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Bestsellerautorin Glennon Doyle erzählt in ihrem berührend ehrlichen Buch von den Jahren ihres Lebens, die ausschließlich von Ängsten und Selbstzweifeln geprägt sind. Die sensible Glennon findet zunächst in der Bulimie die Möglichkeit, ihren Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen. Sie spaltet sich ab, zeigt der Welt ein "Ich", das in die Schule, an der Universität und später in der Arbeit funktioniert, während die echte, ängstliche, verzweifelte, von Selbsthass gepeinigte Glennon sich in sich selbst verschließt. Ihre Bulimie wird später von Alkoholsucht abgelöst – bis eine ungewollte Schwangerschaft Glennon ins Leben zurückholt. Sie begreift das Baby als Chance, ihre Süchte endlich in den Griff zu bekommen. Doch erst nach und nach lernt sie, der Weisheit ihrer inneren Stimme zu vertrauen und sich dem Leben zu stellen. Eine ergreifend schöne Reise von Selbsthass zu Selbstliebe.
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Seitenzahl: 400
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Mein Weg von der Selbstzerstörung in die Selbstliebe
Aus dem Amerikanischen von Thomas Görden
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Love Warrior« bei Flatiron Books, New York
1. eBook-Ausgabe 2023
Vollständige Taschenbuchausgabe
© 2023 Scorpio in der der Europa Verlage GmbH
© 2016 Glennon Doyle
© 2017 der deutschen Ausgabe L·E·O Verlag in der
Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Layout & Satz: Margarita Maiseyeva
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95803-586-7
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Für Oma Alice, deren Finger über die Perlen des Rosenkranzes glittenund Maria zu mir brachten
AUFTAKT
ERSTER TEIL
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
ZWEITER TEIL
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
DRITTER TEIL
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
NACHWORT
DANK
Ich habe keine Angst … ich wurde geboren, um dies zu tun.
- Jeanne d’Arc
Fast ist es so weit. Mein Vater und ich stehen am Rand des langen weißen Teppichs, der erst an diesem Morgen auf den frisch gemähten Rasen gelegt wurde. Der Garten aus Craigs Kindheit ist verwandelt, weil der Herbst beginnt, und wegen des Versprechens, das dieser Tag für uns bereithält. Meine Schultern sind nackt und ich fröstele, also wende ich mein Gesicht der Sonne zu. Ich blinzele, und die Sonne, das Herbstlaub und der Himmel verschmelzen zu einem Kaleidoskop aus Blau, Grün und Orange. Die Blätter, mein zukünftiger Ehemann, unsere Familien, die in ihren elegantesten Anzügen und Kleidern aufrecht dasitzen, und ich – wir alle verwandeln uns in etwas anderes.
Wir warten darauf, dass die Musik einsetzt, um den kurzen und endlosen Weg zu Craig zu gehen. Ich beobachte ihn. Er steht am Ende des Teppichs, sieht attraktiv, jung und nervös aus. Er rückt seine Krawatte zurecht, verschränkt die Hände ineinander, steckt sie dann in die Hosentaschen. Nach einem Moment zieht er sie wieder heraus und presst sie an die Hosennähte wie ein Soldat. Er wirkt, als fühle er sich völlig fehl am Platz, und ich wünsche mir, zu ihm zu gehen und seine ruhelosen Hände zu halten. Doch meine Hände sind nicht frei: die eine liegt in der Hand meines Vaters, und die andere auf meinem Bauch. Ich bin eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Während ich Craig anschaue, drehen sich die Gäste nach mir um. Ihre Aufmerksamkeit ist mir unangenehm – ich komme mir wie eine Betrügerin vor, die nur so tut, als wäre sie eine Braut. Mein Kleid ist an der Taille zu eng. Ich trage falsche Wimpern, ein Brautkrönchen mit Glasbrillanten und Absätze, hoch wie Stelzen. Ich bin eher kostümiert als angezogen. Aber von einer Braut wird erwartet, dass sie so aussieht, und seit ich beschlossen habe, trocken und Mutter zu werden, versuche ich, das zu sein, was man von mir erwartet.
