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Amarna, die deutsche Archäologin, und Arman, der armenische Bildhauer - ein wahrhaft unvergessliches Liebespaar: Der letzte Teil des sechsteiligen Serials! Im London des Jahres 1938 gelten sie als glamouröses Traumpaar, doch ein tiefer Schatten liegt auf ihrer Liebe. Arman hat durch den Genozid an seinem Volk 1915 seine ganze Familie verloren. Wie eine unsichtbare Mauer steht dieses Grauen zwischen den beiden und wächst von Tag zu Tag. Dann bricht der Krieg aus, und Arman meldet sich freiwillig zur Royal Air Force. Am Fuß des Ararat, in den mythischen Ruinen, die die Wiege der armenischen Kultur bergen, wird sich die Kraft ihrer Liebe beweisen müssen.
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Seitenzahl: 155
Carmen Lobato
Und sie werden nicht vergessen sein 6
Serial Teil 6
Knaur e-books
Amarna, die deutsche Archäologin, und Arman, der armenische Bildhauer - ein wahrhaft unvergessliches Liebespaar: Im London des Jahres 1938 gelten sie als glamouröses Traumpaar, doch ein tiefer Schatten liegt auf ihrer Liebe. Arman hat durch den Genozid an seinem Volk 1915 seine ganze Familie verloren. Wie eine unsichtbare Mauer steht dieses Grauen zwischen den beiden und wächst von Tag zu Tag. Dann bricht der Krieg aus, und Arman meldet sich freiwillig zur Royal Air Force. Am Fuß des Ararat, in den mythischen Ruinen, die die Wiege der armenischen Kultur bergen, wird sich die Kraft ihrer Liebe beweisen müssen.
Sainte-Cécile-les-Vignes, London, Doğubeyazıt, Aghtamar
EvaLondon. Jahresbeginn 1944
Er kam eine Minute nach der vereinbarten Zeit, wie üblich außer Atem, abgehetzt. »Guten Abend. Es tut mir leid. Ich hoffe, Sie haben nicht zu lange gewartet.«
»Überhaupt nicht.« Die jüdische Ärztin stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Ich wünsche Ihnen ein wirklich glückliches 1944, Mr. Artsruni, auch wenn es Ihnen im Augenblick nicht so scheint, als wäre das möglich. Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann das: Es wendet sich.«
»Vielen Dank, Dr. Greenstein«, sagte Arman. »Ich wünsche Ihnen dasselbe, und daran, dass es sich wendet, möchte ich unbedingt glauben.«
Ehe die beiden weitere Floskeln tauschten, stand Eva ebenfalls auf, legte ihm weich die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wange, ehe er sich entzog. »Sei nicht böse, dass ich dir diesen Termin auch noch aufgebürdet habe. Aber für mich wird die Situation unerträglich. Etwas hat zu geschehen.«
»Sicher«, sagte er wie ein Fremder und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die ein Stück von ihrem entfernt standen.
Eva hatte Dr. Greenstein, die für Chajas Vermittlung verantwortlich war, seit Wochen gedrängt, sich einzuschalten. Die Ärztin hatte sie ebenso vertröstet, wie Arman es seit einem Jahr tat. Sie hatte es sich gefallen lassen, weil zunächst tatsächlich nichts anderes möglich schien. Die Begegnung mit dem Kind, nach der sie sich vier Jahre lang gesehnt hatte, verlief völlig anders, als erwartet. Völlig falsch. Eva hatte sich nie mit einem Menschen so vertraut gefühlt wie mit Chaja. Dieses Gefühl erschien ihr wie ein Lieblingskleid, das umgekrempelt und ins Gegenteil gekehrt worden war. Ihr gegenüber stand nicht ihr zärtlicher Kobold, der Ärmchen und Beinchen um sie schlang, sondern eine kleine Frau, eine feindselige Fremde, die entschlossen war, sie zu hassen. Die kleine Frau schrie, wenn Eva sie abholte, sie schwieg mit trotzig verschlossenem Gesicht, wenn Eva sie in ein Gespräch verwickeln wollte, sie boxte und trat, wenn Eva versuchte, sie zu berühren.
