhall des Wahnsinns.

Und da war die Tür, weit offen. Und da stand sie.

Ich hatte sie schon gesehen. Auf dem Gang draußen. Noch ein Gespenst aus der Vergangenheit.

*

Welche Stadt? Im Grunde kommt es darauf gar nicht an. Es hätte auch bei dir sein können. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht nicht so, aber ­irgendwann wäre es passiert. Axel war nicht der Einzige. Irgendwann hätte es ein anderer getan. Aber sagen wir doch einfach mal: Köln. Irgendwo dort. Köln hat einen Dom, in dessen Seitenportalen es auch schon mal ziemlich unheilig rauchen soll. Köln ist auch stolz auf sich. Der Kölner liebt seine Stadt, seinen FC, seine römischen Wurzeln, seinen Karneval und seine Weltoffenheit, also warum sollte es nicht Köln gewesen sein?

Welche Leute? Auch die kann man austauschen. Hier sind nur Vorschläge. Einige Namen sind erfunden, andere hat es gegeben, wieder andere gibt es noch immer. Vielleicht kennst du den einen oder anderen (natürlich nicht die, auf die es ankommt). Du siehst es ihnen nicht an. Sie sind Typen wie du, ich und Axel F. Wahrscheinlich ist der einzige Unterschied der, dass sie nicht so viel Pech hatten. Wenn es denn Pech war.

Jörge klingt zum Beispiel gut. Besser ist aber, dass es Joachim Jörge wirklich gibt. Er hatte den kleinen Friseurladen in der Breite Straße, gegenüber dem ersten Wimpy. Natürlich ist Jörge schwul, wie es sich für einen Kölner Friseur in Ehren gehört, aber das ist nicht weiter tragisch. Joachim ist ein Netter. Wahrscheinlich weiß er noch gar nicht, dass er in dieser Geschichte mit drin ist, und wenn er Glück hat, erfährt er’s auch nie. Es wäre sonst vielleicht nicht nur Wunschkundschaft, die er plötzlich begrüßen dürfte.

Auch Jutta gibt oder gab es. Knut ist ausgedacht und hat viel Ähnlichkeit mit Klaus, den wir Knüsel nannten. Knüsel hätte heute wie Knut aussehen und genauso schlau reden können, so schief grinsen und so unschuldig gucken, wenn er nicht schon ziemlich früh draufgegangen wäre. Also, Freunde, denkt bei Knut an Klaus und schließt kurz die Augen. Knüsel will rise again!, so viel ist amtlich. Der gibt auch in der Hölle keine Ruhe, oder wohin immer sie ihn gesteckt haben.

Nur von Elke würde ich am liebsten nichts erzählen. Und all die anderen … wir werden sehen und greifen zurück.

*

Fangen wir mit den Fakten an. Fakt 1 ist, dass ich hier saß, in diesem Kasten aus Glas und Stahl, und auf meinen Aufruf wartete. Fakt 2 ist, dass ich nicht nur wegen dem überhasteten Frühstück und dem schnell geschlürften Kaffee einen schalen Geschmack im Mund hatte. Fakt 3 ist, dass ich nervös war, denn wer geht schon gern in Unkenntnis seiner Anklage zu den Bullen, ohne dabei zu wissen, was sie wussten und wie viel sie wussten. Wenn du jeden Tag mit dem gleichen Fragezeichen im Kopf aufstehst, wirst du irgendwann so. Man könnte das wohl paranoid nennen, wenn man wollte. Fakt 4: Ich kann Leute nicht ausstehen, die ihre Theken- und anderen Weisheiten mit „Fakt ist“ ankündigen. Leute, die von nichts wirklich Ahnung, aber zu allem eine Meinung haben. Fakt 5 ist aber trotzdem, dass ich die Frau mit der – vermutlich ebenfalls paranoiden – Sonnenbrille kannte. Irgendwoher, von irgendwann. Aber momentan hättest du mich foltern können, ich hätte es nicht gewusst.

Sie ließen mich fast eine Stunde warten, was mich nicht ruhiger machte. War das schon Taktik? Ich saß mir auf der harten Bank im Flur des tollen neuen Polizeipräsidiums Schwielen am Arsch und sah die Damen und Herren Beamten in schweigsamer Beflissenheit von einer Tür zur anderen traben, die sich schneller wieder schlossen, als sie sich öffnen konnten. Was hinter ihnen lag, ging keinen was an, am wenigsten Elemente wie mich. Das hier war ihr Heiligtum, der graue Apparat der behördlichen Macht. Und der lässt dich spüren, wie klein du bist. Sie warten da drinnen, und du fieberst draußen. Kalte Wände, kalte Bänke, kalte Luft. Selbst die tief stehende Sonne schien kalt durch das sicherheitsimprägnierte Glas, das dich vom Atmen trennt.

Vereinzelt trieben Schneeflocken. Sie hatten es angesagt. Schnee hier in der rheinischen Tiefebene, das war selbst in der zweiten Adventswoche nicht mehr selbstverständlich. Früher war das mal anders, aber früher war so vieles ganz anders. Ich konnte jedenfalls auf eine weiße Bescherung verzichten.

Ich konnte auf eine Menge Dinge verzichten – vor allem auf meine Vorladung hierher. Es war der 11. Dezember, wie schon gesagt ein grauer Tag, schal seit dem ersten Blinzeln der Augen.

Sie saß auf der anderen Bank und sah manchmal herüber, ich spürte ihre Blicke trotz der zu großen dunklen Brille. Khakijacke mit Kapuze, halblang und offen, darunter grauer Pullover und Rock. Etwas zu kurz? Nein, solche Beine, leger übereinandergeschlagen, wollten gesehen werden, bewundert, bestaunt, ein warmer Gedanke im Winter. Dann und wann wippte sie damit. Ich war nicht als Einziger nervös. Ich fragte mich, ob sie wohl den gleichen Wisch wie ich bekommen hatte. Die hellbraunen Wildlederstiefel standen ihr gut. Passten einfach.

Dann holten sie mich. Die Staatsmacht in Gestalt einer lockeren Beamtin, etwas mollig, unverbindliches Lächeln, der Typ junge attraktive Öko-Mutter, lud ein ins desuniformierte Heiligtum. Ich stand auf, verkniff mir eine lockere Bemerkung, ging an ihr vorbei und stand vor Kappeler, wie er sich vorstellte. Kriminalhauptkommissar Henner G. Kappeler, irgendwo zwischen vierzig und fünfundvierzig und sehr väterlich.

Anfangs.

*

Henner Kappeler, Hauptkommissar. Ich kannte mal einen Henner, das war Anfang der Siebziger. Literaturagent und Kopfrevolutionär. Er war frustriert davon, auf den Belegexemplaren jener Bücher sitzen zu bleiben, die er linken Verlegern von linken Schreiberlingen für linke Leser untergejubelt hatte, aber er war ein prima Kerl. Sah verdammt cool aus mit seinem Kurzhaarschnitt, dem Schnauzschnorz und seiner runden Nickelbrille. Spielte für uns Provinzrevoluzzer den Guru und wollte mit uns auch schon mal das Kreiswehrersatzamt in die Luft jagen.

Henner Kappeler, ich schätzte ihn auf Anfang vierzig, nicht ganz so patziger Schnäuzer, eher Thanner als Schimanski, zu blass um die kleine Nase und ein ruhiger Typ, Hauptkommissar Henner Kappeler hatte solche Gedanken ganz bestimmt nie gehabt. Im wirklichen Leben war er bestimmt ein toller Familienvater und pflegte seinen kleinen Garten, brachte seiner Frau am Hochzeitstag Blumen und kochte am Sonntag Spaghetti mit seiner Spezialsoße. Mollig, wie er war, ­unterfüttertes Kinn und kleiner Bauch, konnte er kein Kostverächter sein. Trank am Abend seine zwei oder drei Bier und hörte der Gattin vor dem Fernseher zu, wenn sie von ihren sozialen Verpflichtungen und dem Elend der Welt in ihrem kleinen Vorstadtviertel erzählte. Nickte zu allem mit wahrem Verständnis und dachte dabei an die Gangster, die er auf dem Korn hatte, oder an die nette junge Nachbarin mit den kurzen Röckchen, mit denen sie auch gern mal für ihn winkte.