Unsere Musik setzt ein, und mein Vater drückt meine Hand. Ich schaue auf zu seinem Gesicht. Er lächelt und sagt: »Auf geht’s, Süße.« Er hält meinen ganzen Arm, sodass es sich anfühlt, als stütze er mich mit allem, was er ist. Als ich mit ihm vorwärts gehe, fühle ich mich plötzlich benommen. Deshalb blicke ich zu meiner Schwester. Sie steht links neben dem Pfarrer in einem flammend roten Kleid. Ihr Haar ist hochgesteckt, ihr Rücken durchgedrückt, und ihre Selbstsicherheit ist eine Flut, die meine Angst wegspült. Wenn hier jemand die Dinge unter Kontrolle hat, dann sie. Sie lächelt mich an, und ihr entschlossener, unerschütterlicher Blick sagt: Wenn du weitergehst – bin ich hier und stehe dir zur Seite. Und wenn du kehrtmachst und davonläufst, folge ich dir und wir schauen nie mehr zurück. Was immer du jetzt tust, Schwester, mach dir keine Sorgen. Ich bin da. Das hat sie mir seit ihrer Geburt gesagt. Mach dir keine Sorgen. Ich bin da.
Ich gehe weiter. Als wir das Ende des Teppichs erreichen, sagt der Pfarrer: »Wer führt diese Frau zur Trauung?« Mein Vater antwortet: »Ihre Mutter und ich.« Mein Vater legt meine Hand in Craigs, der sie nimmt, weil das von ihm erwartet wird. Dann ist mein Vater verschwunden, und Craig und ich schauen uns an und halten unsere zitternden Hände. Ich blicke zu Boden und frage mich, wer von uns beiden den anderen stützen kann. Wir bräuchten einen dritten Menschen, der unsere zitternden Hände beruhigt. Ich schaue meine Schwester an, aber sie kann mir jetzt nicht helfen. Es gibt keinen dritten Menschen. So ist das mit der Ehe.
Als es Zeit ist, unser Eheversprechen zu geben, sage ich Craig, dass er der Beweis dafür ist, dass Gott mich kennt und liebt. Craig nickt, und dann schwört er, mich für den Rest seines Lebens über alle anderen zu stellen. Ich schaue ihm in die Augen und akzeptiere sein Versprechen für mich und unser Kind. Der Pfarrer sagt: »Ich erkläre Sie jetzt zu Mr und Mrs Melton.« Es ist geschehen. Ich bin ein neuer Mensch. Mrs Melton. Ich hoffe, dass ich nun besser sein werde, als es die alte Ms Doyle war. Ich hoffe wirklich, besser zu werden. Das hoffen alle, die in dem Garten versammelt sind.
★ ★ ★
Als ich zum ersten Mal die Geschichte meiner Ehe aufschrieb, begann ich mit dem Tag der Hochzeit, weil ich dachte, dass Ehen damit anfangen. Diese Annahme war falsch.
Wir kommen wieder auf die Hochzeit zurück und zu all dem Schrecklichen wie Magischen, was danach geschah, aber jetzt werden wir am Anfang beginnen. Denn es gibt keinen besseren Weg.
Ich wurde geliebt. Wenn Liebe Schmerz verhindern könnte, hätte ich nie gelitten. Mein in Leder gebundenes Babybuch, der Name Glennon vorne aufgeprägt, ist ein einziges langes Gedicht, von meinem Vater geschrieben, und voller Fotos meiner Mutter, die mit sanftem Gesicht meine rosafarbene, schuppige, mit Armband versehene Hand hält. Über meine Geburt schrieb mein Vater:
Es war nicht wirklich
Ein Schrei
Dieser erste Laut
Es war eine Fanfare
Kündend von einem Wunder
Das sich niemals
Wiederholen wird
Es gibt keine Seidendecken
Keine Mägde
Keine Gesandten mit Juwelen
Keine Trompeten und Herolde
Wo sind sie?!
Wissen sie nicht
Was hier geschah?!
Eine Prinzessin wurde geboren.
