Vom Schneemann, der nicht tauen wollte - Ute Elisabeth Mordhorst - E-Book

Vom Schneemann, der nicht tauen wollte E-Book

Ute Elisabeth Mordhorst

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Beschreibung

Ein Schneemann im Hochsommer, der Weihnachtsmann, der einen Teddy gestohlen hat, die Freude über ein Päckchen Wachsmalkreiden, Sehnsucht nach lange vergangenem Weihnachtsglück - davon erzählen die heiter-besinnlichen, aber auch nachdenklichen Weihnachtsgeschichten in diesem Band. So wie Tannenduft und Lichterglanz alle Jahre wieder zu Weihnachten gehören, so auch Geschichten über den Weihnachtsfrieden - Geschichten wie in diesem Buch.

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Seitenzahl: 98

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Ute Elisabeth Mordhorst

Vom Schneemann,der nicht tauen wollte

Besondere Weihnachtsgeschichten

Impressum

Titel der Originalausgabe: Vom Schneemann, der nicht tauen wollte

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Designbüro Gestaltungssaal

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80529-5

ISBN (Buch): 978-3-451-34239-4

Inhalt

Der Adventskalender

Die Wachsmalkreiden

Der Schneemann und Herr König

Das Weihnachtsengelchen

Die Christbaumkugel

Das gestohlene Geschenk

Das Kind aus der Krippe

Herr Klotz taut auf

Draußen vor den Schaufenstern

Der Adventskalender

Jedes Jahr pünktlich zum 1. Dezember hatte er das Adventsdorf aufgebaut. Er hatte gewartet, bis sie schon schlafen gegangen war, und dann die Schreibplatte des Sekretärs, der im Flur stand, leise aufgeklappt und eine Lage weißen Watteschnees darauf ausgerollt. Vierundzwanzig kleine selbstgeschnitzte und bemalte Holzhäuser hatte er über die Schneelandschaft verteilt. Von ihrem Schlafzimmer aus hatte sie das dumpfe Aufsetzen der Holzhäuser auf dem antiken, wuchtigen Möbel gehört und gedacht: Rührend, wie vorsichtig er jedes Jahr dieses Kalenderdorf aufstellt, das er für sie gezimmert hatte. Von den Häuschen ließen sich die grün oder rot lackierten Dächer abheben und in jedem von ihnen brannte ein Licht, zumindest sah es so aus, als brannte ein Licht in jedem Haus. Er hatte mit hellem Goldlack Fenster auf die Häuserwände gemalt, rechteckige hohe Sprossenfenster, und jedes Haus im Dorf leuchtete von innen und neben den Türen prangten große schwarze Ziffern, Hausnummern von eins bis vierundzwanzig. Und dann, unter den Dächern, im hohlen Inneren, verbarg sich die Tagesüberraschung, eine Weihnachtsschokolade, ein Zinnanhänger, eine Einladung zum Weihnachtsmarkt oder eine Tagesweisheit. Der Ort der Wahrheit ist die Beziehung.Wenn dir Türen zugeschlagen werden, öffne andere. Das war der letzte Sinnspruch gewesen. Ob er geahnt hatte, dass es der letzte sein würde?

Morgen war der zweite 1. Dezember ohne ihn. Die Häuschen standen verpackt in einem Karton auf dem Dachboden. Sie mochte sie nicht aufstellen. Das war sein Ritual gewesen. Sein jährliches Adventsgeschenk an sie. Seit zwei Jahren war das Dorf ausgestorben ohne ihn. Der Sekretär, das wuchtige alte Möbel auf dem langen, breiten Flur war ausgestorben, der Flur leuchtete nicht mehr. Sie fühlte sich selbst zum Teil ausgestorben, heimatlos in ihrer Geisterwohnung. Sie nahm sich vor, wieder Kontakte zu pflegen. Wieder nach außen zu gehen, nachdem sie sich zwei Jahre zurückgezogen, nach innen geschaut hatte. Aber ausgerechnet jetzt, in der Adventszeit? War das eine gute Zeit, um ihr Schneckentrauerhaus zu verlassen? Alle waren im Terminstress, beruflich wie privat. Sie stand im Flur, schaute von dem Sekretär, dessen Schreibplatte eingeklappt war, auf die Wand und überlegte. Nein, für diesen Adventskalender gab es keinen Ersatz. Brauchte sie überhaupt einen? Vielleicht, ja. Vielleicht, weil sie ein eigenes Ritual brauchte. Ein neues. Sie setzte sich an den Sekretär, stützte den Kopf in beide Hände und schloss die Augen.