Mach dir nichts vor, Jan. Der Mann ist Hauptkommissar, das wird man nicht allein dadurch, dass man ein so lieber Mensch ist!

Ich durfte mich ihm gegenüber vor seinen unaufgeräumten Schreibtisch mit dem riesigen antiken PC-Bildschirm und dem grünen Schoner setzen. Er lächelte sein peinlich-freundliches Bullenlächeln, das er von einer dieser Vorabendserien abgeguckt haben musste, und bot mir einen Tee an. Zur Beruhigung, wie er sagte. Der Mann schien ein Scherzkeks zu sein.

„Sie wissen, Herr Shruyver, warum wir Sie hierhergebeten haben?“, begann er auf die joviale Art.

Nein, natürlich wusste ich’s nicht. Nicht offiziell. Die amtliche Vorladung hatte es mir nicht verraten. Was wollte er also hören? Dass ich es mir denken konnte?

„Nein“, sagte ich.

Er nickte und sah mich an. Lass die Katze schon raus, bitte. Ich bin nicht gut drauf, siehst du das nicht? Doch, natürlich siehst du’s. Dafür seid ihr ausgebildet. Sollte ich’s kurz machen? Wie viele Punkte auf dem Büßerkonto bringt mir ein Geständnis? Christian Klar hätte viel früher raus sein können, wenn er nur Einsicht gewinselt hätte. Also. Ja, Herr Kommissar, offen und schonungslos: Ich hab das Zeug angebaut, auf dem Balkon, im Garten zwischen den Thujen und hinter der Mauer, und ich hab gedealt, aber nur ein bisschen, glauben Sie’s mir, das war nicht viel. Also, wer hat mich verpfiffen?

Das war lächerlich. Ich wusste es, er wusste es. Wegen dem bisschen Gras und den paar unanständigen Dingen, die ich sonst tat, konnten sie mir gar nichts anhaben. Warum rutschte ich trotzdem auf dem Hintern und hatte die Hände feucht? Das lag nicht an dem armen Mann, der hier vielleicht einfach seinen beschissenen Job tat und nicht mal Freude daran hatte. Ich wusste, es lag an mir. Es war die alte Angst, die irrationale Furcht, die mich immer begleitet hatte, seit wir die wirklich schlimmen Dinge getan hatten. Natürlich hatte ich meinen Knacks weg. Natürlich gab es in unserer wunderbaren realen Welt keine Scheißbullen, jedenfalls nicht viel mehr als Scheißpfaffen oder Scheißbuchhalter, und natürlich wusste ich das alles, aber verdammt, ich saß hier im Neuen Präsidium, mit schlotternden Knien war ich hier angekrochen, und irgendwas wollten sie von mir. Ich war einer von bestimmt ganz vielen armen Pennern, kleinen Sündern oder einfach nur Irrtümern, die sich hier die elektronische Sicherheitsklinke in die Hand gaben. Also warum klebten mir die Hände? Warum kriegte ich keine Luft mehr, seit sich die dicken Sicherheitsglastüren hinter mir geschlossen hatten?

Schnäuzer-Kappeler nickte langsam, dann drehte er sich zu seinem Schirm um, tippte einfingrig etwas in die Tasten und wartete. Der Schoner verschwand. Ich sah ein Gesicht auf den Monitor. Gleich würde er mich fragen, ob ich diesen Mann kenne. Nein, Herr Kommissar, kenne ich nicht, nie gesehen.

Das heißt, erinnern tat er mich schon an jemanden, aber das war absolut unmöglich.

„Kennen Sie diesen Mann, Herr Shruyver?“ Er sagte es ruhig, war mit den Gedanken schon ganz woanders.

„Nein.“

„Sie haben Zeit. Sehen Sie ihn sich bitte genau an.“ Er drehte den Schirm ein Stück weiter zu mir. „Wir nehmen an, es ist ein älteres Foto.“

„Wie viel älter?“, erkundigte ich mich. Also war es nicht der Stoff. Ich war nicht wegen dem Gras hier, aber was für eine Art Quiz sollte das werden? Ich wusste nicht, wer der Kerl auf dem Schirm war, aber ich hatte das dumme Gefühl, dass er glaubte, ich sollte es wissen, und das war wieder etwas, das mir gegen den Strich ging.

„Wollen Sie ein neueres Bild sehen?“, fragte der Kommissar. „Ein aktuelles?“

Ich nickte.

Dann knallte er es mir ohne Vorwarnung vor den Kopf. „Das ist kein schöner Anblick, nicht wahr, Herr Shruyver? Man hat ihm den Schädel eingeschlagen. So haben wir ihn vor drei Tagen in seiner Wohnung gefunden, nachdem die Beamten die Tür aufbrechen mussten. Nachbarn hatten uns alarmiert, wegen ...“ Er zuckte die Schultern. „Nach sechs Tagen Verwesung ...“

Ich sah weg.

Er hatte ein Einsehen und drehte den Schirm gnädig wieder in die alte Position. Dann beugte er sich zu mir vor. „Frank“, sagte er, mit einer Stimme wie der Pastor bei der demütigen Anrufung seines Herrn. „Axel Frank ist sein Name. Und sie kannten ihn, Shruyver. Sie kannten ihn sehr gut …“

*

„Axel Frank …“

Es war wieder ruhig im Bau. Kappeler hatte alle Kollegen und die Jungs mit den Pumpguns aus seinem Büro geschickt, nur seine viel zu dürre Assistentin telefonierte dezent leise am anderen Tisch. Die Lichter der Displays schimmerten wieder im Halbdüster, über dessen Sinn und Zweck ich mir jetzt ebenso wenig Gedanken machte wie über den Ausfall des Stroms und die schrillenden Telefone. Letzteres mussten sie vom Rasenmäher-Mann abgeschaut haben.

Sie?

Hauptkommissar Kappeler schwitzte leicht. Er tupfte seine Stirn mit einem Papiertaschentuch ab und fächelte sich anschließend Luft zu, obwohl es in seinem düsteren Verschlag nicht kalt war. Das war alles, was er an Erregung zeigte. Eben noch hatte das Präsidium kopfgestanden, da war etwas passiert, das eigentlich ganz unmöglich war und über das wahrscheinlich draußen, jenseits dieser polierten Tür, schon die wildesten Spekulationen wucherten. Da hatte jemand unverhohlen gedroht für den Fall, dass man die Toten nicht ruhen ließe. Und Kappeler machte, abgesehen vom Schwitzen, weiter, als sei nur mal eben die Kaffeemaschine verreckt.

Dachte er während der Arbeit manchmal an seine Frau und die Kinder? Gab es die überhaupt? Oder lebte er ganz in seiner Kriminalwelt und lief mit Scheuklappen durchs Leben, immer nur seinen aktuellen Fall im Kopf und blind für alles, was links und rechts ablief.

Seine Frau …

Jutta?

Sie war wieder draußen, Kappeler hatte sie höflich gebeten, wieder auf ihrer Bank Platz zu nehmen, bis er sie rufen ließ. Sie hatte mich angesehen, bevor sie ging. Es war ein sehr langer Blick gewesen, und ich wurde nicht schlau daraus. Das Einzige, was sich bei mir dabei regte, hatte wahrscheinlich sehr wenig mit Axel und diesem Schwachsinn zu tun, in den es mich hier mitten hineingerissen hatte.