Ich wurde geliebt. So wie meine Tochter geliebt wird. Und doch saß sie eines Abends auf meiner Bettkante, schaute mit ihren verletzlichen braunen Augen zu mir auf und sagte: »Ich bin groß, Mama. Ich bin größer und kräftiger als die anderen Mädchen. Warum bin ich anders? Ich will wieder klein sein, nicht so groß und kräftig.« Ihre Worte kamen stockend. Offenbar hasste sie es, mir das anzuvertrauen, schämte sich wegen ihres verborgenen Empfindens. Ich sah ihre Tränen, Zöpfe, Lipgloss und ihre schmutzigen Hände – schmutzig, weil sie auf den Banyanbaum in unserem Vorgarten geklettert war. Ich suchte nach einer Antwort, die meiner Tochter wirklich gerecht wurde, aber mir fiel nichts ein. Alles, was ich über Körper, Frausein, Macht und Schmerz gelernt hatte, zerbrach, als ich mein kleines Mädchen das Wort groß aussprechen hörte. »Groß« war wie ihr Fluch, ihr unwiderlegbarer Zustand, ihr Geheimnis, ihre Schande. Etwas, das sich unaufhaltsam in ihr entfaltete und ihren Vertrag mit der Welt bedrohte.
Meine Tochter fragte nicht: Wie komme ich damit zurecht, dass mein Körper größer wird? Meine Tochter fragte: Wie kann ich überleben, wenn ich diese Art Mensch in dieser Art Welt bin? Wie schaffe ich es, so klein zu bleiben, wie die Welt mich haben will? Und wenn ich weiter so wachse, wer wird mich dann noch lieben? Ich schaute meine Tochter an und sagte nicht: Aber so groß bist du doch gar nicht, Schatz. Sie war tatsächlich nicht besonders groß für ihr Alter, aber auch ich bin nicht besonders groß und kräftig. Das war ich noch nie. Doch das spielt keine Rolle. Meine Tochter und ich wissen, was die Welt von uns erwartet. Wir wissen, dass wir entscheiden müssen, ob wir klein, still und unkompliziert bleiben wollen, oder ob wir so groß, laut und kompliziert werden, wie es unsere eigentliche Natur ist. Jedes Mädchen muss entscheiden, ob es nach seinen eigenen Maßstäben oder nach den Maßstäben seiner Umwelt leben will. Jedes Mädchen muss entscheiden, ob es bewundert werden oder um Liebe kämpfen will. Dort auf dem Bett sitzend, mit ihren Zöpfen und ihrem Schmerz, war meine Tochter ich – das kleine Mädchen, das ich einmal gewesen war, die Frau, die ich jetzt bin, die immer noch mühsam versucht, Antworten auf Fragen wie diese zu finden: Wie kann ich eigene Wege gehen, frei sein und trotzdem geliebt werden? Will ich eine allgemein akzeptierte Frau sein, oder ein ganzer Mensch mit seinen Ecken und Kanten? Vertraue ich auf das, was sich in mir entfalten will, und öffne mich für Entwicklung und Wachstum, oder unterdrücke ich alle diese inneren Impulse und passe mich an?
★ ★ ★
Ich bin vier Jahre alt, und mein Vater trainiert die Football-Mannschaft der High School in unserer Nachbarschaft. Am Abend des entscheidenden Spiels verpackt meine Mama mich in einem dicken Mantel, in Ohrwärmern und Fausthandschuhen. Dann kniet sie sich vor mich und bewundert ihr Werk. Sie ist zufrieden. Sie legt ihre Hände auf meine Wangen, zieht mein Gesicht zu sich heran und küsst mich auf die Nase. Gemeinsam packen wir meine kleine Schwester Amanda in einen dick wattierten Schneeanzug. Amanda ist unser Geschenk, und Mama und ich sind den ganzen Tag damit beschäftigt, sie einzupacken und auszupacken. Als sie angezogen ist, beugen wir uns abwechselnd über sie und küssen ihre Wangen, während sie strampelt und kichert – Arme und Beine gerade ausgestreckt, als sei sie ein Seestern.