Am nächsten Morgen war ihr Chef natürlich schon vor ihr im Büro. Sie konnte so früh anfangen, wie sie wollte, immer war er früher da als sie. Erster! Hase und Igel, dachte sie und versuchte es mit Humor: Hase und Igel, immer noch besser als Katz und Maus. Sie seufzte. Wie gern hätte sie ein paar Minuten für sich gehabt, zehn Minuten, um in Ruhe anzukommen. Aber mit diesem ruhe- und rastlosen Wolf ging das nicht. Wie oft hatte sie ihm gesagt, ich brauche wenigstens zehn Minuten, um mich zu organisieren. Keine Chance. Er, mit den Argusaugen und Hundeohren, würde wie immer, kaum, dass sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür zu ihrem Office aufgeschlossen, kaum dass sie das Fenster geöffnet hatte, bei ihr anrufen. „Frau Haase, guten Morgen, wie geht’s? Hätten Sie kurz Zeit?“ Sie würde sich ihre zehn Minuten nehmen, aber keine Minute mehr, denn dann würde das Telefon ein zweites Mal klingeln. Also würde sie vor dem zweiten Anruf in sein Büro kommen und ihn freundlich begrüßen, den Machtmenschen hinter seinem Schreibtisch, hinter seinen drei Laptops und zwei Smartphones. Er würde ihr einen Kaffee anbieten, kurzatmig im Schnelldurchgang die To-dos besprechen, zum ersten Termin hetzen. Sie schloss das Fenster. Der Wandkalender zeigte noch November an. Sie blätterte die Seite um, verschneite Tannen an Schneelandschaft, 1. Dezember. Sie nahm einen Notizblock aus der Schublade, verließ ihr Büro und ging den Flur hinunter. Als sie vor der Tür ihres Vorgesetzten stand, zögerte sie auf einmal: Wenn dir Türenzugeschlagen werden, öffne andere.

1. Dezember. Sie sah sich in Gedanken eine große Eins auf die Tür ihres Chefs malen. Da war es ja. Direkt vor ihrer Nase. Das erste Adventstürchen. Mal sehen, was sich dahinter verbarg. Sie klopfte an, mit klopfendem Herzen. Ich lasse mich überraschen, dachte sie, ich versuche, alles zum ersten Mal zu sehen, mit Anfängeraugen. Sie öffnete die Tür mit ein bisschen zu viel Schwung und sah einen übergewichtigen Mann hinter einem großen Schreibtisch sitzen. Er hatte den Kopf gesenkt, sie sah auf sein dichtes schwarzes Haar. Er hob den Blick und sah sie gequält an, als habe er ein schlechtes Gewissen. Ihr Blick glitt über die Laptops und Smartphones und blieb an der Messingbürolampe hängen, an der … ein kleines schwarzes Stoffschäfchen baumelte wie eine Baumfrucht. Überraschung! Das Früchtchen hatte sie anscheinend bis jetzt übersehen. Es rührte sie. Es sah ihm ähnlich. Es sah ihm ähnlich, sich dieses Maskottchen hinzuhängen, das etwas verloren wirkte auf dem großen, beeindruckenden Schreibtisch. Zum ersten Mal fand sie, dass auch der Chef etwas verloren aussah hinter dem großen, beeindruckenden Schreibtisch, hinter dem großen, beeindruckenden Namen, hinter dem großen, beeindruckenden Weltunternehmen. Sie schloss die Tür hinter sich. „Guten Morgen, Herr Professor Wolf “, sagte sie und deutete auf das schwarze Schäfchen und grinste. „Von Ihrer Frau?“ Der Chef schaute überrascht auf. „Ein Gemeinschaftsgeschenk von meiner Frau und meiner Tochter“, brummte er und lächelte.

In den nächsten Wochen öffnete sie weitere dreiundzwanzig Türchen. Sie bemalte Türen in Gedanken mit Ziffern. Manchmal vorsätzlich, manchmal spontan. Sie öffnete die Türen wie zum ersten Mal und sie wurde überrascht. Hinter Tür Nr. 2, der Eingangstür zu ihrem Biobäcker, verbarg sich ein Gratis-Schokocroissant für sie, ein kleiner Trost dafür, dass ihre geliebten Marzipan-Croissants nicht vorrätig waren. Sie erfand Türen. Tür Nr. 11 war ein Anruf bei der ehemaligen Arbeitskollegin. Sie verwählte sich und das Gespräch mit einem „falsch verbundenen“ Menschen erwies sich als ausgesprochen nett. Tür Nr. 19: das neue Buch, das sich als Entdeckung erwies. Tür Nr. 22: der Briefkasten, der statt der ersehnten Weihnachtspost eine Mahnung erhielt, mit der sie aber zu ihrer Überraschung gut umgehen konnte. Tür Nr. 22: das Portal der Kirche, in der sie lange nicht mehr gesessen hatte und in der sie einen geheimnisvollen Zettel fand.

Tür Nr. 24: der Zettel, den sie auf der Kirchenbank gefunden hatte. Sie entfaltete ihn an Heiligabend und las zu ihrer großen Überraschung:

Ich weiß deine Werke. Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort behalten und hast meinen Namen nicht verleugnet. Offenbarung 3,8

Sie ging ans Fenster und schaute auf die Straße. Es war ganz dunkel. Es schneite. Sie hatte den Weg aus dem Dorf gefunden in die Stadt. Das Dorf war nicht dem Vergessen gleich gemacht worden. Es war nicht von ihrer Landschaft verschwunden, aber jetzt lebte sie wieder in der Stadt, die heute aus allen Fenstern und Türen leuchtete.

