»Und trotzdem war's 'ne schöne Zeit« - Heidi Rosenbaum - E-Book

»Und trotzdem war's 'ne schöne Zeit« E-Book

Heidi Rosenbaum

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Beschreibung

Als die NSDAP 1933 die Macht in Deutschland übernahm, wurde auch der Alltag von Kindern durch die vom Nationalsozialismus beabsichtigte Umgestaltung der Gesellschaft stark beeinflusst. Kinder mussten nun lernen, »richtig« zu grüßen; ihre Freundschaften konnten durch die rassistische Politik des Nationalsozialismus beendet oder beeinträchtigt werden; sie wurden zu Denunziationen aufgefordert; politische Maßnahmen und Ereignisse waren Gesprächsthemen im Familienkreis, die zu Konflikten führen konnten. »Politik« war also im Alltagsleben der Kinder gegenwärtig – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und ohne dass dies allen Betroffenen immer bewusst war. Heidi Rosenbaum untersucht in ihrer groß angelegten Studie, die auf zahlreichen Zeitzeugengesprächen basiert, das alltägliche Leben von Kindern in vier Milieus: dem gehobenen Bürgertum einer Universitätsstadt, der Arbeiterschaft einer Kleinstadt, einem protestantischen und einem katholischen Dorf in Niedersachsen. Dabei kann sie zeigen, dass Brüche und Kontinuitäten den Alltag der Kinder unterschiedlich stark prägten.

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Heidi Rosenbaum

»Und trotzdem war’s ’ne schöne Zeit«

Kinderalltag im Nationalsozialismus

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Als die NSDAP 1933 die Macht in Deutschland übernahm, wurde auch der Alltag von Kindern durch die vom Nationalsozialismus beabsichtigte Umgestaltung der Gesellschaft stark beeinflusst. Kinder mussten nun lernen, »richtig« zu grüßen; ihre Freundschaften konnten durch die rassistische Politik des Nationalsozialismus beendet oder beeinträchtigt werden; sie wurden zu Denunziationen aufgefordert; politische Maßnahmen und Ereignisse waren Gesprächsthemen im Familienkreis, die zu Konflikten führen konnten. »Politik« war also im Alltagsleben der Kinder gegenwärtig – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und ohne dass dies allen Betroffenen immer bewusst war.

Heidi Rosenbaum untersucht in ihrer groß angelegten Studie, die auf zahlreichen Zeitzeugengesprächen basiert, das alltägliche Leben von Kindern in vier Milieus: dem gehobenen Bürgertum einer Universitätsstadt, der Arbeiterschaft einer Kleinstadt, einem protestantischen und einem katholischen Dorf in Niedersachsen. Dabei kann sie zeigen, dass Brüche und Kontinuitäten den Alltag der Kinder unterschiedlich stark prägten.

Über die Autorin

Heidi Rosenbaum war von 1993 bis zu ihrer Pensionierung 2006 Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen.

Inhalt

Einleitung

Fragestellungen ∙ Konzepte und Begriffe ∙ Anlage der Untersuchung

Teil I: Kinderalltag im bürgerlichen Milieu

1. Der Ort – Die Universitätsstadt Göttingen

2. Die Familien

Das Sample ∙ Die wirtschaftlichen Verhältnisse ∙ Das Wohnen ∙ Soziale Beziehungen ∙ Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ∙ Politik in den Familienbeziehungen

3. Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele

Raum-Erfahrungen ∙ Freundschaften ∙ Spiele und Spielzeug ∙ Auswirkungen des Nationalsozialismus

4. Schulalltag

Volksschule ∙ Die höheren Schulen ∙ Kontinuitäten und Brüche

5. Hitler-Jugend

»Ich wollte unbedingt ins Jungvolk« ∙ Laufbahnen ∙ Distanzierungen ∙ Fazit

6. Körper und Körper-Erfahrungen

Körperkontakte: Zärtlichkeit und Gewalt ∙ Das Verhältnis zum eigenen Körper ∙ Sexualität: Das eigene und das andere Geschlecht ∙ Fazit

7. Aufwachsen mit Medien

Bücher ∙ Radio ∙ Filme ∙ Fazit

8. Hineinwachsen in die bürgerliche Welt: Werte und Normen

Erziehungsmaximen und Werthaltungen ∙ Werte und Normen des Nationalsozialismus

9. Das öffentliche Leben in der Wahrnehmung der Kinder

10. Resümee

Teil II: Kinderalltag im kleinstädtischen Arbeitermilieu

1. Der Ort – Die Kleinstadt Hann. Münden

2. Die Familien

Das Sample ∙ Die wirtschaftlichen Verhältnisse ∙ Wohnbedingungen ∙ Soziale Beziehungen ∙ Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern

3. Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele

Raum-Erfahrungen ∙ Freundschaften ∙ Spiele und Spielzeug

4. Schulalltag und Ausbildungen

5. Hitler-Jugend

6. Körper und Körper-Erfahrungen

Das Äußere ∙ Verhältnis zum eigenen Körper ∙ Verhältnis zum anderen Geschlecht

7. Erziehungsmaximen und Werthaltungen

8. Resümee

Das öffentliche politische Leben in der Wahrnehmung der Kinder ∙ Kontinuitäten und Brüche

Teil III: Kinderalltag im protestantischen Industriedorf

1. Der Ort – Volpriehausen

2. Die Familien

Das Sample ∙ Die wirtschaftlichen Verhältnisse ∙ Wohnbedingungen ∙ Soziale Beziehungen ∙ Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern

3. Kindheits-Räume, Spiele und Freundschaften

Raum-Erfahrungen ∙ Spiele und Spielzeug ∙ Freundschaften ∙ Streiche und Widerständigkeiten

4. Schulalltag

5. Hitler-Jugend

6. Körper und Körper-Erfahrungen

Das Äußere: Kleidung und Frisuren ∙ Verhältnis zum eigenen Körper ∙ Geschlechtsrollen

7. Erziehungsmaximen und Werthaltungen

Erziehungsmaximen ∙ Religion ∙ Medien ∙ Die Wirkung der nationalsozialistischen Ideologie

8. Dorföffentlichkeit und Politik

9. Resümee

Teil IV: Kinderalltag in einem katholischen Dorf

1. Der Ort – Das katholische Dorf Obernfeld im Eichsfeld

2. Die Familien

Das Sample ∙ Die wirtschaftlichen Verhältnisse ∙ Wohnverhältnisse ∙ Soziale Beziehungen ∙ Die Beziehungen innerhalb des Haushalts ∙ Politik in den Familienbeziehungen

3. Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele

Raum-Erfahrungen ∙ Freundinnen und Freunde ∙ Spiele und Spielzeug ∙ Streiche, Widerständigkeiten und kleine Freiheiten

4. Schulalltag

5. Hitler-Jugend

6. Körper und Körper-Erfahrungen

Das Äußere: Kleidung und Frisuren ∙ Verhältnis zum eigenen Körper ∙ Sexualität und Geschlechtsrollen

7. Erziehungsmaximen und Werthaltungen

Normen und Werte ∙ Medien ∙ Religion

8. Resümee

Dorföffentlichkeit und Politik ∙ Kontinuitäten und Brüche

Teil V: Schlussbetrachtung

Ergebnisse und Perspektiven

Kontinuitäten und Brüche ∙ Rückblicke ∙ Entwicklungstrends der Kindheit im 20. Jahrhundert

Verzeichnis der Abkürzungen

Quellen und Literatur

Anmerkungen

Register

Zum Gelingen dieses Buches haben viele Personen beigetragen. Vor allem die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sich zu Interviews bereit erklärt hatten und dafür sehr viel Zeit aufgebracht haben. Ihnen schulde ich in erster Linie Dank. Den Hinweis auf sie erhielt ich von Kontaktpersonen in den Orten, die für diese Studie ausgewählt wurden. Besonders bedanken möchte ich mich bei Gisela Baethge (Göttingen), Alois Ehbrecht sen. (Obernfeld), Detlef Herbst (Volpriehausen), Dr. Ilsemarie Leaver (Göttingen), Beate Meinhardt (Göttingen), Dr. Wolfgang Schäfer (Uslar), Edith Wieland (Hann. Münden). In den Archiven und Museen habe ich viel Hilfe und Unterstützung erfahren. Dr. Johann Dietrich von Pezold und Andrea Wendenburg haben mir den Zugang zu den Beständen des Stadtarchivs Hann. Münden erleichtert, Dr. Erich Böhme zu denen des Stadtarchivs Göttingen; Detlev Herbst hat das Dorfarchiv Volpriehausen für mich geöffnet. Bei der Recherche nach historischen Photographien haben mich unterstützt: Wolfgang Barsky (Städtisches Museum Göttingen), Stefan Schäfer (Stadtarchiv Hann. Münden), Detlev Herbst (Volpriehausen), Silvia Engelhardt (Heimatmuseum Obernfeld), Dieter Wagner (Stadtarchiv Duderstadt, Kreisarchiv Göttingen). Für technische Unterstützung bei der Photobearbeitung danke ich ihnen und Dr. Torsten Näser vom Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Göttingen.

Gisela Baethge und Dr. Helga Zeiher haben Teile des Textes gelesen und konstruktive Kritik geübt. Wolf Rosenbaum war über Jahre ein geduldiger, ideenreicher und kritischer Gesprächspartner und Leser, dem dieses Buch viel verdankt. Evelyn Kraßmann, M.A., hat das Manuskript in eine druckreife Form gebracht. Ihnen allen danke ich vielmals.