Mama verstaut uns im Familien-Van. Nach der Fahrt zur High School hören wir, auf dem Weg zum Stadion, das gefrorene Laub unter unseren Stiefeln knirschen. Während wir die mit Popcorn verschmutzte Treppe hochsteigen, bebt die Trommel der Marschkapelle in meiner Brust. Ich atme den Geruch der Hot Dogs ein, und das Geschrei der Menge dröhnt in meinem Kopf. Der Abend ist ein tosendes Chaos, aber meine behandschuhte Hand ruht geborgen in der Hand meiner Mutter. Sie führt mich. Am Eingang lächeln uns die Frauen, die die Tickets abreißen, an, legen die Hände aufs Herz und sagen: »Kann es etwas Hübscheres geben als euch drei?« Sie winken uns durch, weil wir die Mädchen des Trainers sind und freien Eintritt haben. Mama und ich lächeln die Ticket-Ladys an, sagen Danke und tauchen in die Menge der Zuschauer unter dem hellen Flutlicht ein. Als die Schüler und Eltern uns bemerken, verstummen sie und lassen uns durch. Eine Gasse bildet sich. Stille Bewunderung ist die Reaktion der Welt auf die Schönheit meiner Mutter. Wenn die Leute sie erblicken, halten sie inne und warten, voller Hoffnung, dass Mamas Blick auf sie fällt. Das geschieht immer, denn sie nimmt sich Zeit für die Leute. Sie zieht die Aufmerksamkeit Fremder auf sich und erwidert sie. Sie ist eine Königin, die voller Güte regiert. Deshalb starren die Leute sie bewundernd an. Sie schauen sie an, weil ihr Äußeres voller Liebreiz ist, aber sie starren sie an, weil meine Mutter Liebe verkörpert. Ich beobachte meine Mutter ständig, und ich beobachte, wie andere Leute meine Mutter beobachten. Jeden Tag sagen Fremde zu meiner Mutter: Ihre Tochter ist ein so schönes Kind. Ich muss lernen, wie ich mich zu verhalten habe, denn Schönheit ist eine Verantwortung. Die Leute scheinen an sie hohe Erwartungen zu knüpfen.
Meine Kindheits-Schönheit ist auf Fotos deutlich erkennbar: goldbraune Löckchen bis zur Taille, Haut wie Porzellan, ein Lächeln, so strahlend wie der weite Horizont, und leuchtende braune Augen. Ich übe mich darin, die Aufmerksamkeit fremder Leute zu erwidern, die mich bewundern. Ich erkenne, dass Schönheit eine Form von Freundlichkeit ist. Sie ist dazu da, verschenkt zu werden, und ich gebe mir Mühe, großzügig zu sein. Im Bestreben, Ausgewogenheit herzustellen, erinnern meine Eltern mich oft daran, dass ich auch klug bin. Ich habe früh lesen gelernt, und mit vier kann ich reden wie eine Erwachsene. Aber schnell wird mir klar, dass Klugheit komplizierter ist als Schönheit. Fremde nähern sich, um meine Locken zu berühren, aber wenn ich mit Selbstvertrauen und Klarheit zu ihnen spreche, weiten sich ihre Augen und sie weichen vor mir zurück. Mein Lächeln zieht sie an, aber meine Kühnheit lässt sie zurückschrecken. Sie erholen sich schnell davon und lachen, aber das Zurückschrecken habe ich deutlich gespürt. Sie wollten mein Äußeres bewundern, doch ich verkomplizierte die Sache, indem ich meine Persönlichkeit sichtbar werden ließ. Ich beginne zu verstehen, dass Schönheit die Leute erwärmt, während sie auf Klugheit mit Kühle reagieren. Ich erkenne außerdem, dass ein Mädchen sich in einer sehr unsicheren Situation befindet, wenn es für seine Schönheit geliebt wird. Jahre später – weniger schön geworden, ohne bezaubernde Löckchen und perfekte Haut, nicht mehr klein, unkompliziert und kostbar – frage ich mich, wie ich es jemals wert sein könnte, Liebe zu geben und zu empfangen. Meine Schönheit zu verlieren wird sich anfühlen, als wäre ich in Ungnade gefallen und nutzlos. Es wird sein, als hätte ich meinen Teil des Vertrages nicht eingehalten, sodass die ganze Welt von mir enttäuscht ist. Was bleibt mir ohne meine Schönheit noch, damit andere Menschen sich für mich erwärmen?
