Und nun bin ich ganz allein - Klara Mehlich Seuffert - E-Book

Und nun bin ich ganz allein E-Book

Klara Mehlich Seuffert

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Beschreibung

Kurz vor Weihnachten 1940 sitzt Klara Mehlich Seuffert tief traurig in ihrem Haus in Köln. Ihre beiden Söhne Röbi und Walter müssen in den Krieg. Ihr Mann, der erfolgreiche Maler Robert Seuffert, lebt getrennt von ihr. Und ihre Tochter Lotte wohnt in England, hat dort geheiratet und im Oktober 1940 Klaras Enkelin Clare zur Welt gebracht. Da der direkte Kontakt zu Lotte fast unmöglich geworden ist, beginnt Klara, einen sehr langen Brief zu schreiben. Über vier Jahre wird er sich erstrecken, mit fast 150 Einträgen wird er zu einem Kriegstagebuch über Bombennächte und Entbehrungen, Angst um die Kinder und Sehnsucht nach ihnen, Klaras Abscheu gegen die Nazis und ihre Gebete für ein Wiedersehen mit ihren Liebsten. Erst viele Jahre nach dem Krieg findet Clare dieses Tagebuch ihrer Großmutter.

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Seitenzahl: 312

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Und nun bin ich ganz allein

Das Kriegstagebuch von Klara Mehlich Seuffert von 1940 bis 1944 Herausgegeben von Clare Westmacott

© Clare Westmacott 2023

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck und Vervielfältigung, Verwertung in anderen

Medien und anderen Sprachen, elektronische Speicherung,

Bearbeitung oder Aufbereitung - auch in Auszügen - nur mit

schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Anja Zimmer

Umschlaggestaltung Idee: Clare Westmacott

Umsetzung: Anja Zimmer

Satz und Layout Innenteil: Anja Zimmer

ISBN ebook: 978 - 3 - 937013-75-6

ISBN Print: 978 - 3 - 937013-74-9

ISBN Audiobook: 978 - 3 - 937013-76-3

Bildhinweise:

Umschlag vorne: Klara Mehlich Seuffert, gemalt von ihrem

Mann Robert Seuffert sen., 1924. © Clare Westmacott

Die Gemälde auf den folgenden Seiten

finden Sie in Farbe unter:

www.frauenzimmer-verlag.de

Inhalt

Einleitung von Clare Westmacott

Das Tagebuch von 1940 bis 1944 von Klara Mehlich Seuffert

Menschen und Orte aus dem Tagebuch

Die späteren Jahre Klaras und ihrer Familie

Meine Erinnerungen an Klara

Danksagung

Ein Foto, das Klara Mehlich als Postkarte an ihrenspäteren Mann Robert Seuffert schickte, kurznachdem sie sich kennengelernt hatten.

Einleitung von Clare Westmacott

Meine Großmutter Klara Mehlich Seuffert hat dieses Tagebuch von Dezember 1940 bis November 1944 geschrieben, während sie in Köln und der Umgebung lebte. Sie schrieb es für meine Mutter Lotte, die den Engländer Jack, meinen Vater, geheiratet hatte und in England wohnte. Die Aufzeichnungen beschreiben Klaras Leben während der Kriegsjahre, und meine Großmutter hoffte, dass, wenn es ihr nicht möglich sein sollte, meiner Mutter das Tagebuch persönlich zu geben, es auf anderem Weg eines Tages in deren Hände gelangen würde. Beide haben den Krieg überlebt, und irgendwann bekam ich das Tagebuch.

Meine Großmutter hatte einen schillernden familiären Hintergrund. Sie wurde 1889 geboren, als Kind einer Bauerntochter, die – so die Familienlegende – mit einem Kunstreiter durchgebrannt war, während der Zirkus in ihrer Stadt gastierte. Als Kind reiste meine Großmutter ausgiebig in Städte überall in Europa, darunter Sankt Petersburg und London. Ihre Familie war groß und sie verlor mehrere Brüder im Ersten Weltkrieg.

Als meine Großmutter heiratete, war sie viel jünger als ihr Mann Robert Seuffert. Er war Maler und Professor in Köln, und sie hatte ihm Modell gestanden. Er war 1874 in Köln geboren worden, als Sohn eines Bildhauers, der aus dem Saarland zugewandert war, um bei der Fertigstellung des Kölner Doms mitzuwirken. Mein Großvater bekam seine ersten Unterrichtsstunden von seinem Vater, und von 1897 bis 1908 war er Schüler von Eduard von Gebhardt an der Düsseldorfer Kunstakademie sowie Meisterschüler von Johann Peter Theodor Janssen. Als Student reiste er nach Berlin, München, zur Weltausstellung nach Paris, nach Belgien, Holland und Italien, um sich weiterzubilden. Der einjährige Aufenthalt in Italien war durch ein Stipendium möglich, das er gewonnen hatte.

Er spezialisierte sich auf historische und religiöse Motive und Monumentalkunst, und seine Arbeiten wurden in vielen deutschen Städten, einschließlich Berlin, ausgestellt. Eines seiner frühen Wandgemälde, entstanden 1902, hatte den Titel „Prometheus bringt der Menschheit das himmlische Feuer, die Wahrheit der Kunst und das Licht der Erkenntnis” und schmückte die Decke des Kölner Opernhauses. Er war verantwortlich für große Wandbilder in vielen Kirchen und weltlichen Gebäuden, zum Beispiel ein Wandbild im Tresorraum der Nassauischen Landesbank in Wiesbaden, das er 1915 malte. Er genoss hohes Ansehen als Porträtmaler und gehörte einem Künstlerzirkel mit dem Namen „Der Stil” an.