Immer bleibt deshalb eine Kindheit im Faschismus eine Kindheit.Peter Brückner1

Einleitung

Fragestellungen

Vor ungefähr 20 Jahren bin ich bei der Vorbereitung eines Seminars zu »Kindheit im 20. Jahrhundert« auf das Thema dieses Buches gestoßen. Ich musste feststellen, dass es nur wenig Literatur über den Alltag von Kindern im Nationalsozialismus gibt. Andere Zeiträume waren damals schon gut erforscht. Vor allem für das Deutsche Kaiserreich lagen viele Untersuchungen vor, die sich mit Kindheit in verschiedenen sozialen Milieus, teilweise auch vergleichend, beschäftigten.2 Für die 1920er Jahre gibt es einige Literatur aus dem Umfeld der sozialreformerischen und sozialistischen Bewegungen,3 für die frühen 1930er Jahre die für die Neue Kindheitsforschung grundlegende Untersuchung von Martha und Hans Heinrich Muchow, die bereits mit teilnehmender Beobachtung gearbeitet haben.4 Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren war zwar nicht umfassend, aber doch relativ gut bearbeitet worden. Dazu haben unter anderem die Shell-Jugend-studien beigetragen, die seit 1953 durchgeführt werden.5 Ausgelöst durch das bahnbrechende Buch von Philippe Ariès über die Geschichte der Kindheit gab es auch in Deutschland einen Boom der sozialhistorischen Kindheitsforschung.6 In den 1980er Jahren entstanden mehrere Studien und es vollzog sich außerdem die Wendung zur Neuen Kindheitsforschung, die den kindlichen Alltag aus der Perspektive der Kinder erforscht und sich dazu ethnographischer Methoden bedient.7 Zur Kindheit in der NS-Zeit liegen viele autobiographische Erzählungen vor sowie etliche Untersuchungen über Schule und Hitler-Jugend.8 Der Alltag der Kinder jenseits dieser Institutionen ist jedoch kaum erforscht worden.9 Angesichts dieser Literaturlage bin ich auf die Idee für ein Forschungsprojekt über »Kinderalltag im Nationalsozialismus« gekommen. Es hat dann noch mehrere Jahre gedauert, einen detaillierten Forschungsplan und -antrag zu entwickeln. Die VolkswagenStiftung hat ihn erfreulicherweise akzeptiert und drei Jahre lang (1999–2002) finanziert.10

Das damals erhobene Material ist Grundlage dieses Buches. Ihm liegen zwei Hypothesen zugrunde:

1. Zum einen gehe ich davon aus, dass im Nationalsozialismus selbst der Alltag der Kinder kein von der Politik verschonter Lebensbereich gewesen ist. Der Nationalsozialismus intendierte, die deutsche Gesellschaft zu revolutionieren. Es ging ihm nicht um eine allmähliche Umgestaltung, sondern um einen radikalen Umbruch. Kontinuitäten sollten aufgebrochen, »alte Zöpfe« abgeschnitten werden. Dieses »Programm« zielte nicht nur auf den grundlegenden Umbau des politischen Lebens und der Arbeitswelt, sondern auch auf das Alltagsleben der Bevölkerung. Der Alltag der Kinder war von diesen Bestrebungen nicht ausgenommen. Ganz im Gegenteil zielte die nationalsozialistische Politik darauf ab, gerade die Jugend für die »Bewegung« zu gewinnen. Die Bildung einer für alle Kinder und Jugendlichen neuen Einheitsorganisation, der Hitler-Jugend, war dafür zweifellos das sichtbarste Zeichen. Hinzu kamen Eingriffe in die Schule (Säuberung der Lehrerkollegien, neue Richtlinien und Rituale, Schulreform). Die neuen Medien, Radio und Film, wurden eingesetzt, um auch die Kinder gezielt propagandistisch zu bearbeiten. Zwar blieb kein Teil des kindlichen Alltags von politischer Beeinflussung vollständig unberührt, die einzelnen Bereiche veränderten sich aber in unterschiedlichem Ausmaß. Den stärksten Zugriff auf die Kinder hatte das Regime zweifellos über die Institutionen Schule und Hitler-Jugend, die für alle Kinder verpflichtend waren. In anderen Bereichen des kindlichen Lebens waren hingegen Umbrüche weniger ausgeprägt oder spürbar, Kontinuitäten augenfällig. Das gilt besonders für das private Leben, das größere Chancen bot, sich gegenüber der Politik und ihren Zugriffen abzuschotten. Gleichwohl blieben weder Familie noch Lektüre, weder Freundschaften und Spiele gänzlich unpolitische Bereiche. Die Kinder lebten unter dem NS-Regime daher eine Kindheit, die in einigen Segmenten an die Kindheitserfahrungen ihrer Eltern anknüpfte, in anderen unterschied sie sich jedoch deutlich davon. Kontinuitäten und Brüche waren eng miteinander verwoben. Während in der Literatur der Fokus überwiegend auf dem Leben der Kinder in der Hitler-Jugend und der Schule liegt, geht es mir in diesem Buch darum, den gesamten Alltag der Kinder zu untersuchen, das heißt gerade auch jene Bereiche zu erfassen, in denen das Leben weitgehend in hergebrachten Bahnen verlaufen ist. Dieses Geflecht aus Kontinuitäten und Brüchen im Alltag der Kinder steht im Zentrum. Kontinuität soll nun nicht heißen, dass alles unverändert geblieben ist. Wandlungsprozesse finden ständig in einer Gesellschaft statt, ohne dass sie Brüche mit den vorangegangenen Entwicklungen darstellen. Als Bruch wird in diesem Buch hingegen eine starke, gravierende Veränderung von Strukturen oder Beziehungen bezeichnet.11 Dabei muss unterschieden werden zwischen Brüchen, die die Kinder selbst als solche wahrgenommen haben, und jenen, derer sie sich vermittelt über die Reaktionen ihrer Eltern auf Ereignisse oder Maßnahmen der Nationalsozialisten bewusst geworden sind.

Die Hypothese von der politischen Durchdringung oder Politisierung des Kinderalltags bedeutet nun nicht, dass sie den Betroffenen auch bewusst gewesen ist. Ganz im Gegenteil widerspricht sie der Einschätzung etlicher Betroffener, von denen manche explizit formulierten, ihre Kindheit sei aber völlig unpolitisch gewesen. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man sich klarmacht, dass die Kinder nichts anderes kannten. Für sie existierten keine alternativen Konzepte und Möglichkeiten des Aufwachsens. Die Politisierung war für sie zum Alltag geworden, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten und Routinen, die für ihn charakteristisch sind. Hinzu kam, dass in vielen Fällen weder Eltern noch andere Erwachsene die politischen Maßnahmen und ideologischen Konstrukte infrage stellten – entweder weil sie selbst von ihnen überzeugt waren oder weil sie sich aus Vorsicht gegenüber den Kindern mit kritischen Bemerkungen zurückhielten.

2. Der Alltag von Kindern ist nun nicht überall gleich. Er unterscheidet sich danach, wo und unter welchen Bedingungen sie aufwachsen, ob auf dem Land oder in der Stadt, ob im Wohlstand oder eher unter kargen Bedingungen, in welchem religiösen und weltanschaulichen Umfeld sie leben. Wenn auch der Nationalsozialismus mit seiner Ideologie und Politik die gesamte Gesellschaft, alle gesellschaftlichen Bereiche und Mitglieder erfassen und durchdringen wollte, befanden sich die verschiedenen sozialen Milieus doch in unterschiedlicher Nähe oder Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie und Politik, waren mithin für die Propaganda unterschiedlich empfänglich. Das gilt entsprechend, so die zweite Hypothese, ebenfalls für den Alltag der Kinder. Weder waren, wie erwähnt, dessen einzelne Teile gleichmäßig von der Politisierung betroffen noch galt das für die verschiedenen Milieus in identischer Weise. In manchen wirkten politische Maßnahmen und die Propaganda auf die Kinder in erster Linie über die Schule ein, in anderen über die Hitler-Jugend, in wieder anderen über das gesamte soziale Umfeld. Kontinuitäten und Brüche prägten deshalb den Kinderalltag in den sozialen Milieus in unterschiedlicher Intensität. Deshalb wurde die Untersuchung so angelegt, dass der Alltag von Kindern exemplarisch in vier verschiedenen sozialen Milieus erforscht und miteinander verglichen werden konnte. Sie unterscheiden sich nach den sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen lebten, der Konfessionszugehörigkeit sowie der (vermuteten) Nähe oder Ferne zum Nationalsozialismus. Konkret handelt es sich um das gehobene bürgerliche Milieu in der mittelgroßen Universitätsstadt Göttingen, das Arbeitermilieu in der Kleinstadt Hann. Münden sowie um zwei ländliche Milieus, die sich in Bezug auf die dominierende Konfession und die Sozialstruktur unterscheiden.12 Mit der Milieuzugehörigkeit lassen sich allerdings nicht alle Unterschiede erklären. Für die je konkrete Gestalt des Kinderalltags spielen weitere Faktoren eine Rolle: die jeweilige Familienkonstellation, die Persönlichkeit des Kindes und vor allem seine Geschlechtszugehörigkeit, die zu einer wichtigen Differenzierung des Alltags der Kinder innerhalb eines Milieus führt, weil in jedem Milieu je spezifische Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit existieren.13 Darauf hat Bourdieu eindringlich hingewiesen: Für ihn ist Geschlecht eine »fundamentale Dimension des Habitus«.14

Diese beiden Hypothesen stehen im Zentrum des Buches. Ihre Überprüfung erlaubt es auch die Frage zu beantworten, welche Bedeutung der Zeit des Nationalsozialismus beim Rückblick auf Kindheit im 20. Jahrhundert zukommt. Für diesen Zeitraum hat die Kindheitsforschung mehrere Entwicklungslinien herausgearbeitet:15

Die zentralen Trends sind Familiarisierung und Scholarisierung. Familiarisierung betont, dass Kinder statt auf der Straße und in der Öffentlichkeit sich mehr und mehr in der Wohnung aufhalten. Die Ergänzung der Familienkindheit durch die Lernkindheit in der Schule wird als Scholarisierung bezeichnet.

Beide Institutionen stehen am Beginn der Institutionalisierung von Kindheit, das heißt des Umstands, dass Kinder zunehmend in speziell für sie geschaffenen und pädagogisch kontrollierten Einrichtungen aufwachsen.

Eng verbunden damit ist die Verhäuslichung. Mit dem Begriff wird die Tendenz bezeichnet, dass Kinder vermehrt in Institutionen und damit in geschützten Räumen leben.

Eine weitere Entwicklungslinie ist die Sakralisierung, die auf die wachsende Bedeutung des Kindes für die Erwachsenen abstellt.

Zur Individualisierung trägt schließlich der Abbau autoritärer Verhältnisse in den Eltern-Kind-Beziehungen zugunsten der Tendenz zum »Verhandlungshaushalt« bei, zugunsten von größerer Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Kindes.

Wie sich die Phase des Nationalsozialismus in diese Entwicklungslinien der Kindheit im 20. Jahrhundert einfügt, soll im Schlusskapitel erörtert werden.