Doch für den Moment sind wir drei perfekt. Wir kuscheln uns in unsere Sitzplätze und feuern gemeinsam unsere Mannschaft an. Nach dem Spiel laufe ich aufs Spielfeld, weil mein Vater nach mir Ausschau hält, wie immer. Ich laufe zwischen den gepolsterten Beinen der Spieler hindurch, und er hebt mich hoch über seinen Kopf. Seine Spieler machen Platz für ihn und mich. Er dreht sich mit mir im Kreis, bis die Stadionlichter und die Zuschauermenge verschwimmen und die ganze Welt unscharf wird. Klar erkennen kann ich nur noch meinen Vater unter mir. Er stellt mich auf den Boden zurück, und während ich mein Gleichgewicht zurückgewinne, sehe ich, dass meine Mama und meine Schwester uns erreicht haben. Meine Mutter erstrahlt im Glanz ihrer Schönheit, als sie sich meinem Vater nähert. Sie leuchtet heller und stärker als alle Flutlichter des Stadions. Mein Vater schließt sie in seine Arme, und dann nimmt er unser Seestern-Baby und küsst es auf die Wangen. Wir vier sind eine Insel. Dieses Ritual gibt es nach jedem Spiel, ob wir gewonnen oder verloren haben. Wir sind der Sieg meines Vaters. Wir drehen uns um und gehen durch die Menge zum Ausgang – nun keine Insel mehr, sondern eine Parade. Die Menschen lächeln und winken, und wir vier halten uns bei den Händen und auf dem ganzen Weg zurück zum Van singen wir das Kampflied der High School.
★ ★ ★
Ich bin zehn Jahre alt und versuche, in der Ecke der Velourcouch im Wohnzimmer meiner Großmutter zu verschwinden. Meine Cousinen jagen einander von Zimmer zu Zimmer, ein Tornado aus Kreischen und nackter Haut. Es ist Sommer, und die meisten von ihnen tragen Badeanzüge, als wäre das überhaupt kein Problem. Ihre Körper sind leicht und zierlich, und sie huschen und schweben durcheinander wie ein Schwarm Fische. Sie spielen zusammen, dafür ist es erforderlich, die eigene Schüchternheit und Gehemmtheit zu überwinden und sich zusammengehörig zu fühlen. Beides gelingt mir nicht, also kann ich nicht mitspielen. Ich bin kein Fisch. Ich bin schwer, einsam und isoliert wie ein Wal. Deswegen verstecke ich mich auf der Couch und schaue zu.
Während ich meine nun leere Schale mit Kartoffelchips umklammere und mir das Salz von den Fingern lecke, kommt eine meiner Tanten vorbei und bemerkt mich. Sie blickt von mir zu meinen Cousinen und fragt: »Warum magst du denn nicht mitspielen, Glennon?« Sie hat bemerkt, dass ich nicht dazugehöre. Ich schäme mich. »Ich schaue zu«, antworte ich. Sie lächelt, irgendwie amüsiert, und sagt: »Ich mag deinen Lidschatten.« Der violette Lidschatten fällt mir ein. Meine Hand wandert zu meinem Gesicht. Caren, meine Cousine, hat ihn mir am Morgen aufgetragen. Während der Fahrt von unserem Zuhause in Virginia nach Ohio war ich von Aufregung erfüllt, weil ich in diesem Jahr als ein anderes Mädchen zurückkehren würde. Während unseres Besuchs würde Caren mich schminken, mich in jemanden verwandeln, der wie sie aussah, wie sie duftete und wie sie herumsprang. Sie würde mich wieder schön machen. An jenem Morgen saß ich also in Carens Zimmer auf dem Boden, umgeben von Lockenstäben und Make-up, und wartete darauf, verwandelt zu werden. Als sie fertig war, hielt sie mir einen Spiegel hin und ich versuchte zu lächeln, während Enttäuschung in mir hochstieg. Meine Augenlider waren mit Lila beschmiert, und meine Wangen waren rosa, aber ich sah aus wie ich, nur dass ich wie meine Cousine geschminkt war. Und deshalb sieht meine Tante amüsiert statt beeindruckt aus. Ich lächle und sage: »Ich wollte ihn gerade abwaschen.« Ich stelle die Schale ab und stemme mich aus der Couch hoch.
