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Haben Sie sich schon einmal gefragt, was hinter den Türen von psychotherapeutischen Praxen so vor sich geht? Dann dürfen Sie gespannt sein. In diesem unterhaltsamen und informativen Buch erfahren Sie alles, was Sie schon immer über Therapien wissen wollten. Der Psychotherapeut Joshua Fletcher nimmt Sie mit auf eine spannende Reise in die Therapiesitzungen von vier Klienten und lässt Sie an deren Selbstfindung und Genesung teilhaben. Und er gewährt Ihnen erstaunliche Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt des Therapeuten, der häufig mit den gleichen Problemen kämpft. Gespickt mit konkreten Ratschlägen zu häufigen psychischen Problemen wie Angstzuständen, Zwangsstörungen und Panikattacken sowie hilfreichen Tipps, wie Sie den richtigen Therapeuten finden, ist dieses Buch eine inspirierende Lektüre – mit einer Prise schwarzem Humor und zugleich voller Hoffnung, dass eine bessere Zukunft immer möglich ist.
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Joshua Fletcher
Und wie fühlen Sie sich damit?
Joshua Fletcher
Und wie fühlen Sie sich damit?
Was Sie schon immer über Psychotherapie wissen wollten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Wichtiger Hinweis
Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle psychotherapeutische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie fachlichen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.
Originalausgabe
1. Auflage 2025
© 2025 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
D-80799 München
Tel.: 089 651285-0
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2024 bei Orion Spring, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd., unter dem Titel And How Does That Make You Feel – Everything You (N)ever Wanted to Know About Therapy.
© 2024 by Joshua Fletcher. All rights reserved.
Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Katja Theiß
Redaktion: Rainer Weber
Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: Adobe Stock/Kseniia_Fast
Layout und Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0633-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-044-7
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Einleitung
Die inneren Stimmen des Therapeuten
Daphne
Die Ursprünge der Angst
Levi
Präsentationsabend an der High School
Zahra
Panikattacken
Der Kampf der Therapieformen
Harry: Das Portal, Juni 2008
Noah
Insta-Therapy
Mayfield Depot: Manchester, Juli 2015
Daphne
Referenzrahmen
Levi
Selbstgeißelung
Zwangsstörungen
Introjektion
Zahra
Expositions- oder Konfrontationstherapie
Harry: Spät aufbleiben, Juli 2008
Noah
Soziale Phobien
Daphne
Kampf, Flucht, Erstarrung oder Unterwerfen
Emotionaler Konservatismus: Ganz nah
Harry: Unter den Flutlichtern, Oktober 2009
Levi
Exposition-Reaktionsmanagement
Selbstfürsorge
Zahra
Fahrangst
Harry: Das Bootshaus, März 2010
Noah
Depressionen
Lidl
September 2015
Daphne
Harry: Quizshow am Nachmittag, April 2012
Levi
Häusliche Gewalt
Speakeasy mit Jazz
Zahra
Brief an meine Angst
Harry: Der große Donut, Juni 2012
Noah
Wenn die Therapie nicht anschlägt
Daphne
Staubsauger
Noah
Levi
Wenn es endet
Harry: Ein Aussetzen, ein Flattern, Juni 2013
Zahra
Keep calm and carry on
Die Schönheit der Therapie
Das Interview: Mai 2015
Danksagung
Falls Sie schon mal das Vergnügen hatten, auf einer Party einem Therapeuten oder einer Therapeutin zu begegnen (und ich rede hier von den Guten unseres Fachs!), haben Sie wahrscheinlich schon festgestellt, dass wir aufmerksam sind. Wir geben unser Bestes, um zuzuhören. Und zwar nicht, um Beweise für all Ihre Missetaten zu entdecken oder um in Ihre geheimsten Ecken zu blicken, die Sie lieber nicht zeigen möchten. Ihre dunkelsten Geheimnisse durchschauen wir garantiert nicht; wir sind keine Gedankenleser und auch keine lebenden Lügendetektoren. Wir sind aufmerksam, weil wir gerne zuhören. Dafür wurden wir ausgebildet.
Wenn wir Sie – im Therapieraum oder im Leben – fragen: »Und wie fühlen Sie sich damit …«, dann sind wir interessiert. Neugierig. Wir wollen verstehen. Ähnlich wie bei einer Innenarchitektin, die jeden Raum, den sie betritt, mental abscannt, oder bei dem Bauarbeiter, der an die Wand des Bauprojekts eines anderen klopft, fällt es uns oft schwer, vom Tagesgeschäft abzuschalten. Gerade weil dieser Job einen großen Teil unserer eigenen Identität ausmacht. In sozialen Situationen stelle ich oft fest, dass sich Menschen unwohl fühlen, wenn ich von meinem Beruf erzähle. Ihre Körpersprache wird immer defensiver, oft gefolgt von der halb scherzhaften Frage: »Analysieren Sie mich jetzt etwa?« Sie sind misstrauisch, und als qualifizierter, erfahrener Therapeut kann ich tatsächlich bestätigen, dass dieser spielerische Vorwurf gar nicht so weit hergeholt ist. Meine professionelle Neugier ist aber nicht gleichzusetzen mit einer invasiven Analyse, die viele zunächst fürchten – sie erwächst aus Mitgefühl, positiver Neugier und Gewohnheit.
Hören wir Therapeutinnen und Therapeuten auf einer Party oder einem Familienfest zu, fällt es uns schwer, die jahrelange Ausbildung auszublenden, inklusive der Bücherregale voller Theorien und Ansätze, die jede Menge psychologische Problemlösungen enthalten. Denn der Verstand jedes Menschen schöpft automatisch aus seiner eigenen Bibliothek, und wir sind da nicht anders. Aber das bedeutet nicht, dass wir das, was uns das Gehirn vorschlägt, befolgen oder annehmen. Oft wünschen wir uns sogar, wir könnten diesen Teil unseres Gehirns abschalten, wenn wir nicht arbeiten, besonders, wenn wir einfach nur mit einem Glas Wein vor dem Fernseher abhängen wollen.
Therapeutinnen und Therapeuten verhalten sich menschlich, daran sollte man denken. Deshalb ist es auch okay, sie wie jeden anderen Menschen innerhalb und außerhalb des Therapieraums zu betrachten. Wir haben nicht alles im Griff. Wir sind mit Fehlern behaftet, wir haben unsere Laster und wir arbeiten permanent an unseren persönlichen Problemen. In diesem Buch sieht man, wie menschlich wir sind, denn ich teile hier meine Schwächen, Unvollkommenheiten, Ängste und inneren Gedanken. Ich tue das nicht, um meinen Beruf in Verruf zu bringen, sondern um Menschen zu zeigen, dass Therapeutinnen und Therapeuten nicht so furchteinflößend und heilig sind wie vielleicht befürchtet.
Hinter der Tür zum Therapieraum wartet kein allmächtiger Besserwisser, der Sie bei der ersten Gelegenheit angeht, verurteilt oder beschämt – versprochen. Stattdessen erwartet Sie im Idealfall jemand, der zuhören will und bereit ist, für eine kurze Zeit ein gewissenhafter, nicht urteilender Gast in Ihrer Welt zu sein, in dem Wissen, dass Sie sich sicher verabschieden können, bis Sie sich das nächste Mal entscheiden, die Tür wieder zu öffnen. Ich hoffe, dass meine Klientinnen und Klienten so über mich und meine Praxis denken.
Ich habe mich als Psychotherapeut auf Angstzustände spezialisiert, und ich mag meine Arbeit sehr. Ängste können wir alle in gewisser Weise nachvollziehen; ich hatte in der Vergangenheit massiv mit ihnen zu kämpfen. Und bis heute sind meine Ängste nicht komplett verschwunden. Doch dank einer lebensverändernden Therapie und Psychoedukation kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich ein glückliches und erfülltes Leben führe – ein Ziel, das ich mir für alle meine Klienten und Klientinnen wünsche. Ihnen dabei zu helfen, ein gutes Leben zu führen, ist mein Antrieb als Therapeut. Angst fühlt sich für viele lähmend an, aber jedes Mal, wenn eine meiner Klientinnen oder Klienten sich in die Ungewissheit hineinstreckt und sich den eigenen Ängsten stellt, erfüllt mich das mit größter Bewunderung. Sie sind nicht zerbrochen. Und Sie sind es auch nicht.