Konzepte und Begriffe

Alltagsforschung richtet ihre Aufmerksamkeit auf das Verhalten der »normalen« Gesellschaftsmitglieder, die als Akteure tagtäglich den gesellschaftlichen Zusammenhang herstellen. Sie grenzt sich dadurch ab von Politikgeschichte, Wirtschafts- oder Strukturgeschichte, in deren Zentrum herausragende Personen, Aktionen, gesellschaftliche Organisationen oder Strukturen stehen. Jeder Mensch tritt mit seiner Geburt in eine bereits existente soziale Welt ein. Er muss sich einfügen in Habitualisierungen und Typisierungen des Verhaltens, die zu vorgegebenen Mustern sozialer Beziehungen geronnen sind. Derartige überindividuelle Muster sind beispielsweise Sprache, soziale Rollen, Normen und Werte, Rechts-, Wirtschafts- und Berufsstrukturen, Herrschafts- und Autoritätsverhältnisse. Sie haben unterschiedliche Reichweite. Es gibt Muster, die in der gesamten Gesellschaft gelten (zum Beispiel Tötungsverbot), andere, die nur im weiteren sozialen Umfeld verbindlich sind (zum Beispiel Solidarität im traditionellen Arbeitermilieu), wieder andere können familienspezifisch sein. Daneben entwickelt jeder Mensch Verhaltensmuster, die nur ihm eigen sind. Er agiert in einem Spannungsfeld verschiedener Verhaltensvorgaben, die ihm unterschiedlich große Verhaltensspielräume gewähren. Er muss sich nicht nur einpassen, sondern gestaltet und verändert durch seine Aktivitäten die überindividuellen Muster, wenn auch in den einzelnen Bereichen des Alltagshandelns in unterschiedlichem Ausmaß.16 So kann ein Kind die Verhaltensmuster in seinem Freundeskreis vermutlich stärker beeinflussen als die in seiner Herkunftsfamilie. In dem durch viele Regeln normierten Schulalltag dürften seine Spielräume noch geringer sein.

Alltagsforschung betreibt nun vor allem die Analyse des fraglos Gegebenen, der routinisierten Verhaltensweisen, des immer Gleichen.17 Zugleich interessiert sie sich aber auch dafür, wie die Akteure die ihnen möglichen Spielräume nutzen, ob sie sie ausfüllen oder gar erweitern. Diese Fragen verfolgt auch das vorliegende Buch. Im Folgenden werden die verschiedenen Teilbereiche und Ebenen des Kinderalltags untersucht: außer den bereits erwähnten von Schule und Hitler-Jugend auch Familien- und Freundschaftsbeziehungen, Raum-Erfahrungen, Körperlichkeit, Spiele und Lektüre, Werte und Normen.

Ein soziales Milieu18 entsteht überall dort, wo über einen längeren Zeitraum Menschen zusammenleben, die die äußeren Bedingungen des Lebens wie Bildungsniveau, ökonomische Position, Einkommen teilen, sich mithin in ähnlicher sozialer Lage befinden. Soziale Lagen sind innerhalb einer Gesellschaft stets über- oder untergeordnet. Auf der Grundlage sozialer Lagen entwickeln die Menschen spezifische Lebensformen, -orientierungen und -verhältnisse. Wenn diese auch an die soziale Lage anknüpfen, so sind sie doch nicht mit ihr identisch. Weitere, insbesondere kulturelle Faktoren spielen für die konkrete Ausgestaltung eine Rolle. Deshalb können auf der Grundlage vergleichbarer sozialer Lagen durchaus unterschiedliche sozio-kulturelle Milieus entstehen.19 So gibt es Unterschiede zwischen bürgerlichen Milieus in Großstadt und Kleinstadt. Innerhalb der Arbeiterschaft können aufgrund von differenten Wertorientierungen verschiedene Milieus entstehen.20 Auf der Basis eines Milieus entwickeln die Menschen Lebensstile, das heißt bestimmte Formen des Konsum-, Bildungs- und Freizeitverhaltens sowie der sozialen Kontakte. Das Milieu ist gleichsam die vermittelnde Instanz zwischen sozialer Lage und einem bestimmten Lebensstil.

Dieser Milieubegriff, so viel dürfte deutlich geworden sein, umfasst mehr als die soziale Lage, so wie sie üblicherweise in Klassen- oder auch Schichttheorien gefasst wird, die sich auf sogenannte »objektive« Kriterien der Lage-Bestimmung wie Stellung im Produktionsprozess, Einkommen, Bildungsniveau oder Ähnliches konzentrieren. Der Begriff unterscheidet sich aber auch von jenem hauptsächlich in der Konsumforschung verwendeten Milieubegriff, der ausschließlich auf den Lebensstil abstellt.21 Wegen der Verbindung von sozialstruktureller Position mit der kulturellen Differenzierung erweist sich der Begriff des sozialen Milieus für die Analyse des Alltagslebens, die auch auf Lebensstile und Lebensführung zielt, mithin auf kulturelle Differenzen, als besonders geeignet. Eine wichtige Rolle kann dabei neben der Geschlechts- und Alterszugehörigkeit auch die Konfession spielen, die in den Untersuchungen zur sozialen Lage ausgeblendet bleibt.22

Für die Analyse des Kinderalltags hat der hier verwendete Milieubegriff den Vorzug, dass mit ihm die unterschiedlichen materiellen und kulturellen Voraussetzungen, unter denen die Kinder ihr Leben beginnen und mit denen sie aufwachsen, deutlich sichtbar werden. Das ist wichtig, weil hier die »ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen« aber auch Restriktionen einbezogen werden, mit dem ihr jeweiliges Herkunftsmilieu sie ausstattet.23

Diese Untersuchung geht von der Hypothese einer weitreichenden Politisierung des Alltagslebens der Kinder aus. Mit dem Begriff »Politisierung« ist nicht nur die explizite politische Unterweisung durch den Nationalsozialismus gemeint, sondern auch die implizite politische Beeinflussung, die beispielsweise durch die Teilnahme der Kinder an Ritualen und Festen stattfand, die in Radiosendungen, in Filmen, in der Lektüre enthalten war, sich in Veränderungen der Sprache niederschlug und zu Orientierungs- und Denkmustern verfestigte. Die politische Sozialisationsforschung unterscheidet dementsprechend zwischen Prozessen manifester und latenter politischer Sozialisation. Sie hat nachgewiesen, dass die in einem lebenslangen Prozess erworbenen »explizit politische(n) Orientierungen und Handlungsweisen am Ende längerer Entwicklungsreihen ›vorpolitischer‹ Einstellungen und Dispositionen«24 stehen, die bereits im familiären Umfeld erworben werden, andere in den Spielgruppen der Kinder, aber auch in den die Kinder organisierenden Institutionen wie Schule, Jugendgruppen und so weiter.25 Politisierung findet mithin durchgängig im Alltag statt.

Hopf/Hopf ziehen aus dieser Erkenntnis die Konsequenz, nicht nur zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen politischer Sozialisation zu unterscheiden, sondern zu berücksichtigen, dass politische Sozialisation auch durch Personen oder »Arrangements« in Gang gesetzt werden kann, die gar nicht explizit politisch sind oder sein wollen. Sie unterscheiden insgesamt vier verschiedene Typen politischer Sozialisation.

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Manifeste und latente politische Sozialisation

Quelle: Hopf/Hopf, S. 12

Zum Typ 1 gehört zweifellos die gezielte politische Indoktrination, sei es in der Schule oder beim »Dienst« in HJ und BDM. Als Beispiel für den Typ 2 lässt sich die Einbindung der Kinder beziehungsweise Jugendlichen in die Hierarchie der Jugendorganisationen anführen, durch die ihnen die Einübung von Gehorsam gegenüber Befehlen frühzeitig antrainiert wurde. Beispiele für den Typ 3 politischer Sozialisation sind die vielfältigen Symbole und Rituale, vom Fahnenappell in der Schule über die Präsenz von Uniformen im Straßenbild bis zum Marschieren im Gleichschritt. Zum Typ 4 gehören Filme, die Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung propagieren26 ebenso wie die Ausgrenzungen von aus der Perspektive des Regimes missliebigen Personen und Ähnliches. Gerade die Typen 2 bis 4, die als Prozesse latenter politischer Sozialisation bezeichnet werden, sind bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben. Das sind aber zugleich diejenigen, deren Wirkung deshalb so tiefgreifend ist, weil sie angeblich oder vermeintlich »unpolitisch« sind oder sein wollen. Sie geraten erst in den Blick, wenn man alle Bereiche oder Ebenen des Alltags der Kinder untersucht. Nur dadurch ist es möglich, auch die eher unterschwelligen Wirkungen der nationalsozialistischen Politik, auf die es dieser Untersuchung besonders ankommt, aufzuzeigen.

Anlage der Untersuchung

Da der Alltag der Kinder im Nationalsozialismus im Zentrum steht, ist es unumgänglich, alle Bereiche des kindlichen Lebens in den Blick zu nehmen. Die Untersuchung ist deshalb sehr breit angelegt. Der kindliche Alltag in den Familien wird ebenso zum Thema wie das kindliche Spiel, die Eroberung des Raums, das Leben in Schule und Hitler-Jugend, der Umgang mit dem Körper sowie Normen und Werte, einschließlich der Religiosität.

Dennoch gibt es Beschränkungen. Von Beginn an wurden zwei Eingrenzungen vorgenommen: Kindheit im Krieg sollte so weit wie möglich ausgeklammert werden. Der Kinderalltag in den Kriegsjahren unterschied sich stark von dem in der sogenannten »Friedenszeit«. Diese Kindheiten wurden nicht nur durch den Nationalsozialismus bestimmt, sondern auch durch den Krieg. Sie waren geprägt durch abwesende Väter, die zum Kriegsdienst eingezogen oder bereits gefallen waren, durch zunehmend eingeschränkten Schulunterricht, durch die Rationierung von Lebensmitteln, durch Bombenalarm, Verdunkelungen, Ernteeinsätze et cetera. Durch die Kriegsjahre haben sich die Bedingungen, unter denen die Kinder aufgewachsen sind, stark verändert.27 Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich deshalb auf die Jahre zwischen 1933 und 1939.

Ausgeschlossen aus der Untersuchung bleibt auch der Alltag von Kindern, die während des Nationalsozialismus aus rassischen oder anderen Gründen verfolgt worden sind.28 Die Lebenssituation der jüdischen Kinder, der von Sinti und Roma sowie anderen verfolgten Bevölkerungsgruppen unterschied sich derart grundlegend von der der »arischen« Kinder, dass es nicht sinnvoll war, sie in diese Studie einzubeziehen. Entsprechendes gilt für Kinder in Anstalten.29

Um den in differenten sozialen Umgebungen unterschiedlich intensiven Zugriff des Nationalsozialismus auf die Kinder untersuchen zu können, wurden vier verschiedene Milieus in vier Orten ausgewählt. Die jeweiligen Kindheiten im lokalen Kontext zu erforschen, erlaubt es, möglichst viele der jenseits des Herkunftsmilieus wichtigen Rahmenbedingungen des Lebens konstant zu halten wie die Größe des Ortes, die räumlichen Gegebenheiten, die Schulverhältnisse, das sonstige kulturelle Angebot sowie die traditionelle politische »Färbung« des Ortes und das dort im Nationalsozialismus herrschende politische Klima.

