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Dieses Buch ist den Müttern gewidmet, unseren Heldinnen des Alltags. Den Müttern, die die Kriegsjahre ebenso erlebt haben, wie die Männer, deren Front- und Heimkehrschicksale unzählige Bücher füllen, denen Ehrenmale und Gedächtnisstätten gewidmet sind. Die Frauen haben für ihre Kriegsverletzungen keine Orden und Ehrungen erhalten, ihre Traumata werden bis heute weitgehend verschwiegen. Viele von ihnen haben mit eigenen Händen die Trümmer des Krieges beseitigt, sie haben dieses Land in körperlicher und emotionaler Kleinst- und Schwerstarbeit wieder aufgebaut, weit über die Nachkriegsjahre hinaus. Sie haben vielfach ihr eigenes Leben hintangestellt, um ganz der Familie zu dienen. Sie haben viel ertragen und mitgetragen, das meiste davon schweigend. Sie haben auf eigene Ansprüche verzichtet. Und bei all dem doch nie ihre innere Haltung verloren, denn neben ihren vom Krieg traumatisierten Männern, die oft wenig Sinn für die Bedürfnisse ihrer Frauen hatten, waren die Mütter der Fels in der Brandung. Das Leben musste weitergehen. In verschiedenen Lebensstadien erzählt Ute Elisabeth Mordhorst die Geschichte ihrer Mutter und portraitiert damit eine ganze Generation von Frauen mit einem ähnlichen Schicksal: Vorkriegskindheit, als junge Frau im Krieg, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen, Nachkriegsleben, späte Blüte. Das Buch hält diesen Frauen einen Spiegel vor, sie finden sich in diesen Geschichten wieder und fühlen sich wahrgenommen, wie sie es vielleicht noch nie so ausdrücklich erfahren haben. Ein Buch, das Generationen miteinander ins Gespräch bringt.
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Seitenzahl: 96
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Ute Elisabeth Mordhorst
Und immer stark sein
Die Geschichten unserer Mütter
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv:© ginger. / photocase.de
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Buch) 978-3-451-31217-5
ISBN (E-Book) 978-3-451-80187-7
Inhalt
Prolog
Willy, du musst singen
Singen wir uns in die Nacht
Lumpi geht
Aus dem falschen Leben
Nachbemerkung
Abschließen
Sag wie lange haben deine Füße
Wer weiß?
Tiefer Brunnen Silbermond
Mich hast Du doch am liebsten?
Sternensaat
Wer will fleißige Handwerker seh’n?
Kleines, rotes Haus
Früher Vogel pickt den Wurm
Feuerfarbe
Sind wir nicht reich?
Winterfreuden
Ich habe dir dein Leben auch für dich gegeben
Eröffnung
Wir wollen nicht weinen
Ach Mutter, weine doch nicht
Das Meer, das ist ein Spiegel
Wendepunkt
Nachwort
Biografie von Elly-Maria
Dieses Buch erzählt Geschichten aus dem Leben einer Frau, die auf den Namen Elly-Maria getauft wurde, sich später aber Elke rufen ließ. Ihr Nachname spielt keine Rolle – zum einen hatte sie gleich eine ganze Reihe davon im Laufe ihres Lebens, zum anderen taucht Elly-Maria in keinem Geschichtsbuch auf; ihr Name ist mit keiner bekannten Heldentat und keinem erinnerungsträchtigen Ereignis verbunden. Ihre Heldentat war ihr Leben, ein Leben, wie es abertausende Frauen in Deutschland gelebt haben. Damit steht Elly-Maria stellvertretend für Sie – oder für Ihre Mutter, Ihre Großmutter, Ihre Tante, Lebensgefährtin oder Ehefrau … Sie steht für eine ganze Generation von Frauen, die zwischen den beiden Weltkriegen geboren wurden und die heute auf ein langes und ereignisreiches Leben zurückblicken.