Als Gesellschaft haben wir Fortschritte darin gemacht, wie wir über psychische Gesundheit reden, aber vor uns liegt noch ein langer Weg. Instagram-Hashtags und firmeninterne Wohlfühltage bringen uns nur bedingt weiter, und es gibt immer noch viel zu viele Menschen, die denken, dass schwierige Emotionen am besten unter Verschluss gehalten werden, weil sie sich schämen oder ihnen irgendetwas peinlich ist. Ich glaube, dass eine Therapie fast allen Menschen in irgendeinem Stadium ihres Lebens helfen kann, aber ich glaube auch, dass vieles am therapeutischen Prozess missverstanden wird. In diesem Buch möchte ich mit einigen dieser Mythen und Missverständnisse aufräumen, um zu zeigen, dass ein Gespräch über psychische Gesundheit mit einer Fachkraft weder erschreckend verletzlich macht noch unendlich selbstverliebt sein muss.
Und wie fühlen Sie sich damit? ist um vier Fallstudien herum aufgebaut. Therapeutinnen und Therapeuten, die dies lesen, schreien an dieser Stelle vielleicht gerade auf: »Oh mein Gott, das ist Ketzerei! Was ist mit der Schweigepflicht?!« In diesem Buch erfahren Sie zwar die Wahrheit darüber, wie es sich anfühlt, Therapeut zu sein, aber die Vertraulichkeit meinen Klientinnen und Klienten gegenüber hat für mich oberste Priorität. Aus diesem Grund wurden alle persönlichen Merkmale, Darstellungen, Daten und Ereignisse verschlüsselt und anonymisiert, um sicherzustellen, dass niemand identifizierbar ist. Dieser Schutzprozess wird durch strenge klinische Überwachung und rechtliche Beratung gestützt.
Dieses Buch ist mein Beitrag zu mehr Offenheit im Umgang mit psychischem Wohlbefinden und bietet einen Einblick in ein Feld, das oft in Geheimnisse gehüllt ist. In Und wie fühlen Sie sich damit? erfahren Sie, wie es ist, als Therapeut zu leben und gleichzeitig als ein sehr reales und nicht wirklich perfektes menschliches Wesen zu existieren. Dazu gehören überraschende Geschichten von Schicksalsschlägen, Tragödien und Fehlern. Ich schreibe über Dinge, die nur wenige meines Berufsstands erzählen würden, und über Dinge, bei denen ich mich frage, ob ich sie überhaupt hätte erzählen sollen. Aber wenn auch nur ein kleiner Teil meiner Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches denkt, dass eine Therapie gar nicht so schlimm oder weniger beängstigend ist, oder man über eine Therapie locker auch mal bei einer normalen Unterhaltung sprechen kann, dann ist mein größter Wunsch für dieses Buch erfüllt.
Ich möchte hier meine inneren Stimmen vorstellen – allesamt ganz schön lautstarke Charaktere, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen. Meine Ausbildung zum Therapeuten und meine eigene Therapie haben mir geholfen, ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Ein Teil meiner emotionalen Entwicklung, einschließlich meiner Angstbewältigung, bestand darin, die verschiedenen Gedanken und Stimmen zu identifizieren, die mir mein Verstand im Laufe des Tages entgegenschleudert. Eines Morgens nahm ich einen Stift zur Hand und beschloss, ihnen im Laufe der Woche jeweils einen Namen zuzuordnen. Mit der Zeit stellte ich mir diese Stimmen wie Figuren an einem großen, runden Gedankentisch vor – jede Stimme streitet, debattiert und kämpft in meinem Kopf um Aufmerksamkeit.
Die Stimmen, denen man in meinem inneren Dialog während der Therapiesitzungen begegnet, sind folgende:
DER ANALYTIKER – sieht Dinge aus der Perspektive der Beratungstheorie.
DIE ANGST – die Stimme der Sorge, die sich auf Bedrohungen und unwahrscheinliche Katastrophen konzentriert.
DIE BIOLOGIE – Hunger, Müdigkeit, Schmerzen, Unwohlsein, Toilettengang, Temperatur etc.
DAS MITGEFÜHL – die Bereitschaft, zu verstehen und zu helfen.
DER KRITIKER – eine urteilende Stimme.
DER DETEKTIV – die Stimme, die nach Hinweisen und Bedeutung sucht.
DIE EMPATHIE – der Versuch, sich vorzustellen und nachzuempfinden, wie andere sich fühlen.
DER ESKAPIST – die Stimme, die mich ermutigt, schwierige Gefühle zu vermeiden.
DIE INTUITION – ein Anstoß aus dem Bauch heraus, der über Rationalität und Vernunft hinausgeht.
DIE RESPEKTLOSIGKEIT – bizarre und unerwartete Gedanken, die sich in den Therapieraum schleichen.
DER RETTER – wünscht eine Person außerhalb der beruflichen Pflichten zu »retten«.
DER TRIGGER – Eifersucht, Angst, Wut, Abwehrhaltung, verbundenes Trauma.
DIE WILLENSENTSCHEIDUNG – metakognitive Intervention oder, weniger technisch ausgedrückt, die Entscheidung, auf eine passendere Stimme zu hören als auf die, die zuerst auftaucht.
Als Tony sich einen Moment Zeit nahm, um über das nachzudenken, was er mir gerade erzählt hatte, schaute ich auf die Uhr. Die Sitzung war bahnbrechend gewesen, denn Tony und ich hatten hart daran gearbeitet, herauszufinden, warum er sich oft unwohl fühlte, wenn er allein war. Dieser zutiefst therapeutische Moment wurde jedoch durch meine dumme Entscheidung getrübt, kurz vor seiner Ankunft schnell noch einen großen Americano zu schlürfen.
DIE BIOLOGIE: Du wirst dich einpissen.
DER KRITIKER: Idiot. Du hättest vor der Sitzung aufs Klo gehen sollen.
DIE ANGST: Du weißt schon, dass es schlecht für deine Prostata ist, wenn du krampfhaft einhältst, oder?
Unbeholfen richtete ich mich auf dem Stuhl auf und versuchte, das Unbehagen zu lindern. Anzukündigen, dass man eine Toilettenpause braucht, ist an sich ja nicht falsch, aber vier Minuten vor Schluss und zu einem so entscheidenden Zeitpunkt wollte ich einfach nicht den laufenden Durchbruch ausbremsen. Ich richtete meinen Blick auf Tony und versuchte, mich ganz auf den Moment zu konzentrieren.
Tony: Für mich ergibt das schon seit einer Weile Sinn. Im Rückblick stelle ich fest, dass ich nur sehr wenige glückliche Assoziationen mit dem Alleinsein verbinde. Als wir während unserer Expositionstherapie diese Gefühle erforscht haben, kamen bei mir Erinnerungen an die Scheidung hoch. Das Sitzen in der Wohnung meines Bruders. Der Geruch von Zigaretten und feuchter Wäsche …
Er hielt inne und sah mir in die Augen.
Tony: Selbst als Kind war ich meistens allein, um Streitereien zu entgehen. Dem ständigen Streit unten im Haus. Oder auch, um den fiesen Jungs in der Schule zu entkommen. Ich bin dann hinter die Sporthalle gelaufen, um meine Ruhe zu haben. Allein zu sein bedeutet für mich, dass ich der Gefahr entkomme, aber um den Preis, dass ich mit der Traurigkeit zusammensitze.
Josh (also ich): Vielleicht laufen wir gar nicht vor dem Gefühl der Unsicherheit davon, sondern vor dem Gefühl der Traurigkeit?
Tony: Genau … Ja, es ist, als ob ich mir immer vornehme, nie allein zu sein, nur für den Fall, dass ich wieder diese Traurigkeit verspüre. Ich mag mein Leben wirklich, aber das fühlt sich wie eine sehr starke, alte Angst an. Ich verstehe jetzt, warum ich immer Angst davor habe, allein zu sein, selbst wenn es nur fünf Minuten sind.
Josh: Wie lauten also unsere Hausaufgaben?
Tony: Logisch: Ich muss üben, allein zu sein.
Josh: Warum?
Tony: Weil ich meine Assoziation mit dem Alleinsein verändern will. Ich will Momente für mich genießen und nicht jedes Mal erschrecken, wenn Helen zu ihrer Schwester geht. Ich will nicht mehr die Sekunden zählen, bis die Kinder von der Schule nach Hause kommen, damit ich nicht allein bin. Wow, das ist eine komische Vorstellung.
DIE INTUITION: Erinnere ihn an die Begriffe, die ihr beide besprochen habt.
Josh: Erinnern Sie sich, wie wir festgestellt haben, dass es einen großen Unterschied zwischen einsam sein und allein sein gibt? Ich finde, das klingt nach einer tollen Hausaufgabe für Sie.
Tony lächelte nervös, aber er wirkte entschlossen.
DAS MITGEFÜHL: Es geht ihm wirklich gut.
DIE EMPATHIE: Diese Hausaufgaben sind ganz schön hart, aber er hat erkannt, dass es ein Schritt in die richtige Richtung ist.