Für eine historische Alltagsforschung, die auf die Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit durch die Handelnden selbst angewiesen ist, sind Ego-Dokumente30 die geeignete Quelle. Für diese Untersuchung wurden biographische Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen31 geführt. Ihre Auswertung wird durch Archivmaterialien und Sekundärliteratur ergänzt. Im Vergleich zu Autobiographien haben biographische Interviews den Vorzug, dass aufgrund theoretisch-methodischer Überlegungen gezielt Interviewpartner gesucht werden können. Zudem lässt sich das Gespräch auf alle interessierenden Themen und Ebenen lenken, so dass in allen Interviews Erzählungen zu den relevanten Punkten zu finden und sie somit vergleichbar sind. Zwar bilden die Personen, die sich zu einem Interview bereit erklären, immer schon eine spezifische Auswahl. Diese ist aber nicht so hoch selektiv wie bei den Verfassern von Autobiographien.32

Eigene Erinnerungen an die Kindheit reichen bei den meisten Menschen nur bis zum Alter von drei bis vier Jahren zurück. Die ersten Lebensjahre liegen normalerweise im Dunkeln. Wissen darüber stammt aus den Erzählungen anderer Personen, ist Kenntnis aus zweiter Hand. Aber auch die ganz frühen eigenen Erinnerungen sind häufig nur episodisch. Da die erinnerbare Kindheit in den 1930er Jahren liegen sollte, wurden deshalb Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesucht, die zwischen 1923 und 1927 geboren sind. Der Beschränkung auf lediglich fünf Geburtsjahrgänge lag die Überlegung zugrunde, die Erlebens- und Erfahrungsdifferenzen bei den Interviewpartnerinnen und -partnern möglichst gering zu halten. Die Angehörigen des ältesten Jahrgangs haben ihre ersten vier Schuljahre noch in der Weimarer Republik erlebt, für die des jüngsten Jahrgangs begann die Schulzeit erst 1933, als die Nationalsozialisten anfingen, die Schule umzustrukturieren. Die ältesten Zeitzeugen traten 1933 in die Hitler-Jugend ein, als diese in ihrer organisatorischen Struktur noch wenig verfestigt gewesen ist. Die jüngsten wurden 1937 in den Jungmädelbund oder das Jungvolk aufgenommen, zu einem Zeitpunkt also, als fast alle Kinder dieser Jahrgänge bereits dort eintreten mussten. Die ältesten Zeitzeugen beendeten 1937 die Volksschule oder machten 1941/42 das Abitur, die jüngsten wurden 1941 aus der Volksschule entlassen. Diejenigen von ihnen, die die Oberschule besuchten, erhielten lediglich ein Notabitur.

Aus diesen Bemerkungen geht bereits hervor, dass die Entscheidung, den Alltag der Kinder in den 1930er Jahren zu untersuchen, nicht strikt durchgehalten werden konnte. Die Befragten wurden zwar gebeten, ihre Kindheit zu erzählen. Dabei wurde jedoch bewusst offengelassen, wie lange diese gedauert hat.33 Für den Untersuchungszeitraum kann man zwar im Einklang mit der Literatur das Ende der Kindheit bei circa 14 Jahren ansetzen.34 Die ganz überwiegende Mehrheit der Kinder beendete in diesem Alter die Schule, passierte die Übergangsriten Konfirmation, Firmung oder Jugendweihe und trat ins Berufsleben ein. Damit waren sie der Kindheit tatsächlich entrückt, wenn man darunter jene Lebensphase versteht, in der das »Leben sozial wesentlich in der Familie wurzelt«35. Die jüngsten Befragten wurden erst 1941 14 Jahre alt, so dass ihre Kindheit noch zwei Kriegsjahre umfasste. Für diejenigen, die die Oberschule besuchten, bedeutete das Alter von 14 Jahren hingegen keinen Bruch. Bei ihnen dauerte die Kindheit länger und reichte selbst bei den Älteren bis in den Krieg hinein. Das zeigt sich auch an ihren Äußerungen zu diesem Thema. Aus diesem Grunde wird die Grenze zwischen Kindheit und Jugend flexibel gehalten, wenn auch der Schwerpunkt bis zu einem Alter von circa 14/15 Jahren liegen wird. Der gelegentlich verwendete Begriff »ältere Kindheit« meint Kinder ab dem zwölften Lebensjahr.36

Ingesamt wurden 52 Interviews geführt, von denen 48 für diese Untersuchung ausgewertet wurden.37 Die Interviews verteilen sich folgendermaßen nach Geschlechtszugehörigkeit und Wohnort:

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Die meisten Interviews erstreckten sich über zwei Termine. In Einzelfällen waren auch mehr notwendig. Die Interviews sind überwiegend sehr lang. Die Transkripte umfassen circa 5.700 Seiten. Den Zugang zu den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben Kontaktpersonen in den einzelnen Orten ermöglicht. Einige Interviews kamen durch die Vermittlung von Befragten zustande. Um unabhängige Interviews zu erhalten, wurde bewusst auf Gruppendiskussionen verzichtet und ausschließlich Einzelinterviews geführt.38 Erhebungszeitraum waren die Jahre 2000 und 2001.

Wegen der den Zeitzeugen zugesicherten Anonymität wurden nicht nur die Namen der Befragten verändert, sondern auch die von Freunden und Bekannten, ebenso Verwandtschaftsbeziehungen und Ortsnamen, wenn dadurch Rückschlüsse auf die Identität des Interviewpartners möglich gewesen wären. In mehreren Fällen musste zusätzlich für den Beruf des Vaters, gelegentlich auch den der Mutter, ein Ersatz gefunden werden. Das war dann unumgänglich, wenn es sich um eine sehr besondere oder auch einzigartige Position handelte, durch deren Nennung der Zeitzeuge identifizierbar geworden wäre. Ein derartiger Vaterberuf prägte allerdings die Kindheit der jeweiligen Befragten und verlieh ihr eine spezifische Färbung. Durch die Anonymisierung geht daher auch ein Stück Information verloren. Das musste in Kauf genommen werden.

Aus forschungspraktischen Gründen wurden Orte im südlichen Niedersachsen ausgewählt. Die Nähe zu den Orten und zu vielen dort noch lebenden Zeitzeugen, aber auch zu den Archiven war dafür ausschlaggebend. Der Alltag der Kinder im gehobenen bürgerlichen Milieu wurde in der Stadt Göttingen untersucht. Zu ihnen gehörten neben den Familien von Unternehmern und Geschäftsleuten auch viele bildungsbürgerliche Familien. Die Analyse des Kinderalltags im Arbeitermilieu konzentrierte sich auf die Stadt Hann. Münden, die über eine längere industrielle Tradition und eine starke Arbeiterbewegung verfügte. Für die Auswahl der beiden Dörfer spielte neben den konfessionellen Verhältnissen vor allem ihre Größe eine Rolle.39 Das protestantische Dorf liegt im Solling, das katholische im Eichsfeld. Im Grunde besteht diese Studie also aus der Kombination von vier kleineren »Lokalstudien«. Dieser Begriff darf nicht missverstanden werden. Zum einen werden die örtlichen Bedingungen nur insoweit dargestellt, als sie für die Fragestellung relevant sind. Zum anderen wird jeweils nur ein Milieu pro Ort untersucht, die anderen dort noch existenten werden ausgeklammert. Durch die Konzentration auf je einen Ort ergibt sich aus den Interviews ein dichtes Bild der jeweiligen sozialen und politischen Verhältnisse, aber auch der Kinder untereinander. Mehrere Interviewpartnerinnen und -partner waren als Kinder miteinander befreundet, wohnten in der Nachbarschaft oder kannten sich aus der Schule. Sie trafen sich nachmittags zum Spielen, später beim Konfirmandenunterricht oder bei der Vorbereitung auf Kommunion oder Firmung oder auch, wie die bürgerlichen Kinder, in der Tanzstunde. In einzelnen Interviews gibt es Hinweise oder Informationen, die die Erzählungen der anderen Befragten ergänzen, gelegentlich auch konterkarieren und zu einer anderen Perspektive auf bestimmte Ereignisse führen können.

Obwohl durch dieses Untersuchungsdesign viele Variablen konstant gehalten werden können, sind die Ergebnisse nicht repräsentativ. Viele andere existierende Milieus, wie beispielsweise bürgerliche, kleinbürgerliche und Arbeitermilieus in Großstädten, sind nicht repräsentiert. Deshalb können keinesfalls Aussagen über die bürgerliche Kindheit oder die Arbeiterkindheit getroffen werden. Selbst die beiden Dörfer waren so unterschiedlich strukturiert, dass sich Aussagen über die Kindheit auf dem Lande verbieten. Wie bei jeder Lokalstudie muss genau abgewogen werden, welche Ergebnisse verallgemeinerbar und welche den lokalen Besonderheiten geschuldet sind.

Es wird bewusst darauf verzichtet, die Ergebnisse dieser Untersuchung in Zusammenhang mit der Debatte um politische Generationen zu diskutieren. Die Interviewpartnerinnen und -partner gehören zwar zu jenen Jahrgängen, die in der Literatur zu einer der politischen Generationen des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Auch wenn sich alle Autorinnen und Autoren auf den grundlegenden Aufsatz von Karl Mannheim40 beziehen, variieren die Einteilungskriterien und Bezeichnungen doch erheblich.41 Im Zentrum aller Klassifikationsbemühungen steht die Frage nach den Folgen der Generationszugehörigkeit für Orientierungen und Wertvorstellungen sowie das politische Handeln der Betroffenen und dessen Auswirkungen auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands. Damit verbunden ist eine intensive Debatte über den Begriff der Generation, seine Begrenzung auf Männer, die Möglichkeit, Frauen einzubeziehen, seine Reichweite und seinen analytischen Gehalt.42 In dieser Untersuchung steht hingegen der Alltag der Kinder im Zentrum, vor allem dessen Prägung durch die politischen Verhältnisse, durch die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda. Das spätere Leben der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen interessiert hier nicht. Das gilt insbesondere für Fragen nach den mentalen Besonderheiten, die aus ihren zwar nicht identischen, aber ähnlichen Erfahrungen resultieren, die sie als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene geteilt haben. Auch ob und wie sie sich als Erwachsene politisch verhalten haben, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Probleme der Generationsbildung oder -zugehörigkeit bleiben deshalb ausgeklammert.