„Axel Frank, zuletzt wohnhaft in München. Dort war er jedenfalls gemeldet und dort wurde er auch aufgefunden. Nach unseren Informationen war er allerdings sehr oft und lange nicht zu Hause. Und davor ...“ Wieder das Schulterzucken. Offenbar hatte er keine Ahnung und war nicht sehr glücklich darüber.

„Entschuldigung, aber was hat das denn mit mir zu tun?“, fragte ich mit einem Gefühl, als würde mir ganz langsam der Stuhl unter dem Hintern weggezogen. Was sollte das? Jesus, ich brauchte Zeit! Ruhig, ganz ruhig, Jungs. Tief atmen. Die Frau, draußen auf dem Gang. Aber nein. So etwas passiert in Filmen oder einem strangulierenden Traum. Nicht wirklich.

Axel. Gott, es war eine Ewigkeit her. Axel war tot, weg, aus und vorbei. Was wollte dieser Sadist von mir? Wo war das Team von Verstehen Sie Spaß?

Eine Beamtin in Uniform kam und brachte Kappeler einen Kaffee. Er sah mich über den Becherrand an, während er daran nippte.

„Das kann nicht sein“, sagte ich. Mir war jetzt heiß. Ich sah das Gesicht, die zertrümmerte Stirn und das Blut. Rote Spritzer. Weißer Horror. „Ja, ich kannte mal einen Axel Frank, aber der lebt schon lange nicht mehr.“

Er sah mich bloß an.

„Er hat sich den Goldenen Schuss gesetzt“, sagte ich. Herrje, warum rückte er nicht damit raus, was er wirklich wollte? Wieso erzählte ich ihm hier etwas, das er ganz bestimmt schon genau wusste? „Anfang der Achtziger. Also kann er das nicht sein.“ Ich nickte zu seinem Bildschirm. „Den Mann da hab ich nie gesehen.“

Viel war von ihm ja auch nicht mehr zu erkennen. Und überhaupt, wenn sie ihn vor drei Tagen so gefunden hatten, warum hatte es nicht in der Zeitung gestanden? Was wurde hier gespielt? Wieso starrte der Typ mich an wie eine harmlose alte Katze die gefährliche Maus? Wieso raste mein Herz? Das war keiner, den ich kannte oder je gekannt hatte. Warum hatte ich das Gefühl, hier ganz langsam in etwas reingewinkt zu werden, das ich nicht verstand und aus dem ich nur ganz schnell raus wollte? Das hatte ich doch alles schon hinter mir. Es war aus, vorbei, begraben.

„Axel Frank ist nicht in den Achtzigern gestorben“, sagte der mittlerweile unübersehbar transpirierende Kommissar endlich. „Sie waren auch nicht auf seiner Beerdigung, denn zu der Zeit wohnten Sie in der Nähe von Karlsruhe und hatten schon alle Kontakte zu Ihrer früheren Clique abgebrochen. Sie haben lediglich gehört, dass Ihr Freund tot sei.“

„Was wollen Sie?“, fragte ich. Mir wurde alles zu eng. „Ist das jetzt so etwas wie ein Verhör?“

„Beruhigen Sie sich bitte, Herr Shruyver“, riet mir der nette Bulle. Geduldig, fürsorglich, empathisch. Ich fasste es nicht! Gerade vorhin war hier noch die Hölle los gewesen. Auf dem Gang liefen immer noch Menschen, ich hörte doch ihre Schritte, und er tat so, als sei gar nichts geschehen! „Alles, was wir heute von Ihnen wissen wollen, ist, wann Sie Axel Frank zuletzt gesehen haben.“ Er tippte gegen seinen Schirm. „Lebend, meine ich.“

„Irgendwann 1980“, quälte es sich aus mir heraus. Ich will das nicht, weg damit! „Nein, früher. Ich hab dann auch nichts mehr von ihm gehört … außer dass er sich kaputt gespritzt hat. Axel ist tot! 1983 oder so, wahrscheinlich krepiert in irgendeinem beschissenen Bahnhofsklo!“

„Bleiben Sie bitte sachlich, Herr Shruyver“, sagte Kappeler. „Über die Qualität unserer öffentlichen Toiletten kann man sicher durchaus geteilter Meinung sein, an der Identität dieses Toten hingegen besteht keinerlei Zweifel. Er ist … war … Axel Frank, geboren am 21.7.1949 in Köln. Das ist unstreitig.“ Er seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Shruyver, ich sag Ihnen etwas unter uns: Machen Sie sich jetzt nicht in die Hose. Wir wollen nichts von Ihnen. Ich habe hier einen Fall, den ich nicht verstehe. Ja, ich bin offen zu Ihnen. Alles, was ich von Ihnen wissen will, ist, wieso Ihr Name, und zwar dick unterstrichen, in der Kladde steht, die wir in Franks Wohnung gefunden haben.“

Ich schwieg, sah ihn nur an.

„Er hat sich viele Notizen gemacht, und es wimmelt darin von Namen.“

Ich wartete. Das war nicht wahr, oder?

„Die Einträge in seiner Kladde sind datiert, Herr Shruyver. Er hat im Diary zuletzt am 3.10. an Sie gedacht.“ Er lehnte sich zurück und sah mich an wie einer von der Heilsarmee, besorgt um meine arme Seele. „Das ist gerade mal zwei Monate her …“

*

Natürlich war es Jutta, Axels drei Jahre jüngere Schwester. Als sie mich endlich gehen ließen, mit der ebenso höflichen wie bestimmten Weisung, mich zu ihrer Verfügung zu halten, wurde sie aufgerufen. Das heißt, Kappeler winkte sie persönlich zu sich herein, nachdem er mich bis zur Tür begleitet hatte. Er ging schwer und gedrückt, und für einen Moment war es, als könnte ich etwas von der schweren Last spüren, die dieser Mann trug, auch wenn er sich noch so viel Mühe gab, sich nicht zu viel davon anmerken zu lassen.

Etwas war los. Irgendwas hatte vorhin begonnen, der Teufel weiß, was. Vor nicht einmal einer Stunde hatte irgendwer dem Präsidium den Strom abgedreht, aber gleichzeitig auf allen Leitungen, die eigentlich tot sein sollten, gesprochen. Jemand hatte eine klare Drohung ausgesprochen, und dieser Jemand wollte ganz offensichtlich nicht, dass die Bullen weiter in Richtung Axel Frank Fragen stellten.

Es gab keinen Fall Axel Frank! Axel war tot, und das wusste ich, das wussten sie, und das wusste vor allem seine Schwester Jutta!

Ich wollte an ihr vorbei. Sie hatte die Sonnenbrille abgenommen, und ich konnte ihr Parfüm riechen. Ihr Gesicht wirkte zerknautscht, doch es war noch immer der gleiche verlegen kokettierende Blick, mit dem sie mich schon damals verrückt gemacht hatte. Der Jutta-Blick. Ihre Haare waren jetzt kurz und ein wenig grau, mit lustigen roten Strähnchen darin.

Klar versprach ich, auf sie zu warten, als sie mich in dem kurzen Moment des Vorbeigehens fragte. Ich setzte mich auf meine Lieblingsbank, während sich die Tür hinter ihr schloss, den Kopf voller Fragen und eine Riesenportion Angst im Magen, auch wenn ich eigentlich gar nicht wahrhaben wollte, dass hier wahrscheinlich irgendeine Schweinerei am Kochen war, größer, als ich sie verdauen konnte. Das mit dem Einreden klappt leider nicht immer, und bei mir schon gar nicht. Das mit der Angst schon viel eher. Leider. Ich konnte fühlen, wie sie wieder angeflutet kam und begann, meine Barrieren zu errichten. Nicht schon wieder. Nicht noch einmal. Das war vorbei, für immer und ewig.