DIE BIOLOGIE: Du wirst dich auf jeden Fall einpissen.
DER ESKAPIST: Du musst diese Sitzung beenden, und zwar schnell.
Zum Abschluss der Sitzung habe ich einen der ältesten Therapeuten-Sprüche rausgekramt, die es gibt:
Josh:Gerade hab ich entdeckt, wie spät es schon ist, Tony, und unsere Sitzung ist fast vorbei. Sehen wir uns nächste Woche zur gewohnten Zeit? Wenn Sie möchten, können wir dann vielleicht die Hausaufgaben besprechen?
Ich habe Tony schneller aus dem Zimmer komplementiert, als mir lieb war, aber ich war verzweifelt. Als er den Aufzug betrat, warf ich ihm noch ein Lächeln zu, kurz bevor sich die Türen schlossen. Wie ein Pferd mit einer Blase in Wassermelonengröße galoppierte ich den Korridor hinunter und stürzte Richtung Toilettentür. Zu meinem Entsetzen war die Kabine belegt und das einzige Pissoir wurde von Dr. Patel aus der Hausarztpraxis im Erdgeschoss benutzt. Wenn man dringend pinkeln muss, sind die Sinne erstaunlich geschärft, denn ich konnte anhand der Geräusche von Dr. Patels Hose darauf schließen, dass er den Reißverschluss öffnete und nicht schloss. Warum zum Teufel war er überhaupt nach oben gekommen, um diese Toilette zu benutzen?
Alles tat weh. Ich konnte nicht länger warten. Ich warf einen Blick auf das Waschbecken und holte tief Luft. »Es tut mir wirklich leid, Dr. Patel, aber das ist ein Notfall.« Dann habe ich es getan. Ich habe ins Waschbecken gepinkelt. Der große Spiegel über dem Waschbecken wirkte wie die poetische Strafe für meine Tat, denn ich konnte nur mich selbst darin sehen.
DIE BIOLOGIE: Danke.
DER KRITIKER: Dr. Patel denkt, du bist abscheulich.
DAS MITGEFÜHL: Aus einer schlechten Situation das Beste herauszuholen, ist okay.
Ich konnte hören, wie Dr. Patel den Reißverschluss sofort wieder hochzog.
Ich ging zurück in mein Büro und verscheuchte die sich aufdrängenden Gedanken an Kinder, die ihre unschuldigen Hände in dem Waschbecken wuschen, das ich gerade beschmutzt hatte. Ich hatte penibel darauf geachtet, alles zu waschen und zu desinfizieren, aber ich fühlte immer noch ein anhaltendes Gefühl der Scham.
DIE WILLENSENTSCHEIDUNG: Du kannst das jetzt hinter dir lassen. Geh zurück an die Arbeit.
Eine Therapiesitzung dauert in der Regel eine sogenannte »therapeutische Stunde«, wobei die Dauer der Sitzungen meistens auf fünfzig Minuten begrenzt ist. So bleibt zwischen den Terminen Zeit für eine Pause, damit wir uns selbst erden, Notizen aufschreiben und abspeichern oder ins Waschbecken urinieren können. Normalerweise verbringe ich diese zehnminütige Pause damit, achtsam zu atmen und die vorherige Sitzung Revue passieren zu lassen, oder ich scrolle gedankenlos durch Memes auf Reddit. Ich ging zurück in mein Büro und schaute auf meinen Terminkalender, um zu sehen, wer als Nächster käme. Ich hatte eine neue Klientin mit dem Namen »Daphne« eingetragen. Es war kein Nachname angegeben. Sie sollte in zwei Minuten zur Erstberatung kommen. Dass ich nur noch wenige Sekunden zur Vorbereitung hatte, löste Panik in mir aus.
DER TRIGGER: Erwischt! Du bist unvorbereitet. Hochstapler!
DIE ANGST: Du siehst aus wie ein Streuner. Was, wenn Daphne denkt, dass du unprofessionell bist?
Ich eilte zu meinem Schreibtisch, riss die Schublade auf und holte eine Bürste heraus, um sie durch meine Haare zu ziehen. Dann schaltete ich meine Handykamera ein und benutzte sie als Spiegel, um zu prüfen, ob mein Gesicht vorzeigbar aussah.
DER KRITIKER: Mann, du hättest dich schon rasieren können!
DER ANALYTIKER: Du beurteilst dich immer noch nach dem Äußeren. Darüber kannst du später nachdenken.
Ich erinnerte mich an das Telefongespräch mit Daphne und daran, wie sie betont hatte, sie wolle anonym bleiben, was bei Menschen, die ihre Privatsphäre schützen wollen, nicht völlig ungewöhnlich ist. Ich bin auf jeden neuen Klienten gespannt, aber diejenigen, die besonders hartnäckig darauf bestehen, anonym zu bleiben, finde ich, ehrlich gesagt, immer ein bisschen aufregend.
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Ich frage mich, wie viele Menschen Daphne getötet hat.
Die Uhr tickte und der Zeiger wies nun auf fünf Minuten nach. Immer noch keine Daphne. Ich streifte durchs Zimmer und sorgte dafür, dass alles ordentlich und aufgeräumt aussah – ich richtete die Kissen, sorgte dafür, dass meine Pflanzen nicht so vernachlässigt aussahen, und überprüfte, ob mein Handy auf stumm gestellt war. Dann setzte ich mich hin und wartete.
Ich starrte auf die Tür wie ein Hund, der darauf wartet, dass sein Besitzer nach Hause kommt. Acht Minuten waren inzwischen vergangen. Immer noch keine Daphne.
DER KRITIKER: Was zum Teufel macht diese Daphne da? Das ist unhöflich. Zeit ist Geld.
DIE EMPATHIE: Vielleicht ist es ihr erstes Mal Therapie. Vielleicht hat sie wirklich Angst? Gib ihr eine Chance. Du erinnerst dich doch an deine eigenen Therapie-Erfahrungen?
DIE ANGST: Was, wenn sie auf dem Weg hierher von einem Bus angefahren wurde?
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Stell dir vor, sie wird dabei erwischt, wie sie stattdessen mit ihrem Schirm auf den Bus einschlägt. »Stirb, Bus, stirb!«
DER ANALYTIKER: Du bist nervös, weil du aufgeregt bist.
DIE BIOLOGIE: Dein sympathisches Nervensystem wird aktiviert.
DAS MITGEFÜHL: Schon okay, wenn du nicht ruhig und gelassen bist – und wenn du dich unwohl fühlst.
DER DETEKTIV: Alle Beweise deuten darauf hin, dass sie nicht auftauchen wird.
DER KRITIKER: Wow, Mann, du liebst es, zu viel nachzudenken.
DIE WILLENSENTSCHEIDUNG: Ich werde mich auf meinen Atem und die Geräusche draußen konzentrieren.
DAS MITGEFÜHL: Gute Idee.
Zwanzig Minuten waren vergangen, und ich kam zu dem Schluss, dass Daphne nicht auftauchen würde. Das ist in Ordnung und kann passieren (nicht nur mir, sondern allen aus meiner Zunft). Man nennt das »No Show«. Falls Sie Ihren Therapeuten oder Ihre Therapeutin auch mal versetzen sollten, sollten Sie wissen, dass er oder sie sich zunächst Sorgen um Sie machen wird. Sie hoffen, dass es Ihnen gut geht, und dann fluchen sie heimlich, um ihrem Hass auf Sie Luft zu machen. Kleiner Scherz – den Hass heben sie sich für sich selbst auf! Wenn Sie nicht auftauchen, ist das zwar frustrierend, aber diese vorübergehende Frustration wird fast immer von echter Sorge um Ihr Wohlergehen aufgewogen.
Um das Daphne-förmige Loch in meinem Therapieraum zu stopfen, schaute ich mir ein paar lustige Hundevideos auf YouTube sowie emotionale Momente aus dem Film Hook an, dann klappte ich meinen Laptop zu und packte zusammen, um nach Hause zu fahren. Vor dem Aufzug drückte ich auf den Knopf und beobachtete, wie die blinkenden Nummern der Etagen immer näher kamen. Schließlich öffneten sich die Fahrstuhltüren und ... meine Kinnlade klappte herunter.
Wie der Preis aus einer Spielshow aus den Neunzigern wurde einer der am besten aussehenden Menschen enthüllt, die ich je gesehen habe. Ich erkannte sie sofort. Es handelte sich um Prominenz der Oberklasse – einen A-Promi –, eine berühmte, vielfach preisgekrönte Schauspielerin, die in einigen meiner Lieblingsserien und -filmen mitgespielt hatte. Es war ... nun ja ... ich kann es gar nicht beschreiben. Ich wünschte, ich dürfte verraten, wer sich tatsächlich durch die Aufzüge und Flure meines Bürogebäudes in Salford bewegt hatte. Aber natürlich heißt sie aufgrund der Geheimhaltung hier nur Daphne. Aber was zum Teufel machte sie hier und warum in aller Welt stand sie bei mir auf dem Flur?
