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"Die Luft in der Aula war stickig gewesen. Das Thema beklemmend. Ein totes Mädchen im Wald. Ella war ein Schauer über den Rücken gelaufen. Diesmal also doch was Größeres." Ella und Lydia können es kaum fassen: Zwei junge blonde Mädchen werden tot in einem Wäldchen gefunden. Das kleine Dorf am Rande Hamburgs steht Kopf. Allerdings gerät dabei nicht nur Ella, die sich nichtsahnend in den rätselhaften Rico verliebt, sondern auch ihre unscheinbare Zwillingsschwester Lydia in tödliche Gefahr. Denn was keine von beiden ahnt: Der Mörder befindet sich bereits in unmittelbarer Nähe und vertrauen können die Schwestern niemandem mehr, nicht einmal sich selbst …
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Seitenzahl: 320
Inhalt
Impressum
Ella und Lydia
Rico
Aus dem Schlaf erwacht
Blind verliebt
Der Kommissar
Alte Freunde
Verraten
Aus den Augen
Ausgebrochen, eingebrochen
Schicksal
Erlösung
Die Sache mit der Wahrheit
Aller schlechten Dinge sind zwei
Vergeben und vergessen
Röntgenstrahlen
Die alte Ziegelei
Hypnotisiert
Verpatzt
Konstantin
Schuldgefühle
Verliebt, verlobt, ermordet
Ferienanfang
Déjà-vu
Feuerwerk
Montagmorgen
Vorwürfe
Bei Kräutertee
Total verknallt
Eine Versuchung zu viel
Weißblond
Die Tage danach
Paris
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2014 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99038-208-0
ISBN e-book: 978-3-99038-209-7
Lektorat: Christine Schranz
Umschlagfoto: Andrey Arkusha | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Ella und Lydia
Es war zu heiß, um für Französisch zu büffeln. Im Nachbargarten vergnügten sich zwei Schreihälse im Planschbecken, ein paar Häuser weiter wurde gegrillt und auf der Straße malten Kinder mit Kreide um die Wette. Ein richtiger Freitagabend eben. Die Sonne stand bereits hinter den Kirschbäumen und blendete die beiden Zwillingsschwestern in ihrem Garten. Ella konnte sich nicht konzentrieren. Schon lange nicht mehr. Aber sie wollte sich diese Chance nicht entgehen lassen− die gute Note auf der Französischprüfung in vier Wochen war schließlich ihre Eintrittskarte für den vierzehntätigen Trip nach Paris in den Sommerferien. Nur die Besten wurden zugelassen. Und Ella wollte eine von ihnen sein.
„Konjugiere être vollständig in Futur Simple“, forderte Lydia Ella auf. Auch ihr konnte man ansehen, dass sie keine Lust mehr hatte. Zwei ganze Stunden hatten die beiden Geschwister jetzt schon in der Sonne geschmort. Schweißperlen hatten sich auf Lydias Stirn gebildet, die sie mit einer raschen Handbewegung wegwischte. Ella rappelte sich von ihrer Gartenliege auf und zählte die sechs verschiedenen Verbformen auf.
Lydia nickte zufrieden. „Ich wäre schon froh, wenn bei mir die Hälfte hängen bleiben würde“, seufzte sie und warf selbst einen Blick auf die Verbtabellen vor sich. „Vielleicht sollten wir die ganzen Formen aufnehmen und über Nacht abspielen. So was soll hängen bleiben.“
„Träum weiter, Lydia. So ein Schrott bringt rein gar nichts, glaub mir.“
„Na, du scheinst es ja zu wissen. Verrate mir doch mal deinen Trick. Wie kommt’s, dass bei dir immer alle Vokabeln hängen bleiben und ich mir jedes Mal einen abquälen muss?“
Ella schloss ihre Augen und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Lydia nervte. Was konnte sie schon dafür, dass sie sprachlich talentiert war und Lydia nicht besonders? Offensichtlich hatte sie andere Gene als ihre Zwillingsschwester abbekommen. Und die hatte sie sich nicht ausgesucht.
Doch Lydia bohrte weiter. „Ich wette, du schreibst dir die Verbformen auf einen Zettel und hängst ihn an den Spiegel im Badezimmer. Genügend Zeit verbringst du dort schließlich. Und bei jemandem, der so selbstverliebt ist wie du und stundenlang in den Spiegel schaut, klappt das natürlich.“
Ella ließ die Beleidigung an sich abprallen. Lydias Eifersucht kannte sie mittlerweile zu gut, um sich jetzt noch darüber aufzuregen. Sie schob ihre Sonnenbrille zurück auf ihren Kopf und sah Lydia dabei zu, wie sie die vielen Blätter, die auf dem Rasen um sie herum ausgebreitet waren, einsammelte. Sie ging in Richtung Haus. Für heute hatte sie anscheinend genug.
„Hey, Lydia!“, rief Ella und sah, wie sich ihre Schwester umdrehte, kurz bevor sie die Terrassentür erreicht hatte. „Aufgeben ist nicht. Wenn wir das durchziehen, heißt es schon bald ,Salut Paris‘ und ‚au revoir öde Sommerferien in diesem Nest‘, für zwei ganze Wochen, kapiert?“ Ella grinste breit, doch Lydias Motivation hielt sich in Grenzen. Sie hatte ihre dünnen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und starrte Ella nur mit ihren hellgrünen Augen an.
„Momentan zieht mich dieser ganze Aufnahmeprüfungsscheiß und deine Selbstverherrlichung aber ziemlich runter.“
Ella zuckte nur mit den Schultern und schaute ihrer Zwillingsschwester noch hinterher, als sie ins Haus ging. Sie selbst stand auf und zog ihre Liege in den Schatten unter den Kirschbäumen. Ein wenig wollte sie noch tagträumen. Sich ausmalen, wie sie ihre Sommerferien in vier Wochen verbringen würde.