Aber irgendetwas war im Busch. Die plötzliche Stille im Präsidium war auch nicht echt. Wo ich vorhin noch hektische Laufschritte und aufgeregte Stimmen gehört hatte, klaffte die Ruhe der Stasis. Die Gänge waren leer. Keiner schien so tun zu wollen, als habe es eben einen mittleren Gau gegeben, aber da waren die Blicke, die gewechselt wurden, wenn sich zwei Diener der Ordnung im Vorbeigehen begegneten oder wenn sie an mir vorbeikamen.

Ich hatte das Scheißgefühl, von allen gescannt zu werden. Dass alle etwas wussten, was ich nicht wusste, wissen konnte oder wissen durfte.

Warum klingelten überall die Telefone wie verrückt? Wieso wurden die Türen so schnell wieder zugedrückt? Weshalb redeten alle nur leise, wenn sich überhaupt jemand blicken ließ? Was war hier los?

Ich versuchte, locker zu bleiben. Ich bin ganz ruhig! Wollte klar denken. Ich bin ganz ruhig, ich bewältige meine Probleme! Im Augenblick verstand ich noch gar nichts. Ich bin ganz ruhig, es kann mir nichts passieren! Vielleicht, wenn Jutta zurückkam. Sie hatte unbefangen gewirkt. Sie schien etwas gewusst zu haben oder geahnt, was auf sie zukam oder schon zugekommen war. Es war nie leicht gewesen, aus ihr schlau zu werden. Damit konnte sie einen fertig machen. Sie wollte es nicht, aber sie tat es. Sie hatte es immer getan, daran war unsere Beziehung zerbrochen.

Hinterher waren wir uns ein paarmal über den Weg gelaufen und jedes Mal wieder da gelandet, wo wir uns am besten verstanden: in der Kiste. Aber es war nie mehr wie früher gewesen, kein Neuanfang, keine neue Chance. Ein Mal Klammern hatte mir gereicht, und sie hatte sich ja auch verändert. Die Gehirnklempner, bei denen sie gewesen war, hatten etwas mit ihr angestellt. Ob zum Guten oder Schlechten, das hatte ich nie kapiert. Jutta war die beste schnelle Nummer im Rheinland gewesen, das war alles, was mich interessiert hatte. Heiliger Fick und dann die ganz schnelle Flucht. Das letzte Mal lag allerdings über zwanzig Jahre zurück. Ein oder zwei Mal nach dem Tod ihres Bruders.

Seltsam, dachte ich, eigentlich haben wir nie von ihm gesprochen. Warum eigentlich nicht?

Ich glaube nicht, dass ich mir solche Fragen mal vorher gestellt habe. Hatte ich? Mit Jutta ins Bett, die schnelle Nummer, ein Kaffee oder zwei, und bis auf irgendwann – hasta la próxima!

Ich wartete auf der Bank und versuchte mir vorzustellen, wie der Kommissar sie befragte. Zeigte er ihr auch das Bild? Natürlich. Und sie? Würde sie ihn überzeugen können, dass Axel seit fast dreißig Jahren Asche war?

Ich sage nichts mehr über Bullen, vor allem die weiblichen. Eine von ihnen kam mit einem Becher Kaffee und meinte, so wie ich aussähe, könnte ich ihn wohl brauchen. Danke, Schwester, setz dich doch zu mir. Ach Quatsch, du bist nur eine brave Beamtin, vielleicht mit einem etwas größeren Beamtenherz als der Rest, und du bist voll im Dienst. Was sie tat, tat sie dienstlich. Ihr Mitleid wurde vom Staat bezahlt. Die Seelentröster gibt’s im Telefonbuch oder unter der Nullhundertneunzig.

Ich sah ihr nach, wie sie um die Ecke verschwand. Vorher blieb sie noch einen Moment kurz stehen, schaute herüber, lächelte. Hatte sie gar nichts mitbekommen, vorhin? War sie noch nicht eingeweiht? Ich versuchte mich zusammenzureißen. Ich wusste, wohin derlei Gedanken führten, und darauf hatte ich absolut keine Lust mehr.

Kladde? Axel – der Mann, der Axel sein sollte – und ein Tagebuch oder so etwas? Schon dieser Gedanke war verrückt. Axel war nie der Typ dafür gewesen, vor allem nicht, wenn er heiße Sachen machte, und davon hatte es mehr als genug gegeben. Axel – der Axel, der mein Freund gewesen war – hatte immer mit einem Bein im Knast gestanden. Aber er war tot, und eine Kladde zu führen, ein Tagebuch gar, das war nie sein Ding gewesen und einfach nur Schwachsinn.

Allerdings: Axel hatte auch oft genug genau das getan, was keiner von ihm erwartete. Immer das andere. Ich glaube, auch das hat die Weiber so verrückt gemacht. Axels lockerer Stil, seine Art, das Leben zu nehmen, niemals ernst. Für ihn war alles immer nur Spiel. Klar hatte er gut ausgesehen, der irre Coole mit den sanften Augen und den haselnussbraunen Locken. Kein Mädel war vor ihm sicher gewesen, vor allem nicht die seiner besten Freunde. Er hatte damit nie ein großes Problem gehabt.

Er hatte eigentlich überhaupt nie Probleme gehabt, selbst mit dem Heroin nicht, wahrscheinlich bis zum bittersüßen Ende in einem Klo oder einer lausigen, kalten Bude. Ich wusste es nicht. Unser Kontakt war schon lange vorher abgebrochen – verstehen Sie, Herr Kommissar? Ich hatte einiges gehört, zum Beispiel von Jutta, aber das war auch alles.

Ich ertappte mich dabei, dass ich tatsächlich schon von ihm als dem Mann in diesem Polizeicomputer zu denken begann. Dass ich es für möglich hielt.

*

Eine Kladde mit Notizen – das war lächerlich. Axel, mein Axel, war doch kein knochentrockener Buchhalter gewesen. Ein kleines Buch mit Adressen, das hätte den Herrschaften so passen können. Telefonnummern und Namen …

Wieso denn eigentlich meine? Wer immer der erschlagene Tote gewesen sein mochte – nein, Axel mit Sicherheit nicht! –, wie war er an meinen Namen gekommen? Jan Shruyver, so alltäglich ist der nun wirklich nicht.

Wer war dieser Tote, und wie steckte ich da mit drin? Wieso waren die Bullen so gottverdammt sicher? DNS-Proben? Mit wem hatten sie sie verglichen? Zeugen? Beweise? Das waren für mich Worte aus Krimis, nicht aus dem wirklichen Leben. Vor allem nicht aus meinem. Ich versuchte mir einzureden, dass dies alles ein Traum sei, ein Irrtum, der sich aufklären würde, sobald Jutta zurückkäme. Tu jetzt mal was für deinen alten Freund, Jutta, du hast noch eine Schuld zu begleichen. Oder glaubst du, die lässt sich so einfach im Bett abbezahlen?

Ich stand auf und ging in dem langen Gang auf und ab, der immer noch viel zu leer war. Mein Magen knurrte. Die Wintersonne schien immer noch grell durch die Fensterfassade. Ich lehnte mich an eine Infosäule, betrachtete Bilder und Aushänge, Notizen und Fahndungsposter, fast wieder so wie in den Siebzigern bei der Hetzjagd auf die RAF, setzte mich, stand wieder auf.

Als ich glaubte, es nicht mehr auszuhalten, kam sie raus. Ich blieb stehen, starrte sie an. Dann stand sie vor mir, und ich sah in die traurigsten verheulten Augen, in die ich je geblickt hatte.

„Na komm“, sagte ich und hielt ihr die Hand hin.

Sie nickte und nahm sie. Sie hatte kein Auto, sondern war mit der Bahn gekommen.

Wenigstens das war neu.

*

Manche Dinge geschehen so selbstverständlich wie der Wechsel des Wetters nach einem determinierten Muster, oder wie ein Zugunglück, wenn zwei Loks auf demselben Gleis aufeinander zurasen. Jutta und ich waren die beiden Loks, und das Gleis dasselbe wie immer.