Für die Interviews wurde mit einer Kombination aus narrativem und offenem Leitfadeninterview gearbeitet.43 Zwar bietet das offene Leitfadeninterview den Befragten bereits Gelegenheit, durch freies Erzählen thematische Schwerpunkte zu setzen. Um die Interviewpartnerinnen und -partner möglichst viel ungestört erzählen zu lassen, wurde es durch einen narrativen Teil ergänzt. Mit der durch einen Erzählimpuls hervorgerufenen Stegreiferzählung begann das Interview. Sie bietet den Vorzug, dass in ihr allein die Befragten die Relevanzen festlegen und dabei »Leitlinien des Erzählens«44 entwickeln, die Aufschluss über das Selbstbild und die Interpretation der Lebensgeschichte geben. Daraus konnten wichtige Informationen für die Interpretation der anderen Teile des Interviews gewonnen werden.

Da diese Untersuchung zu einem erheblichen Teil auf Interviews mit Personen im Alter zwischen 73 und 78 Jahren beruht, die gebeten wurden, die Geschichte ihrer Kindheit zu erzählen, stellt sich die Frage, woran Menschen sich überhaupt erinnern können?

Lebensgeschichtliches Erinnern, und darum handelt es sich bei den Interviews, ist keinesfalls identisch mit dem Leben, so wie es tatsächlich abgelaufen ist. Das Gedächtnis, auf das die Erinnerungen angewiesen sind, ist kein Speicher, in dem jeder Gedanke, jedes Gefühl und Ereignis des Lebens abgelegt wird und aus dem er/es auch wieder unverändert abgerufen werden kann. Vielmehr arbeitet das Gedächtnis hochgradig selektiv. Nicht alles Erlebte, Gedachte, Gehörte ist der Erinnerung zugänglich. Zwar besitzt jede Person ein individuelles Gedächtnis. Dies entsteht und wird in starkem Maße geprägt durch die sozialen Gruppen und Zusammenhänge (Familie, Schule, Berufs- und Freundesgruppen et cetera), in denen sie lebt und an denen sie partizipiert. Die Gruppen selbst entwickeln ein kollektives oder soziales Gedächtnis, das auf der gruppeninternen Kommunikation basiert.45 Das individuelle Gedächtnis entsteht in der Kommunikation und Interaktion mit den Gruppenmitgliedern.46 Bei seiner Genese spielt Sprache eine große Rolle. Sie ist »Elixier« des sozialen Gedächtnisses.47 Im Gedächtnis bleibt nur das, was im Rahmen der jeweiligen sozialen Gruppe bedeutsam ist.48 Von ihr übernehmen wir »Bilder, Vorwissen, Schemata, soziale Bezüge« die unsere Wahrnehmung steuern.49 Das individuelle Gedächtnis entsteht und partizipiert also an den kollektiven Gedächtnissen der verschiedenen sozialen Gruppen, denen die Person angehört. Es ist stets »sozial grundiert«50. Halbwachs spricht vom individuellen Gedächtnis als dem »Ausblickspunkt« auf das kollektive Gedächtnis der jeweiligen sozialen Gruppen.51 Die Individualität des Gedächtnisses resultiert aus der für die jeweilige Person spezifischen Kombination von Gruppenzugehörigkeiten und deren Verarbeitung.52

Erinnert wird generell, was einen starken Eindruck hinterlassen, uns emotional berührt hat. Die erwähnte Bedeutung der Dinge oder Ereignisse, die Eingang in das Gedächtnis finden, beruht zentral auf dem emotionalen Gehalt, der mit ihnen verbunden ist.53 Nur was Zugang zum Gedächtnis gefunden hat, ist erinnerungsfähig. Das betrifft nicht nur das eigene Erleben, sondern auch alles, was man gehört, über das man gesprochen, selbst das, was man sich vorgestellt oder geträumt hat.54 Unser Gedächtnis und unsere Erinnerungen sind Teil der Identität der Person. Erinnerungen, so Aleida Assmann, stärken unsere Identität und umgekehrt.55

Aus der starken Bedeutung sozialer Gruppen und der Kommunikation für Gedächtnis und Erinnerung ergibt sich der Gegenwarts- und Zukunftsbezug des Gedächtnisses.56 Was und wie erinnert wird, resultiert aus den jeweiligen aktuellen Rahmen, in denen Erinnerung stattfindet oder durch die sie provoziert wird. Erinnerung wird mithin von der Gegenwart her rekonstruiert.57

Erinnern erfolgt also stets retrospektiv und perspektivisch. Das hat Konsequenzen für die Arbeit mit Interviews als Quelle wissenschaftlicher Untersuchungen. Zum einen bestimmt die Situation zum Zeitpunkt des Erlebens darüber, ob und wie sie erinnert werden wird. Hochgradig peinliche oder angstbesetzte Situationen oder Erlebnisse werden verdrängt und können erst in der therapeutischen Situation wieder erinnerungsfähig gemacht werden. Zum anderen hat die sich erinnernde Person bis zu dem Zeitpunkt der Erinnerung spezifische Reifungs- und Veränderungsprozesse durchlaufen. Das bedeutet dreierlei: Zwischen der Erinnerung und dem Erinnerten besteht ein zeitlicher Abstand. Die sich erinnernde Person hat sich verändert. Schließlich erfolgt die Erinnerung in einer bestimmten, mit spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern verknüpften Situation, die der Erinnerung eine besondere Färbung gibt. Man könnte auch formulieren: Ebenso wie Wahrnehmung ist auch Erinnern ein Interpretations- und Konstruktionsprozess. Darauf hat Jureit deutlich hingewiesen: Durch den normalerweise längeren Zeitraum zwischen historischem Ereignis und dem Bericht darüber finde möglicherweise ein Jahrzehnte währender »Umarbeitungsprozess« statt, in dem einzelne wichtige Ereignisse immer wieder reflektiert und aufgrund kultureller Veränderungen und politischer Diskussionen neu bewertet würden. Infolgedessen verschmelze die »eigene Erinnerung mit den aktuellen gesellschaftlichen Diskursen«58. Mit anderen Worten: In biographischen Interviews wird nicht nur individueller, sondern auch kollektiver Sinn produziert. Die sich erinnernde Person muss in dem Fundus ihrer Erinnerungen suchen, bestimmte Ereignisse hervorholen und in eine für sich sinnvolle Abfolge bringen. Dem Erlebten ist ein bestimmter Sinn nicht per se inhärent, sondern dieser wird ihm beim Erzählen »aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart erst nachträglich zugeschrieben«59. Die erinnerte Lebensgeschichte ist somit stets das Ergebnis eines vielschichtigen Interpretations- und Kompositionsprozesses und insofern stets Konstruktion, genauer: Sinnkonstruktion des eigenen Lebens. Man könnte auch sagen, das sich erinnernde Subjekt erschafft sich erst »aus der rückblickenden Perspektive die individuelle Vergangenheit bis zu einem gewissen Grade ...«60.

Besonders gegenüber Kindheitserinnerungen als Quelle wird der Einwand fehlender Authentizität erhoben. Sie sind ja, wie Fuchs treffend formuliert hat, zunächst einmal Erinnerungen des Erwachsenen an seine Kindheit.61 Die Frage, ob und in welchem Maße wir mit der Analyse von Kindheitserinnerungen Zugang zu der vergangenen Welt der Kinder, ihren Perspektiven und Wahrnehmungen finden können, hat Heinritz entschieden verneint.62 Ihr Hauptargument bezieht sich auf die zeitliche Distanz des sich Erinnernden zu seiner Kindheit und die dadurch erfolgten Überlagerungen und Umdeutungen. Sie formuliert dezidiert, dass beispielsweise in autobiographischen Kindheitserinnerungen keine Antwort auf die Frage gefunden werden könne, wie Kinder sich selbst und die Welt erfahren und wie sie den Prozess ihres Heranwachsens erlebt haben, sondern nur, wie die Verfasser dieser Erinnerungen (als Erwachsene) diesen Prozess sehen.63 In diesem Zusammenhang ist es meines Erachtens unbedingt notwendig, entsprechend dem Alter der Kinder zu differenzieren. Es wurde bereits erwähnt, dass die Geschehnisse bis zum Alter von drei bis vier Jahren der Kindheitsamnesie zum Opfer fallen. Es ist unerheblich, ob dies auf Verdrängung oder einer Umorganisation des Gedächtnissystems beruht.64 Entscheidend ist, dass lediglich ausnahmsweise Erinnerungen an die ersten Lebensjahre vorhanden sind. Auch aus der Vorschulzeit existieren oft nur streiflichtartige Erinnerungen. Spätere Kindheitsphasen, ungefähr seit dem Schulbeginn, können jedoch viele Personen relativ gut erinnern und ihre Lebenssituation ebenso wie ihre kindliche Perspektive auf ihre Welt und deren Ereignisse in der mündlichen Erzählung reproduzieren. Das hat offensichtlich damit zu tun, dass Grundschulkinder bereits in der Lage sind, ihr Leben, zumindest ansatzweise, zu reflektieren, auch wenn ihnen (noch) eine umfassende Perspektive auf Vergangenheit und Zukunft fehlt. Erwachsene sind daher zumindest teilweise sehr wohl in der Lage, bei der Erzählung zu differenzieren zwischen ihrer kindlichen Perspektive und Erlebnisweise und ihrer heutigen Sicht und Beurteilung dieser Ereignisse oder Verhaltensweisen.65 Das gilt sicher nicht immer und generell, aber doch zumindest für besonders prägende Erlebnisse. Außerdem sind Kindheitserinnerungen normalerweise selten politisch brisant, so dass die erwähnte Um- und Überformung durch gesellschaftliche Diskurse zwar auch nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann, aber weniger gravierend sein dürfte als im Falle der Erinnerungen von Überlebenden an ihre Zeit in Konzentrationslagern – ein Beispiel, das Jureit anführt.66