Er wurde 1912 oder 1914 Lehrer und 1923 Professor an der Kölner Kunstgewerbeschule. 1936 ging er in Pension. Viele seiner Bilder wurden im Krieg zerstört, darunter das Deckengemälde in der Oper, aber einige Werke werden noch in Kölner Museen aufbewahrt, während einige religiöse Bilder in die USA verkauft wurden. Andere Werke gehören Privatleuten.

Meine Großeltern hatten drei Kinder, meine Mutter Liese Lotte (geboren 1912), Walter (geboren 1916) und Robert („Röbi”, geboren 1920). Sie waren wohlhabend, zählten zur Bohème und lebten in einem eleganten Haus in der Wiethasestraße in Köln-Braunsfeld. Sie bewegten sich in höheren Kreisen und gehörten vor dem Krieg zu den besten Klubs. Zu ihren Bekannten zählte auch Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, 1933 von den Nazis abgesetzt und später erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Klara und Lotte

Die Kinder hatten eine Gouvernante, bis sie zur Schule gingen – meine Mutter in eine Klosterschule, Walter in eine Jesuitenschule und Röbi in eine städtische Schule.

Meine Mutter kam 1936 als Au-Pair nach England. Sie lernte meinen Vater kennen und heiratete ihn standesamtlich 1937 mit einer Sondererlaubnis, bevor sie nach Deutschland zurückkehren musste, weil ihr Visum ablief. Als verheiratete Frau war es leichter für sie, 1938 dauerhaft nach England zurückzukehren. Sie und mein Vater heirateten dann kirchlich, wobei meine Großmutter die Braut zum Altar führte. Meine Eltern besuchten 1938 die Familie in Köln. Mit der Heirat bekam meine Mutter die britische Staatsangehörigkeit und wurde nach Kriegsbeginn nicht interniert. Ich wurde 1940 geboren (im Tagebuch nennt meine Großmutter mich Klärchen), mein Bruder Nigel 1943.

Die politischen Ansichten meiner Großmutter während des Krieges werden deutlich, und dieses Tagebuch muss sie heimlich geführt haben. Nach ihrer Handschrift zu urteilen hat sie manchmal in großer Eile geschrieben. Tatsächlich wurde sie einmal von der Gestapo einbestellt wegen eines Briefs, den sie erhalten hatte, und sie hält im Tagebuch auch illegale Aktivitäten fest, die sie unternahm.

Die Aufzeichnungen sind sehr persönlich und spiegeln ihr Leben in dieser Zeit wider – als Hausfrau, die verzweifelt Lebensmittel für ihre Familie zu beschaffen versucht, als Bürgerin, die die Entbehrungen des Krieges erträgt ohne ihren Grundsätzen untreu zu werden, aber vor allem als Mutter, deren sehnlichster und über allem stehender Wunsch es war, ihre Kinder mögen gesund und wohlbehalten zurückkehren, all dies im Horror des Krieges. Zunächst scheint es, als falle es ihr schwer, ihr Tagebuch ans Laufen zu bringen, aber schon bald wird deutlich, dass auch ihre scheinbaren Abschweifungen sowohl relevant als auch interessant sind.

Der erste Band des Tagebuchs

Das Tagebuch legt Widersprüche in ihrer Beziehung sowohl zu ihren Kindern als auch zu ihrem Ehemann offen, die, zumindest was ihre Kinder betrifft, nur durch den Kriegsstress zu erklären sind. Ein Beispiel: Obwohl sie das Tagebuch für meine Mutter führte, lebte meine Großmutter nicht selten in der Vorstellung, dass ihre Tochter nicht einmal versuchte, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Ihre Beziehung zu ihrem Sohn Walter wechselt zwischen großer Nähe und Liebe bis zur Gleichgültigkeit. Nur Röbi entgeht jeglicher Kritik.

Was ihre Beziehung zu ihrem Mann angeht, war diese offensichtlich lange vor dem Krieg zerbrochen, aber die Liebe zu ihren Kindern und die Sorge um sie, die beide miteinander teilten, war der Faden, der von ihrer früheren Bindung übrig geblieben war.

Ihre Beziehung zu Gott war sehr persönlich und nicht ohne eine Prise Humor. Ihr Glaube wankte bei mancher Gelegenheit, aber im Großen und Ganzen war sie überzeugt, dass ihre Kinder zu ihr zurückkehren würden, wenn Gott es nur wollte.

Es gibt auch Unstimmigkeiten was die Fakten im Tagebuch angeht, aber man kann annehmen, dass sie aufschrieb, was sie für wahr hielt. Beispielsweise war ihr die Propaganda der Nazis offensichtlich verdächtig, und doch glaubte sie an einen Bericht, die Kathedrale von York sei von der Luftwaffe zerstört worden.

Von unserer Zeit aus betrachtet ist es faszinierend, ihre Berichte über die Ereignisse zu lesen, deren Einzelheiten wir heute kennen. Zum Beispiel ihre Schilderung dessen, was in der Nacht vom 30. Mai 1942 passierte, der erste 1000-Bomber-Angriff auf Köln und damit des Zweiten Weltkriegs.

Oder auch ihre Beobachtung im September 1941, dass die Juden gezwungen wurden, den gelben Davidstern an ihrer Kleidung zu tragen. „Heute sehe ich auf der Straße die Juden mit ihren Abzeichen herumlaufen. Sionsstern, auf gelbem Grund steht ‚Jude‘, kleine Kinder, alle müssen dieses Zeichen tragen. Ich weiß nicht, zu was das gut ist. Es macht auch in der anständig gesinnten Bevölkerung nur böses Blut und heute geht man mit einem Kopfschütteln an diesen kleinlichen Maßnahmen vorbei.“

Jetzt, da ich mich durch ihr Tagebuch gearbeitet habe, bewundere ich ihren Stoizismus, ihre Integrität und ihren Mut während dieser grässlichen Phase der Geschichte und habe das Gefühl, dass ich sie viel besser kenne als vorher.