Daphne: Hey, Josh, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Ich war mit Ihnen verabredet, hab aber den Termin wohl verpasst.
DER ANALYTIKER: Fuck!
DIE ANGST: Fuck!
DIE BIOLOGIE: Fuck!
DIE EMPATHIE: Fuck!
DER KRITIKER: Fuck!
DER DETEKTIV: Fuck!
DAS MITGEFÜHL: Fuck!
DIE INTUITION: Fuck!
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Lol.
DER RETTER: Fuck!
DER TRIGGER: Fuck!
DIE WILLENSENTSCHEIDUNG: Fuck!
Ich werde oft gefragt, woher meiner Meinung nach die Angst »kommt«. Angst ist die Reaktion unseres Körpers auf eine Bedrohung, ein mächtiger, übergeordneter Mechanismus, der uns in den Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus versetzt, falls eine »Bedrohung« unmittelbar bevorsteht. Wie diese Bedrohung aussieht, hängt von der jeweiligen Person ab. Es kann eine ganz konkrete Bedrohung sein, wie beispielsweise ein mit einer Axt bewaffneter Verrückter, der auf uns zustürmt. Es kann eine Bedrohung für unser Selbstwertgefühl sein, zum Beispiel wenn wir es nicht schaffen, eine gute Präsentation zu halten, oder eine Prüfung versemmeln. Oder es kann eine soziale Bedrohung sein, wie zum Beispiel die Angst, weggestoßen, zurückgewiesen oder gedemütigt zu werden. Oder es könnte eine weltberühmte Schauspielerin sein, die unangekündigt in deiner Praxis auftaucht und fast fünfundvierzig Minuten zu spät zu ihrem Termin kommt. Wie auch immer die Bedrohung aussieht: Der ängstliche Verstand kümmert sich gerne um uns, indem er uns mit dem überwältigenden Gefühl des Zweifels füllt. Wenn wir zweifeln, halten wir inne und schenken der potenziellen Bedrohung unsere Aufmerksamkeit, damit wir sie angreifen, lösen oder vermeiden können.
Für unsere Vorfahren war dieser Mechanismus zur Reaktion auf Bedrohungen sehr hilfreich. Sie haben ihn wirklich gebraucht, wären ohne ihn aufgeschmissen gewesen. Unsere Vorfahren wuchsen nämlich mit umherstreifenden Raubtieren wie Löwen und Wölfen auf. Und da sie nicht in der Lage waren, diese Raubtiere im direkten Kampf zu besiegen, imitierten sie das Erdmännchen. Sie entwickelten eine Reaktion auf Bedrohung, die der Gefahr zuvorkam. Wie das Erdmännchen nutzten sie ihre Reaktion auf Bedrohung, um den Horizont nach Gefahren abzusuchen. Auf diese Weise konnten sie Raubtiere frühzeitig entdecken und hatten so den Vorteil, den ersten Schritt im Voraus planen zu können. Unsere Vorfahren hatten die Wahl, um das Löwenrudel herumzugehen, ohne es zu alarmieren, oder sie konnten Speere schmieden und sich anschleichen, um sie anzugreifen und Vorräte für das abendliche Grillfest zum Thema »König der Löwen« zu sammeln. Vermuteten unsere Vorfahren, dass etwas Gefährliches aus einer Höhle kommen könnte, löste ihre Reaktion auf diese Bedrohung einen Zweifelsmechanismus aus, der ihren Blick auf den Eingang der Höhle lenkte, während sie daran vorbeigingen – um für einen Angriff gewappnet zu sein. Denn einen Schritt voraus zu sein, ist einfach besser!
Bemerkenswert ist, dass sich dieser Teil unseres Gehirns trotz aller Veränderungen unseres modernen Lebensstils nicht weiterentwickelt hat. In unseren Gehirnen ist die gleiche Reaktion auf Bedrohungen bis heute verankert. Die Bedrohungen selbst haben sich jedoch verändert. Natürlich gibt es immer noch Raubtiere und Gefahren, aber wir leben in einer vergleichsweise sicheren Gesellschaft, in der sich unsere ängstliche Aufmerksamkeit auf eher konzeptionelle Dinge richtet. Die Löwen wurden durch die Sorge ersetzt, etwas zu erreichen, nicht genug zu sein, andere zu beschwichtigen und dafür zu sorgen, dass wir vorzeigbar sind. Die Höhle, um die sich unsere Vorfahren sorgten, ist heute unser Wohlbefinden, unsere Beziehung, unsere Karriere oder der Platz, den wir in unserer eigenen existenziellen Mindmap einnehmen. Der Mechanismus im Gehirn bleibt derselbe, aber die Bedrohung ist eine andere.
Es gibt auch die Theorie, dass uns das kritische Urteil anderer deshalb so viel Angst macht, weil es für unsere Vorfahren eine reale Bedrohung darstellte, abgelehnt, geächtet und verlassen zu werden. In Stammesverbänden war es wichtig, den anderen zu gefallen, um Teil der Gemeinschaft zu bleiben, in der jedes Mitglied auf das andere angewiesen war. Sicherheit ergab sich aus der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv. Es war von Vorteil, sich darüber Gedanken zu machen, was der Stammesführer dachte und fühlte, nur für den Fall, dass er wütend genug wurde, um uns aus der Sicherheit des Stammes zu verbannen. Für viele funktioniert dieser Bedrohungsmechanismus auch heute noch, oft aber verlagert in die Enge eines Büros, wenn wir E-Mails vom Chef hinterfragen, uns zu Hause nicht entspannen können oder es uns schwerfällt, Nein zu sagen. Letztlich spielt die Reaktion auf Bedrohung eine Rolle bei der sozialen Bindung, aber auch bei der Bewältigung großer, beängstigender Bedrohungen.
Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, streckte ein kompakter, einschüchternder Mann seine Pranke nach mir aus. Ich erwiderte seinen Händedruck und ließ zu, dass er meine Knochen und Sehnen bis auf den Abstand eines Atoms zusammenpresste. Dabei versuchte ich, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr das schmerzte – ein altes Schamgefühl, das daher rührt, dass ich ein Leben lang mit emotionsloser »Männlichkeit« aufgewachsen bin.
Levi: Alles klar, mein Freund, ich bin Levi.
DIE ANGST: Dieser Typ ist unheimlich.
Josh: Hallo, Levi. Willkommen in meiner Praxis. Kommen Sie – ich zeige Ihnen, in welchem Raum ich bin.
Ich schritt den Korridor neben diesem Riesen entlang und bemerkte eine Reihe von Tätowierungen auf seinem Unterarm und an seinem Hals. Einige waren verblasst, aber die Tätowierung auf seinem Unterarm war frisch und immer noch mit Folie bedeckt. Levi lief mit einer gewissen Autorität, aber auch mit einem Hauch von Resignation, wie ein Türsteher, der auf einen jungen Mann zugeht, den er gerade aus der Bar werfen will.
DER ANALYTIKER: Ich kann sehen, wie er seine Hände zusammenpresst und wieder entspannt.
DER KRITIKER: Er nimmt so viel Platz ein – du wirst noch an die Wand gedrückt werden!
DIE EMPATHIE: Er muss nervös sein, und Menschen zeigen Nerven auf unterschiedliche Weise. Es ist nichts Persönliches.
Wir betraten mein Büro und ich gab Levi ein Zeichen, sich zu setzen.
Levi: Auf welchem Stuhl sitzen Sie?
Josh: Normalerweise sitze ich dort neben dem Fenster, aber Sie können sich hinsetzen, wo Sie wollen.
Levi: Ich schätze, ich übernehme Ihren Platz.
DER ANALYTIKER: Eine Machtdemonstration.
DER DETEKTIV: Er fühlt sich bedroht.
Josh: Ja, klar. Sie können sich gerne ein paar Kissen mitnehmen. Machen Sie es sich gemütlich.
Levi ließ sich in meinen Stuhl sinken und rutschte nach unten, so dass er fast lag. Er verschränkte die Hände vor dem Bauch und drehte den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen. Er fühlte sich eindeutig nicht wohl, aber er versuchte sein Bestes, um zu vermitteln, dass er sich nicht im Geringsten bedroht fühlte.
Levi: Und wann fangen Sie jetzt an, meine Gedanken zu lesen? Sagen Sie mir gleich, dass alle meine Probleme daher rühren, dass Papa mich nicht umarmt hat?