Die Wachsmalkreiden

Die Kirchenglocken läuteten zur dritten Morgenstunde. Sankt Nikolaus stapfte durch die Straßen und rollte zufrieden den leeren Jutesack zusammen. Die Geschenke hatte er alle verteilt. – Doch nanu, da war ja noch etwas …? Er schüttelte den Jutesack wieder auseinander und zog eine kleine, schmale Schachtel daraus hervor. „Seltsam“, murmelte er. „Ein Geschenk ist übrig geblieben. Sollte ich jemanden vergessen haben?“ Auf dem Päckchen stand lediglich ein Buchstabe: D. D … wie Dora.

Noch während er darüber grübelte, fand er sich plötzlich im eleganten Villenviertel der Stadt wieder. „Nichts als hohe, graue Mauern“, dachte er. „Die reinste Geisterstadt!“ Wo um Himmels willen wollte dieses letzte Geschenk hin? Da erblickte er plötzlich eine sommergelbe Steinwand. Sankt Nikolaus überlegte nur kurz, dann machte er einen Sprung und zog sich an der Mauerkante hinauf. Der alte Heilige kniff die Augen zusammen; war dies nun ein Haus, in dem ein Kind wohnte?

„Guten Abend, kann ich helfen?“ Sankt Nikolaus fiel vor Schreck von der Mauer. Vor ihm stand eine kleine, alte Frau, die einen ziemlich großen und aufgeregten Hund an der Leine hielt. „Shakespeare, bei Fuß.“ Ihre Stimme klang überraschend jung, obwohl sie an die achtzig Jahre alt sein mochte. Ihre Augen waren tiefblau und schauten warm und klug. „D … wie … Dora … Winter …!“, rief Sankt Nikolaus. Die kleine, alte Frau lächelte. „Sommer“, entgegnete sie munter. „Ich habe vor Jahren geheiratet. – Dass du dir meinen Namen gemerkt hast, Sankt Nikolaus … ich darf doch ‚du‘ sagen?“ Sankt Nikolaus nickte und schmunzelte. „Natürlich habe ich mir deinen Namen gemerkt“, sagte er. „Und dein Gesicht auch. Ich merke mir jedes Gesicht von jedem Kind, dem ich einmal ein Geschenk gebracht habe.

Bei dir war ich im Februar 1944 – und ich weiß noch genau, was ich dir gebracht habe“, sagte Sankt Nikolaus. „Warme Socken“, fiel ihm die kleine Frau Sommer ins Wort. „Dabei hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als Wachsmalkreiden.“ Es klang fast ein bisschen vorwurfsvoll. „Warme Socken brauchtest du damals aber nötiger“, sagte der Nikolaus. „Ja – und heute wohne ich in dieser steinreichen Gegend … Willkommen im Steinreich! Wir verschanzen uns hier alle hinter unseren hohen Mauern“, seufzte sie. „Keiner weiß vom anderen. Jeder will anonym bleiben. Der einzige Freund, den ich hier habe, ist mein treuer Shakespeare.“

Sankt Nikolaus schaute sie von der Seite an. Dann kam ihm eine Idee. Mit einem Mal war der Geschenkesack wieder bis zum Rand gefüllt. „Nun, meine liebe Dora – wie du siehst, habe ich noch eine ordentliche Runde vor mir“, sagte er und deutete dabei auf die Last auf seinem Rücken. „Doch vorher habe ich noch etwas für dich.“ Er zog die kleine, flache Schachtel aus seiner Manteltasche und überreichte sie ihr. „Ein verspätetes Geschenk. Vom Nikolaus“, sagte er.

Die kleine, alte Frau senkte den Kopf und lächelte. „Danke!“ Dann trat sie durch einen geöffneten Torspalt in den Wintergarten. Ein leises Quietschen und das Tor fiel hinter ihr ins Schloss. Sankt Nikolaus stiefelte los. „Sollte mich nicht wundern, wenn sie in der nächsten Zeit Besuch bekommt“, dachte er gut gelaunt. Dann begann er, die Geschenkanhänger an den Paketen zu beschriften. „Viele Grüße vom Nikolaus. Ihre Dora Sommer“, schrieb er auf die Schildchen der Pakete, die er für die nettesten Nachbarn vorgesehen hatte. Und auch die alte Dame schrieb in dieser Nacht noch etwas. Kaum war Sankt Nikolaus um die Ecke verschwunden, trat sie noch einmal auf die Straße hinaus. Sie hielt eine flache, geöffnete Schachtel in der Hand und schrieb sieben Wörter an ihre Grundstücksmauer. Bunt auf sommergelb und für alle gut leserlich schrieb sie: Willkommen. Hier wohnen Dora Sommer und Shakespeare.

Der Schneemann und Herr König