Ob Lydia überhaupt eine Chance in dem Test hatte, konnte sie schlecht einschätzen. Das gewisse Etwas, das einen antrieb, wenn man kurz davor war, aufzugeben, fehlte ihr auf jeden Fall. Zumindest was ihr Französisch anging. Den Großteil ihrer Freizeit verbrachte sie doch mit dem Malen, eingesperrt in ihrem Zimmer. Ab und zu ertappte Ella sie, wie sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett lag und Musik hörte. Und das für Stunden. Ella seufzte. Lydia war wirklich nicht mehr zu helfen.
Und manchmal hatte Ella sowieso das Gefühl, ihre Schwester würde nur darauf warten, bis sie in zwei Jahren das Abitur in der Tasche hatte, um dann in Hamburg Kunst zu studieren. Ihr Französisch würde so oder so flöten gehen, da war sie sich sicher. Aber Ella würde das auf jeden Fall nicht vom Lernen abhalten. Sie würde die Prüfung bestehen und nach Paris gehen. Dann hätte es wenigstens eine der Larsentöchter aus diesem Kaff geschafft.
Sie blieb noch eine ganze Weile im Garten, um sich den Endspurt zu den Sommerferien auszumalen und sich Dinge zu überlegen, die sie mit Carlotta unternehmen könnte, bevor auch sie ihr Lernmaterial zusammensuchte und zurück ins Haus ging, um sich dort abzukühlen. Ausgelassen schlenderte sie in die Küche, wo Jutta Larsen das Abendessen vorbereitete. Geübt schnitt sie Tomaten und Mozzarella in feine Scheibchen, genau so, wie Herr Larsen es mochte. Ella stibitzte sich eine der Kirschtomaten und schob sie sich in den Mund.
„Na, genügend gelernt?“
Ella schüttelte den Kopf. „Genügend geschwitzt trifft’s eher.“ Sie griff nach einer frischen Wasserflasche und öffnete sie, um die kalte Flüssigkeit in hastigen Zügen herunterzuschlucken. Frau Larsen sah aus dem Küchenfenster, durch das sie volle Sicht in den Garten hatte. Die Sonne schien immer noch hell. Die Hecke war frisch geschnitten und der Rasen gemäht. Das Gras leuchtete hellgrün im letzten Sonnenschein. Lydias Augen, dachte sie. Die hatten eine ganz ähnliche Farbe.
„Für so eine Prüfung kann man wohl nie genug lernen, was?“
„Stimmt. Aber man kann es zumindest probieren.“ Jutta platzierte die Tomaten- und Mozzarellascheiben auf einer großen weißen Platte, träufelte Olivenöl darüber und legte frisch gepflücktes Basilikum auf den Mozzarella. „Hast du Lydia gesehen?“, wollte Ella wissen.
„Die ist auf ihr Zimmer gegangen, wahrscheinlich um die neuen Akrylfarben auszuprobieren.“ Sie bevorzugte es, sich ganz in Ruhe ihrer Kunst zu widmen. Daran, stattdessen ihren Teint mal ein wenig aufzufrischen, dachte sie nicht.
„Natürlich.“ Ella verdrehte die Augen. „Was auch sonst.“ Dann klemmte sie sich die Wasserflasche unter den Arm und stand auf. „Ich gehe wieder raus, ja?“
„Ach, warte. Carlotta hat angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass sie morgen Zeit hat. Du kannst zu ihr fahren.“ Ella lächelte und verschwand mit einem freudigen „Super!“ Nach wenigen Augenblicken sah Jutta ihre Tochter wieder im Garten, wie sie sich auf die Liege legte, um sich noch etwas in der Sonne zu aalen.
Sie ertappte sich beim Lächeln. Zwei hübsche Töchter hatte sie. Ella mit ihren dunklen Haaren und schokoladenbraunen Augen und Lydia mit ihren blonden Haaren und den leuchtend grünen Augen. Ihre Figur und Gesichtszüge glichen einander, auch wenn sie keine eineiigen Zwillinge waren.
Und trotzdem wünschte sich Jutta Larsen, ihre Töchter würden mehr miteinander anfangen können. In letzter Zeit sprachen sie nur noch während des Französischlernens miteinander und morgens verließen sie noch nicht einmal gemeinsam das Haus, obwohl der Unterricht für beide zur selben Stunde begann.
Dabei sagt man doch immer, Gegensätze ziehen sich an.
*
Den Samstag verbrachte Ella bei Carlotta. Ihre Eltern besaßen eine Villa am Rande des Waldes, in der Carlotta in einem Luxus lebte, von dem Ella nur träumen konnte. Am meisten gefiel ihr der riesige Pool mit Gegenstromanlage, den sie bei der Hitze nutznießen konnte.
Die beiden Freundinnen schwammen ihre Bahnen und ließen sich schließlich auf ihre Handtücher auf den Rasen fallen. Ihre bunten Bikinis leuchteten in der Sonne. Um sie herum blühten Hortensien, Wildrosen und Lavendel.
„Du kriegst wieder Sommersprossen“, sagte Carlotta und deutete auf die ersten braunen Pünktchen, die anfingen, sich um Ellas Nase zu bilden. Sie lächelte schief. Süß sah Ella damit aus, fand sie, obwohl sie genau wusste, dass Ella sie eher als lästig empfand.
„Das heißt, es sind bald Sommerferien“, lenkte Ella ab und rollte sich auf die Seite, um Carlotta zu betrachten. „Nur noch vier Wochen Schule. Ich zähle jeden Tag.“
„Ich weiß. Ich auch.“ Sie grinsten sich an.
„Und dann nur noch ein Jahr Schule …“
„… und drei Monate bis zur Volljährigkeit!“
Ella stöhnte bei dem Gedanken, dass ihre Freundin schon in wenigen Monaten achtzehn sein würde − volljährig! − während sie noch ein ganzes Jahr vor sich hatte. Carlotta hatte in der siebten Klasse eine Ehrenrunde gedreht und war deswegen ein Jahr älter als alle anderen, die nächstes Schuljahr in die Zwölfte kommen würden.
„Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich deswegen hasse.“ Ein ganzes Jahr hatte sie noch vor sich, in dem sie minderjährig sein würde. Ella stöhnte. Ab achtzehn war man wenigstens ein jemand. Kein Kind mehr, sondern ein angesehener und wohl respektierter Teil der Zivilisation. Und genauso würde auch sie behandelt werden. Endlich würde Ella für sich selbst entscheiden können, was gut für sie war, wie lange sie nachts wegbleiben durfte und wie und wo sie ihre Ferien verbrachte. Nicht so wie jetzt, wo ihre Eltern immer noch das Sagen über sie hatten.
„Hauptsache, du nimmst mich dann morgens mit zur Schule, sobald du dein eigenes Auto hast, damit sich deine arme Freundin nicht mehr mit dem Rad abquälen muss“, spaßte Ella und legte sich auf den Bauch, sodass auch ihr Rücken etwas Sonne abbekam.
„Versprochen. Sobald ich mein Auto habe.“
Ella gab sich mit einem wohligen Seufzer zufrieden und genoss für eine ganze Weile das warme Prickeln der Sonne auf ihrer Haut.
Ein Auto. Natürlich würde Lotta eins bekommen, sobald sie achtzehn war, schließlich waren ihre Eltern steinreich, wenn nicht sogar Millionäre. Eigentlich gehörten sie nach Blankenese. Ein Wunder, dass sie sich noch mit den Spießern, die hier in Reihenhäusern in einem kleinen Vorort Hamburgs lebten, abgaben. Ein schönes Wunder, gestand Ella sich ein, denn ohne Carlotta würde sie es hier nicht aushalten.
„Weißt du was?“ Ella schaute zu ihr auf. „In der Nähe von hier hat vor ein paar Tagen erst ein neues Café aufgemacht. Moccabella. In zehn Minuten wären wir da. Hast du Lust?“
Ellaüberlegte nicht lange. Sie nahmen Lottas dunkelroten Roller.
Von außen sah das Moccabella unscheinbar und blass aus. Auch im Inneren war wenig los, es war dunkel und müffelte nach alter Tapete. Eine Barista stand hinter dem Tresen und mixte ein Kaffeegetränk. Sie blickte kurz auf und nickte, als Ella und Carlotta das Café betraten.
Das Leben des Cafés schien sich im Garten abzuspielen. Bunte Kissen lagen auf den Stühlen, und die kleinen Windlichter auf den runden Bistrotischen waren bereits angezündet, obwohl es gerade einmal fünf Uhr nachmittags war. Ein paar andere Jugendliche in Ellas und Carlottas Alter verdrückten riesige Portionen Eis. Manche tranken nur Eiskaffee oder Bier.
„Was darf’s für euch sein?“ Ein gut aussehender Kerl mit dunklen Locken trat an ihren Tisch und die beiden Freundinnen bestellten jeweils einen Eiskaffee. Carlotta sah dem Typen noch hinterher.
„Womit habe ich es verdient, auf eine Schule zu gehen, in der alle heißen Jungs Arschlöcher sind und die anderen aussehen, als würden sie ihre Klamotten aus der Mülltonne fischen?“Ella lachte. So etwas konnte nur von ihrer Lotta kommen.
„Das liegt daran, dass wir in so einem verdammten Kaff festsitzen. Zu viele schlechte Voraussetzungen.“ Sie rührte in ihrem Kaffee herum und ihre Gedanken schweiften ab, nach Paris. Bestimmt würde sie jemanden kennenlernen. Einen französischen Sunnyboy mit süßem Akzent. Überhaupt würde dort alles besser werden.
Im selben Moment gab Ella irgendetwas von hinten einen Ruck, und sie ließ vor lauter Schreck ihren Eiskaffee fallen. Das Glas zersprang beim Aufprall in tausend Splitter und hinterließ einen fiesen Fleck auf ihrem frisch gewaschenen Sommerkleid.
„Merde!“, stieß sie aus und wünschte sich gleich danach, das französische Schimpfwort nie ausgesprochen zu haben.
„Sorry!“ Jemand mit blonden Strubbelhaaren bückte sich, um die Scherben aufzusammeln. Als er aufsah, brachte Ella keinen Ton mehr heraus. „Das war echt nicht mit Absicht!“ Sie klebte an seinen honigfarbenen Augen wie an einem Magneten. „Wenn du willst, zahl ich dir die Reinigung. Wär doch schade, wenn der Fleck nicht mehr rausgehen würde. Das Kleid steht dir so gut.“ Er grinste schief. Carlotta schaute ihre Freundin an und wartete nur darauf, bis sie endlich die Chance ergreifen würde. Was überlegte sie noch? Als Ella endlich den Mund aufmachte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Bis morgen habe ich es allein gewaschen. Dann kannst du es noch mal an mir sehen, ohne Fleck.“
*
Lydia war allein zu Hause. Ella trieb sich mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum, und ihre Eltern waren einkaufen gefahren. Ihr war es nur recht, so störte sie wenigstens keiner.
Die neuen Farben waren gut − dünnflüssig und leicht mischbar. Etwas anderes hätte sie auch nicht erwartet, schließlich hatte sie Anfang Juni einen Großteil ihres Taschengeldes dafür ausgegeben. Ella hatte nur gelacht.
Lydia stand im Garten und malte die roten Rosenranken, die die Hauswand emporkletterten. Ihre Mutter hatte sie vor ein paar Jahren angepflanzt, gegen den Willen ihres Vaters. Mittlerweile verschönerten sie den Garten um einiges.
Lydia setzte den Pinsel ab und betrachtete ihr Kunstwerk. Ein wildes Gekritzel. Nichts weiter als eine Ansammlung von unkontrollierten Pinselstrichen. Sie seufzte. Es nützte nichts. Heute würde sie nichts mehr kreieren, was auch nur annähernd ihrem normalen Standard entsprach.