Die erste Seite aus Klaras Tagebuch.

10. Dezember 1940

Und nun bin ich ganz allein. Ja, jetzt hat man auch Walter geholt. Trotzdem man ihm immer und immer wieder versichert hat: Sie als Ersatzmann 2 kann man bei uns nicht brauchen. Aber nach einem halben Jahr, neue Musterung und Walter wurde Ersatz 1, da wurde es auch noch weit weit fortgewiesen. Aber ich dachte mir schon meinen Teil. Nur, die Jungen antworteten mir auf meine stille Frage: Nein, Mutter, wir sind noch lange nicht dran, erst komme ich, sagt Röbi, und ich war gestern auf dem Wehramt und da sagte man mir: Sie haben noch lange Zeit, Sie können ruhig Ihr neues Semester anfangen, man braucht Sie noch nicht. Ja, Mutter sei ruhig, bis wir drankommen ist der Krieg vorüber und Walter kommt überhaupt nicht dran.

Also gingen beide weiter ihrem Studium nach. Walter zur Uni, Röbi zur Akademie. Walter belegte Jura in Köln, nachdem seit Kriegsausbruch Bonn geschlossen worden war. Röbi war Prof. Junghans‘ jüngster und bester Schüler und jeder, der etwas von Malerei versteht, verspricht ihm eine große Zukunft. Ja, wenn der Krieg, dieser unselige Krieg, vorbei ist. Ja, Liebchen, wann mag das sein. Gott weiß es wohl ganz allein, und er ließ ja dem Menschen seinen freien Willen. Und nun kommen wieder die Ferien, wieder war es August und schon bald hatten wir ein Jahr Krieg. Ja, Liebchen, es war schon ungefähr ein Jahr, seit wir Abschied voneinander nahmen, der mir so bitter und schwer wurde, und wie oft habe ich mir schon die Frage vorgelegt: Wann sehe ich mein heißgeliebtes Kind wieder, ja, sehe ich sie überhaupt wieder. Manchmal sieht alles ja so bitter und schwarz aus, dass man meinen muss, nein, es kann nie und nimmer wieder gut werden, diese beiden Völker werden sich nie wieder achten lernen können. Aber was dann? Was soll denn dann aus uns werden, werde ich dann jemals mein Lottenkind wiedersehen? So, in diesen Augenblicken schwand mir aller Lebensmut und in diesen Monaten richteten mich nur Pflicht, und Röbis unerschöpflicher Humor, Walters überzeugender Optimismus wieder hoch.

Ja, und trotz aller Versicherungen der beiden konnte ich nicht froh werden. Doch die Pflicht nahm viel Zeit in Anspruch, da kommen alle diese großen und kleinen Einschränkungen, da gab es mal vorerst alles auf Marken, sogar Kleiderkarten, keine Schuhe, und meine Söhne hatten meist ja nur das Paar, das sie trugen, dank der Freigiebigkeit ihres „Alten Herrn“, der diese Dinge ja noch nie für notwendig gehalten hatte und wo es schon in normalen Zeiten einen tollen Kampf zu bestehen gab, wenn ich für dich oder die Jungen etwas haben musste.

Für alles gab es Ersatz. Toilettenseife war nicht mehr zu haben, nur ein Ersatz, bestehend aus Bims und einem Zeug und ebenso für die Wäsche und alles auf Karten. Lebensmittel ebenfalls, Kaffee gar keinen, Butter wenig, Ja, was soll ich sagen, alles zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Fett und Fleisch wurden immer weniger und so weiter und so weiter. Kartoffel hatten wir keine eingekellert, weil uns versichert wurde, es wären genug da, dann kam der Frost, und was nicht erfror, das musste für das Militär sichergestellt werden.

Was war da zu machen! Ohnehin sehr wenig, waren Kartoffel doch das wichtigste, was man brauchte, um satt zu werden. Da wusste ich mir nur den einen Rat, sehen wo ich was bekam. In der Stadt bekam ich nichts, also aufs Land. Nicht umsonst hatte ich mir bei meinen jahrelangen Wanderungen Freunde auf dem Lande erworben. Die mussten mir helfen und da bin ich denn oft von Türe zu Türe gelaufen und habe sie gebeten, mir doch das Notwendige zu verkaufen. Oft vergebens. Oft auch mit Erfolg. Meist gegen Bezahlung, vielteils aber auch nur gegen Tausch.

Und da habe ich meine Mottenkiste zu Hilfe genommen und habe den Bauern alles gebracht, was ich hatte, dann bekam ich Eier und Kartoffel, Obst, auch schon mal Geflügel, und so lief ich dann von Woche zu Woche aufs Land tief hinein ins Bergische zu einsamen Höfen und holte alles, was ich kriegen konnte, so verging der Winter und so bekam ich dann auch oft so viel, dass ich anderen Leidensgefährten helfen konnte. Meist half ich Familie Reinemann. Bully ist auch schon oft mit mir gelaufen. Im Rucksack haben wir die Kartoffel geschleppt. Ja, mit Bully und ihrer Mutter verband mich eine innige Freundschaft und oft in der Woche war ich bei ihnen und wir schütteten uns gegenseitig unser Herz aus, verbanden uns ja gemeinsame Sorgen, und ich habe mir oft dort Trost geholt.