Als wir dann nebeneinander lagen, auf dem Rücken und die Spinnweben an der Decke anstarrend, wussten wir, dass wir beide es nötig gehabt hatten. Diesmal aber gleich aus zwei Gründen. Wir hatten uns zwei Jahrzehnte lang nicht sehen können geschweige denn vermissen, und wenn es dann doch passierte, dann landeten wir wie mit der Zwangsläufigkeit eines Naturgesetzes miteinander im Bett und trieben es bis zum Gebrechen. Und es war genauso verrückt, genauso heftig und genauso ein Wahnsinn wie beim ersten Mal und beim zweiten und beim dritten. Wie gesagt, ich hatte es nicht vermisst, doch jetzt wusste ich, wie sehr es mir gefehlt hatte. Mir und ihr. Und es schrie nach endloser Wiederholung.

Der zweite Grund war natürlich der, dass es uns für einige lange, ekstatische Minuten die Fragen vergessen ließ, die uns quälten. Nein, ich machte mir keine Illusionen: Sie waren aufgeschoben, nicht aufgehoben und sie kamen schon wieder gekrochen, während Jutta ihre Zigarette rauchte. Die Tasse, die als Aschenbecher herhalten musste, war halb voll. Jutta qualmte wie ein Schlot, vielleicht für mich mit, denn meinen Lungen tat ich das seit zwanzig Jahren nicht mehr an – bis auf die selbst gedrehten Ausnahmen aus eigener Balkonproduktion.

„Wenigstens hast du noch Lust am Sex“, sagte sie, ohne dass ich irgendetwas bemerkt hatte. „Sag, wenn es dich stört. Du rauchst nicht mehr, du rührst den Wein nicht an – was ist los? Bist du doch noch solide geworden?“

Ich strich ihr über die linke Brust. Sie war noch immer fest und schön. Da, wo sie schon wieder die Hand hatte, war noch nichts wieder fest, aber wir arbeiteten daran. „Unglaublich solide.“

„Und jeden Morgen bittest du um Vergebung deiner Sünden.“ Jutta drückte die Kippe aus und drehte sich zu mir um. Sie winkelte den Arm an und legte den Kopf in die Hand. „Brauchen wir denn die Vergebung, Jan?“, fragte sie.

„Was hat Kappeler von dir gewollt?“, lenkte ich ab. Ob sie mein Zusammenzucken bemerkt hatte?

„Ich hab zuerst gefragt. Brauchen ...“

„Hat er dir das Bild gezeigt?“ Ich sah ihr in die Augen. „Den zerschlagenen Kopf? Das ganze Blut, das sie vorher noch nicht mal abgewaschen haben? Das Gehirn, das ihm herausgespritzt ist wie ...“

„Hör auf!“

„War es Axel?“, stocherte ich weiter. „Man konnte immer noch genug sehen, um eine Ähnlichkeit ...“ Fing ich jetzt echt an zu spinnen? Was war das? Hatte Kappeler mich hypnotisiert, dass ich plötzlich auch seine Gespenster sah?

„Jan, hör bitte auf!“

„Kann ... könnte es Axel gewesen sein, Jutta?“ Ich nahm ihre Hand, drückte sie fest. Sie wimmerte. „Wann ist er gestorben? Es war doch die verdammte Überdosis, oder? Wann war die Beerdigung, Jutta?“

„1983“, sagte sie leise. „Am ersten April.“

„Du machst Witze“, entgegnete ich entgeistert.

„Kein Witz, Jan.“ Sie befreite sich und richtete sich auf, zündete eine neue Kippe an und nahm einen tiefen Schluck von dem Rotwein, den wir im Supermarkt besorgt hatten. Sie nickte, lachte trocken und hob den Blick ihrer großen Kinderaugen zur Decke. „Axel starb am 25. März 1983 und wurde am ersten April ins Urnengrab gelegt. Geh aufs Standesamt, frag die Bullen. Frag, wen du willst. Sie werden es alle bestätigen.“

„Ich frag aber dich!“

„Und ich hab dir gesagt ...“ Sie starrte mich an, schoss einen Blick ab, der wie ein vergifteter Pfeil war, doch mitten auf dem Weg machte er kehrt und flog zu ihr zurück. Ich sah, wie sie schluckte. Ihre Augen schimmerten. Ihre Finger konnten die Kippe nicht mehr halten. Sie sprang aus dem Bett hoch, wischte die Glut in die Tasse, fluchte und ging zu dem Tisch mit den beiden inzwischen längst kalten Bechern Kaffee. Mit dem Rücken zu mir setzte sie sich und legte den Kopf in beide Hände.

Ich zog mich an und schlurfte in die Küche meiner unaufgeräumten Dreizimmerwohnung und machte neuen Kaffee. Dabei vermied ich es, sie anzusehen. Ich wartete darauf, dass sie etwas sagte. Und sie hatte etwas zu sagen. Ich kannte sie immer noch gut. Wir hatten uns beide verändert in zwei Jahrzehnten, aber Jutta war Jutta und würde immer Jutta bleiben. Sie brauchte ihre Zeit – aber was war mit mir? Interessierte sie das? Ich spürte doch, dass sie mich belog – na ja, vielleicht nicht direkt anlog, aber sie sagte mir auch nicht die Wahrheit. Zumindest nicht die ganze.

Noch ein dunkles Geheimnis, ein weiterer Eintrag in die Lebenslinie, der sich nicht löschen ließ wie eine überflüssige Datei im Computer – darauf hatte ich all die Jahre wahrhaftig gewartet.

Ich brauchte dieses Mal keine zwei oder drei Tage, um zu bereuen, dass ich ihr begegnet war. Ich verfluchte den Tag schon jetzt und hatte diese grauenvolle Angst vor dem, was er mir noch bringen würde. Auch dieses Gefühl hatte ich schon vergessen geglaubt. Jetzt war es, als würde die Welt mitten zwischen meinen Füßen auseinandergerissen.

„Was machst du eigentlich so?“, fragte sie endlich. Das war das übliche Vorspiel, ich kannte es. „Ich meine, wovon lebst du?“

„Was kommt“, antwortete ich knapp. „Ich zeichne für Verlage und arbeite zeitweise hier im Krankenhaus als Physiotherapeut.“

„Na klar. Die Hälfte von denen kommt ja aus Holland.“

„Und die andere Hälfte hat’s in Holland gelernt, jedenfalls hier in unserer Gegend.“

„Wolltest du nicht mal wieder zurück?“

„Ich bin hier geboren“, erinnerte ich sie. „Nur mein Vater war Holländer.“

„Aber du hast dich da immer wohlgefühlt. Besser als hier.“

Ich lachte trocken. Ja, da hatte sie wohl recht. Besonders an einem ganz bestimmten Tag. 1970, Zandvoort aan Zee.

„Und was für Zeichnungen?“ Sie war leise, sah mich nicht an. „Du hattest es doch immer mit dem Weltraum. Kleine grüne Männchen und große nackte Barbarellas.“

„In dieser Richtung, ja.“

„Bringt das Geld?“

„Ich kann davon leben.“

„Du und Horst, ihr immer mit euren verrückten Geschichten. Science-Fiction, Fantasy, geile Frauen … Hast du mit Horst noch Kontakt?“

„Wenig“, sagte ich. Fang endlich an! Komm zur Sache! Was ist wirklich passiert an diesem ersten April? „Er schreibt SF und hatte eine Stelle als Redakteur in einem Verlag.“ Der Gedanke kam mir plötzlich verrückt vor. „Sogar ganz in meiner Nähe. Irgendwie haben wir immer das Gleiche gemacht … na ja, fast. Ich bin dann hierher zurück, er ist geblieben.“

„Verheiratet?“

„Ja. Er hat, glaube ich, irgendwann kapituliert, oder auch nicht, hab ja lange nichts mehr gehört. Müsste mich eigentlich wieder mal melden.“

Es interessierte sie nicht wirklich, obwohl sie mit Horst auch mal zusammen war. Das war, kurz nachdem ich mit ihr das erste Mal Schluss gemacht hatte. Ich hatte ihm das ziemlich übel genommen, obwohl es mich ja nichts mehr hätte angehen sollen, doch als ihre Eltern ihnen dann eine Eigentumswohnung kaufen wollten, sah er sich plötzlich im Goldenen Käfig und zog den Schwanz ein, machte den Abflug. Willkommen im Klub! Seitdem hatte ich ihn wieder gemocht.