Über Evas Englisch lüpfte sie mokiert die Brauen, und Deutsch behauptete sie, nicht mehr zu verstehen. In der riesenhaften, von Bombenkratern durchlöcherten Stadt, die Eva verwirrend und einschüchternd fand, bewegte sie sich wie in ihrem Vorgarten, und über Evas schäbige Geschenke urteilte sie höchstens: »Das brauche ich nicht.« Den Affen warf sie auf den Boden, und Eva musste ihn aufheben. Als sie ihn in der Hand hielt, sah sie, dass er tatsächlich schäbig war. Das Besondere, der Zauber, von dem sie geglaubt hatte, er werde sie und Chaja über die Entfernung hinweg verbinden, war verflogen, und sie kam sich lächerlich vor.
Nichts verband sie mit Chaja. Das Kind, das jahrelang an sie geschmiegt geschlafen, das mit ihr Heine gelesen, das mit ihr ihre Träume an die Wand gemalt hatte, war spurlos verschwunden. An ihre Stelle getreten war ein schlecht erzogenes Balg ohne Wärme, ohne den Überschuss an Liebe, der ihr so gefehlt hatte. Dabei stimmte das nicht einmal. Wenn Arman oder die Rotgelockte kamen, um sie wegzuholen, klammerte sie sich an sie, verbarg ihr Gesicht in ihrer Halsbeuge, und manchmal weinte sie.
»Bitte, Eva«, hatte Arman sie regelrecht angefleht, »geben wir ihr Zeit, tun wir ihr nicht noch mehr weh.«
Er hatte recht. Um das Kind zu zwingen, hätte sie es packen, schleifen, schlagen müssen, wie sie selbst gepackt, geschleift, geschlagen worden war. Arman versprach, auf sie einzuwirken, aber was immer er tat, es änderte nichts an Chajas Verhalten. Evas Geduld rieb sich dünn, vor allem wenn er Verabredungen nicht einhielt, weil ihm da oder dort etwas dazwischenkam, und sie allein in Kent saß. An solchen Abenden wollte sie ihm sagen, dass sie es satt habe, dass sie ihre Tochter nehmen und fortgehen werde, aber es gab neben Chajas Weigerung noch zwei weitere Gründe, das nicht zu tun.
Der erste war praktischer Natur. Sie besaß kein Geld. Arman gab ihr welches, er finanzierte ihr gesamtes Leben, und was es kostete, kümmerte ihn nicht. Nach vier Jahren bitteren Mangels stand ihr offen, was Kriegsengland zu bieten hatte, doch wovon sie sich und Chaja einmal ernähren sollte, wusste sie nicht. Die englische Sprache fiel ihr schwer, sie hatte weder Wohnung noch Arbeit, und ohne die Bürgschaft der Artsrunis liefe sie obendrein Gefahr, in einem Lager interniert zu werden.
In Frankreich hatte sie es sich so einfach vorgestellt: Sie müsste es nur bis nach England schaffen, dann würde sich alles wie von selbst ergeben, sie würde mit Chaja fortgehen und sich mit wenigem bescheiden, weil sie sich selbst genug waren, weil das Glück, einander wiederzuhaben, alles aufwog. Das Kind, das sie vorfand, war jedoch nicht gewohnt, sich zu bescheiden. Es war der umhegte Liebling wohlhabender Leute, besaß ein eigenes Pony, wurde in allen erdenklichen Sportarten unterwiesen und lebte in einem seltsamen Traumhaus, das etwas Verwunschenes hatte, etwas von einer Fata Morgana, einer Oase in der Wüste. Nach der Schule kletterte Chaja in ihr Baumhaus und blickte wie eine kleine Königin über ihr Reich. Ihre Mutter hingegen wusste nicht, wo sie das Startkapital für die schlichteste Existenz auftreiben sollte.