Hinzu kommt: Kindheitserinnerungen sind in erheblichem Maße Erinnerungen an Alltägliches. Sie haben daher meist keine relevante Bedeutung für individuelle Sinngebung und Rechtfertigung.67 Deshalb gilt für sie, was Niethammer hinsichtlich des Aussagewerts von Oral-History-Interviews für alltagsgeschichtliche Fragestellungen feststellt: Routinen und Gegenstände des Alltags »haben sich durch dauernde Wiederholung ins Gedächtnis eingeschrieben und lagern dort offenbar in einer Art Latenzzustand, der ihre Unschuld bewahrt, weil sie nicht interpretiert werden müssen, sondern gesucht und im Wiederauffindungsfalle beschrieben werden können«.68 Das zeigt sich auch an den Widersprüchen in manchen insgesamt durchaus konsistenten Lebensgeschichten. Bei den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ihre Kindheit im Dritten Reich erlebt haben, finden sich nicht selten begeisterte Schilderungen über ihre Zeit in der Hitler-Jugend neben solchen, in denen sie ihre »kritische« Haltung gegenüber dem Regime hervorheben. Dieses Erzählmuster verdankt sich der realen »Pendelbewegung«, die die Befragten in ihrer Kindheit zwischen den verschiedenen Lebensbereichen vollführt haben. Einerseits lebten sie in der äußeren Welt von Schule und Hitler-Jugend, in der ihnen eine glorreiche Zukunft suggeriert wurde, andererseits in der Welt der Familie, in der unter Umständen ganz andere Werte und Perspektiven vermittelt wurden. Die Tatsache, dass diese Pendelbewegung sich in den Interviewerzählungen abbildet, ist ein weiteres Indiz für die in der Gesprächssituation mögliche Annäherung an das kindliche Erleben.69

Man kann in biographischen Interviews daher durchaus der kindlichen Weltsicht und Perspektive nahe kommen. Hier geschieht es auch häufiger, dass die befragte Person gleichsam in die Rolle des Kindes schlüpft und sie spontan nachspielt. In der Literatur wird dieses Phänomen unter dem Stichwort »spontane szenische Darstellung« behandelt. Schon Hareven konstatierte, bei Kindheitserinnerungen »the individual slips back into the past and vibrantly recounts earlier episodes without any consciousness of the present«.70 Möglicherweise hat das damit zu tun, dass Kindheitserinnerungen sich dem Gedächtnis deshalb besonders intensiv einprägen, weil sie zu den ersten Erfahrungen des Subjekts gehören, die noch nicht durch eine Fülle anderer Erfahrungen gefiltert und überlagert worden sind. Eine weitere Strategie, möglichst dicht an die ursprünglichen Erfahrungs und Erlebniszusammenhänge heranzukommen, besteht darin, den Interviewten betont die Rolle des Experten oder Zeitzeugen zuzuweisen und sie dadurch zu ermuntern, zwischen ursprünglicher kindlicher Erfahrung und ihrer heutigen Sicht zu differenzieren.71

In den Erzählungen der Befragten finden sich gelegentlich Redewendungen wie »Das fällt mir jetzt gerade ein!« oder »Daran habe ich schon lange nicht mehr gedacht!«. Sie sind Hinweise auf den Prozess des Erinnerns, in dem plötzlich Ereignisse bewusst werden, die lange in der Latenz verblieben waren. An ihnen zeigt sich, dass das in der Untersuchung gewählte Verfahren, das offene Leitfadeninterview mit einer zum narrativen Interview gehörenden Stegreiferzählung zu beginnen, gut funktioniert hat. Speziell bei ihr wirken »Zugzwänge des Erzählens«72, die den Erzähler dazu stimulieren, tief in die Vergangenheit einzutauchen. Sie zwingen ihn zudem, eine in sich konsistente Geschichte zu erzählen, die Episoden und Gefühle enthalten kann, die in einer schriftlichen Autobiographie der Selbstzensur zum Opfer fallen würden.

Trotzdem bleibt die Tatsache einer Diskrepanz von gelebtem und erzähltem Leben. Hinzu kommt, dass die Interviewpartnerinnen und -partner nicht alles, was sie in den Interviews erzählten, selbst erlebt haben. Teilweise waren sie unmittelbare Zeugen der Geschehnisse, andere wurden in den Familien besprochen, wieder andere kannten sie nur vom Hörensagen. Aufgrund der Interviews können diese differenten Ebenen der Wahrnehmung nicht immer unterschieden werden. Das ist auch nicht so wichtig, weil meines Erachtens die Prägung der Atmosphäre durch die politischen Ereignisse entscheidend ist, und die findet in jedem Fall statt. Anders ist das mit der Schilderung von Geschehnissen, von denen die Befragten erst später, durch Lektüre, Erzählungen anderer et cetera, erfahren haben. Dieser Prozess der Aufschichtung lässt sich schwer nachvollziehen. Zusätzlich hat die spezifische soziale Situation beim Interview Einfluss auf die Erinnerungsleistung. Sympathie und Antipathie zwischen Interviewtem und Interviewer spielen eine Rolle,73 ebenso ob die befragte Person über ausreichend Selbstbewusstsein verfügt, um ihr Leben als etwas Besonderes zu empfinden. Es kommt vor, dass sie sich durch die Situation herausgefordert fühlt, ein möglichst spannendes Leben zu präsentieren. Dann können Erinnerungen ausgeschmückt, geschönt, geglättet, auch ergänzt werden.74 Das alles kann eine Rolle spielen und verlangt sorgfältigen Umgang mit den Interviews als Quelle für eine wissenschaftliche Untersuchung. Quellenkritik ist hier ebenso wie bei anderen Quellen unumgänglich.75 Ebenfalls dürfen Äußerungen in Interviews nie für sich allein genommen, sondern müssen stets im Zusammenhang des Gesamtinterviews interpretiert werden. In der vorliegenden Untersuchung bot sich neben dem Abgleich mit Archivmaterialien auch der mit den anderen Interviews aus demselben Ort an, die zusammengenommen ein dichtes Bild von den lokalen Verhältnissen und Ereignissen zeichneten. Hinzu kommt die Überprüfung durch die Literatur.76

Da von den Zeitzeugen aus dem gehobenen bürgerlichen Milieu Göttingens die meisten und umfänglichsten Interviews vorliegen, lag die Entscheidung nahe, deren Alltag zum Zentrum dieses Buches zu machen. Dieses Kapitel ist nicht nur wegen der vielen und ergiebigen Interviews am umfänglichsten, sondern auch, weil hier ein großer Teil der relevanten Literatur eingearbeitet worden ist. Die Darstellung des kindlichen Alltags in den anderen Orten und Milieus, der in den folgenden Kapiteln behandelt wird, bezieht sich auf die Ergebnisse aus dem Göttinger Bürgertum, enthält aber teilweise auch schon Vergleiche mit den weiteren Orten und Milieus. Alle Kapitel sind, von leichten Modifikationen abgesehen, einheitlich gegliedert. Jedes beginnt mit einer knappen Darstellung des Ortes und seiner Besonderheiten sowie einer Charakterisierung der Familienverhältnisse, in denen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufwuchsen. Daran schließen sich die Analysen der verschiedenen Ebenen des kindlichen Alltags an. In einem Schlusskapitel werden die Ergebnisse zu den einzelnen Orten und Milieus zusammengefasst und miteinander verglichen. Die im Buch reproduzierten Photographien stammen aus allgemein zugänglichen Quellen. Um die Anonymisierung nicht zu gefährden, wurde bewusst darauf verzichtet, Bilder aus dem Besitz der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu verwenden.

TEIL I

Kinderalltag im bürgerlichen Milieu

1.Der Ort – Die Universitätsstadt Göttingen1

Göttingen war 1933 mit 47.000 Einwohnern eine der zahlreichen deutschen Mittelstädte. Die Stadt gehörte zur preußischen Provinz Hannover und hatte, wie noch heute, als bedeutendste Stadt Südniedersachsens die Funktion eines Oberzentrums. Göttingen wurde entscheidend geprägt durch die rund 200 Jahre alte, 1737 gegründete Universität, die der Stadt ökonomischen und geistigen Aufschwung verschafft hatte. Gegen Ende der Weimarer Republik zählte die Universität um die 4.000 Studenten.2 Trotz der Universität blieb Göttingen lange eine Ackerbürgerstadt, in der viele Einwohner noch Garten- und Ackerland bestellten.3 Diesen Charakter konnte die Stadt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts abstreifen.4 Dazu trugen sowohl der Anschluss an das Eisenbahnnetz im Jahre 1854 bei, der die Entwicklung der Stadt enorm förderte, als auch die Ablösung der Hut- und Weiderechte sowie die Verkoppelung in den 1880er Jahren.5 Hatte die Einwohnerzahl in den rund 30 Jahren zwischen 1822 und 1855 nur unerheblich zugenommen, so verdoppelte sie sich nahezu zwischen 1861 und 1890.6 Nach der Reichseinigung setzte zudem, wie in vielen anderen Städten auch, eine rege Bautätigkeit ein. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden nicht nur die Universitätsklinken ausgebaut, das neue Gebäude für das Gymnasium und das Stadttheater errichtet, sondern auch das Gebiet im Osten der Stadt als Wohnquartier erschlossen. Es entwickelte sich zur bevorzugten Wohngegend für Professoren und andere Angehörige des gehobenen Bürgertums.7

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Abb. 1: Göttinger Innenstadt gegen Osten

(Quelle: Städtisches Museum Göttingen)

Obwohl die Stadt verkehrsgünstig lag und über eine Anbindung an die Eisenbahn verfügte, hatte die Industrialisierung sehr spät eingesetzt und kaum Großbetriebe entstehen lassen. Die Zahl der Handwerksbetriebe blieb hoch. Seit der Jahrhundertwende waren vor allem industrielle Klein- und Mittelbetriebe entstanden, deren Gründung in engem Zusammenhang mit der Universität stand. Zentrale Produktionsbereiche waren Feinmechanik und Optik, Elektro- und Messtechnik, Laboreinrichtungen sowie Verlage und Druckereien. Zu den wenigen größeren Betrieben zählten das Aluminiumwerk in Weende und das Ausbesserungswerk der Reichsbahn.8

Weitaus bedeutender als die Beschäftigung in den Industriebetrieben war jene im tertiären Sektor (öffentlicher Dienst und private Dienstleistungen sowie Handel und Verkehr), in dem 1933 60 Prozent der hauptberuflichen Erwerbspersonen beschäftigt waren (gegenüber 28 Prozent in Industrie und Handwerk).9 Aus diesen Angaben lässt sich bereits erkennen, dass in Göttingen die »klassische« Industriearbeiterschaft nicht sehr umfangreich gewesen ist. Aus der spezifischen Wirtschaftsstruktur dürfte sich unter anderem auch der niedrige gewerkschaftliche Organisationsgrad erklären. Dennoch gab es neben einem breiten Spektrum sozialdemokratischer Vereine (vor allem Sportvereine) seit 1919 eine SPD-eigene Zeitung, das Volksblatt, sowie seit 1921 ein eigenes Gewerkschaftshaus, das Volksheim, als Zentrum der Aktivitäten.10 Der hohe Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor verweist auf die große Bedeutung der Universität für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Stadt. Göttingen hatte in der Weimarer Republik einen überproportional hohen Anteil an Angestellten und Beamten, das Anderthalbfache des Reichsdurchschnitts.11