„Ist so bestimmt besser für ihn“, murmelte Jutta. Sie hatte schon wieder den Wein am Mund. Was redete sie denn da? Horst glücklich verheiratet, das war mir aber neu. Obwohl auch er sich verändert hatte, aber wer hatte das nicht? „Und du?“, fragte sie wie beiläufig und spielte mit ihren Fingernägeln. „Warst du auch mal ... oder bist du noch ...?“

„Verheiratet?“ Ich grinste müde.

„Okay, die Frage war dumm, aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du die ganze Zeit solo warst.“

„Es gab Tausende“, brummte ich. „Mindestens.“

„Nee, oder? Jan, verarsch mich nicht. Ich meine, einige ...“

„... gab es natürlich. Gibt es noch. Aber das ist ...“

Ich sah sie an, und sie verstand.

„Ist schon klar“, seufzte sie und trank. „Ich frag auch nicht mehr. Ich weiß ja, dass du das nie abkonntest. Genau wie Horst, da haben wir’s wieder mit der Ähnlichkeit. Aber er war trotzdem nie einer von uns, oder? Ich meine, so richtig wie wir.“

Du doch auch nicht, dachte ich, sagte aber nichts. Was wollte sie hören? Wie toll wir waren? Wie herrlich ausgeflippt, verrückt und revolutionär – was wir für revolutionär hielten? Wir haben gesehen, wohin es uns brachte, oder? Wir alle, vielleicht bis auf Knut. Der hat es vorgezogen, sich vorher in die Büsche zu schlagen, als ob er es da schon geahnt hätte. Es gab Zeiten, in denen ich ihn darum beneidete. Seine Hände waren oft schmutzig gewesen, ungewaschen. Sie hatten gestunken, aber nie nach Blut.

Zähes, rotes Blut, das aus den Wänden quoll und an ihnen runterlief. Du kannst es nicht wegtrinken, irgendwann funktioniert das nicht mehr. Es sickert auf den Boden, du stehst mittendrin. Und dann, dann kriecht es an dir hoch. Es schreit einen Namen, ihren Namen. Du schreist auch. Du taumelst, du fällst. Du sinkst in die Knie und schleppst dich zum Tisch. Sie starrt dich an, nein, nicht sie. Jutta. Dort sitzt Jutta und starrt dich mit blankem Entsetzen in ihren großen, feuchten Augen an. Sie ruft dich, schreit, lallt, flüstert.

Und es ist wieder da. Nach all den Jahren. Es holt dich ein. Nein, es ist nicht vorbei. Das hast du geträumt. Es ist wieder da und holt dich zurück, reißt dich hinein in den Zeittunnel, und du fällst, fällst tief, immer tiefer dorthin zurück, wo alles begann; lächelnd, harmlos, tanzende und lachende Gestalten. Und mitten zwischen ihnen, in perfekter Verkleidung, die grässliche Fratze des Todes.

Willkommen, Jan!, flüstern sie. Wir sind alle da, willkommen daheim!

2. Die Clique

„Irgendwas, Leute, machen wir mal“, sagte Knut immer, wenn er ausreichend zugedröhnt war, was eigentlich jeden Tag so war. „Ehrlich, ey, irgendwas machen wir mal.“

Das hatte er aus einem Lied vom alten Degenhardt, und das hat er dann ja auch getan, aber als wir an diesem Abend zusammensaßen, in Jürgen Hauns Jungstudentenbude in Weiden, hatte er sich das ganz bestimmt nicht so vorgestellt.

Wir waren zwar durch die Bank alle ziemlich gefrustet und stinksauer, aber längst noch nicht so weit, dass wir die Brocken gleich hinwerfen wollten. Da gab es andere Möglichkeiten. Wir hörten die neue Live-LP von Väterchen Franz und spielten revolutionären Zirkel, und außerdem hatte George Stoff mitgebracht, sagenhafte fünf Gramm vom Schwarzen Afghanen. Ich war etwas nervös, als Knut den ersten Joint drehte, aber entschlossen, es dieses Mal drauf ankommen zu lassen. Meine ersten Erfahrungen mit Pot waren alles andere als besonders gewesen. Die bunten Farben, die psychedelischen Muster, von denen man so viel gelesen und gehört hatte, hatte ich mir eher eingebildet. Ein Zigarettchen allein in deinem Zimmer, am offenen Fenster, damit die Alten nichts merken, das bringt’s eben doch nicht so toll. Aber jetzt waren wir hier, die Clique. Fränzchen und die eingeworfenen Cappys heizten uns ein, wir waren selig von Pillen und Lambrusco. Was noch fehlte, war die Krönung des Ganzen.

Es fing ja alles gerade erst an. Ich hatte Anschluss an die Typen um George und Knut gefunden. Was wir wollten, wussten wir alle – jedenfalls soweit es das betraf, was wir nichtwollten. Es war Ende 1968, und die ganze Welt stand auf dem Sprung.

Es reichte uns auch. In diesem Jahr, mit dem später eine ganze Generation charakterisiert werden sollte (in einer Zukunft, die, hätten wir sie da schon gekannt, kollektives Kotzen ausgelöst hätte), war genug passiert, um auch die letzten Illusionen zu rauben und die hintersten Aggressionen aufzustauen. Nur mit dem Rauslassen funktionierte es noch nicht so richtig. Nicht bei uns, nicht in der Provinz. Uns blieb nur die „sanfte“ Tour. Wäre es doch nur dabei geblieben.

1968 Studentenrandale in Paris und Berlin, Frankfurt, sogar ein bisschen in Köln, unter den Augen des Kardinals, des Heiligen Willi und der CIA, deren Kameras fleißig und pausenlos surrten. Das feige Attentat auf Rudi Dutschke, der Mord an Martin Luther King und Robert Kennedy. Im elterlichen Wohnzimmer gepflegte Langeweile und Farbfernsehen, viel zu bunt für die Nachrichten und die Große Koalition. „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“ Richtig, Franz-Josef! Wir hatten die Schnauze voll. Du hast viel Geld damit verdient, alles im Interesse der Sache, versteht sich, und wir beteten das ja auch eifrig nach.

Ein Jahr zuvor hatte es in Amerika angefangen, die Westküste: Let’s go to San Francisco und Wear some flowers in your hair. Wir sahen und lasen es staunend, kauften uns PARDON und konkret und hörten Musik von den Byrds, Jimi Hendrix, den Stones und Jefferson Airplane. Da passierte was in der Welt. Da ging etwas ab, etwas ganz Großes, Unglaubliches, und wir gingen brav zur Schule oder in die Lehre und mussten zusehen.

Revolution, davon sprach kaum noch einer. Wir waren noch auf andere Art rebellisch, hatten den Beat hinter uns und den Kampf um die langen Haare. Wir guckten mit großen Augen über den großen Teich und träumten von Flower Power und von Trips. In der konkret gab es gute Ratschläge dazu. Echte Trips waren für uns Normalmöchtegernhippies noch nicht zu haben, aber es gab sie in Kleinausführung. Das Zauberwort hieß Captagon.

In dieser Zeit war es ein regelrechter Sport, zum alten, braven Hausarzt zu gehen und ihn zu bequatschen, uns die Cappys zu verschreiben. So was wie Schwarzmarkt funktionierte noch nicht, also Rezept, für das wirklich hart gekämpft werden musste, gefleht, gebettelt und gelogen. Am besten zog die Nummer mit den Prüfungen, für die man büffeln müsse, was mit einer Captagon einfach besser ging, lieber Herr Doktor.