Josh:(kichert leicht) So funktioniert das nicht ganz. Ich kann leider keine Gedanken lesen. Die Hauptaufgabe eines Psychotherapeuten besteht darin, zuzuhören und einen sicheren Raum zu schaffen.
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Es sind immer die Eltern.
DER ANALYTIKER: Vielleicht.
DER DETEKTIV: Wir müssen offensichtlich mehr herausfinden – haltet ihr mal die Klappe?
Levi stand wieder auf und begann, im Büro herumzulaufen. Dann nahm er Gegenstände aus meinem riesigen IKEA-Regal und hielt sie gegen das Licht.
Levi: Was ist das?
Josh: Das ist eine kleine Büffelskulptur, die ich in Sambia aufgegabelt habe, als ich jünger war.
Levi: Warum haben Sie die hier stehen? Wollen Sie mit Ihrem »Gap Year« angeben?
DER DETEKTIV: Er versucht, dich einzuschüchtern.
DER ESKAPIST: Ich will hier wirklich raus.
DAS MITGEFÜHL: Du hast es drauf, mach einfach weiter.
Josh: Es ist mehr eine Erinnerung für mich, dass ich meine eigenen Ängste und Herausforderungen überwunden habe.
Er warf mir einen Blick zu und hob eine Augenbraue, während er die Skulptur in seinen Händen drehte.
Levi:(grinsend) Sicher – und ich wette, Sie dachten, dass es sich in diesem schicken Büro gut macht. Ich erkenne Täuschung, wenn ich ihr begegne.
DER ANALYTIKER: Nutze dies als Einstieg in einen persönlichen Dialog.
Josh: Sind Sie gut darin, Täuschungen zu erkennen?
Levi: In meiner Branche siehst du das jeden Abend. Du siehst es an der Körpersprache, an dem Blödsinn, der aus dem Mund der Leute kommt, wenn sie zugedröhnt auf die Tür zuschlendern, mit ihren geliehenen Klamotten und Mietwagen. Du erkennst einfach, wer wirklich Geld hat und wer … auf geliehenes Geld baut.
Er setzte sich.
Levi: Ich bin der Sicherheitschef im »Seneka«. Der größte und älteste Nachtklub im nördlichen Bezirk. Türsteher-Legende. Rausschmeißer der Rausschmeißer.
Er warf einen Blick aus dem Fenster.
Levi: Ich bin seit vierzehn Jahren dort. Sie würden nicht glauben, was ich alles gesehen habe.
Josh: Das »Seneka« kenn ich ziemlich gut. Während meines Studiums hab ich dort so einige Nächte verbracht.
Levi: Na ja, aber an Sie erinnere ich mich jetzt nicht. Das können Sie auch nicht erwarten. Ich sehe jede Woche Tausende von Gesichtern. Tausende von betrunkenen, zugedröhnten Gesichtern. Wurden Sie jemals rausgeschmissen?
Josh: Zum Glück nicht.
Levi: Gut, das ist gut … Heute machen wir das nicht mehr, aber vor Jahren gab es eine Gasse, in die wir unartige »Kunden« brachten, wenn sie im Klub Ärger gemacht hatten. Das sogenannte »Beton-Gericht«, ein versteckter, dunkler Bereich hinter Mülltonnen, in dem denjenigen, die gegen die Regeln verstoßen hatten, schnell Gerechtigkeit widerfuhr. Außerdem beschlagnahmten wir im Namen der äh … öffentlichen Sicherheit illegale Materialien.
DER DETEKTIV: Irgendwas sagt mir, dass diese Drogen nicht bei der Polizei abgegeben wurden.
Josh: Das klingt nach einem ordentlichen Packen Verantwortung.
Levi: Na ja, inzwischen kannst du solchen Selbstjustiz-Kram nicht mehr durchziehen. Die neue Generation ist so gut wie unantastbar. Früher hat man jemanden, der sich danebenbenommen hatte, verprügelt – das hat gereicht und er hat nie wieder Scheiße gebaut. Jetzt stehen wir jede Nacht vor Gericht. Vor Gericht in den sozialen Medien. Und das alles nur, weil wir bei der Frage nach dem Ausweis ein verdammtes Pronomen nicht richtig verstanden haben! Man kann niemanden mehr »Liebes« nennen, ohne als … wie heißt das noch gleich? … als misogyner Mistkerl abgestempelt zu werden.
Levi hielt inne. Obwohl ich mich ängstlich fühlte, beschloss ich, eine entspannte Haltung einzunehmen, in der Hoffnung, dass er es mir gleichtun würde. Überraschenderweise schien es zu funktionieren. Er holte tief Luft.
Levi: Wie funktioniert das denn jetzt? Dieses Therapiezeug?
DIE EMPATHIE: Wenn du dich bedroht fühlst, fällt es schwer, deine Wachsamkeit herunterzuschrauben.
DAS MITGEFÜHL: Gut gemacht, Levi.
DIE ANGST: Wir machen uns immer noch in die Hose, Junge.
Josh: Das hängt wirklich von jedem Einzelnen ab. Ich schlage immer vor, dass wir die erste Sitzung nutzen, um uns gegenseitig kennenzulernen und zu hören, wo Hilfe gebraucht wird. Gemeinsam – und nur, wenn Sie das auch wollen – können wir uns ein Bild davon machen, was los ist, und gemeinsam können wir einen Weg nach vorne entwickeln … und das alles in einem sicheren, vertrauensvollen Rahmen.
Mit einer Mischung aus Neugier und Frustration sah Levi mich an. Plötzlich, wie aus dem Nichts, brach es aus ihm heraus.
Levi: Klar, natürlich ist es sicher. Wie sollte es nicht sicher sein? Es ist ja nicht so, dass Sie mich angreifen würden, oder? Verdammt noch mal …
Er hielt inne und lenkte seine Aggression um, indem er wieder aufstand und zum Fenster ging. Er seufzte und schaute auf die Straße hinunter.
Levi: Ich, äh … Ich wollte nicht fluchen. Ich hasse Fluchen.
DIE EMPATHIE: Das hört er wahrscheinlich die ganze Zeit.
Josh: Ist schon gut. Sie hören das wahrscheinlich ständig.
Levi: Genau. Es ist abscheulich.
Ich merkte, wie meine Ängste abnahmen, je länger ich mit Levi sprach. Bei einem neuen Klienten ist es ganz natürlich, ängstlich zu sein, weil man ihn nicht kennt. Ich fühlte mich zwar immer noch unwohl, aber je mehr ich beobachtete und zuhörte, desto mehr konnte ich einen Mann ausmachen, der mit einem inneren Konflikt belastet war. Und ich respektierte ihn dafür, dass er hier war und sich dem stellen wollte.
DIE INTUITION: Lass zu, dass etwas Ruhe den Raum einnimmt.
Nachdem er eine Zeit lang gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt hatte, wandte Levi sich von mir ab und ging hinüber zu meinem Schreibtisch. Ich blieb sitzen und wartete geduldig, bis er sich wieder meldete. Er schien jetzt ruhiger. Dennoch fand ich ihn nach wie vor furchteinflößend. Er türmte sich hinter meinem Schreibtisch auf und begann, die Folie über seinem neuen Tattoo zu richten.
Levi: Haben Sie Tattoos?
Josh: Nur eins.
Levi: Und was ist es?
Josh: Eine irisch-gälische Redewendung, die »Schutz der Götter für meinen Bruder« bedeutet.
Levi: Sind Sie religiös?
Josh: Nein, nicht wirklich.
Levi: Und warum haben Sie dann diesen Satz gewählt?
Josh: Ich war achtzehn und dachte, ich wäre cool. Außerdem hat es meine sehr katholische Oma besänftigt.
DER ANALYTIKER: Pass auf, dass du nicht zu viel von dir preisgibst. Du bist für ihn hier, nicht für dich.
DIE INTUITION: Mach mit. Er hat gefragt.
Levi blieb mit dem Rücken zu meinem Schreibtisch stehen.
Levi: Dieses neue Tattoo ist mein Favorit. Da hat Mal einen klasse Job gemacht.
Josh: Es ist mir schon aufgefallen, als Sie angekommen sind. Was stellt es dar?
Levi: Es stellt Gaunab dar. Den personifizierten Tod. Die Verkörperung des Bösen. Es stammt aus der südwestafrikanischen Mythologie.
Er hielt inne und blickte auf seinen erhobenen Arm.
Levi: Er hat die Schattierung wirklich perfekt hinbekommen.
DER DETEKTIV: Ich frage mich, warum er sich so düstere Bilder auf seine Haut tätowieren lässt.
DER ANALYTIKER: Mmm, Tattoos müssen nicht immer eine tiefere Bedeutung haben.