Im Frühjahr gab es nun wieder mehr Eier, ich kaufte alles was ich kriegen konnte. Eier, die übrig waren, legte ich ein. Denn niemals glaubte ich, was man mir immer wieder sagte: der Krieg wäre in ganz kurzer Zeit aus. Nach den tollen Siegen müsse der Tommy klein beigeben. Nein, das glaubte ich niemals und dann hatte ich leider recht, auf einmal hieß es: Der Krieg dauert noch lange und so war es. Inzwischen ist Sommer geworden, ich ging in den Wald, suchte nur dort in der Einsamkeit Trost. Jetzt ging ich meist allein, hin und wieder ging Röbi einmal mit, aber lange hielt seine Begeisterung nicht an. Auch Walter bekam öfter Lust, aber dann war ich wieder allein.

Inzwischen kam die Erntezeit. Waldbeeren habe ich gesucht, habe sie eingesammelt für den Winter. Wie oft war ich im tiefen herrlichen deutschen Wald und gedachte deiner und dachte weiter, wie schön es sein könnte, wenn die Menschen es wollten. Aber sie wollen nicht und so wird es wohl sein, solange es Menschen gibt. Mit meinen Waldbeeren habe ich dann auch meine Freunde versorgt. Ja, und so kam dann auch bald der Herbst, ein Tag verging wie der andere, keine Nachricht von dir. Am Abend warteten wir dann auf unsere Freunde jenseits der Nordsee und so ging es weiter. Walter war in den Ferien als Werkstudent tätig. Röbi war meist zu Hause und studierte hier. Er malte sehr schöne Bilder von mir und war auch sonst sehr fleißig. Ich war glücklich, ihn noch hier zu haben.

Biba war längst fort, kam öfter auf Urlaub, war ein lieber Kerl. Karl Floeck war von Anfang an in allen Kämpfen und hatte schon vorher jahrelang Dienst gemacht. Herr Forschbach ist auch schon lange Soldat, ja, alle meine Wanderbekannten sind alle Soldaten, haben alle viel mitgemacht und wünschen alle dasselbe, dass es doch bald vorbei sein möge.

Liesel ist von Anfang an in Stellung bei der Wehrmacht und nun muss Bully auch fort. Unsere gemeinsamen Abende und Nachmittage, wo wir zusammen mit ihrer Mutter bei ihr meist zu Hause Freud und Leid teilten, Handarbeiten machten, Vermutungen austauschten, über die Zeit und ihre Übel diskutierten, gingen vorbei, aber nicht der Krieg. Der Herbst kam und für den kommenden Winter musste gesorgt werden und wir taten es, so gut es in unserer Macht lag.

Und dann kam, was ich so lange fürchtete: Röbi bekam seine Einberufung, auf seinen Geburtstag bekam er seine Gestellung, dass er sich am 5. Oktober bereit zu halten habe. Wie furchtbar war mir das. Alles hätte ich gerne ertragen, aber auch das musste sein. So oft habe ich mir schon gesagt: Warum muss es denn sein. Warum. Ich denke zurück, wie meine liebe Mutter dieselbe Frage tat und ich mir sagte: Diesen Schmerz wirst du mal nie mitzumachen brauchen, denn nach dem Weltkrieg hieß es: Nie wieder Krieg! Und davon war man damals überzeugt.

Und jetzt! Nein es ist nicht auszudenken. Wenn ich jemals davon überzeugt gewesen wäre, dass dieses Leid wieder über die Menschheit gekommen wäre: Nein Lotte, dann hätte ich dich niemals nach England gehen lassen, denn wenn es mir auch nicht leid tut, dass du dort die Verbindung mit deinem lieben Mann eingegangen bist, würde ich es doch verhindert haben. Es ist zu schwer, all diese Ungewissheit zu ertragen, zu wissen, dass dort ein heißgeliebtes Kind sich genau dieselben Sorgen macht wie ich hier, nicht zu wissen, ob man sich je wiedersieht. Ja, Lotte, es ist furchtbar.

So, nun zurück zu Röbi. Röbi hatte zuletzt schon manchen schönen Auftrag und sich viel Geld verdient und hätte noch manches verdienen können. Aber wenn jeder malt, kommt es anders als ich möchte und Röbi wurde aus seiner Arbeit herausgerissen, er musste fort. Wir kauften ihm alles Notwendige von seinem verdienten Geld. Hemden, Strümpfe, Brieftasche, eine sehr schöne Armbanduhr und alles, was er brauchte, und dann kam der Abschied.

Er war sehr sehr schwer. Walter brachte ihn fort. Ich konnte mich nicht fügen und es dauerte sehr lange, bis ich so weit war. Röbi war bei der schweren Kavallerie. Er hatte schon bald Unglück. Bei einer Übung stürzte er so unglücklich, dass er die Kniescheibe verletzte und ins Lazarett musste. Wie er gesund war, musste er wieder in Dienst, und nicht lange, da hatte er das Unglück, dass er vom Pferd stürzte, im Steigbügel hängen blieb, mitgeschleift wurde. Das Ende war, ins Lazarett im Gips, denn nun hatte er beide Kniescheiben heraus und musste nun längere Zeit liegen.

Er konnte nun nicht mehr ins Feld und ich hatte die Hoffnung, ihn wiederzubekommen. Aber das musste ich mir bald aus dem Kopf schlagen. Röbi war zwar nach seiner Entlassung aus dem Lazarett nicht mehr „felddienstfähig“ aber doch „garnisonsdienstfähig“, und so blieb er.