*

Wir bekamen sie, und dann trudelten sie bald auch aus Köln in unsere Dorfdiscos, besorgt von Arzthelferinnen und schrägen Vögeln, die Rezeptblöcke klauten und fälschten. Wir waren bald mit Cappys gesegnet, deren einziger Nachteil damals für uns war, dass man keinen hochkriegte. Selbst die heißeste Braut auf der Matratze und unter der Ecke änderte daran nichts, so sehr sie sich da auch Mühe gab. Die kleinen Pillchen machten dich geil ohne Ende – und gleichzeitig absolut unfähig.

Aber die Cappys waren Action und Trip. Den kalten Schweiß und die ein, zwei schlaflosen Nächte nahm man in Kauf für zehn Stunden Höhenflug. Im Mix mit billigem Rotwein war es das Paradies.

Aber eben immer noch nicht das Richtige, sondern nur das LSD der Möchtegerne. Das, was damals möglich war. Doch dafür hatten wir Haschisch.

Runter mit FJ vom Plattenteller, Jimi drauf. George rauchte den Riesenjoint an, süßlicher Duft stieg in die Nasen, stilgerecht zu den Klängen von Voodoo Chileund Electric Ladyland. Ich hatte die Crown Of Creation-LP der Airplane mitgebracht, doch noch war Jimi gefragt. Ich stand leider ziemlich allein da mit Airplane und Grace Slick. Aber andererseits war auch das wieder irgendwie elitär. Elitär in der Elite, als die wir uns fühlten. Wir waren auf dem Gymnasium, sahen uns aber schon als richtige Studenten. Wir lasen unseren Rudi und Marx und Marcuse, und wer, außer uns, sollte denn hingehen und den armen Malochern sagen: „Arbeiter, du wirst ausgebeutet!“? Wer sollte sie vom BILD-­Zeitungsterror befreien und ihnen stattdessen die Mao-Bibel in die Hand drücken? Wer, wenn nicht wir?

Eine kleine Elite, ja, das waren wir. Und so herrlich stolz und abgehoben. „Wir sind eine kleine, radikale Minderheit!“ Und so hockten wir zusammen und warteten auf Erleuchtung. Der große Joint wanderte von einem der Beautiful People der Vorstädte zum anderen. George, der blond gelockte Engel mit den ewig in die Weite träumenden Augen, reichte ihn mit geschlossenen Augen weiter an Jürgen, der uns nicht nur seine Bude zur Verfügung gestellt hatte, sondern gleich das ganze Haus. Seine Eltern waren für ein paar Tage weg, seine Schwester Gaby saß bei uns, genauer gesagt, zwischen Knut und Axel. Ihr wisst, wer das Rennen machte, oder?

Jürgen Haun war ein schräger Vogel, ein wenig hinterlistig, etwas verschlagen, unkontrolliert. Solange er in unseren Reihen war und fleißig für uns das Geld ausgab, das er schon verdiente, war uns das egal. Er machte viel Schau, viel heiße Luft. Später sollte er ein hohes Tier in einem gemeinnützigen Sozialverein werden. Es passt alles im Leben.

Dann kam Peter. Peter Abels, der abgebrochene Zwerg, den wir nur Abelse Pitter nannten. Auch er verdiente schon und gab entsprechend an. Ehrlich gesagt, konnte ich ihn nie ausstehen. Da konnte er noch so sehr den Clown geben. Genau wie Jürgen kaufte er sich bei den anderen ein. Sollte später einen Computerladen aufmachen. Pitter, der Showman, sog wie ein Bekloppter am Joint und verschluckte sich am Rauch, kam schwer ins Husten, bis ihm die Augen tränten. Jürgen klopfte ihm so fest auf den Rücken, dass vorne die Funken flogen.

Axel nahm ihm schnell den Joint ab. Student an der Werkkunstschule, cool, der Mädchenschwarm mit seinen braunen Locken, ein bisschen Flaumbart und den Engelsaugen; groß, schlank, schlaksig. Axel nahm die Welt locker und wollte immer alles probieren. Damals schon. Er biss immer gern mehr vom Kuchen ab, als er verdauen konnte. Er kriegte trotzdem immer wieder die Kurve.

Dann Gaby. Ich fragte mich immer, wie ein bescheuerter Typ wie Jürgen H. zu so einer Schwester gekommen war. Irgendwas konnte mit den elterlichen Genen nicht stimmen. Gaby war hübsch, blond, langhaarig und hatte eine super Figur. Sie war nicht der Typ, der jeden nahm. Sie war aber auch nicht eingebildet. Gaby war wählerisch, doch wenn sie die Wahl einmal getroffen hatte, ein überaus großzügiges Wesen. Ich gehörte leider nicht zu den Glücklichen. Sie liebte Pferde über alles, und dass sie nicht nur auf ihnen gut und gern ritt, wusste ich leider auch nur von anderen.

Knut. Was können wir über ihn noch schreiben? Flippig, ein Blumenkind mit schrägen Gedanken und Ansichten, leicht beeinflussbar. Ein Mädchentyp, der es mit den Mädchen aber nicht so besonders hatte, mit Jungen aber auch nicht. Knut war eine Art moderner Hermaphrodit, aber er wusste, wie man Joints rauchte. Hauptschulabschluss gerade geschafft, Lehre abgebrochen, schnorrte er sich durchs Leben. Er war eigentlich unser erster richtiger Provinzhippie gewesen, lange blonde Haare, Mädchengesicht, Blümchenhosen und -jacke, fast schon so was wie eine kleine lebende Legende. Jeder wollte ihn kennen. Knut war auf den ersten Blick eben was Besonderes – auf den zweiten ein ganz normaler kleiner Spinner wie wir alle, nur mutiger und ein kleines Stück konsequenter. Knut war das immer gewesen, wahrscheinlich schon im Kindergarten, und dann schließlich auch bis zum bitteren Ende.

Auch von Horst war schon die Rede. Wir gingen auf die gleiche Penne und später auf die gleiche Uni. Ich wollte Kunstgeschichte studieren, er Germanistik. Horst war immer irgendwie auf der Suche. Er war auch einer im Klub der Gaby-Verehrer, Chancen nahe null, aber er gab die Hoffnung nie auf. Horst war ein Träumer, melancholisch und leicht verwundbar. Er war eher selten bei uns, hockte lieber daheim in seinem kleinen Zimmer und träumte von fremden Planeten und den Mädchen, die er nicht haben konnte. Ein heilloser Romantiker eben.

Jutta kannten wir beide noch nicht, als er mir jetzt das kostbare Stück aus Papier, Tabak und Krümeln reichte, wobei er theatralisch den süßen Rauch in Backen und Lunge behielt, bis ihm der Kopf fast platzte.

Jetzt war es also so weit, my turn. Wie schrieb Timothy Leary? Turn on, tune in, drop out! Genau das wollte ich ja, wenn’s auch bisher immer beim vorsichtigen Versuch geblieben war. Vielleicht wegen der Angst, dass der Effekt stärker sein könnte als ich. Ich war nie ein Held gewesen und fürchtete mich vor allem, was einmal außer Kontrolle geraten konnte. Und trotzdem zog es mich magnetisch an. An diesem Abend hatte ich jedenfalls genug Amphetamine und Alkohol intus, um sehr mutig zu sein. Und außerdem war hier, in der Clique, ja auch alles ganz anders.

*

Es war wirklich ganz anders, aber ganz bestimmt nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wahrscheinlich ist, dass mein ganzes Desaster, der Albtraum meines Lebens, an diesem Abend begann. Dass ich endlich aufweckte, was bisher mehr oder weniger friedlich geschlummert hatte; meinen düsteren Bruder, die heimliche Verlobte; den Torwächter der Hölle. Aber selbst wenn du, mein späteres Ich, mir als Geist erschienen wärst und mich gewarnt hättest, ich hätte dich ausgelacht in diesem wunderbaren Zustand.