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Denkst du auch an das »Carpe Diem«-Tattoo von dem Mädchen am College?
Josh: Und was hat das inspiriert?
Levi ließ seinen Arm zur Seite fallen und richtete seinen Blick auf meine Schreibtischlampe. Er stand immer noch mit dem Rücken zu mir. Ich schwieg, und so seltsam es klingt, ich bin mir sicher, dass ich die Rädchen seines intensiven Denkens hören konnte – es schien, als hätte ich einen absoluten Zahnradwirbler gefragt.
Levi: Ich ... äh ... also … ich mochte das Symbol … äh …
Wie aus dem Nichts hörte ich ein leises Pochen auf dem Schreibtisch, aber Levis Arme blieben an seiner Seite. Ich konnte nur seinen Rücken sehen, der leicht abgehackt zuckte. Da dämmerte es mir. Das Pochen auf dem Schreibtisch stammte nicht von seinen Fingern, sondern von herunterfallenden Tränen. Levi weinte. Der große, furchteinflößende Mann, der mir aus dem Aufzug entgegengekommen war, schluchzte jetzt leise vor sich hin.
DAS MITGEFÜHL: Er hat eine Menge durchgemacht. Ich fühle mit ihm.
DER RETTER: Ich werde herausfinden, was ihn bedrückt, und ihm die Bürde wegnehmen.
Levi machte keine Anstalten, seine Tränen abzutupfen; er ließ sie fließen und ich griff nicht ein. Offenbar brauchte er diesen Raum und ich ließ ihn ihm.
Sollten Sie ein Bücher schreibender Psychotherapeut sein, dann werden Sie möglicherweise als »erfolgreich« angesehen, gleichzeitig aber auch als eine günstige oder, seien wir ehrlich, »kostenlose« Alternative zu einem Motivationsredner an Ihrer alten Schule.
Ein Meer von gelangweilten Augen lag auf mir an jenem Rednerpult in der Aula. Mein alter Jahrgangsstufenleiter war auch da, offensichtlich erstaunt darüber, dass ich erfolgreich bin und Verantwortung trage. Denn er erinnert sich noch gut daran, wie er mich suspendiert hat, weil ich Zigaretten aus dem Fenster des Klassenzimmers verkauft habe. Gleichzeitig ist er auch stolz darauf, dass ich wieder da bin und es mir gut geht. Mein Auftauchen schien einen lange erloschenen Optimismus in ihm wieder entfacht zu haben, den Glauben daran, dass es schwierige Jungs im Leben schaffen können – ganz so, als ob er persönlich etwas bewirken könnte, und wenn ich ehrlich bin, hatte er das tatsächlich.
Mein Eröffnungszug wurde durch das heftige, erkältungsgeplagte Husten eines Elternteils vier Reihen weiter hinten unterbrochen, was die Angst, die ich angesichts der leeren Gesichter vor mir ohnehin schon empfand, nur noch verstärkte. Eine Woche zuvor hatte ich viel Geld für einen Vortrag bei einer Firmenveranstaltung bekommen, bei der viele der Anwesenden meine Selbsthilfebücher gelesen hatten. Nach dem Vortrag wurde ich mit begeisterten Fragen und Gesprächen überhäuft und zu einem Essen mit etlichen Cocktails eingeladen, von denen ich gerne behaupten würde, sie abgelehnt zu haben.
So war es quasi Ironie des Schicksals, dass ich heute einen Vortrag an meiner eigenen High School halten sollte, an der sich kaum jemand dafür zu interessieren schien, wer ich war oder was ich zu sagen hatte.
Ich stolperte über meine Worte, hantierte unbeholfen mit dem Mikrofon und sammelte mich dann wieder. »Hey, Leute, mein Name ist Joshua Fletcher und ich war früher mal Schüler hier. Ich bin hier um die Ecke in der Abbey Lane aufgewachsen. Ich freue mich sehr, der Gastredner bei eurem Präsentationsabend zu sein.«
Neugierig gingen die Köpfe hoch. Das Husten verstummte. Die Abbey-Lane-Siedlung zu erwähnen, war immer eine sichere Bank. Meine alte High School liegt inmitten von zwei riesigen Wohnsiedlungen, sozialer Wohnbau – Abbey Lane ist eine davon. Ich hatte ihre Aufmerksamkeit. Ich war einer von ihnen. Ich war mehr als nur ein Typ in einem marineblauen Primark-Anzug, der mehr Beerdigungen als Feiern gesehen hat. Ich war bereit, inspirierende Granaten der Wahrheit zu zünden, die eines Premium-Accounts bei LinkedIn würdig wären. Ich war bereit: Lasset die Spiele beginnen.
Ich predigte darüber, wie ich aus dem Nichts kam und etwas aus mir gemacht hatte. Der übliche Kram. Der stellvertretende Schulleiter hatte mich vorher gebeten, mein Verhalten in der Schule nicht zu erwähnen. Verständlich, da er natürlich nicht den Eindruck erwecken wollte, dass das Brechen von Schulregeln zu einem erfolgreichen Leben führt. Also verzichtete ich auf die Geschichten über das Stehlen und Kopieren des Schulschlüssels, das »Ausleihen« von technischen Geräten, das Biertrinken im Wald, das Herunterladen von Nacktbildern, die Schlägerei und das Erwischtwerden beim Schummeln in Prüfungen. Hier war die ganze Wahrheit einfach nicht nötig. Stattdessen sprach ich darüber, wie diese raue Gesamtschule mir Mitgefühl, Selbstvertrauen, einen Moralkodex und ein dauerhaftes Gefühl von gesundem Menschenverstand beigebracht hat – und zwar auf großartige Art und Weise. Leider hatte Ofsted – die Behörde des Bildungsministeriums, die Schulen evaluiert – damals keinen Maßstab, um diesen Erfolg zu messen, sodass die Schule häufig öffentlich in der Kritik stand und unterschätzt wurde. Aber ich habe es nicht vergessen. Denn es gibt Dinge, die über den Lehrplan hinausgehen und die in den Herzen der Menschen begründet liegen, die eine Schule leiten.
Ein seltsames Pflichtgefühl hatte mich zurück in meine Heimatstadt gezogen. Ich war getrieben von dem Gefühl, dass ich die heilende Geschichte eines problembelasteten Jugendlichen, der zu einem tragischen, aber edlen Therapeuten wurde und die »Kinder mit seinen Worten erreicht«, zu Ende erzählen musste.
Am Ende meines Vortrags kam ein Jugendlicher begeistert auf die Bühne zu. Er überreichte mir die erste Seite des Veranstaltungsplans, auf der stand: »Special Guest Speaker: Joshua Fletcher, Psychotherapist & Author« – »Besonderer Gastredner: Joshua Fletcher, Psychotherapeut & Autor«, mit Anmerkungen von ihm versehen. Der Junge hatte clevererweise herausgefunden, dass das englische Wort »psychotherapist« durch zwei einfache Schrägstriche zwischen den Buchstaben in die Worte »Psycho the Rapist« – »Psycho-Vergewaltiger« – zerlegt werden kann. Er war stolz auf sein Werk und wollte es einfach nur vorführen. Mit meiner Rede hatte das rein gar nichts zu tun. Keine bleibenden Worte der Inspiration. Hut ab vor dem Jungen. In diesem kurzen Moment fühlte es sich gut an, wieder zu Hause zu sein.
Meine erste Sitzung mit Zahra begann dramatisch. Eine Frau in meinem Alter kroch auf allen vieren zum Bürosofa, ihre langen, dunklen Haare reichten fast bis zum Boden, während ihre verzweifelte Mutter versuchte, die Situation zu erklären.
Faiza: Wissen Sie, sie hat Panikattacken. Jetzt hat sie gerade eine. Sie hat das Haus seit Monaten nicht mehr richtig verlassen. Ich musste sie hierher schleppen! Sie … sie ist jeden Tag so!
Zahra erreichte schließlich das Sofa und lehnte sich nach Luft ringend dagegen. Ihr liefen Tränen über das Gesicht und sie hatte eindeutig Angst. Ich hockte mich vor sie hin und versuchte, ihr in die Augen zu sehen, doch das gestaltete sich schwierig, da sie ihren Kopf immer wieder gegen die Sofakante rollte.
DAS MITGEFÜHL: Sei besonders sanft zu ihr, denn sie leidet.
Josh: Hey, Zahra, ich bin Josh. Ich weiß, dass Sie gerade in Panik sind, aber das ist okay. Sie sind in Sicherheit. Ihr Körper wird sich schon bald wieder beruhigen. Ich weiß, für Sie fühlt es sich gerade so an, als würde etwas Schreckliches passie…
Sie sprang nach vorne und erschreckte mich.