Eine weitere Besonderheit der Göttinger Sozialstruktur lag in der großen Gruppe der »Berufslosen Selbstständigen«, vornehmlich wohlhabende Pensionäre, die sich die Stadt als Altersruhesitz ausgesucht hatten. 1933 gehörten zu dieser Gruppe 9.170 Personen (ohne Angehörige). Die Bedeutung dieser Zahl erschließt sich erst, wenn man sie in Beziehung setzt zu den 18.772 Erwerbspersonen Göttingens.12 Der Anteil der »Berufslosen Selbstständigen« war doppelt so hoch wie im Reichsdurchschnitt.13 1939 waren 5.700 Soldaten in der Stadt stationiert. Diese untypische Sozial- und daraus resultierende Altersstruktur hatte eine unterdurchschnittliche Arbeitslosigkeit zur Folge. Aus der amtlichen Statistik ergibt sich für 1933 eine Quote von 15,3 Prozent, während der Reichsdurchschnitt erheblich höher lag.14 Göttingen war seit dem Kaiserreich in erster Linie eine Universitäts- und Beamtenstadt.

Das gehobene Göttinger Bürgertum, zu dem die Familien der Zeitzeugen gehörten, bestand aus zwei Fraktionen, dem Wirtschafts- und dem Bildungsbürgertum. Da es in Göttingen kaum Großbetriebe und daher auch wenige große Vermögen gab, bildeten die Eigentümer mittlerer und größerer Geschäfte und Unternehmen den Kern des Wirtschaftsbürgertums. Zum Bildungsbürgertum zählten alle diejenigen Personen, die eine akademische Ausbildung genossen, das heißt ein Universitätsstudium absolviert hatten, das Grundlage ihrer Berufstätigkeit und ihres Einkommens war.15 Das Bildungsbürgertum umfasste also selbstständige und unselbstständig arbeitende Akademiker. Es reichte von den Angehörigen der Freien Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte) bis zu den höheren Beamten. Eine besondere Gruppe innerhalb der höheren Beamten bildeten in Göttingen die Universitätsprofessoren. Obwohl ihre Zahl nicht sehr groß war (im Wintersemester 1932/33: 156)16, betrachteten sie sich eindeutig als soziale Elite. Dieses Bewusstsein war trotz der relativen Verarmung des Bildungsbürgertums in der Weimarer Republik infolge von Krieg, Nachkriegszeit, Inflation und schließlich der Sparpolitik der Reichsregierung am Ende der Weimarer Republik, von der die Professoren nicht ausgenommen wurden, ungebrochen.17 Obwohl viele Angehörige des Bildungsbürgertums ökonomisch mit den wohlhabenden Geschäftsleuten nicht mithalten konnten, betrachteten sie sich als sozial hochrangiger und vermieden den gesellschaftlichen Kontakt mit ihnen.18 Die Universität bildete eine »geschlossene Gesellschaft in der Gesellschaft«19.

Die überaus prägende Bedeutung der Universität für Göttingen und die Anziehungskraft der Stadt für wohlhabende Pensionäre schlug sich auch im Ausbau der Stadt nieder. Professoren und Pensionäre ließen sich bevorzugt im am Hang gelegenen und an den Wald angrenzenden Ostviertel nieder, das seit dem Kaiserreich rasch gewachsen war.20 Die Konzentration der »Bildungsbürger« im Ostviertel verstärkte die Abkapselung der Universität und ihrer Angehörigen gegenüber der Stadt und den anderen Einwohnern. In der Innenstadt wohnten neben den »kleinen Leuten« vor allem die Geschäftsleute. Soweit ihr Wohlstand es erlaubte, versuchten sie, in »bessere« Gegenden umzuziehen.21

Die Erzählungen der Personen, die viele Jahre ihrer Kinderzeit in Göttingen verbrachten, ergänzen diese Schilderung. Sie zeichnen das Bild einer insgesamt sehr beschaulichen Mittelstadt, deren Lebensverhältnisse sich von jenen in den modernen Großstädten dieser Zeit stark unterschieden. Dass sich daraus dennoch kein Gesamtbild der Stadt herstellen lässt, ergibt sich vor allem aus der sehr homogenen sozialen Herkunft unserer Befragten. Sie wohnten entweder in der Innenstadt oder in den »besseren« bürgerlichen Wohnvierteln außerhalb des Walls. Bestimmte Stadtteile haben sie nie betreten. Hinzu kommt, dass sie einen sehr bürgerlichen Blick auf Göttingen haben.

Während der Dreißiger Jahre waren die Verkehrsverhältnisse in Göttingen noch recht beschaulich. Die Verbindung nach und von außen wurde vor allem durch die Eisenbahn gewährleistet. 1938 fuhren täglich 77 Züge vom Göttinger Bahnhof ab.22 Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs war auch das Autobusnetz ausgebaut worden, vor allem in Richtung Osten und Südosten. Allerdings wurden die einzelnen Linien meist nur einmal täglich befahren. Der 1925 in Gang gekommene, 1927 von der Kommune übernommene innerstädtische Busverkehr befand sich ebenfalls auf einem sehr bescheidenen Niveau.23 Gegenüber dem Anfang des Jahrhunderts war die Zahl der PKWs von sechs (1907) auf 1.360 (1939) angewachsen. Das bedeutet aber auch nur eine Relation von 27 Autos auf 1.000 Einwohner.24 Der Besitz eines Autos war also noch überaus selten und infolgedessen ein wichtiges Statussymbol, das in den Erzählungen einiger Befragter, deren Eltern ein Auto besaßen, daher auch gleich zu Beginn als etwas sehr Besonderes thematisiert wurde (Reinecke, 87; Jung, 38).

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Abb. 2: Die von Autos freie Innenstadt. 1. Mai 1935

(Quelle: Städtisches Museum Göttingen)

Der Transport von Lasten erfolgte noch häufig durch Pferdefuhrwerke. Mit ihnen brachten die Bauern ihre Erzeugnisse auf den Markt und in die Geschäfte. Auch schwere Lasten wie Holz wurden damit transportiert. Alltäglich im Stadtbild waren Pferdefuhrwerke, die die Gastwirtschaften mit Bier und Stangeneis belieferten. Rolf Pieper erinnerte sich:

»Also das war doch eine enge Welt und ja, wenn man so die Kurze Geismar, da gab’s ja noch diese Ausspannwirtschaften. Es war zwar nicht so furchtbar viel benutzt, aber es kamen durchaus immer noch die Pferdefuhrwerke vom Land, also zum Markt bestimmt, und aber auch so zum, zum, zum Einkaufen. Das war also bis zum Krieg durchaus ’n selbstverständliches Bild, denn Autos waren ja doch sehr wenige auf der Straße und insofern konnte man also ungehindert auf der Straße spielen, auch, gut. Der Friedländer Weg dort vorne, kann sein, dass der schon eine Asphaltdecke hatte, aber ansonsten war Kopfsteinpflaster überall.« (Pieper, 1270–1282)25

Erinnerungen an Pferde und Pferdefuhrwerke finden sich fast ausschließlich bei den in der Innenstadt aufgewachsenen Kindern. Die Faszination, die für sie von den Pferden ausging, führte Dora häufig zu einer nahe beim Elternhaus gelegenen Spedition und einem Viehhändler (Markwart, 3643). Karl-Heinz Jung hingegen träumte als Kind davon, selbst auf dem Kutschbock zu sitzen und realisierte sich diesen Wunsch (Jung, 137).

Wie gering die Verkehrsdichte war, wird an Peter Köhlers Beschreibung seines Schulwegs deutlich, der ihn mit dem Fahrrad aus dem Ostviertel in die Oberschule für Jungen (heutiges Felix-Klein-Gymnasium) führte. Er konnte, ohne zu bremsen und zu gucken, mit hohem Tempo die Calsowstraße hinunterrasen und den Friedländer Weg überqueren (Köhler, 327). Gleichwohl gab es Verkehrsunfälle. Wenn in einen Unfall dann auch gleich zwei Autos verwickelt waren, gab es sofort einen Menschenauflauf, wie in Rolf Piepers Schilderung anschaulich deutlich wird.

»[…] und wenn da mal, bei uns die Ecke oben, heute sind das ja Einbahnstraßen, die war also, da gab’s zweimal ’nen großen Unfall, nech, das war ja also, weil die Vorfahrt nicht beachtet wurde. Friedländer Weg hatte also die Vorfahrt, nech. Also ich weiß noch das erste Mal, da kam dann also so von oben her ein Lieferwagen einer Wäscherei, der Wäscherei Schacke, und der Optikermeister Bieling mit einem kleinen BMW, das gab’s also schon damals schon so ’n Sportwagen, und der Lieferwagen fuhr in die Kreuzung rein und hatte also die Vorfahrt nicht beachtet und ist mit voller Wucht dagegen, der ganze Wagen drehte sich und flog da in den nächsten Garten rein und so. Ja, das warn Volksauflauf.« (Pieper, 1288–1301)

Insgesamt war Göttingen in den Dreißiger Jahren jedoch noch eine Stadt, die durch die »Laufkultur«26 geprägt gewesen ist. Fahrräder waren vergleichsweise teuer. Die meisten unserer Befragten erhielten zwar spätestens im Alter von zehn bis 14 Jahren ein Fahrrad, aber sie stammten auch aus relativ wohlhabenden Elternhäusern. Selbst Lehrer fuhren nur Fahrrad oder gingen zu Fuß. Trotz der Dominanz der Fußgänger und des – jedenfalls im Vergleich zu heute – bescheidenen Verkehrs, war es in der Stadt nicht etwa still. Ursula Zimmermann betonte den Lärm in der Stadt:

»Und wenn man sich heute über den Lärm beklagt, dann hat man vergessen, wie laut es früher in einer Stadt war. Das ganze Pferdegetrappel, und das Geschrei, und Klatschen der Peitschen, und dann fiel was hin, und da rumpelte alles auf diesem Kopfsteinpflaster, da rumpelte ja alles. Und das war eben sehr, sehr unruhig, so, sagen wa mal, so wie das heute so in Italien ist, so war das früher auch in der Innenstadt. Heute meinen die Leute ja also ab so und so viel Uhr müsste Ruhe sein, das war durchaus nicht der Fall.« (Zimmermann, 92–102)

Nur in den Randbezirken war die Stadt wirklich ruhig. Das galt besonders für die Wohngebiete im Ostviertel, wo die Straßen an Schrebergärten und die Feldmark oder den Wald angrenzten und eine fast ländliche Stimmung herrschte. Für Peter Köhler, der hier aufwuchs, setzte sich das Geräusch der Stadt zusammen aus dem Gegacker von Hühnern, dem Läuten der Kirchenglocken und dem bei Westwind deutlich zu hörenden Rattern und Rauschen der Eisenbahn (Köhler, 3796).