Der zweite Grund war diffiziler, schwerer zu fassen: Es hatte Tage gegeben, da wollte Eva nichts tun, um nichts kämpfen, nur das Leben, das ihr auf einmal wieder gehörte, spüren und schmecken. Das Haus in Kent war schön, es war mit allem Komfort ausgestattet, und wenn sie sich in dem weichen, blitzsauberen Bett schlafen legte, hörte sie das Meer rauschen. Sie war wieder ein Mensch, konnte in ein duftendes Schaumbad eintauchen und sich hinterher den ganzen Körper mit Lotion einreiben, konnte an der Küste entlang in den Ort wandern, Einkäufe machen und im Pub ein fast schwarzes Bier trinken, während die alten Männer, die an der Theke Karten spielten, sie mit scheelen Blicken bedachten. Sie brauchte keinen falschen Namen mehr zu verwenden, durfte Eva Löbel sein und reden, mit wem sie wollte, ohne Furcht, geschnappt zu werden.
Eine Frau aus dem Ort kam, um ihren Haushalt zu besorgen, und Arman brachte ihr, was sie wollte. Nicht alles. Lippenstift gab es nicht. »Ich habe Jordan gefragt, und sie sagt, das machen sich unsere Frauen jetzt aus Roter Beete selber, und sie könnte dir erklären, wie es hergestellt wird. Sie kann dir auch einen Stift leihen, mit dem Frauen sich eine Naht hinten auf die Beine malen, weil man sich Strümpfe mit solcher Naht wohl jetzt nicht kaufen kann.«
»Ich beschmiere mich nicht mit Stiften und Roter Beete«, hatte sie gealbert. »Hast du keine Beziehungen zum Schwarzmarkt?«
Er hatte sie so entrüstet angesehen, dass sie lachen musste. »Himmel hilf, vergiss es. Was ist mit deiner Frau? Magst du bei der die Rote-Beete-Schmiere etwa gern?«
»Ich mag meine Frau gern«, sagte er und wandte sich ab. »Meine Frau ist Kuratorin im British Museum, um sich zu beschmieren, hat sie keine Zeit.«
Er war der behutsamste Mann, der ihr je begegnet war. Dass er Dinge sagen konnte, die wie Tritte in den Bauch waren, war umso schockierender. In solchen Augenblicken hätte sie ihm gern ebenso weh getan, aber der Wunsch verflog, sobald er etwas anderes sagte, etwas, das ihr Herz in die Arme nahm. Statt des Lippenstifts und der Strümpfe brachte er ihr deutsche Bücher, Farben, Skizzenblöcke. Eva begann zu malen, nicht weil sie es sich wünschte, sondern weil sie sich nicht länger dagegen wehren konnte. Sie hatte einen Rest von Eva Löbel wiedergefunden. Und Eva Löbel war Malerin.
Der Schmerz über den Verlust hörte deshalb nicht auf, in ihr zu wüten, und sie fand, sie könne keine Menschen mehr malen. Nur einen. Arman. Aber dafür war es noch zu früh, ihr fehlten vier Jahre Übung. Die Skizzen, an denen sie sich versuchte, misslangen allesamt, außerdem weigerte er sich, ihr Modell zu sitzen. »Ich sitze still, und du starrst mich an? Das ist ja schlimmer als die Wochenschau.«
Sie würde ihn zeichnen. Irgendwann, wenn sie die geheimen Facetten seines Wesens erfasst hatte, wenn er sich ihr ganz öffnete. Bis dahin griff sie zu Öl, malte das Meer, das den Felsen hinauftobte und sich zerschlug, die kahlen Felder, den im Nebel lauernden Wald. Als er eines ihrer Bilder ohne Menschen ansah, sagte er unvermittelt: »Eva, wenn du willst, kann ich Erkundigungen über deine Familie in Deutschland einziehen. Es ist schwierig, ich kann dir nichts versprechen, aber es gibt ein paar Quellen.«
Eva erschrak. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Ich weiß nicht.«
»Doch, du weißt es.«
»Als ich achtzehn war, bin ich aus Boğazköy fortgegangen, um in Konstantinopel nach meinen Verwandten zu suchen«, sagte er, den Blick weiter auf Evas Bild gerichtet. »Nach irgendjemandem, den ich kannte, aber ich kannte niemanden. Ich glaube, für mich sah die Welt so aus wie auf deinen Bildern. Ich wollte unbedingt Menschen zurückhaben. Sogar Tote. Nur einen Beweis, dass sie existiert hatten, dass ich nicht immer in dieser Leere war.«
Der letzte Mensch, den Eva zurückgewollt hätte, war ihr Vater, aber das ließ sie Arman nicht wissen, weil sie berührte, was er über ihr Bild gesagt hatte. Hinterher sah sie es selbst: Es war kein Bild ohne Menschen, sondern ein menschenleeres.