Du weißt, wie das ist mit den Cappys. Wenn du acht Meilen hoch bist und immer noch nicht hoch genug. Wenn du im trüben Licht dämmerst und dich die Räucherkerzen umnebeln. Wenn die Mädels dir zugucken und du es ihnen beweisen willst. Wenn du einmal, für einen ganz kurzen Moment nur, im Mittelpunkt stehst. Seht mich an, erkennt mich, ich bin mehr!

Ich nahm also das Ding, ganz vorsichtig, und zog. Diesmal richtig rein damit in die Lungen. Axel sah, was los war, und gab mir gute Tipps.

Dann ging es rund.

Ich hielt die Augen geschlossen und spürte, wie es in den Beinen zu kribbeln begann. Es gab nur noch die Musik, Jimis Gitarre, und die Stimmen der anderen. Lustig, ich stellte mir vor, ihre Gedanken lesen zu können. Jetzt musste die Tür aufgehen und das Licht hereinkommen, hell, in Farben, und Flügel wachsen, die mich trugen zu den elektronischen Wahnsinnsklängen, die durch Mark und Bein jagten.

Es trug mich nicht hoch, es riss mich.

Ich saß an einer Wand auf dem Boden, die Beine angezogen, die Hände im Schoß, als es losging. Oh, ich kannte dieses Gefühl – dachte ich einen Augenblick lang, und ich hasste es. Es war wie nach dem zwanzigsten Bier zu viel, Schwindel, Achterbahn. Alles begann sich zu drehen. Ich spürte, wie mir heiß wurde. Die Scheißangst stand schon auf dem Sprung. Ich dachte ans Klo und wie ich am schnellsten dahin käme, aber ich kam nirgendwo mehr hin.

Ich konnte mich nicht bewegen. Mir brach der Schweiß aus, und der Schuss ins All begann und ließ sich nicht mehr stoppen. Ich hatte die Farben sehen wollen, jetzt war ich mittendrin. Ich – mein Kopf – saß in einem Lift, der in den Himmel gezündet wurde, getragen von Jimis Raketenmusik, jeder Klang ein Treibsatz, der mitten durch den Schädel fuhr. Das elektrische Gewimmer explodierte in ihm.

Der Lift schoss höher und höher. Alles rotierte um unzählige Achsen. Ich wollte mich festklammern, aber da war kein Halt mehr. Ich versuchte zu atmen, bekam aber keine Luft. Ich hatte die Augen längst offen, wollte den Lift und das goldene Licht nicht mehr sehen, aber es war überall. Die Gesichter der Freunde schwammen darin. Große Augen sahen mich an. Und ich merkte, dass ich gefangen war. Wahrscheinlich gab es kein Ende des Albtraums.

Ich wurde höher und höher gerissen und hatte längst keine Verbindung mehr zur Bodenstation. Major Tom to Ground Control… doch Ground Control antwortete nicht. Ich schwitzte, mein Magen drehte sich um. Ich weiß nicht, ob ich geschrien habe oder irgendwelches sinnlose Zeug gebrabbelt. Vielleicht habe ich um Hilfe gefleht – niemand sagte es mir später, ich habe auch nie gefragt.

Stellt die Musik ab!, dachte ich panisch. Weg mit dem Gewummer, hört damit auf! Ich wollte aufstehen, streckte die Arme aus, tastete über die Wand hinter mir ...

... und spürte endlich etwas. Eine andere Hand, die meine ergriff. Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, den Kopf zu drehen. Aber ich tat es und erkannte Monika, Monika Krahl, die ich in der Fabrik kennengelernt hatte, in der ich in den Sommerferien jobben ging. Monika mit der kurzen blonden Jungenfrisur und dem hellen Lachen. Ich hatte es versucht, aber nie bei ihr landen können. Doch jetzt, ausgerechnet jetzt, war sie da.

Ich sah in ihre Augen und die Sorge darin. Irgendwie schaffte ich das. Sie sprach auf mich ein, doch es dauerte eine Ewigkeit, bis ich etwas von dem verstand, was sie sagte, während die anderen wieder mit sich selbst beschäftigt waren, Hendrix hörten oder einfach blöde lachten und kicherten. Ich wusste, dass ich von ihnen keine Hilfe erwarten konnte, so klar konnte ich doch noch denken, und am schlimmsten, am allerallerschlimmsten, war die eine Stimme, die immer und ewig die gleichen bescheuerten, nervigen, krüppligen Worte plärrte, quietschte und kicherte: „Ey, Leute, irgendwas machen wir mal, hört ihr?“

„Du musst hier raus, Jan“, flüsterte Monikas Stimme in meinem Schädel. Sie saß mit mir im Lift, der nicht stoppte, keinen Funken Erbarmen zeigte und durch die Sterne geradewegs ins nächste Schwarze Loch schoss. Mir war speiübel, so schlecht wie nie, und die Angst streckte mir ihre grässlichen Krallen entgegen, rollte ihre langen Tentakel aus, um sie um mich zu schlingen und mich zu ersticken.

„Komm.“

Nein. Ich schaffe das nicht. Ich kann mich nicht bewegen. „Komm, Jan, ich helfe dir. Wir machen das.“ Monika? Die Monika, die sich immer so geziert hatte? Ich spürte ihre Hand auf meiner Wange. „Wir schaffen das.“ Wir! „Komm, halt dich an mir fest. Versuch es ganz einfach. He, Mensch, du machst doch jetzt nicht schlapp?“

Ich glaube, ich nickte. Ich sah ihre Augen und wollte etwas sagen. Ich spürte eine Woge der Dankbarkeit, warm und gut. Sie gab mir den Atem zurück. Der Lift raste immer noch Richtung Mond, den wir eigentlich längst passiert haben mussten. Ground Control to Major Tom ...

Ich drückte ihre Hand. Sie zog mich. Ich konnte die Beine bewegen, kam auf die Füße, wacklig, schwindlig, in einem Schwall von wie aus Eimern geschütteten Farben, und wenn ich mir je eines geschworen hatte, wenn ich in diesen Momenten der Panik und Übelkeit noch einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte, dann war es dieser: Sollte ich das hier überstehen, Moni, dann mache ich’s wieder gut.

Wie konnte ich ahnen, wie bald ich dazu die Gelegenheit bekommen sollte? Aber selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, in die Zukunft zu sehen, es hätte nichts an meinem heiligen Eid geändert, der zu meiner Krücke wurde wie Monika zu meinem Engel, wer immer ihn auch jetzt geschickt hatte. Gott konnte es nicht sein, denn der war ja nicht mehr angesagt.

Wir taumelten aus dem Zimmer, weg von Jimi, weg von Knut mit seinem dummen Gequatsche. Irgendwas machen wir mal, Leute! Und dann kommen wir ganz groß raus! Hatte Degenhardt Knut je gekannt, um später ein Lied aus dieser Nummer zu machen? Ich glaube nicht. FJ hätte ganz bestimmt die Finger von der Klampfe gelassen.

Ich ging mit Monika. Sie führte, ich schleppte den armseligen Rest hinterher. Der Flur. Rechts eine Tür, offen, dahinter ein Bett, in dem Manni und Ruth vögelten. Sie saß auf ihm und guckte ziemlich dumm.

„Jetzt pass auf der Treppe auf! Warte, ich gehe voran“, sagte Moni.

Mein Magen schlug Rad. Ich würgte und hatte nur noch den einen Gedanken, es auszuhalten, bis wir endlich im Freien waren, an der frischen Luft, raus aus diesem Haus. Falls sich das hier wie endlos liest, glaubt mir, es war endlos. Die erste Stufe, der Treppenhaus-Abgrund vor mir. Ich wollte nicht, Monika zog mich. Die erste, dann die nächste, und dann der Galopp.