Doch dafür kam ein neuer Schlag. Walters Einberufung! Ja, ich tröstete mich mit vielen Müttern, die ihre Söhne ja schon so lange hergeben mussten, es blieb mir auch nichts anderes über. Und nun musste Walter am 10. Dezember auch fort. Ja, Kind, was soll ich sagen, es war schwer, und wieder muss ich mich gewöhnen. Ich denke oft zurück an die Tage in England bei dir, wenn ich dir sagte: Wenn es Krieg gibt, dann ist es für eine Mutter am schwersten. Du meintest damals: Nein für mich wird es viel viel schwerer. Ja, Liebchen, heute kann ich mir zwar bestimmt denken, dass es furchtbar schwer sein muss, im fremden Land zu leben, sich um seine Lieben daheim zu sorgen, Vieles zu hören, nichts sagen zu dürfen, nichts zu hören von daheim, aber Lottenkind, seine Kinder eins nach dem andern abgeben zu müssen, in jeder Ecke von der Welt eines zu wissen, aber nicht wissen, ob und wann ich mal wieder vereint mit ihm bin. Ich glaube bestimmt das ist schwer, sehr schwer, zumal man kein Ende sieht. Trotzdem klammere ich mich mit aller Kraft an die Hoffnung, dass alles einmal zu Ende geht und wir alle wieder vereint werden. Ja, Liebchen, warum haben die Menschen es alle so schwer.

Ich nehme, wo ich alleine bin, wieder Englisch. Meine Lehrer sind zwei junge Leute. Einer ein Engländer, ein junger Mann in deinem Alter. Ich erzähle ihm mein Leid, er mir seins. Er hofft, recht bald seine lieben Eltern wiederzusehen, und tut nun alles und hofft zuversichtlich, dass bald alles vorbei sein möge. Der andere ist ein amerikanischer Ingenieur, studierte hier und lebt in Südafrika, er ist seiner Mutter jüngster Sohn und hat seit einem Jahr nichts mehr von seinen Eltern gehört. Du siehst, alle haben Leid und alle hoffen, dass all das Furchtbare vorüber möge gehen. Ja, Liebchen jetzt habe ich dir alles Zurückliegende in groben Zügen geschildert, denn alles, was man mitmacht, kann man ja nicht zu Papier bringen und will ich auch nicht. Nur möchte ich, dass du einmal imstande bist, wenn du dieses Buch liest, dir ein Bild zu machen, wie wir gelebt haben wie wir alle täglich, nein stündlich an dich gedacht haben, immer um dich gebangt haben! Aber auch sollst du wissen wie wir gelebt haben.

Es könnte ja sein, dass wir nicht mehr zusammenkommen, dann ist es vielleicht möglich, dass ein Anderer dir diese Zeilen zukommen lassen kann. Doch nun habe ich am 10. Dezember angefangen, dieses alles aufzuzeichnen, am Tage, wo ich gerade Walter abgab. Ich will nun alles, was wert ist aufzuzeichnen, dir mitteilen in der Hoffnung, dass ich alles einmal selbst dir erzählen kann. Wenn nicht, ja Liebchen, dann ist es zwar nicht mein, sondern Gottes Wille, worin wir uns ja alle fügen müssen.

Anmerkung von Clare Westmacott: Biba war Röbis bester Freund. Karl Floeck war ein Nachbarjunge. Liesel und Bully waren Freundinnen meiner Mutter Lotte.

12. Dezember 1940

Heute habe ich Briefe von Röbi und eine Karte von Walter. Walter teilt mir mit, dass er nur an mich denkt und mir einen langen Brief schreiben will. Röbi teilt mir mit, dass er wahrscheinlich am Sonntag mal kommen kann, er hat so Heimweh und freut sich auf Stunden, um alles wiederzusehen. Ich freue mich wahnsinnig, ihn einmal wieder hier zu haben, wenn auch nur für Stunden. Denn übernächsten Sonntag will er zu seinem Bruder, der ja noch in der Ausbildung ist. Ich sitze hier ganz allein im Hause. Aber da höre ich die Sirenen heulen, ich will aufhören. Gute Nacht Lottenkind!

14. Dezember 1940

Eins muss ich dir noch mitteilen und zurückgreifen und zwar zum August. Wir haben nun schon viele Angriffe gehabt und gottlob überstanden. Aber einer dieser Angriffe ist mir sehr schmerzvoll: Es ist Angriff, abends spät und mein Röbi noch nicht zu Haus. Ich bin sehr in Unruhe, aber ich kenne ja seine Vorliebe, er wird wieder bei Schuster, einem russischen Emigranten, sitzen, denn dort ist es immer sehr interessant, und so war es auch.

Dieser Angriff ist besonders heftig und spielt sich ganz in unserer Nähe ab. Es fallen Bomben, die Flak schießt heftig. Doch auch dieses geht vorüber. Es ist alles wieder still und bald nach der Entwarnung kommt auch dein liebes Brüderchen. Er ist sehr erregt, denn ganz in seiner Nähe hat es eingeschlagen und Frl. Jäckel hat eine Bombe ins Haus bekommen. Alles zerstört. Ich sah mir den Tag darauf die Zerstörung an. Ja, Liebchen, wäre es doch einmal vorbei. Und so hatten wir noch manchmal Gelegenheit, dass in unserer Nähe sich dieses wiederholte.

Ich dachte immer an dich, wie oft habe ich versucht, ein Lebenszeichen von dir zu erhalten. Wie oft habe ich vergebens ans „Rote Kreuz“ geschrieben ans „Auswärtige Amt“. Keine Nachricht. Ich hatte es aufgegeben, da ich dachte, man könnte dir Schwierigkeiten machen.