Das Leben hatte wieder Gehalt. Und wenn Arman da war, war es sogar schön. Er ist ein Schlechtwettermann, dachte sie. Martin und ich, wir waren glücklich wie Götter, solange wir uns in gleißender Sonne aalten, aber unsere Liebe hat nichts ausgehalten. Als die Stürme aufzogen, ist sie zerknickt wie Schilf. Dieser hier war einer für Orkane, ein Mann, um der Sintflut zu trotzen. Er machte süchtig, weil er gegen Angst wirkte wie starker Wein und gegen Einsamkeit wie eine Umarmung, die sich nicht plötzlich öffnete. Sein Geheimnis war Echtheit. Er war nirgendwo innen hohl, sondern durch und durch aus Fleisch und Blut.
In seiner Ehe quälte er sich, was immer er ihr auch weismachen wollte. Solche wie er und sie funktionierten nicht mehr, wie die Heilen, Ungebrochenen es verlangten. Sie brauchten einander, brauchten den Trost, den nur einer geben konnte, dem man nichts erklären musste. Sie wollte, dass er sie hielt, wenn sie einschlief, und sie wollte ihn halten. Wie konnte sie planen, von hier wegzugehen, solange er ihr seinen Körper noch immer entzog, solange er sich betrug, als wäre sein Zuhause bei der anderen, solange er nicht mit ihr kam?
Aber er musste ja mitkommen. Das Pfund, mit dem sich um ihn wuchern ließ, lag, so unglaublich es schien, in ihrer Hand.
Mit jedem Tag war ihr klarer geworden, wie sehr er das Kind liebte. Nicht indem er sie Prinzessin nannte, sondern indem er sich um sie sorgte. Martin hatte Chaja verlassen, ohne sich nach ihr umzudrehen, aber Arman zerriss der Gedanke, sein Kind ohne Vater zu lassen, das Herz. Nur war sie nicht seines. Sosehr die zwei auch aussahen wie aus einem Guss. Sie zu seinem zu machen oder sie ihm zu nehmen, liegt in meiner Macht, rief Eva sich ins Gedächtnis. Er kann kein Kind haben, nur ich kann ihm eines schenken. Zwischen den Frauen würde er keine Entscheidung treffen können, sein andressierter Anstand erlaubte es ihm nicht, seine Frau zu verlassen. Letzten Endes aber würde er mit der Frau gehen, die es ihm ermöglichte, bei dem Kind zu bleiben.
Dr. Greenstein hatte die ganze Zeit über mit ihm belangloses Zeug geredet. »Ihre Frau verspätet sich wohl?«, fragte sie ihn jetzt.