Sie wusste nicht, was es war, aber sie war unruhig. Wusste nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Normalerweise brachte sie das Malen runter, aber heute nicht. Vielleicht ärgerte es sie, dass ihre beste Freundin Felice wieder keine Zeit gehabt hatte und sie ihren Samstag ganz allein zu Hause verbringen musste. Vielleicht war sie sogar ein wenig eifersüchtig auf Ella. Wann immer Lydia an ihre Schwester dachte, hatte sie das Gefühl, tatsächlich nur ein billiges Duplikat von ihr zu sein.
Ella war schön, beliebt und zufrieden mit sich selbst − all das, was Lydia nicht war. Es war zum Kotzen.
Lydia packte ihre Malsachen zurück in den Holzkoffer. Vielleicht würde sie reingehen und Musik hören. Irgendetwas, was sie ablenkte.
Rico
Die untergehende Sonne blendete Rico, als er mit seinem brandneuen Cabriolet durch die Straßen fuhr. Wie lange hatte er dafür gespart? Sein ganzen Leben lang. Die letzten acht Jahre bestimmt. Er fühlte sich pudelwohl in seinem Prachtstück und setzte ein cooles Lächeln auf. Die Ray Ban passte perfekt. Jetzt musste er sie nur noch finden.
Er erinnerte sich an das Treffen im Moccabella gestern und fragte sich, wieso er nicht einfach nach ihrer Nummer gefragt hatte. Natürlich wusste er, warum− er hatte sich nicht getraut. Die Hübsche hätte ihre Nummer doch nie freiwillig rausgerückt.
Stattdessen hatte sie es drauf angelegt. „Bis morgen dann!“, hatte sie gesagt und mit ihrer Freundin einfach das Café verlassen.
Was erwartete sie? Dass er wie in Aschenputtel alle Häuser abklapperte, bis er sie endlich gefunden hatte? Rico ärgerte sich. Noch nicht einmal ihren Namen wusste er. Wenn sie ihm jetzt aus den Fingern gleiten würde …
Er wollte schon umkehren, als er sie sah. Sie trug ihre dunklen Haare offen und ein anderes Kleid als gestern. Es war weiß und ließ ihre Haut golden schimmern. Rico wurde langsamer und fuhr an den Straßenrand.
„Ist der Fleck nicht rausgegangen?“
Sie grinste. „Hängt noch zu Hause auf der Wäscheleine.“Sie wartete darauf, dass Rico endlich seine Sonnenbrille absetzen würde, damit sie ihm wieder in die Augen schauen konnte. Doch er lächelte nur. „Ich bin auf dem Weg nach Hause. Nimmst du mich mit?“
Rico blickte für einen Moment ziemlich verdutzt aus der Wäsche. Das war sein Part gewesen − er hatte sie fragen wollen. So ließ die Hübsche ihm nicht die kleinste Gelegenheit, sich doch zu beweisen.
„Steig ein“, sagte er schließlich, und als sie sich neben ihn in den Sitz fallen ließ, stieg ihm ein süßer Duft in die Nase. „Verrätst du mir jetzt deinen Namen?“ Rico beschleunigte und der Motor heulte auf. Bei der nächsten Kreuzung bog er ab. Er dachte nicht im Leben daran, die Hübsche jetzt nach Hause zu fahren.
„Wo fahren wir hin?“
Rico sah zu ihr und nahm endlich seine Sonnenbrille ab. „Hast du Angst?“
Ihre Augen funkelten. „Kein bisschen.“
Sie fuhren für eine ganze Weile schweigend. Rico musste sich bemühen, seine Blicke nicht ständig zu seiner Begleitung schweifen zu lassen. Die Hübsche beobachtete lächelnd die Häuser, die an ihr vorbeiflogen.
„Wenn du mir nicht bald sagst, wie du heißt, denke ich mir einen Namen für dich aus“, drohte Rico schließlich und bog auf eine kleine Landstraße.
„Ich heiße Ella.“ Sie schauten sich an. „Du?“
„Rico.“
Rico hielt an, als sie bei einem kleinen See angekommen waren. Er war so winzig und versteckt, dass nur wenige von ihm wussten. Ein richtiges Goldstück. Man musste nur wissen, wann man herkommen musste. Gegen acht Uhr stand die Sonne immer am schönsten und brachte das Wasser unter ihr zum Glitzern.
„Ich war noch nie hier“, flüsterte Ella und betrachtete den See, als wäre er das Schönste, was sie je gesehen hatte. Irgendetwas fing an, in ihren Fingerspitzen zu kribbeln. „Es ist unglaublich schön!“ Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Rico sie tatsächlich gefunden hatte. Carlotta hatte sie gestern noch dafür verflucht, nicht nach seiner Nummer zu fragen. Aber das wäre Ella einfach nur unglaublich plump vorgekommen. So etwas hatte sie nicht nötig.
„Ich komme oft her, um abzuschalten“, sagte Rico irgendwann und wendete seine Blicke von dem See ab. Den konnte er immer haben. Ella nicht. In seinen Gedanken malte er sich schon aus, wie er sie nach Hause bringen und küssen würde. Ihre Lippen sahen so unglaublich weich aus. Rosa und weich.
„Und was machst du so den ganzen Tag, dass du abends abschalten musst?“, wollte Ella wissen. Er mochte ihre Neugier. Ihre Abenteuerlust. Sie tat nicht nur so, sie hatte wirklich keine Angst.
„Meinen Eltern gehört die Tankstelle am Waldrand. Ich arbeite dort“, erzählte er und hörte nicht auf, Ella dabei anzusehen.
„Schule abgebrochen?“, hörte sie sich sagen, und bemerkte noch im selben Moment, wie idiotisch das klang.
„Schule abgeschlossen. Nach den Sommerferien fange ich meine Ausbildung an.“
Ella nickte. Sie wollte für immer hier sitzen bleiben und zusammen mit Rico auf den See schauen. Beobachten, wie die Sonne langsam unterging.
Sie blieben noch eine ganze Weile, bis Ella doch ein schlechtes Gewissen bekam und nach Hause wollte. Rico brachte sie heim. Als sie vor ihrem kleinen Haus ankamen, machte Ella keine Anstalten auszusteigen.