Ich habe es dann Gott überlassen und eines Morgens im Oktober, nachdem auch mein lieber Röbi schon gegangen war, er war am 5. Oktober einberufen, und ich so recht einsam und verlassen, was liegt dann da im Briefkasten? Ein Brief! Großer Gott, von Lotte, mir wird heiß und kalt. Ich war auf dem Wege zu deinem Vater. Ich brachte nicht fertig, den Brief zu öffnen in der Angst, was mag er enthalten? Ich ging bis zum Atelier in der Schildergasse und öffnete ihn, und dann habe ich ihn immer und immer wieder gelesen. Wie dankte ich Gott, endlich ein Lebenszeichen! Ich hielt es nicht lange bei deinem Vater aus, und musste dann doch Bully so schnell wie möglich alles sagen, damit sie auch endlich mal wieder eine Gewissheit über das Schicksal ihrer Lieben jenseits der Nordsee hatte. Ich war mal wieder froh und fasste wieder Mut. Was las ich nicht alles aus deinem Brief! Vor allem dass du, Liebchen, Mutter geworden warst. Ja, und ich konnte nicht bei dir sein. Ja, Lottenkind, so hart und grausam geht das Leben oft mit einem um.

So kommt eines Morgens, Walter ist noch da, einige Tage vor seiner Einberufung, Elfriede Reinemanns Mädchen und lädt mich und Walter zum Kaffee nachmittags ein, wir sollen früh kommen, denn sie hätten eine wunderbare Neuigkeit für uns. Na, was kann es anders sein als etwas von Lotte.

Wir machen uns zeitig auf den Weg und wie wir hinkommen ist der Kaffeetisch festlich gedeckt. Frau R. hat schönen Obstkuchen gebacken und beide, Bully und ihre liebe Mutter, kommen auf uns zu und gratulieren uns. Ja, wozu denn? Wir haben doch nicht Namenstag oder Geburtstag. Nein, aber zur Großmutter und Onkel. Ja, wie wurde mir da, Kind. Lottenkind, ich dachte 28 Jahre zurück, wie ich einsam und allein lag und mein Töchterchen geboren wurde. Und nun liegt sie fern der Heimat, niemand bei sich, der ihre Sprache spricht, und bekommt ihr Töchterchen, mein Enkelchen.

Sie konnten alle nicht verstehen, dass ich nicht glücklich war. Ja, Liebchen, Lottenmütterchen, wie mir da war, warum war das Schicksal so hart, dass ich nicht bei meinem lieben Kind sein konnte, warum wiederholt sich alles. Ich weiß es nicht. Wieder sage ich: Es muss wohl so sein. Ja, wie hat sich meine liebe Mutter oft nach mir und dir gesehnt und ich bin nicht zu ihr gegangen. Ich verdiene es sicher nicht anders. Ich will hoffen, dass ich dich bald wiedersehe und bis dahin, alles Glück auf dich und dein Kind. Ja, Reinemanns und Walter taten alles, um mich aufzuheitern, und so verging der Abend und wir gingen nach Hause.

Ein paar Tage später ging Walter und ich war ganz allein. Er ging sehr sehr tapfer fort, er wollte mir das Herz nicht so schwer machen. Er kam nach Lippe-Detmold, nicht weit von Röbi, der nach seinem Unfall in Paderborn stationiert ist, und Röbi kann ihn öfter besuchen und das ist gut, denn er hat es ziemlich schwer. Ja, Röbi ist ein guter, lieber Kerl. Ich habe gar nicht das Gefühl, dass es unser Kleinster ist. Er muss immer alles für mich machen, muss alles erledigen als das Selbstverständlichste von der Welt.

Ja, Liebchen, und so bin ich denn ganz allein. Es ist nur schlimm, aber muss wohl so sein. Ja, Liebchen, und hiermit beginnt eigentlich mein Tagebuch, welches ich von nun an führen will, um dir alles mitzuteilen, was du wissen sollst, alles, unsere Leiden, die wir in dieser schweren Zeit mitzumachen haben. Es kann sein, dass es bald zu Ende ist, dieses Völkermorden, es kann aber auch sein, dass es noch lange dauern kann, wie man hier allgemein sagt, was ich allerdings nicht denken kann, auch nicht will. Ja, und sollte es sein, dass ich das Ende gar nicht erlebe, dann werde ich sehen, dass du eines Tages, wenn Gott dich gesund hält und du die Möglichkeit hast, deine liebe Heimat wiederzusehen, dieses Buch erhältst, und dann kannst du dir ein Bild machen, was dein Volk alles gelitten hat.

Anmerkung von Clare Westmacott: Reinemanns waren Nachbarn und Freunde meiner Großmutter, Bully, die Freundin meiner Mutter Lotte, war die Tochter des Ehepaars Reinemann.

24. Dezember 1940

Ja, und nun überschlage ich ein paar Tage, die angefüllt sind von Laufen und Arbeiten vor Weihnachten, heute haben wir den 24. Dezember: Nachdem ich alles zusammengeschleift hatte, will ich den Weihnachtsbaum machen und dann bin ich fertig und kann den Jungen schreiben, Walter einen langen Brief, dass ihn das Heimweh nicht so arg packt, denn Röbi sagt mir, dass er es sehr schwer hat. Ja, der arme Walter. Ja, und Röbi, ja, er ist der Kleinste, aber von ihm verlange ich alles, und er muss alles machen und man nimmt es ganz selbstverständlich hin. Er ist eben mein guter Junge. Also, er bekommt auch einen Brief.

Ja, und dann kommt Vater. Er ist in der ganzen Zeit derselbe geblieben. Er arbeitet immer noch und seine Arbeit ist ihm Lebensbedürfnis. Er ist auch ziemlich allein. Peter Recht, Dr. Schulte sind tot und damit seine engsten Freunde, und da Röbi nun auch nicht mehr da ist, hat er so ziemlich niemand mehr. Außer mir. Ja, und unser Leben kennst du ja. Mal so und mal so. Ich sorge für sein leibliches Wohl und er behauptet, dass ihn jetzt noch alles viel mehr kostet. Früher seine Kinder, heute die Steuern und dadurch natürlich ich. Aber trotzdem ich ihm immer und immer wieder sage, wir wollen, wenn es so schlimm ist, das Haus verkaufen und ich gehe auf ein paar Zimmer ins Bergische, bis der Krieg zu Ende ist, lässt er alles so weitergehen. Für mich ist das alles so schwer, ich sitze hier Tag und Nacht so allein und wenn ich meine Freunde nicht hätte, würde ich vor Alleinsein schon wahnsinnig.