»Meine Frau kommt nicht«, antwortete Arman. »Sie möchte an diesem Gespräch nicht teilnehmen, lässt aber ausrichten, sie habe darüber nachgedacht und sei jetzt bereit, in unserem Haus eine Weile lang zu viert mit Chaja zu leben.«
»Kommen Sie mir nicht wieder damit, Mr. Artsruni.« In der Stimme der Ärztin schwang ein Tadel oder eine Mahnung. »Sie wissen, ich fühle mit Ihnen, ich habe Ihnen Zeit eingeräumt, solange ich konnte, aber irgendwann muss es ein Ende geben. Miss Löbel hat ein Recht darauf, mit Ihrem Kind zu leben. Und für Sie beide ist es auch besser, wenn Sie sich aus dieser Illusion endlich lösen. Ich fordere Sie auf, mir das Kind jetzt herauszugeben, damit ich es in die Obhut seiner Mutter überstellen kann.«
»Ich weiß ja noch gar nicht, wie ich für sie sorgen und wo ich sie unterbringen soll!«, entfuhr es Eva. Gleich darauf bereute sie, einen Trumpf aus der Hand gegeben und Arman zugespielt zu haben.
»Damit müssen Sie sich nicht erpressen lassen, Miss Löbel«, sagte Dr. Greenstein. »Unsere Organisation gerät an die Grenzen ihrer Mittel, aber wir werden tun, was wir können, um Sie zu unterstützen. Dazu gehört auch, dass wir uns nach einer Unterkunft für Sie und Chaja umsehen und versuchen, Sie vor einer Internierung zu schützen.«
»Warum stempeln Sie meine Frau und mich eigentlich zu Unmenschen?«, fragte Arman. »Wir erpressen niemanden. Wir haben uns verpflichtet, für Chajas Unterhalt in England zu sorgen, daran ändert sich nichts, auch wenn sie nicht mehr bei uns lebt. Müssen wir für eine Untat bestraft werden, indem Sie uns nicht mehr erlauben, etwas für Chaja zu tun?«
Die Verletzung in seiner Stimme tat Eva weh, aber Dr. Greenstein ließ sich nicht kirre machen: »Wenn Sie Miss Löbel mit einem Zuschuss für Chajas Unterhalt behilflich sein wollen, wird Ihnen das kein Mensch verbieten«, sagte sie. »Wenn Sie jedoch glauben, Sie könnten sich mit Ihrem Geld ein Recht an dem Kind erkaufen, befinden Sie sich im Irrtum. Und wenn Sie Chaja noch länger ihrer Mutter vorenthalten, werden Sie allerdings bestraft, egal, wer Sie sind. Kindesentzug ist strafbar, Mr. Artsruni.«
»Was möchten Sie gern?« Seine Augen blitzten. »Dass ich Chaja an den Armen aus meinem Haus zerre? Das werde ich nicht tun, und ich werde auch niemand anderem erlauben, es zu tun. Wenn Sie das wollen, müssen Sie mich verhaften lassen.«
»Täuschen Sie sich nicht«, erwiderte Dr. Greenstein. »Falls Sie mir keine Wahl lassen, werde ich genau das tun.«
»Ich lasse Ihnen keine Wahl«, sagte er. »Und ich habe selbst keine. Sie haben uns Chaja anvertraut, damit wir sie schützen.«
»Aber doch nicht vor ihrer eigenen Mutter!« Das Gesicht der Frau wirkte auf einmal bitter. »Die Frauen Ihres Volkes, denen ihre Kinder entrissen worden sind – hätten die sie auch reichen Fremden überlassen und darauf verzichten sollen, sie je wieder in die Arme zu schließen? Ihre Mutter – hätte die Sie bei irgendeinem Türken gelassen, wenn sie die Chance gehabt hätte, sie wieder bei sich zu haben?«
Eva zuckte zusammen, als habe der Hieb ihr gegolten. Nicht unter die Gürtellinie, wollte sie der Frau zurufen, aber die hatte offenbar selbst erkannt, dass Sie zu weit gegangen war. »Bitte denken Sie nicht, dass ich Ihnen zu nahe treten wollte.«