„Versprich mir, dass du mich anrufst“, flüsterte sie und beugte sich nach vorne, um Rico einen Abschiedskuss zu schenken. Er musste noch während des Kusses grinsen und ließElla nur ungern gehen.
„Versprochen.“
Sie stieg aus und dreht sich noch einmal um, bevor sie im Inneren ihres Hauses verschwand. Rico ließ seinen Motor laut aufheulen und fuhr davon.
Als sie ihr Zimmer betreten wollte, entdeckte sie im Halbdunkel Lydia, die vor ihrer Tür kauerte. Wie auf frischer Tat ertappt zuckte Ella zusammen und japste vor Schreck nach Luft.
„Was machst du hier?“, flüsterte Ella und warf ihrer Zwillingsschwester einen genervten Blick zu. Musste sie sie so erschrecken? Überhaupt, was wollte sie so spät noch von ihr?
„Wo warst du?“ In Lydias Stimme lag ein scharfer Unterton. Hatte Ella was verpasst? Seit wann führte sich ihre Schwester auf wie ihre Mutter?
„Bin ich dir jetzt auf einmal Rechenschaft schuldig, oder was?“
Lydia schüttelte nur den Kopf. Sie gingen gemeinsam ins Bad und schlossen die Tür hinter sich.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, es ist schon zehn.“
Ella zog sich ihre Schlafhose und ein überdimensionales T-Shirtüber und begann, sich abzuschminken.
„Genau. Du hast dir Sorgen um mich gemacht.“ Lydias eindringlicher Blick forderte eine ehrliche Antwort. Ella stöhnte. „Ich war noch unterwegs. Na und? Was geht dich das an?“
Lydia sah ein, dass es keinen Sinn mehr machte. Ella würde ihr nicht verraten, wie sie den Abend verbracht hatte. Schon gar nicht, wer der Mann war, der sie nach Hause gefahren hatte. Sie wendete sich ab.
„Hast du einen neuen Freund?“ Ella stand mit dem Rücken zu ihr und Lydia konnte nicht sehen, dass sieübers ganze Gesicht grinste.
„Wie kommst du denn darauf?“
Aus dem Schlaf erwacht
Am Montagmorgen saß die ganze Familie Larsen am Tisch und frühstückte. Jutta hatte extra frische Früchte aufgeschnitten, und frisch gepressten O-Saft gab es auch.
„Habt ihr heute Französisch?“, erkundigte sich Andreas Larsen und sah seine beiden Töchter an. Es schien, als hätten beide nicht besonders gut geschlafen. Ella hatte die halbe Nacht damit verbracht, an Rico zu denken, und Lydia hatte einfach nur schlecht geträumt.
„Dritte Stunde. Monsieur Dupont wollte heute noch mal mit uns über den Trip sprechen“, klärte Lydia ihren Vater auf. Dieser nickte zufrieden.
„Und wenn er’s nicht vergessen hat, hat er auch noch ein paar Prüfungen aus den letzten Jahren dabei, zum Üben. Das Programm gibt es ja schon eine Weile“, fügte Ella hinzu und schob sich eine Erdbeere in ihren Mund. „Vielleicht kann er uns sogar noch ein paar Extrastunden Französisch geben. Ich hab noch Probleme mit ein paar …“
„Also ich finde, du übertreibst“, unterbrach Lydia ihre Schwester. Sie wollte jetzt nicht über Französisch reden. Nicht so früh am Morgen. Am liebsten gar nicht mehr. Ella warf Lydia einen gereizten Blick zu.
„Letztes Jahr hat es nicht ein Schüler geschafft. Nicht ein Schüler aus allen acht Jahrgängen der Schule.“
„Und wieso müssen ausgerechnet wir die zwei Schüler dieses Jahres sein?“
Andreas sah seine Frau an. Bis jetzt hatte er immer gedacht, auch Lydia würde nach Paris wollen. Zugegeben, sie war nicht so ehrgeizig und zielstrebig wie Ella, aber sie könnte es schaffen − wenn sie wollte.
Ella wurde laut: „Weil es eine Chance ist, die man sich nicht einfach so verbaut!“
Jutta Larsen nickte nur. „Deine Schwester hat recht, Lydia. Du solltest wirklich ernsthaft darüber nachdenken, was dir alles offen …“
„Natürlich hat Ella recht! Weil Ella ja auch Madame Großartig ist, die immer recht hat, egal, welchen Scheiß sie euch vorsäuselt!“ Lydia war aufgesprungen und schaute zu Ella. „Weißt du was? Fahr doch allein in deine tolle Traumstadt! Paris kann mich mal!“
Sie rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Sobald sie allein war, strömten ihr Tränenübers Gesicht. Ihr ganzes Leben war beschissen. Sie würde immer im Schatten ihrer Schwester stehen, wenn sie nicht einmal ihre Meinung durchsetzen würde. Lydia würde so viel lernen, wie sie selbst es für richtig hielt. Was dabei herauskäme, würde sie dann schon sehen.
Eine halbe Stunde später fuhren die Zwillinge auf dem Weg zur Schule still nebeneinander her. Ella verstand Lydia beim besten Willen nicht, und umgekehrt ging es Lydia ebenso. Und das alles nur wegen Paris.
Ella überlegte sich, wie sie Lydia zum Reden bringen könnte. Sie mochte es nicht, mit ihrer eigenen Schwester so zerstritten zu sein. Doch womöglich würde Lydia sowieso nur blockieren. So wie immer.
Sie fuhren an Carlottas Villa vorbei, dann am Waldrand entlang. Der Wald erschien Ella an diesem Morgen schöner als sonst, so vollkommen. Wie eine grüne Oase, in der alles friedlich miteinander zusammenlebte und perfekt harmonierte. So, wie es eben sein sollte. Ella war sogar versucht, einige der Walderdbeeren, die zwischen den großen Grasnelken wuchsen, zu pflücken. Doch sie waren schon spät dran. Schule begann in sechs Minuten.