Ich steige die Treppe meiner Großmutter hinauf, gehe ins Badezimmer und schließe hinter mir die Tür ab. Ich beschließe, ein Bad zu nehmen, weil die Badewanne mein Versteck ist. Ich lasse Wasser einlaufen, dessen Plätschern die Stimmen von unten übertönt. Ich schäle mich aus meiner Kleidung, steige in die Wanne und schwebe eine Weile im Wasser. Dann schließe ich die Augen und tauche unter. In meiner verborgenen Unterwasserwelt öffne ich die Augen – so still, so weit weg, so sicher. Meine Haare schwimmen über meinen Schultern. Ich berühre sie. Sie fühlen sich wie Seide an, und ich stelle mir vor, dass ich hier unten wie eine Meerjungfrau aussehe. Ich hole Luft und tauche wieder unter, verschwinde unter der Wasseroberfläche. Schließlich wird das Wasser kalt. Also lasse ich es langsam ablaufen und beobachte, wie mein Körper wieder auftaucht. Ich fühle, wie er sich schwerer und schwerer in die Porzellanwanne presst, als steige die Schwerkraft exponentiell an, als würde ich vom Erdmittelpunkt angezogen. Das Wasser ist jetzt nur noch zentimetertief. Meine Schenkel breiten sich massiv und riesig in der Wanne aus, und ich frage mich: Gibt es auf der Welt noch andere Mädchen, die so massig sind? Hat sich jemand je so schwer gefühlt? Schließlich fühle ich mich wie am Wannenboden festgenagelt – nackt, entblößt, gestrandet. Das Schweben unter Wasser ist nie von Dauer. Ich steige schwerfällig aus der Wanne, trockne mich ab, ziehe mich an und gehe wieder nach unten. Ich lege einen Zwischenstopp in der Küche ein, um meine Chipsschale aufzufüllen, ehe ich es mir wieder auf der Couch bequem mache.
Im Fernsehen läuft ein Film über eine Frau, die dreißig Jahre älter ist als ich. Sie gibt ihren Kindern Gutenachtküsse, ihr Mann und sie legen sich nebeneinander ins Bett. Sie liegt mit offenen Augen da, bis er eingeschlafen ist. Dann steht sie wieder auf, verlässt leise das Schlafzimmer und geht in die Küche. Sie nimmt eine Zeitschrift von der Anrichte. In Großaufnahme sieht man das knochendürre blonde Fotomodell auf dem Cover. Die Frau legt die Zeitschrift wieder weg und geht zum Kühlschrank. Sie nimmt sich eine Packung Eis aus dem Gefrierfach und greift nach einem großen Löffel. Gierig fängt sie an zu essen, schaufelt das Eis anfangs wie wahnsinnig in sich hinein, als wäre sie total ausgehungert. Nie zuvor habe ich jemanden so essen sehen. Sie isst, wie ich essen will – wie ein Tier. Schließlich weicht der wilde, verrückte Ausdruck im Gesicht der Frau einer entrückten Ruhe. Sie isst weiter, aber jetzt mechanisch wie ein Roboter. Ich schaue ihr mit Scham und Freude dabei zu und denke: Sie ist wie ich. Sie taucht unter. Sie isst die Packung leer und versteckt sie in einer Tüte, die sie ganz unten in die Mülltonne stopft. Dann geht sie ins Badezimmer, schließt sich ein, beugt sich über das Klo und erbricht das ganze Eis. Der Vorgang sieht qualvoll aus, aber danach sitzt sie auf dem Boden und wirkt erleichtert. Ich bin verblüfft. Ich denke: Das hat mir bis jetzt gefehlt: die Erleichterung. So kann man untertauchen, ohne dicker zu werden. So kann man dafür sorgen, dass das Untertauchen länger andauert.
Ein paar Monate später fresse und erbreche ich mehrmals täglich. Jedes Mal, wenn ich spüre, dass ich nicht dazugehöre, wertlos bin, jedes Mal, wenn meine Traurigkeit anschwillt, betäube ich sie verzweifelt mit Essen. Dann spüre ich statt der Traurigkeit das Völlegefühl, das ebenso unerträglich ist. Also erbreche ich alles, und diese zweite Leere ist besser, weil es eine erschöpfte Leere ist. Jetzt bin ich zu müde, zu kaputt, zu schwach und ausgelaugt, um etwas zu fühlen. Ich fühle mich dann nur leicht – leicht im Kopf, und leicht im Körper. Und so ist die Bulimie zu dem Ort geworden, an den ich immer wieder zurückkehre, um allein zu sein, um unterzutauchen, um weniger zu fühlen, oder auf sichere Weise alles zu fühlen. Bulimie ist die Welt, die ich für mich selbst erschaffe, weil ich das Gefühl habe, in die reale Welt nicht hineinzupassen. Bulimie ist mein sicheres, tödliches Versteck. Dort kann nur ich selbst mich verletzen. Dort bin ich weit weg und fühle mich geborgen. Dort darf mein Hunger so gewaltig sein, wie er nun einmal ist, während ich gleichzeitig so schlank bleiben kann, wie es notwendig ist.