Zahra: Warum geht dieses Gefühl nicht weg?! Bitte, mach, dass es aufhört! Ich … ich glaube, ich brauche einen Krankenwagen!
Faiza:(verärgert) Wir haben schon so oft einen Krankenwagen gerufen, Zahra. Dir geht es gut.
Zahra: Du hast leicht reden, Mama! Arrgggghhh, mach, dass es aufhört!
Die Mutter warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Zahra hievte sich aufs Sofa und begann zu hyperventilieren. Eine Hand hatte sie auf ihrer Brust, die andere auf ihrer Stirn. Ihre Beine zitterten und sie keuchte, als sie versuchte, einzuatmen.
Faiza: Es tut mir leid. Normalerweise ist sie nicht so. Was ist los mit ihr?
Josh: Zahra, haben Sie irgendwelche Krankheiten, von denen ich wissen sollte?
Zahra:(versucht zu Atem zu kommen) Nein … Eigentlich bin ich selbst Ärztin, aber ich … ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich habe Blut abgenommen bekommen und mein Herz untersuchen lassen … Ich glaube … ich glaube, ich habe mein Gehirn kaputtgemacht. Gott, ich glaube, ich verliere die Kontrolle – man wird mich einweisen. Oh Gott, bitte hilf mir. Mach, dass es aufhört!
DER ANALYTIKER: Ja, das ist eine Panikattacke.
DIE INTUITION: Bring sie dazu, sich von den Gefühlen und Empfindungen abzuwenden.
DER ANALYTIKER: Vielleicht steckt sie in einem Panikkreislauf fest?
Faiza: Wir haben im Internet nach Experten für Angstzustände gesucht und Sie gefunden. Können Sie helfen?! Ich bin bereit, alles zu zahlen. Bitte helfen Sie meiner Tochter.
Zahra hyperventilierte weiterhin zwischen Schluchzern. Sie kämpfte wirklich und wandte sich dann flehend an mich. Verzweifelt.
DIE EMPATHIE: Sie will, dass du ihr die Last nimmst.
DER RETTER: ICH WILL alle Last von dir nehmen.
Josh: Schon gut. Alles ist in Ordnung. Wir machen jetzt Folgendes … Zahra, versuchen Sie mich anzuschauen. Ihnen geht es gut. Sie brauchen nichts zu tun. Ich versichere Ihnen, dass dieses Gefühl vorübergehen wird. Was Sie gerade erleben, ist ungefährlich. Es ist ganz normal für den Körper. Sie müssen nichts weiter tun, als Ihre Aufmerksamkeit auf mich oder irgendetwas in diesem Raum zu richten – so gut wie möglich.
Zahra nickte und legte ihre Hände auf den Boden, um sich abzustützen. Ich schaute zu ihrer Mutter.
Josh: Alles in Ordnung – Sie können gehen. Wir kommen klar. Es wäre toll, wenn Sie gegen Ende der Stunde zurückkämen.
Nachdem sie ihrer Tochter einen besorgten Blick zugeworfen hatte, nickte Faiza zögernd und ging zur Tür. Zahra hyperventilierte immer noch, schien aber etwas ruhiger geworden zu sein. Als ihre Mutter die Tür sanft hinter sich schloss, schaute Zahra endlich zu mir auf.
Zahra: Es tut mir … es tut mir so leid. Ich … bin so ein Wrack.
Josh: Es gibt nichts, was Ihnen leidtun müsste. Danke, dass Sie sich heute Zeit für einen Besuch bei mir genommen haben. Mögen Sie etwas Wasser? Das Adrenalin wird bald verfliegen, keine Sorge.
DER KRITIKER: Jemandem mit Panikattacke zu sagen, dass er sich keine Sorgen machen soll? Na klasse, Joshy.
Zahra: Woher wissen Sie, dass es vorbeigeht? Was ist, wenn ich für immer so bin? Was, wenn ich verrückt werde?!
DIE EMPATHIE: Ah, ich erinnere mich gut an diese Gefühle.
DIE INTUITION: Dann nutze das. Aber es sollte nicht um dich gehen. Sei klug.
DER ANALYTIKER: Du zeigst ein entspanntes Auftreten, das sollte helfen.
Josh: Na ja, für mich sehen Sie nicht verrückt aus. Hatten Sie diese »Was wäre, wenn?«-Gedanken schon früher?
Zahra lachte nervös und hob ein Kissen auf, um es zusammenzuknautschen.
Zahra: Ähm … so gut wie jeden Tag?
Josh: Oh … das klingt lustig.
DER ANALYTIKER: Riskant …
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Ich liebe es!
Zahra:(lächelt leicht) Oh, bei mir zu Hause ist jeder Tag eine Riesenparty. Ich bin erst seit vier Monaten approbierte Assistenzärztin und wurde schon krankgeschrieben. Und nein, ich habe meine Krankmeldung nicht selbst unterschrieben.
Ich reichte Zahra ein Glas Wasser und sie nahm einen zittrigen Schluck.
Zahra: Ist das normal, dass man sich so fühlt? Ich spüre, wie mein Herz pocht und mein Gehirn mit tausend Meilen pro Stunde herumwirbelt. Das ist doch sicher nicht normal? Ich habe meine Arztkollegen gefragt und einige haben sogar Untersuchungen veranlasst und mir dann gesagt, dass es mir gut geht. Aber wie kann es mir gut gehen? Das ist nicht normal. Ich bin nicht normal. Ich habe es geschafft – endgültig. Ich habe mich selbst in den Wahnsinn getrieben. Das musste ja irgendwann passieren.
Josh: Ich würde nicht sagen, dass Panik etwas Ungewöhnliches ist. Sie kommen mir ziemlich normal und vernünftig vor.
Zahra: Ziemlich normal und vernünftig?!
Josh: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Sie zurechnungsfähig sind. Na ja … immerhin könnten Sie meine Pflanzen stehlen oder so.
Sie sah mich fassungslos an.
DER ANALYTIKER: Ihre Aufmerksamkeit wird mehr nach außen gerichtet. Mach weiter; das funktioniert.
DER DETEKTIV: Ihre Aufmerksamkeit verlagert sich von der Bewertung ihrer Symptome auf die Bewertung von dir.
Zahra: In einem Artikel hab ich gelesen, dass Sie Therapeut geworden sind, weil Sie Panikattacken hatten … stimmt das? Nachdem Ihnen was Tragisches passiert ist oder so.
Josh: Ja, das ist richtig.
Zahra: Woher wissen Sie, dass das, was ich erlebe, Panik ist? Es ist ja nicht so, dass Sie in meinem Kopf sind oder es sehen können.
Josh: Gute Frage. Sollen wir mal die magische »Panik«-Checkliste durchgehen?
Zahra: Was ist denn daran magisch?
Josh: Nichts, ich übertreibe nur gerne, so wie es die Angst auch tut. Man muss wissen, womit man es zu tun hat, und es ausgleichen.
In meinem Büro habe ich ein großes, rollbares Whiteboard. Quasi der Traum eines jeden Lehrers. Enthusiastisch stand ich also auf und rollte das Whiteboard heran, um Zahras Aufmerksamkeit von ihren Paniksymptomen abzulenken und den Panikkreislauf zu durchbrechen. Ich fing damit an, meinen Kommentar auf die Tafel zu kritzeln – eine Angewohnheit noch aus meiner Zeit als Lehrer.
Josh: Panikattacken oder Panikstörungen treten auf, wenn wir viele Panikattacken haben und dann anfangen, diese Panikattacken zu fürchten. Das katapultiert uns in einen »Kreislauf der Angst« …
Zahra: Wer hätte gedacht, dass Mansplaining die Antwort auf meine Probleme sein könnte?
Josh:(lacht) Geben Sie mir ein bisschen. Sie haben ja erzählt, dass das so ziemlich jeden Tag passiert, also vermute ich, dass Sie sich in einem sogenannten »Panikkreislauf« oder »Panikzyklus« oder in einer »Dauerschleife erhöhter Angst« befinden.
Ich zeichnete mehr schlecht als recht ein Schleifendiagramm auf die Tafel.
Josh: Es beginnt immer mit einer ersten Panikattacke – der »großen«. Dabei hat man oft das Gefühl, dass man jegliche Kontrolle verliert. Normalerweise distanziert man sich von sich selbst, löst sich ab, verspürt jede Menge körperliche Symptome und das eigene Gehirn fühlt sich an, als würde es im Schnelldurchlauf agieren. Das macht uns so viel Angst, dass wir nicht wollen, dass es wieder passiert. Können Sie sich an Ihre erste Panikattacke erinnern?