Die ersten zwei Stunden verbrachte Ella damit, aus dem Fenster zu starren und vorbeifahrende Autos zu zählen. Sie langweilte sich. Selbst ihr iPhone gab ihr keinen Grund, sich auf den Rest des Tages zu freuen − Rico hatte sich noch nicht gemeldet.
Sie spielte mit dem Gedanken, ihm gleich in der Pause eine SMS zu schreiben. Doch diesmal kam er ihr zuvor. Er versprach ihr, sie am nächsten Tag wieder mit zum See zu nehmen. Schwimmen gehen wollte er. Ella lachte. Bestimmt hatte Rico viel mehr vor, als nur mit ihr zu schwimmen.
Wenigstens war ihr Tag gerettet. Und der morgige sowieso.
Die Französischstunde zog sich in die Länge. Monsieur Dupont wiederholte sich geschätzte hundertmal, und als er nach der Stunde noch mit Ella und Lydia reden wollte, hatte er die Beispielprüfungen vom letzten Jahr natürlich vergessen.
Ella überstand den restlichen Schultag mit Müh und Not. Irgendetwas nervte sie an diesem gottverlassenen Ort. Vielleicht war es die Mentalität der Menschen. Lauter Spießer. Vielleicht war Ella das Leben hier schlichtweg zu einfach. Jeden Tag dasselbe. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Das Spannendste, was sie je erlebt hatte, war ein Labrador, der sein blindes Frauchen, die seit Tagen als vermisst galt, wiederfand und ihr das Leben rettete. Da war Ella acht.
Hier verreckte man doch. So viel Langeweile konnte niemand auf Dauer ertragen.
*
Die Zwillingsschwestern sahen die Streifenwagen schon von Weitem. Es waren drei. Sie standen auf dem Parkplatz, von dem ein kleiner Spazierweg in den Wald führte. Das Wetter hatte sich im Laufe des Tages verschlechtert, Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Ein unwirkliches Licht fiel auf das Absperrband, dass ein Betreten des Weges in den Wald verhinderte.
Lydia stoppte. „Warte!“ Sie schaute zu ihrer Schwester.
Diese sprang von ihrem Rad ab. „Schauen wir nach?“
Sie schoben ihre Fahrräder auf den Parkplatz und suchten nach einem Polizisten, der ihnen Auskunft geben würde. Ella war nicht aufgefallen, dass Lydia den Streit so gut wie vergessen hatte. Sie hatten jetzt beide Wichtigeres im Kopf.
„Wahrscheinlich wieder nur ein Köter, der sein verloren gegangenes Frauchen gefunden hat“, spaßte Lydia. Auch sie schien sich noch genauestens zu erinnern.
Ella bemerkte den Farn, der am Rande des Weges wucherte und andere, zart blühende Pflanzen überdeckte. Er nahm ihnen jeglichen Raum zum Leben. Vor ihr kletterte dunkelgrüner Efeu an den Bäumen hoch. Es war düster geworden. Kein Polizist schien in der Nähe zu sein.
„Lass uns gehen“, sagte Ella und wandte sich bereits ab. Der Wald erschien ihr auf einmal ungewohnt unheimlich.
Lydia umfasste ihren Arm. Sie deutete auf einen Mann, der zwar nicht aussah wie ein Polizist, aber einen der Streifenwagen ansteuerte.
„Was macht ihr denn hier?“, rief er ihnen zu. „Verlasst bitte sofort das Waldgebiet. Ihr stört bei den Untersuchungen.“
„Was denn für Untersuchungen?“, wollte Ella dann doch wissen, aber der Mann schüttelte nur den Kopf.
„Nichts für kleine Mädchen. Fahrt nach Hause.“
Gesagt, getan. Wortlos wandten sich die Zwillinge ab und fuhren schweigend zurück zum Fahrradweg, der sie zu ihrem Haus im Elsternweg führen würde.
*
Kommissar Nischke stöhnte, als er die beiden Mädchen davonradeln sah, eines davon auch noch so blond wie das tote Mädchen. Hoffentlich würden sie seinem Rat folgen und auch die nächsten Tage nicht hier im Wald herumlungern. Nicht, solange der Mordfall nicht geklärt war.
Peter Nischke hatte sich freiwillig für die Soko entschieden. Sie war tausendmal besser als die langweiligen Kontrollfahrten durch das Dorf, bei denen er Strafzettel für zu schnelles Fahren austeilen durfte. Er hatte schon mal einen Mord aufgeklärt und war sich sicher, dass er es diesmal wieder tun würde.
Er holte eine extra Rolle rot-weiß-gestreiftes Absperrband aus seinem Wagen und ging zurück zu seinen Kollegen.
Die Stelle, an der die Tote aufgefunden worden war, lag in einem dunkleren Teil des Waldes, zu dem nur ein kleiner Trampelpfad vom Hauptweg führte, ganz in der Nähe einer Lichtung. Normalerweise hielten sich dort keine Spaziergänger auf, schon gar keine Jogger. Der Weg war viel zu verwachsen. Wurzeln zogen sich über die Walderde. Farn wucherte zwischen den Bäumen. Die Luft wirkte beklemmend.
Für ein junges Mädchen war es erst recht kein Ort, an dem man sich alleine aufhalten sollte.
„Spurensuche vorerst abgeschlossen?“ Nischke sah auf den Haufen Blätter, unter denen die Tote verscharrt gewesen war. Kein Wunder, dass der Blätterhaufen dem Jogger heute Morgen aufgefallen war. Es war Mitte Juni.
Nischkes Kollegen nickten. Das Gelände war abgesperrt, die Tote bereits wegtransportiert. Proben von dem Laub hatten sie in kleine Plastiktüten gefüllt und im Auto verstaut. Ein einzelnes rotes Haar war gefunden worden. Für heute konnten sie nicht viel mehr tun.
Der Kommissar wollte verschwinden, bevor seine Freunde von der Zeitung hier auftauchten. Die drei Streifenwagen fuhren zurück aufs Revier. Hoffentlich würden morgen schon die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchungen vorliegen.