Ja, wo bin ich stehengeblieben. Also Weihnachtsabend. Ich war so recht voller Leid, hatten doch deine lieben Landsleute jenseits der Nordsee uns Kölnern wieder einen Besuch abgestattet und speziell unser liebes Braunsfeld zwischengehabt. In dem Block, wo Reinemanns wohnen, ist alles zerstört. Es war furchtbar. Bully kam am Morgen nach dem Überfall und teilte es mir mit. Ja, das arme Ding hatte schon in letzter Zeit so viel mitgemacht, und jetzt dieses, wie schrecklich.

Als ich am Abend hinkam, wie war alles verwüstet, was ich den Tag vorher so ganz anders verlassen hatte. Es war alles so schön gewesen, alles so auf Weihnachten vorbereitet worden. Und nun diese Zerstörung, kein Zimmer mehr ganz, die Familie selbst wie durch ein Wunder dem Tode entgangen. Und da frug ich mich wieder! Wie wird das noch enden, kann das je wieder gut werden, wofür das alles?

Dieses alles wirkte in mir noch nach am Hl. Abend, dem ersten ohne meine Kinder. Diese selbst, wenigstens die Jungen, auch allein, ja Liebchen, wenn du auch das Herz voll Sehnsucht hattest, du warst aber nicht allein. Vater war sehr nett und wenn er auch über Walter schimpfte, der ihm nicht geschrieben hatte, so gestaltete sich der Hl. Abend ganz schön. Zumal wir auch keinen nächtlichen Besuch bekamen, merkten wir wenigstens in dieser Hinsicht nicht, dass Krieg war. Ich habe ein ganz kleines Bäumchen gemacht und wir haben uns zusammen über euch unterhalten und so verging der Hl. Abend.

Anmerkung von Clare Westmacott: Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs stand die Rhein-Ruhr-Region sofort im Fokus der britischen Pläne für einen strategischen Luftkrieg gegen Deutschland, und Köln war eines der Hauptziele. Parallel dazu wurde die psychologische Schlacht geführt mit dem Ziel, die Zivilbevölkerung davon zu überzeugen, dass sie sich gegen das teuflische Regime erheben sollte. Dafür wurden vor allem Flugblätter abgeworfen und die deutsche Bevölkerung wurde in Radiosendungen angesprochen.

25. Dezember 1940

Wir sind sehr spät aufgestanden haben lange gefrühstückt. Walter hat uns ein Schmucktelegramm gesandt, was mich sehr freute. Dann sind wir an den Escher See gegangen, es war herrlich und wir kamen erst am Nachmittag zum Essen. Wie es dunkel wurde ging Vater wieder zu seinem Atelier, er will Neujahr zurückkommen. Nun bin ich wieder allein.

2. Januar 1941

Ja, und dann kam Neujahr, Silvester. Oh wie schrecklich, wenn ich zurückdenke. Mit deinem Vater allein. Das, was ich wohl am letzten gedacht habe, das war. Ja, das hätte ich nicht zuletzt gedacht und nicht im Entferntesten gewünscht. Aber es war. Aber ich muss sagen, er war friedlich, und so ging Silvester vorüber und ich ging mit den heißesten Segenswünschen für euch drei, die ihr mir so fern wart, ins Jahr 1941. Was mag es uns bringen? Den Frieden? O gütiger Gott, gebe es doch zu. Ja, dann kam wieder bald der Alltag mit seinem Hetzen und Jagen. Röbi schreibt, dass er am 11. Januar in Tagesurlaub komme. Na, man freut sich schon mal wieder.

Alle Tage kommen und gehen. Nachmittags kommt Bully mal hin und wieder, macht Handarbeiten, abends gehen wir dann zusammen zu ihrer Mutter. Die einzige Abwechslung ist dann abends die Sirene, denn dann kommen unsere Freunde jenseits der Nordsee. Ja, oft haben sie uns schon toll zugesetzt. Schon mancher hat dran glauben müssen und da mir hier im Hause keinerlei Schutz zur Verfügung steht und dein Vater sich nicht von seinem Geld trennen kann, muss ich sehen, in den öffentlichen Luftschutzkeller zu gehen.

Ja, jetzt freue ich mich mal wieder toll auf Röbi, hoffentlich kommt er am 11., dann können wir mal wieder erzählen von allem Möglichen und viel von dir Lottenkind, von deinem Mann und von deinem Kind. Das schönste ist, wenn Walter von seiner Nichte spricht, man sollte sagen, er wäre der Vater. So zärtlich. Er zerbricht sich den Kopf, wie es wohl heißen mag. Dann kommt er, das Kind heißt selbstverständlich wie du. Wenn ich dieses anzweifle dann ist er empört.

Wir einigen uns schließlich, dass es uns doch gleich sein kann wie es heißt und schließen die Debatte, aber im Stillen sinniert er weiter. Wie mag es wohl heißen? Ja, ja. Walterchen, du zärtlicher Onkel. Der arme Kerl, er leidet sehr unter dem Fernsein von Hause, er hat es nicht leicht und seine Briefe sind voll heißer Sehnsucht. Wie lange mag er wohl fortbleiben müssen. Was mag sich noch alles entwickeln. O Gott, wenn ich hier allein sitze und nachdenke, werde ich verrückt.