Zahra: Ja. Ich hatte sie auf einer medizinischen Fachtagung. Ich sollte dort meine Forschungsergebnisse präsentieren und ich …
Sie wurde weinerlich.
Zahra: Ich bin einfach gegangen. Bin einfach nach Hause wie ein Feigling. Der ganze Raum fühlte sich komisch an. Plötzlich wurde mir heiß und ich fühlte mich wie weggebeamt. Alles in mir rief nach Flucht. Und das tat ich dann auch. Ich rannte nach draußen und rief meine Mutter an. Sie ist losgestürzt, um mich abzuholen, und macht sich seitdem Sorgen um mich. Ich musste wieder bei ihr einziehen, weil ich alleine nicht zurechtkomme.
Josh: Sie scheinen ihr sehr wichtig zu sein.
Zahra: Sehr. Sie hat eine Menge durchgemacht. Ich hasse es, sie so zu belasten.
Josh: Ist Ihr Vater auch da?
DER ANALYTIKER: Aufdringlich.
DER KRITIKER: Idiot!
Zahra blickte zur Seite und hielt sich immer noch an dem Kissen fest.
Zahra: Nein.
DER DETEKTIV: Verlassen? Tot?
DIE INTUITION: Pfeif deine Aufmerksamkeit zurück. Das ist nicht nötig.
DAS MITGEFÜHL: Das ist ihre Geschichte. Sie wird sie erzählen, wenn sie sie teilen will.
Zahra: Ich nehme an, das war meine »große« Panikattacke. Seitdem bin ich nicht mehr ich selbst. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich es nicht schaffe. Ich habe einfach so viel um die Ohren und wollte mich nicht vor meinen Kolleginnen und Kollegen und all den medizinischen Fachleuten blamieren.
Josh: Mmm.
Zahra: Es ist wirklich erbärmlich. Ich sollte Menschen helfen und sie heilen. Und ich kann nicht einmal mich selbst heilen. Ich bereite den Leuten um mich herum nur Sorgen, was ihrer Gesundheit auch nicht gerade zuträglich ist.
Zahras Körpersprache schien sich zu entspannen und sie ließ sich in eine ruhigere Haltung fallen. Sie sah müde aus. Das Adrenalin schien verflogen zu sein. Ihre Angst verwandelte sich in eine fast greifbare Traurigkeit.
Josh: Na ja, es kann sein, dass Sie diese Panikattacken nicht in alle Ewigkeit haben werden. Ich kann sehen, wie Ihre Panik jetzt etwas nachlässt. Haben Sie es selbst auch bemerkt?
Zahra: Es hat sich ein bisschen beruhigt, ja. Ich will aber immer noch zur Tür raus und schreien.
Josh: Auch auf die Gefahr hin, herablassend zu klingen – Sie haben das wirklich gut gemacht, haben die schrecklichen Gedanken und Empfindungen ertragen und sind hiergeblieben, um mit mir zu reden. Ich weiß das zu schätzen. Haben Sie bemerkt, wie Ihre Angst nachgelassen hat, obwohl Sie nicht vor der Situation davongelaufen sind?
Zahra: Ja … das habe ich. Aber später wird sie einfach wiederkommen. Das tut sie immer. Ich fühle mich einfach … hoffnungslos. Ich fühle mich krank.
Josh: Ich habe die Hoffnung, dass jeder, der diesen Raum betritt, an einen Ort gelangen kann, an dem er gerne sein möchte. Ich sehe Panikattacken auch nicht als ein Zeichen einer Krankheit.
Zahra: Laut dem »DMS-5«, der fünften Auflage des Diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen, dem weltweit anerkannten Klassifikationssystem der Psychiatrie, ist die Panikstörung eine Krankheit.
DIE RESPEKTLOSIGKEIT: Ha! Zerstört durch die Doc!
Josh: Stimmt … Aber die Forschung zeigt auch, dass eine Panikstörung eine sehr hohe Heilungsrate hat, wenn man sie richtig behandelt. Ich persönlich sehe sie als eine Phobie. Eine Angst vor der Angst selbst. Deshalb betrachte ich sie auch nicht als Krankheit.
Zahra hielt inne und versuchte offenbar, einen Gedanken zu greifen. Irgendetwas von dem, was ich gesagt hatte, hatte bei ihr etwas zum Klingen gebracht. Sie drückte das Kissen auf ihrem Schoß platt und beugte sich leicht nach vorne. Dann schaute sie auf mein Diagramm des Panikkreislaufs auf dem Whiteboard und blinzelte nachdenklich.
Zahra: Ich verstehe. Ich habe Angst davor, genau so eine Panikattacke zu bekommen wie bei der Medizin-Konferenz, stimmt’s?
Ich blieb still.
Zahra: Genau … Ich geriet in Panik und hab mich zurückgezogen. Ich bin nach Hause, um das alles zu verarbeiten und mich besser zu fühlen. Aber ich habe es nicht geschafft, mich besser zu fühlen. Jeden Tag überkommt mich die Panik, aber ich habe Angst vor Panikattacken. Ich halte ständig nach ihnen Ausschau.
Josh: Das nennt man Bedrohungsüberwachung. Genauer gesagt, »interne Bedrohungsüberwachung«.
Ich hatte die Anführungszeichen in der Luft nachgezeichnet.
Zahra: Das mache ich die ganze Zeit. Ich wache auf und prüfe mich selbst, meine Symptome, meinen Blutdruck, meinen Blutsauerstoff. Ich suche und scanne die ganze Zeit nach Anzeichen der Panik.
DER ANALYTIKER: Sie entwickelt ein metakognitives Bewusstsein für ihre Gedanken und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit ihrer Panikstörung.
DIE EMPATHIE: Es fühlt sich erhellend an, aber denk daran, dass die Erkenntnis für sie überwältigend sein kann.
Josh: Wie oft vermeiden Sie es, Dinge zu tun, nur für den Fall, dass Sie in Panik geraten?
Zahra: Täglich. Alles dreht sich um die Angst.
Josh: Und wie oft versuchen Sie, sich aus der Angst herauszudenken?
Zahra: Andauernd!
Josh: Wenn wir schon Angst-Bingo spielen, wie oft fehlinterpretieren Sie körperliche Symptome als erstes Anzeichen Ihres bevorstehenden Untergangs?
Zahra: Oh mein Gott. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Herzklopfen ein Zeichen für einen Herzfehler ist, obwohl ich bereits drei Herz-Scans hatte und von meinem Freund, der Spezialist ist, untersucht wurde. Ich glaube auch, dass dieses flaue, merkwürdige Gefühl ein Zeichen für Nebennierenkrebs ist.
Neugierig sah sie mich an. Jetzt hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit, was dadurch begünstigt wurde, dass ihre Panik nachgelassen hatte.
Josh: Haben Sie das Gefühl, dass Angst oder die Sorge um eine mögliche Panikattacke der zentrale Punkt in Ihrem Leben sind? Planen Sie um sie herum? Beziehen Sie sie in alle Pläne ein, bevor Sie eine Entscheidung treffen?
Zahra: Sie zitieren gerade den Klappentext zu meiner Autobiografie. Genau daran habe ich in den letzten zwei Monaten ausschließlich gedacht.
Josh: Tja, damit ist die magische Liste abgearbeitet. Herzlichen Glückwunsch, das klingt, als hätten Sie mit einer Panikstörung zu kämpfen.
Zahra: Ich verstehe immer noch nicht, was an der Liste so magisch ist, aber es fühlt sich beruhigend an, dass meine Gedanken und Gefühle als etwas anerkannt werden, das auch anderen passiert. Nicht, dass ich möchte, dass andere leiden; ich fühle mich dann nur weniger allein. Können Sie mir helfen?
DIE EMPATHIE: Ich weiß noch, wie sich das anfühlt.
DER RETTER: Ich will sie retten. Ich möchte einer anderen Person mit Ängsten helfen.
Sie sah hoffnungsvoll aus. Erwartungsvoll.
DER TRIGGER: Das riecht nach Verantwortung.
DIE BIOLOGIE: Ich werde gleich eine Menge Cortisol ausschütten.
DER KRITIKER: Du bist richtig beschissen, wenn’s um Verantwortung geht, du absoluter Scharlatan.
DAS MITGEFÜHL: Hör nicht darauf. Dein Wert ist unermesslich.
DER KRITIKER: Ist er das? Diese Frau ist eine Ärztin. Wer bist du schon?
DIE INTUITION: Reiß dich am Riemen. Schließlich geht es hier nicht um dich.
Josh: Ich kann Sie dabei unterstützen, sich selbst zu helfen. Die sogenannte Psychoedukation ist bei jeder Angststörung superwichtig. Ich kann Ihnen beibringen, was ich weiß, und