*
In einem Vorort Hamburgs wurde die Leiche der achtzehnjährigen Laura B. gefunden. Ein Jogger entdeckte sie am Montagmorgen im Berumer Forst, abseits des Hauptweges. Noch am selben Morgen meldeten die Eltern ihre Tochter als vermisst, nachdem sie nachts nicht nach Hause gekommen war. Nach Polizeiangaben war das Mädchen im Unterholz versteckt und vollständig bekleidet gewesen.„Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es ein Tötungsdelikt“, sagte Hauptkommissar und Polizeisprecher Peter Nischke. Endgültige Klarheit soll die Obduktion des Mädchens bringen. Staatsanwaltschaft, Landeskriminalamt und Gerichtsmedizin haben die Untersuchungen aufgenommen.
Blind verliebt
Rico holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Das Astra war seins. Die Alkoholfreien gehörten Isabel. Konstantin trank kein Bier, soweit er wusste. Dafür hatte der jede Menge anderer Lebensmittel und Getränke für sich reserviert, die er höchstwahrscheinlich nachts in sein Zimmer transportierte und dort verschlang. Rico sah seinen WG-Bewohner Konstantin kaum. Isabel war da anders. Eine gute Bekannte. Sie konnte prima zuhören.
Nur heute Abend war sie nicht da. Montagabend nahm sie Tanzstunden, dabei hätte Rico ihr gerne von Ella erzählt. Isabel war jemand, mit der man über so etwas reden konnte.
Das Bier tat gut. Draußen war es schwül und die Hitze war bis in die Zimmer der WG gedrungen. Ricos Blicke fielen auf den Kalender, der mit Magneten am Kühlschrank befestigt war. Juni. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie heißes erst im Juli und August werden würde.
Vielleicht könnte er mit Ella irgendwo hinfahren, weg von hier. Nach Italien, an die Küste. Ella würde mitmachen, ganz bestimmt. Und dann würden sie gemeinsam am Strand entlanglaufen, Ella in ihrem weißen Kleid. Sie würde sich von ihm küssen lassen und er würde in ihre funkelnden Augen schauen.
Ricos Tagtraum endete abrupt, als jemand zur Tür hereinstürmte. Es war Konstantin. Er warf nur einen kurzen Blick in die Küche, zu Rico, und verschwand dann sofort in seinem Zimmer. Konstantin war viel unterwegs in den letzten Tagen. Oft kam er erst spät nach Hause. Rico konnte sich kaum vorstellen, dass es im Moccabella noch so spät so viele Gäste zu bedienen gab.
Vielleicht traf er sich mit einem Mädchen. Rico lächelte schief. Morgen würde er sich selbst mit einem Mädchen treffen. Mit seinem Mädchen.
*
Ella war froh, als sie nach dem langen Schultag am Dienstag wieder an die frische Luft treten konnte. Der Direktor hatte in der letzten Stunde noch eine Versammlung zusammengetrommelt, an der alle acht Jahrgänge des Gymnasiums teilnehmen mussten. Die Luft in der Aula war stickig gewesen. Das Thema beklemmend. Ein totes Mädchen im Wald. Ella war ein Schauer über den Rücken gelaufen.
Diesmal also doch was Größeres.
Sie hatte Augenkontakt zu Lydia gesucht, doch die schien genauso perplex wie sie selbst und hatte sie nicht bemerkt.
Als der lange Schultag endlich zu Ende war, wollte Ella nicht länger über die Tote nachdenken, und erst recht nicht, als sie Ricos dunkles Cabrio sah. Er stand im Schatten der alten Kastanie, am Hintereingang der Schule. Diesmal hatte er seine Ray Ban schon vorher abgesetzt. Sie lächelte und setzte sich zu ihm in den Wagen.
Rico lehnte sich zu Ella und küsste sie, bevor sie es tun konnte. „Hast du alles?“ Ella nickte und dachte an den weißen Bikini, den sie sich von Carlotta ausgeliehen hatte. Sie würde sich am See umziehen müssen.
Sie fuhren los. Fahrtwind blies Ella die langen Haare aus dem Gesicht und mit ihnen all die Dinge, die sie momentan beschäftigten. Dieser Nachmittag gehörte ihr. Ihr und Rico.
Rico legte seinen Arm um Ellas Sitz und fuhr einhändig. Das kam immer gut an. Ella nahm die Geste grinsend wahr. Sie wollte endlich mehr wissen über diesen Jungen, der so wahnsinnig gut aussah in seinem Cabrio.
„Erzähl mir von dir“, sagte sie, als sie am See ankamen und ausstiegen. Diesmal waren sie nicht allein, ein ähnlich junges Pärchen lungerte am anderen Ende des Sees herum, doch die würden nicht stören.
Das Wasser vor ihnen glitzerte einladend. Ella streifte ihr T-Shirt ab, und die Shorts. Sie überlegte, ob sie für den Bikini hinter einen Busch gehen sollte, doch wendete sich nur kurz von Rico ab. Momentan hatte sie eine gute Figur und einen schönen Teint und nichts, für das sie sich schämen müsste. Sie stieg ins Wasser.
Rico stand noch am Ufer und überlegte, was er schon Aufregendes von sich preisgeben konnte. Ella war so wunderschön, so vollkommen, dass er Angst hatte, ihren Erwartungen nicht gerecht zu werden. Jemanden wie sie konnte er nur langweilen.
Er zog seine Schwimmshorts über und ging Ella nach.
„Ich will weg von hier, in eine Stadt, wo niemand meinen Namen und meine Geschichte kennt“, sagte er schließlich und sah in Ellas funkelnde Augen. Er bemerkte ihre Sommersprossen, die Nase und Wangen zierten. Ella lächelte. Sie legte sich auf ihren Rücken, schloss die Augen und ließ sich von den kleinen Wellen des Sees tragen.
„Wir könnten die erste Maschine nach London nehmen. Heute Abend noch. Und von da aus mit dem Eurostar nach Paris. Unter dem Ärmelkanal durch“, schwärmte sie. Es war nur ein Wunsch, ein Traum. Aber Ella konnte ihn sich in diesem Moment so bildhaft vorstellen, dass er wie Realität auf sie wirkte.