3. Januar 1941

Heute ein Brief von Walter, ja Walters Briefe sind wahre Bücher, aber eine Freude, sein Hauptmann ist auf ihn aufmerksam geworden und er will ihn nach seiner Ausbildung als arabischer Dolmetscher anfordern. Wäre das schön! Ja, und nun Röbis Briefe, er schreibt so herzlich und lieb. Ich freue ich mich, wenn er kommt.

8. Januar 1941

Letzte Nacht war mal wieder ein ganz toller Luftangriff. Das hat noch mal gut gegangen. Bei Reinemanns haben sie vor Weihnachten alles zerstört. Das schöne Haus, die armen Leute. Wann mag das mal enden. Aber alles ist Schicksal und ich will es auch so tragen. Und nun kommt Röbi doch nicht. Wie schrecklich, auch nicht die kleinste Freude wird wahr. Ich kann es gar nicht glauben, was er mir heute Morgen schreibt. Urlaubssperre. Ja, und nun müssen wir uns wieder beide darin schicken. Da sitze ich nun schon mal wieder allein. Ich will heute Abend mal wieder zu Reinemanns gehen. Und dann, ja, vielleicht können wir dann schlafen gehen. Vielleicht aber auch nicht.

19. Februar 1941

Ich habe lange nicht mehr geschrieben. Es war nicht viel zu schreiben, immer dasselbe Elend. Am Tag Kampf ums tägliche Brot, nachts oft, sehr oft Fliegerangriffe und oft, sehr oft brachten sie fürchterliches Elend über unser armes Volk. Viele Städte, Düsseldorf, Köln, Hannover, Wilhelmshaven werden heimgesucht. Viele Tote, viel Elend. Wann mag es aufhören? Bis jetzt hat der liebe Gott deine Eltern und Geschwister geschont, aber wie lange noch, doch Herr, dein Wille geschehe.

Röbi und Walter sind Gott sei Dank noch immer im Land. Röbi kommt öfter auf einen Sonntag mich besuchen. Das ist das schönste in meiner Einsamkeit.

Köln nach einem Luftangriff.Aquarell von Robert Seuffert sen.

Denn Liebchen, dein Vater fühlt sich sicherer in der Stadt und da lässt er mich ganz allein hier im Haus. Aber ich war ja nie in unserer Ehe mit ihm zusammen, stets hat er mich das Schwere allein machen lassen. Vielleicht fühlt er ja nicht seinen Egoismus. Ich habe hier gar nichts, keinen Luftschutzkeller, keine Gasmaske, nichts. Trotzdem sage ich mir, der Herrgott weiß, was er mit mir will. Wenn Gott es will, Liebchen, sehen wir uns wieder und sonst eben nicht. Walter ist ein sehr armer Kerl, er leidet sehr und ich will hoffen, dass er bald nach Hause kommt, denn der Arzt hat ihn arbeitsunfähig geschrieben. Es war eine sehr gute Untersuchung für ihn.

Ich war bei Vater im Atelier, es war mal wieder eine böse Nacht und eine Bombe hatte in der Schildergasse eingeschlagen, 2 Minuten von Vaters Atelier. Gott sei Dank ist ihm nichts passiert. Gestern war ich bei Frau Nanzig, sie bat mich um einen Besuch, sie hatte Post von ihrer Tochter vom 15.11.40, vom 24.11.40 und vom 15.12.40. Drei Briefe. Die alte Frau war so glücklich. Ja, ich musste daran denken, wie lange ich nun schon kein Lebenszeichen von dir habe und sagte mir unwillkürlich: Warum schreibt denn meine Tochter gar nicht. Sie ist noch nicht mal interniert, lebt frei und kann ihrer Mutter kein liebes Wort senden. Sie hat seit dem 16. Okt. ein Kind, ist selbst Mutter und weiß ihrer Mutter nicht ein Wort des Trostes zu schicken.

Käthe Harz schreibt in einem ihrer Briefe: „Lotte hat mir solange ich hier interniert bin noch nicht einmal geschrieben.“ Was soll ich davon halten. Ich weiß es nicht, Gott möge verhüten, dass dieses aus Eigennutz geschieht, aber ich will es auch nicht glauben, was sie dazu veranlasst, wird wohl kein Egoismus sein, denn das würde mich für immer von dir trennen.

Aber warum gar kein Lebenszeichen? Ja, Lotte, der Herrgott hat für alles seine Vergeltung und schon hier auf Erden. Ich hätte auch meiner lieben Mutter manches besser machen können. Ja, da siehst du die Vergeltung und wenn du etwas tust, was deine Mutter schmerzt, durch deine Schuld, mein Kind, Gott sucht dich heim hier auf Erden. Denn gerade um dich hätte ich es nicht verdient. Aber wieder will ich es nicht glauben, wer weiß, wie du in der Fremde zu manchem gezwungen wirst. Wir wollen hoffen, dass sich alles mal aufklärt.

20. Februar 1941

Heute war ich mal wieder bei Frau Oberst Coleman. Ihr Mann ist nun in seiner Heimat. Er sorgt rührend für seine Frau und seinen Sohn. Er hat ihm Lebensunterhalt reichlich bis 1942 auf der Deutschen Bank deponiert, ebenfalls Lebensmittel, damit sie als Amerikaner vor Entbehrung gesichert sind. Ob Amerika noch aktiv in den Krieg kommt. Wir wollen es nicht hoffen. Beten wir zu Gott, dass dieses Völkermorden doch bald zu Ende sein möge. Es ist schon wieder spät, ich will zu Bett gehen. Ob wir Ruhe haben. Also gute Nacht, Lottenkind, im Geiste sehe ich dich mit deinem kleinen Töchterchen reden von deinen Lieben zu Hause. Gute Nacht.

22. Februar 1941