Diese Frauen haben viel zu erzählen, doch versickern ihre Lebensweisheiten und Erinnerungen zumeist im Einzelgedächtnis von Kindern und Enkeln. Geschichte, so wollen uns Schule, Film, Fernsehen und Literatur meist glauben machen, haben andere geschrieben – während »wir normale Leute« einfach versucht haben, unser Leben einigermaßen ordentlich zu leben.
Doch wenn Elke erzählte, war es anders. Elke war eine hervorragende Erzählerin, wir haben ihr als Kinder und auch später noch als Erwachsene immer gerne zugehört. Und während wir gespannt an ihren Lippen hingen, hatten wir für die Dauer der Erzählung das Gefühl, wichtige Zeuginnen und Zeugen einer ganz großen Geschichte zu sein. Erst heute erkenne ich: Das waren wir auch. Unsere Geschichte wurde nicht zuletzt von diesen Menschen geschrieben, den Ellys, Marias, Elisabeths – die einfach nur versuchten, ihr Leben zu leben – gegen oder mit dem jeweiligen Strom, in Krieg und Frieden, in einer Diktatur, in einer geteilten Republik, in Ost oder West, in der Heimat oder in der Fremde, in Armut und wachsendem Wohlstand … Ihr Leben erzählt die Geschichte eines Landes, jedes einzelne Leben erzählt sie, jedes von einer anderen Seite und komplett würde sie erst, wenn wir allen zuhören könnten. Jeder einzelnen.
Ich habe zugehört. Und irgendwann begonnen aufzuschreiben. Um den Geschichtsbüchern und verfilmten Heldentaten eines der vielen fehlenden Puzzleteilchen hinzuzufügen. Denn bei genauem Hinsehen sind es vor allem die Erzählungen unserer Mütter und Großmütter, die fehlen. Vielleicht, weil sie nicht so gut in vielversprechende Drehbücher passen. Unsere Mütter und Großmütter könnten erzählen, wie sich ein Krieg anfühlt, wenn man weder Uniform noch Waffe hat. Welche Kraft und welchen Durchhaltewillen es braucht, Familien am Leben zu erhalten, ohne selbst ausreichende Verdienstmöglichkeiten zu haben. Wie sich das Wirtschaftswunder anfühlt, wenn man nach getaner Aufräumarbeit in den Trümmern nach Hause geschickt wird und mühsam um eigene Rechte kämpfen muss. Sie könnten uns auch von ihren Träumen erzählen, die sie als junge Frauen hatten. Und was daraus geworden ist, wie viele davon sie anderen zuliebe aufgegeben haben, oder auch, weil die Zeit und die Umstände ihnen keine Möglichkeit gaben, Träume zu verwirklichen. All das könnten sie wohl erzählen, doch ich vermute, sie täten es nicht.
Elke zumindest klagte nicht, sie erzählte uns spannende Geschichten vom Überleben, von kreativen Lösungen und von Träumen, die dann eben anders gelebt wurden. Diese Geschichten möchte ich weitergeben, indem ich selbst die Geschichte dieser Frau erzähle, die stellvertretend für so viele Frauen in unserem Land stehen kann. Eine Geschichte vom Überleben und Leben, von Liebe und Tod, von Freiheit und Selbstbestimmung, von Grenzen und Schmerz. Und immer wieder: vom Weitergehen.
Dieses Buch ist eine Würdigung der Lebensleistung aller Frauen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren geboren wurden. Und es will auch eine Ermutigung für alle Töchter, Enkelinnen und Urenkelkinder sein, diesen Frauen noch einmal zuzuhören und – bei allem, was wir ihnen sicher auch vorzuwerfen hätten – die Hochachtung vor ihrer Leistung einfach mal so stehen zu lassen. Als wichtiges Puzzleteil unserer eigenen Geschichte.