„Mit der schönsten Frau an meiner Seite.“
Ella schlug ihre Augen auf. Sie sah zu Rico, der schief lächelte. Ihre Fingerspitzen fingen wieder an zu kribbeln. Sie hatte sich in kürzester Zeit verliebt, in einen Jungen, der mit ihr ein Abenteuer erleben wollte und von dem sie sonst so gut wie nichts wusste.
Sie schwamm zu ihm und küsste ihn und dachte an nichts anderes mehr. Da waren nur noch hellblonde Haare, honigfarbene Augen, warme Lippen. Und ein erfüllter Traum.
Die Welt um sie herum war vergessen.
*
Jutta Larsen legte die Zeitung beiseite. Sie konnte es nicht ertragen, über das Unglück des jungen Mädchens zu lesen. In einem Jahr würden ihre eigenen Töchter achtzehn sein, genauso wie die Tote. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn …
Lydia entdeckte die kleinen Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Mutter. Sie brachte den Teller mit den Käse- und Wurstbroten aus der Küche und stellte ihn auf den Gartentisch.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte sie. Ihre Blicke fielen auf die Zeitung, in der der Artikel über das tote Mädchen aufgeschlagen war.
„Laura war nur ein Jahr älter als du und Ella“, stellte Jutta betroffen fest. „Ich muss die ganze Zeit an euch denken. Solange der Täter nicht gefasst ist, ist hier kein Mädchen mehr sicher.“
Auch Lydia hatte den Artikel schon mehrmals gelesen. Noch war nicht sicher, ob es sich tatsächlich um einen Mord handelte. Es hätte genauso gut ein Unfall sein können. Ihre Mutter las einfach zu viele schlechte Krimis.
„Vielleicht war es kein Mord“, Lydia nahm sich ein Käsebrot und hoffte, ihre Mutter würde aufhören, sich über die Tote Gedanken zu machen. Sie machte Lydia nervös.
„Wo bleibt eigentlich Ella?“ Jutta klang gereizt. Schlecht geschlafen hatte sie. Überhaupt war der ganze Tag wenig erfreulich gewesen. Dann auch noch dieser Artikel.
Lydia zuckte die Schultern. Dabei hatte sie Ella nach der Schule gesehen, in einem dunkelblauen Cabrio. Beifahrersitz.
„Wahrscheinlich bei Carlotta. Die Kaysers haben doch so einen großen Pool“, vermutete Frau Larsen und gab sich damit zufrieden.
„Ella ist nicht bei Carlotta.“ Eigentlich war es Lydia egal, wo ihre Schwester steckte. Aber wenn es schon mal eine Chance gab, ihrer Mutter zu zeigen, dass auch Madame Großartig Dinge tat, von denen sie nichts wusste, dann wollte Lydia sie auch nutzen. „Ella hat einen neuen Freund.“
Jutta Larsen legte ihr Brot zurück auf den Teller. „Kennst du ihn?“
„Nein, er geht nicht auf unsere Schule. Er ist älter. Sie war bei ihm im Auto“, erzählte Lydia und verspürte nicht eine Spur schlechten Gewissens. Es geschah Ella recht.
Jutta Larsen sah zurück zu der Zeitung. Dann auf die hölzerne Wanduhr, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Mittlerweile war es kurz vor sieben. Ella hatte um vier Uhr Schulschluss gehabt. Das hieß, sie hatte bereits drei Stunden mit einem Jungen verbracht, von dem niemand etwas wusste. Wo doch gerade jetzt ein Mädchenmörder herumlief.
*
Das andere Pärchen hatte den See verlassen, als Ella und Rico zurück ans Ufer schwammen, und das war auch besser so, denn Ella hatte mit Rico allein sein wollen. Wunderschön war es gewesen.
Irgendwann schaute sie zu Rico, der seine Hand in ihre gleiten ließ und anfing, mit ihren Fingerkuppen zu spielen.
Sie lachten sich an. „Immer noch Lust auf London und Paris?“, fragte Rico und küsste Ellas offene Handfläche. Diese wollte den Kuss für immer behalten und schloss ihre Hand, als ob sie ihn dadurch aufbewahren konnte.
Dann schüttelte sie den Kopf.„Wer will nach London, wenn er jemanden wie dich haben kann?“ Sie stand auf und sammelte ihre Kleider von der Wiese ein. „Du bist mein Abenteuer.“ Über ihren Bikini zog sie Ricos Hemd.
„Steht dir!“, rief Rico ihr zu und half ihr beim Zuknöpfen, sobald sie sich wieder neben ihm niedergelassen hatte.
„Ich glaube, da gibt es jemanden, der mir noch viel besser steht …“
Carlotta würde Augen machen, wenn sie wüsste, mit wem ihre beste Freundin neuerdings ihre Freizeit verbrachte. Rico war der Sechser im Lotto, auf den Ella nur gewartet hatte. Mit ihm konnte sie sich sehen lassen. Ganz davon abgesehen, dass sie Hals über Kopf in ihn verknallt war. Sie lösten sich nur zögernd voneinander, als Ella auf das Cabrio deutete.
„Ich fahre dich.“
Diesmal bat Ella Rico, nicht direkt vor ihrem Haus zu halten.
Der Kommissar
Kommissar Nischke hatte die Resultate der Obduktion von Laura Bremer bei der Uniklinik abgeholt. Das Protokoll war eindeutig: Die junge Laura war umgebracht worden.
Würgemale und kleine Halbmonde, höchstwahrscheinlich von Fingernägeln, verunstalteten ihren Hals. Blaue Flecken an Armen und Handgelenken deuteten auf eine Auseinandersetzung hin, zudem waren ihre Füße wund gewesen. Laura hatte sich gewehrt − oder es zumindest versucht.
So weit schien der Fall relativ durchsichtig. Ein klares Tötungsdelikt, hinter dem ein möglicherweise völlig nachvollziehbares Motiv steckte.