»Doch, das denke ich«, sagte Arman. »Aber das kommt schon hin. Es geht Ihnen um Chaja, nicht um mich, Sie müssen tun, was Sie für richtig halten.«
»Ja, das muss ich«, sagte Dr. Greenstein. »Glauben Sie mir, ich hege große Sympathien für Sie, aber ich habe Miss Löbel mein Wort gegeben. Sie hat mir ihr Kind in gutem Glauben anvertraut.«
»Das habe ich nicht«, brach es aus Eva hervor. »Und ich hätte es auch nie getan. Ich hätte alles aufgeben können, aber nicht Chaja. Meine Freundin Wilma muss meine Unterschrift auf den Dokumenten gefälscht haben. Während ich in der Folterkammer der Gestapo saß, hat sie mein Kind in einen Zug gesetzt und zu fremden Leuten geschickt. Als ich aus der Hölle zurückkam, hatte ich keinen Menschen mehr. Ich habe nur für Chaja überlebt, und jetzt habe ich ein Kind vor mir, das mir ins Gesicht sagt, ich sei nicht seine Mutter, es wolle kein Deutsch mehr sprechen und mit mir nichts zu tun haben. Ist das gerecht? Ich habe doch gar nichts getan!«
Arman wollte etwas sagen, aber Dr. Greenstein war schneller. »Eben das versuche ich, Mr. Artsruni klarzumachen«, sagte sie. »Und deshalb werde ich zur Not nicht davor zurückschrecken, die Polizei einzuschalten, auch wenn ihm das eine Gefängnisstrafe eintragen kann.«
»Nein«, rief Eva. »Das will ich nicht. Ich kann den Mann doch nicht dafür einsperren lassen, dass ihm mein Kind am Herzen liegt.«
Der Blick, der sie traf, war alles wert. »Danke«, murmelte Arman ungläubig. »Dass ich an deiner Stelle so großzügig wäre, bezweifle ich.«
»Das bezweifle ich allerdings auch«, fiel Dr. Greenstein ein. »Sie sollten Miss Löbel die große Geste vergelten, finden Sie nicht? Europa ist voller Waisen, und es wird noch voller sein, wenn das Wüten endlich ein Ende hat. Ein Fall, in dem Mutter und Tochter einander wiederfinden, sollte uns mit Hoffnung erfüllen, und Sie bekommen doch sofort ein anderes Kind, das Sie legal adoptieren können.«
»Danke, dass Sie anderes Kind gesagt haben«, murmelte Arman mit gesenktem Blick. »Nicht neues Kind. Es tut mir sehr leid, Eva. Ich will dir Chaja nicht wegnehmen, ich will nicht, dass du sie verlierst. Missak ist in den Libanon gerettet worden, ich hätte seiner Mutter gewünscht, dass sie ihn hätte zurückholen können, aber seine Mutter war tot. Ich wollte nur, dass Chaja dich aus freiem Willen wiederfindet, dass keiner von uns ihr Gewalt antut.«
»Das weiß ich«, sagte Eva und dachte: Komm mit mir, dann folgt dir das Kind wie ein Hündchen. Deine Frau ist Kuratorin in irgendeinem Museum, die braucht weder dich noch Chaja, aber ich brauche euch. »Ich vertraue dir«, sagte sie zu Arman, »und ich nehme dein Angebot an. Für eine letzte Übergangszeit werde ich bei euch wohnen, um es Chaja leichter zu machen. Du bürgst mir dafür, dass sie danach zu mir kommt, nicht wahr? Du enttäuschst mein Vertrauen nicht?«
Er schüttelte stumm, mit schmalen Lippen den Kopf.
»Ich kann mich bei Ihnen nur für Ihre noble Haltung bedanken«, sagte Dr. Greenstein zu Eva. »Sie nehmen mir eine gewaltige Last von den Schultern. Ich hoffe, alle Beteiligten, vor allem aber Ihre Tochter, werden es Ihnen lohnen.«
Auf der Straße, vor dem Portal, umarmte sie Arman, der sich nicht wehrte, sondern wie leblos stand. »Fahr mit mir nach Kent«, sagte sie. »Bleib über Nacht, ruh dich aus. Diese Frau hätte dich nicht so fertigmachen dürfen.«