Hast du als Kind auch manchmal Angst gehabt, Mutti?« Ich liebte diese Frage – oder besser: Ich liebte die Geschichte, die meine Mutter auf diese Frage zu erzählen pflegte. Wie es damals war, in den kalten Winternächten, abends vor dem Schlafengehen, abends, wenn die Blase vollgelaufen war – und das Toilettenhäuschen eine Weltreise entfernt, eine gefährliche Reise, allein über den dunklen Hof. Mich drückte jedes Mal nicht nur die Blase, sondern auch das vollgelaufene Herz, wenn meine Mutter die Geschichte von ihren Toilettengängen durch winterliche Kinderangst und Dunkelheit erzählte, die sie als kleines Mädchen zu bewältigen hatte.
Tagsüber oder an den langen warmen Sommerabenden, die so typisch waren für die Landschaft, in der meine Mutter aufgewachsen war, stellten die Gänge zum Toilettenhäuschen für sie keine innere Hürde dar. Zumal sie versucht hatte, es sich hübsch herzurichten, das stille Örtchen. Es sollte auch ein heimeliges Örtchen sein. Die kleine Elly hatte eine schmale Gardine gehäkelt und vor das Fenster gehängt. Niemand sollte sie von draußen sehen können. Und ein übrig gebliebenes Stück von ihrer neuen Kinderzimmer-Rosentapete hatte sie an die Wand geklebt.
Im Sommer war es also gut auszuhalten für Elly im Toilettenhäuschen hinter dem Haus. Aber sobald der Winter kam, wurde das Häuschen für sie zu einem Geisterhaus. Im dunklen Winter war das stille Örtchen »dauerbesetzt« vom Geist der Riesenangst. O weh, wenn sie dann mal musste, dann musste sie über den großen, unbeleuchteten elterlichen Hof laufen. Der Hof lag etwas abgelegen am Ende des Dorfes. Abends im Winter war es still im Dorf. Totenstill. Und der Hof war schwarz wie die Nacht. Hin und wieder war das dumpfe Bellen eines Nachbarhundes zu hören, Schritte näherten und entfernten sich. »Hallo, wer ist da?« Ein Kleintier huschte über den Boden, ein Zweig knackte. Das Mondlicht warf unheimliche Schatten …
Die kleine Elly stand in der rückwärtigen Tür des Elternhauses, zögerlich stand sie auf der Türschwelle wie am äußersten Rand eines Dreimeterbrettes über dem Wechselbad der Gefühle. Sollte sie oder sollte sie nicht? Ihr Herz klopfte bis zum Hals vor dem Nachtmeer, das sich vor ihr auftat und es war niemand da, der sie begleiten würde auf dem Sprung in die Tiefe der Angst. Die Eltern waren im Haus beschäftigt und der Ansicht, das Kind solle sich nicht so anstellen. Die ältere, furchtlosere Schwester Frieda ließ sich die Begleitung zum Toilettenhäuschen mit dem Abendabwasch entlohnen, der eigentlich ihre Angelegenheit gewesen wäre. Nicht selten nährte die ältere Schwester absichtlich die Ängste der kleineren, um sich dann gegen ein solches Schutzgeld als Beschützerin anzubieten, ein Schutzgeld, das überdies mit einem Schweigegebot belegt war. Wehe, wenn die Eltern von der Abmachung erfuhren …
So stand die kleine Elly in der Tür des elterlichen Hauses wie auf dem Rand eines Dreimeterbrettes und blickte auf den dunklen Hof hinaus, das Herzklopfen war nicht mehr auszuhalten, sie entschied sich, nicht zu springen, trotz der Blase, die zu platzen drohte. Sie entschied sich umzukehren, zurückzulaufen ins Haus, denn da gab es ja einen, Gott sei Dank gab es da einen, der sich den Begleitschutz nicht mit Hausarbeit bezahlen ließ wie die Frieda, einen, den sie fragen durfte und der sie wortlos verstand. Willy, ihr um vier Jahre jüngerer Bruder. Er, der Kleine, war sensibel wie sie. Obwohl Willy nach dem Willen des Vaters gar nicht sensibel sein sollte. Willy war der einzige Sohn und Stammhalter der Familie. Und das hatte was zu sagen. So wie Willy was zu sagen hatte. Jetzt schon, obwohl er noch keine fünf Jahre alt war. Anders als seine Schwestern, wurde er am Tisch nicht unterbrochen, wenn er redete. Er wurde ermutigt, den Schwestern gegen das Schienbein zu treten, wenn sie vorlaut waren. Die Mädchen hatten stillzuhalten, auszuhalten, den Mund zu halten. Aber Willy trat die Schwestern nicht. Willy hatte ein Unrechtsbewusstsein, er war klug, feinsinnig und hübsch wie seine Schwester Elly, die er liebte – so wie sie ihn.