Der gesamte Bereich des Einzelhandels, der fast ein Viertel aller gewerblichen Betriebe ausmachte, bestand aus Kleinhandwerkern und -kaufleuten. Es gab nur wenige Kaufhäuser, die ein breiteres Sortiment an Waren anboten.27 Die Geschäfte konzentrierten sich in den beiden Hauptgeschäftsstraßen Göttingens, der Weender Straße und der Groner Straße sowie deren Seitenstraßen. Darunter waren auch viele Läden, die sich in der Hand jüdischer Kaufleute befanden.28 Daraus resultierte viel Neid und Missgunst. Der alte Mittelstand, zu dem der Einzelhandel gehörte, befand sich schon seit dem Ersten Weltkrieg in der Krise, die durch Überbesetzung, Inflation und die insgesamt schwierige wirtschaftliche Lage während der Weimarer Republik hervorgerufen worden war. Hinzu kam die zunehmend als existenzgefährdend empfundene Konkurrenz der Kaufhäuser. Auch wenn Industrie und Arbeiterschaft am Ende der Weimarer Republik viel stärker von den Konjunktureinbrüchen betroffen waren, fühlte sich der alte Mittelstand gleichwohl besonders bedroht und projizierte seine Probleme auf die Konkurrenz der Warenhäuser und der jüdischen Kaufleute.29 Vermutlich hängt mit der starken Präsenz jüdischer Geschäfte in der Innenstadt zusammen, dass mehrere Befragte explizit hinwiesen auf Geschäfte, in denen man kaufte, und solche, die man mied (Pieper, 777). Karl-Heinz Jung, der selbst in einem Geschäftshaushalt aufwuchs, hatte sich diese Maximen besonders strikt zu eigen gemacht:

»Man wusste ganz genau, wo man etwas zu kaufen hatte. Das wurden von den Eltern schon gesaacht, also Karstadt durfte man ja gar nich betreten. Die ganzen jüdischen Warenhäuser und so weiter, die wir auch auf der Weender hatten, die denn nachher vertrieben wurden, die hab ich auch nie von innen kennengelernt. Da-das war einfach tabu.« (Jung, 217–225)

Auffällig ist hier die in der Erzählung hergestellte Verbindung von Kaufhäusern und Juden, die tatsächlich nur für eins der vier Göttinger Kaufhäuser zutraf.30 Peter Köhler hingegen betonte, seine offenbar sehr liberalen Eltern hätten auch in den »sehr soliden« jüdischen Geschäften gekauft (3447–3449).

Aus der Überbesetzung resultierte eine starke Kundenorientierung der kleinen Geschäftsleute. Sie schickten nicht nur ihre Lehrlinge in die Haushalte der wohlhabenden Bevölkerung, um Bestellungen aufzunehmen, sondern lieferten zudem frei Haus. »Professoren und Beamten«, so Rolf Pieper, wurde auch angeboten, »anschreiben« zu lassen und erst später zu bezahlen (1254). »Anschreiben« war einerseits eine Dienstleistung, andererseits als Ausweis der Kreditwürdigkeit auch ein Statussymbol. Die Geschäftsleute kannnten sich durchweg untereinander. Sie hatten nicht nur kommerzielle Kontakte, waren Mitglied in den Wirtschaftsverbänden, zum Beispiel der »Göttinger Kaufmannschaft«, sondern waren zum Teil durch verwandtschaftliche Bande miteinander verknüpft. Auch gesellschaftlich hatten sie sich in Klubs organisiert. In den Interviews taucht mehrmals der »Club Erholung« der Göttinger Kaufleute auf. »Es war«, wie Karl-Heinz Jung resümierte, »eine beständige Welt«, in der jeder jeden kannte und in der sein Vater, wenn er die Weender Straße entlangschritt, jeden zweiten Passanten grüßen musste (288). Idylle und Enge, beides war für das Leben in Göttingen charakteristisch. Das war aber nicht alles. Hier »mischten sich stärker kleinbürgerliche mit besitz- und bildungsbürgerlichen Elementen und verliehen Göttingen jenes für die protestantische norddeutsche Kleinstadt an sich untypische Merkmal von philiströser Enge und – zumindest in Ansätzen vorhandener – intellektueller Weltläufigkeit«.31 Vor allem die Universität hatte dazu beigetragen, aus Göttingen ein »Provinznest mit Doktorhut« zu machen.32

Die spezifische Wirtschafts- und Sozialstruktur der Stadt war dafür verantwortlich, dass die Bevölkerung überwiegend politisch konservativ war und wählte. Schon früh in der Weimarer Republik hatten die Rechtsparteien großes Gewicht. Bei den Wahlen zum Reichstag erhielten sie ab 1924 stets über 50 Prozent der Stimmen, 1932 dann rund 62 Prozent. Damit lagen sie durchgängig weit über dem Reichsdurchschnitt. Auch auf der kommunalpolitischen Ebene erzielten die Rechtsparteien in den Wahlen von 1924 und 1929 mehr als 50 Prozent der Stimmen.33 Allerdings hatte die SPD bis 1931, als durch die Notverordnungen der preußischen Regierung die Kommunalparlamente praktisch ausgeschaltet wurden, einen relativ großen Einfluss auf die Stadtpolitik.34

Innerhalb der Universität gab es ebenfalls eine kontinuierliche »Schieflage« zugunsten der Rechtsparteien. Das galt nicht nur für die Professorenschaft, sondern auch für die Studenten, die zu 60 Prozent in Verbindungen organisiert waren.35 Die Universität war jedoch nicht nur in weiten Teilen deutschnational, sondern auch völkisch orientiert und insofern anschlussfähig an den Nationalsozialismus. Dies galt besonders für die Studentenschaft. Der 1926/27 in Göttingen gegründete Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) erreichte schon 1931 die Mehrheit im Selbstverwaltungsparlament der Studierenden.36 Die Rechtsorientierung nicht nur der Universität, sondern, wie aus den Wahlergebnissen hervorgeht, auch eines erheblichen Teils anderer Göttinger Bürger bereitete den Boden für den frühen und überdurchschnittlich starken Aufstieg der NSDAP in der Stadt.37 Bereits 1922 wurde die NSDAP-Ortsgruppe als eine der ersten in Norddeutschland durch den Medizinstudenten Ludolf Haase gegründet, kurz darauf entstand eine Frauengruppe der NSDAP.38 Der Organisationsgrad der Göttinger NSDAP war mit 1.000 Mitgliedern im Jahr 1933, circa drei Prozent der erwachsenen Göttinger Bevölkerung (ohne diejenigen Angehörigen von SA und SS, die nicht Parteimitglieder waren), dennoch durchschnittlich. Allerdings hatte die Partei schon 1929 22 Prozent der Stimmen und acht Sitze im Bürgervorsteherkollegium erhalten und war in kommunalen Dienststellen wie auch in der Polizei gut vertreten.39 Bereits bei der Reichstagswahl im September 1930 erreichte die NSDAP in Göttingen mit 37,8 Prozent einen mehr als doppelt so hohen Stimmenanteil wie im Reichsdurchschnitt und wurde stärkste Partei. Im Sommer 1932 erzielte sie dann sogar 51 Prozent (im Reich 37,4 Prozent).40 Die Wahlergebnisse der letzten freien Reichstagswahlen im November 1932 lagen mit 43,9 Prozent für die NSDAP ebenfalls deutlich über dem reichsweiten Durchschnitt (33,1 Prozent).41 Bei der Wahl des Reichspräsidenten 1932 stimmten im zweiten Wahlgang die Mehrheit der Göttingerinnen und Göttinger für Adolf Hitler, im Reich siegte Paul von Hindenburg (in Göttingen 44,3 Prozent, im Reich 53,0 Prozent) vor Hitler (in Göttingen 50,9 Prozent, im Reich 36,8 Prozent) und dem Kandidaten der KPD Ernst Thälmann (in Göttingen 4,6 Prozent, im Reich 10,2 Prozent).42 Ab 1933 war die Stadtverwaltung fest in der Hand der NSDAP. Der amtierende, bis dahin der DVP angehörende Oberbürgermeister blieb allerdings bis 1938 im Amt, wohl weil er der Machtübernahme in Göttingen keine Gegenwehr geleistet hat.43 Göttingen kann, so lässt sich zusammenfassend feststellen, als eine »[…] früh und nachhaltig nazifizierte Beamten- und Pensionärsstadt gelten, in der die Partei so erfolgreich war, wie sonst nur in einigen norddeutschen, ländlichen (evangelischen) Bezirken«.44

Die lokale Presselandschaft45 war in der Weimarer Republik durch den Dualismus von Göttinger Tageblatt und Göttinger Zeitung geprägt. Die Göttinger Zeitung verfolgte einen bürgerlich liberalen Kurs und exponierte sich noch im Kommunalwahlkampf im März 1933 zugunsten der alten bürgerlichen Eliten. Das Göttinger Tageblatt hingegen spielte beim Aufstieg der NSDAP eine wichtige Rolle.46 Es kann als Wegbereiter der Partei in Göttingen gelten, obwohl es später in Konkurrenz zu deren Parteiorgan, den Göttinger Nachrichten, stand. Der Beitrag des Göttinger Tageblatts »zu Göttingens Wandel von einer konservativ-deutschnational geprägten Stadt zu einer Hochburg der NSDAP« wird als entscheidend eingeschätzt.47 Nachdem das sozialdemokratische Volksblatt bereits 1933 verboten wurde,48 übernahm das Göttinger Tageblatt 1935 die Göttinger Zeitung. Damit war die Gleichschaltung auch der Presse vollzogen.

Die nationalsozialistische Machtergreifung vom 30.1.193349