So trotteten Brüderchen und Schwesterchen Hand in Hand über den Hof. Der Willy Hänsel und die Elly Gretel. Der Weg zum Toilettenhäuschen mag nicht weit gewesen sein, ein paar Meter vielleicht, ihnen aber kam er endlos vor. Endlich waren sie da. Die kleine Elly öffnete die knarrende Tür und verschwand im Toilettengeisterhaus. Willy blieb draußen stehen und stand Wache in der Rabenschwärze des Hofes. Kalt war es. Willy zitterte und Elly hockte im Toilettenhäuschen und zitterte auch. Schnell, schnell! Sie wollte sich beeilen. Aber die vollgelaufene Blase wollte sich nicht so einfach entleeren lassen. Ellys achtjähriger Bauch war viel zu verkrampft. Ein Licht gab es in dem Toilettengeisterhaus nicht. Schatten huschten vorbei. Am besten die Augen zukneifen. Jetzt hing die schwarze Angstgardine vor dem Fenster, jetzt klebte die Angst an den Wänden. Verschwunden die Kinderzimmerrosentapete. Aber vor der Tür wartete Willy. Wartete er auch wirklich? Oder war er weggelaufen, fortgeschleift worden von der Angsthexe? Unheimlich still war es draußen. Willy?
»Willy, du musst singen!«, rief sie ängstlich. »Damit ich weiß, du bist da.« Keine Antwort. Dann aber … sang Willy. »Ich geh’ mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.« Leise sang Willy, damit die Eltern es nicht hörten. Aber laut genug, damit die jüngere Schwester es hörte. Und während Willy es drinnen im Toilettenhäuschen plätschern hörte, horchte die kleine Elly auf den plätschernden Kindersopran draußen. »Dort oben leuchten die Sterne und unten, da leuchten wir.« Irgendwann knarrte die Toilettentür, Elly sprang aus dem Häuschen, die Geschwister liefen Hand in Hand zurück über den Hof. Vor dem Haus brannte eine Laterne, ein kleines Hoffnungsfeuer … gleich hatten sie es geschafft, der sichere Hafen war nicht weit. »Mein Licht ist aus, ich geh’ nach Haus. La bimmel, la bammel, la bomm.«
Wenn ich heute über diese Geschichte nachdenke, staune ich, mit welcher Energie und Tatkraft, mit wie viel Humor und Einfallsreichtum meine Mutter ihren gar nicht leichten Lebensweg bewältigt hat. In ihrem Elternhaus wurde sie keineswegs dazu ermutigt, ihrer eigenen Stärke zu vertrauen. Dass sie eine starke Frau war, hat sie herausgefunden, nachdem sie herausgefunden hatte aus den Ängsten ihrer Kindheit. Sie war eine, die sich zu helfen wusste.
Willy, du musst singen.
Singen wir uns
In die Nacht
Die Sterne schweigen
Nur zum Schein
Hör doch
Sie stimmen hell und sacht
In unsere Lieder ein
L