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Dass ich in die Bulimie abtauche, hat einen Preis: die Nähe zu meiner Schwester. Bevor ich mich für die Bulimie entschied, teilten meine Schwester und ich unser Leben. Es gab nichts, das nur mir oder ihr gehörte. Wir hatten sogar eine gemeinsame Kuscheldecke, die uns Sicherheit gab. Ich kuschelte mich in meinem Bett in ein Eckchen der Decke, sie sich in ihrem Bett in das andere. Jahrelang schliefen wir so, quer durch den Raum durch die Decke verbunden. Eines Nachts lässt sie ihren Teil der Decke auf den Boden fallen. Ich ziehe ihn auf meine Seite hoch, aber sie fragt nie wieder danach. Sie braucht unsere Decke nicht mehr. Sie ist weniger ängstlich als ich.
Meine Schwester hat wunderschöne lange Beine und bewegt sich auf ihnen anmutig und voller Selbstvertrauen durch die Welt. Da kann ich nicht mithalten. Also baue ich mir meine Bulimie auf und lebe darin. Wie unsere beschützende Kuscheldecke gehört die Bulimie mir allein, denn meine Schwester braucht sie nicht. Gäbe es ein Bild meines Lebensweges, würde man darin meine und ihre Fußabdrücke nebeneinander verlaufen sehen, bis zu dem Tag, an dem ich mich in den Sand setzte und mich weigerte, weiterzugehen. An ihren Fußabdrücken würde man erkennen, dass meine Schwester jahrelang bei mir stehen blieb und sich fragte, warum ich zu ängstlich war, um mich weiterzubewegen. Sich fragte, warum wir, von einem Tag zum nächsten, plötzlich nicht mehr zusammen waren, sondern jede für sich allein existierte.
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Jetzt bin ich dreizehn und sitze im Pick-up meines Vaters auf dem Beifahrersitz. Er hat den Blick auf die Straße geheftet und sagt, dass er und Mama wieder Becher in meinem Zimmer gefunden haben. Jeden Abend nehme ich zwei große Becher mit aufs Zimmer – einen mit Essen und den andern, um darin zu erbrechen. Die Becher lasse ich unter meinem Bett stehen, und ihr Gestank erinnert uns alle ständig daran, dass es mir nicht besser geht. Die Verzweiflung meiner Eltern wächst. Sie haben mich zur Therapie geschickt, mir Medikamente verordnen lassen, mich angefleht, aber nichts funktioniert. Der Beifahrersitz ist weiter vorgeschoben und höher eingestellt als der Sitz meines Vaters, was bewirkt, dass ich mich riesig und viel zu sichtbar fühle – dicker und größer als er, und das verletzt mich. Meine Haare sind struppig und orange, und meine Haut ist so rissig, dass es wehtut. Ich habe versucht, diese Stellen mit Make-up abzudecken, und jetzt rinnt mir die bräunliche Flüssigkeit am Hals herunter. Ich schäme mich, dass mein Vater mit mir herumfahren muss, zu erkennen geben muss, dass ich seine Tochter bin. Ich möchte wieder klein sein, klein genug, damit andere für mich sorgen müssen, klein genug, um zu verschwinden. Aber ich bin nicht klein. Ich bin riesig. Ich bin klobig und sperrig. Ich habe das Gefühl, unausstehlich und unverschämt zu sein, weil ich in diesem Auto, in dieser Welt so viel Platz einnehme.
Mein Vater sagt: »Wir lieben dich, Glennon.« Das ist mir unangenehm, denn es kann einfach nicht wahr sein. Daher schaue ich ihn an und sage: »Ich weiß, dass du lügst. Wie kann jemand dieses Gesicht lieben? Schau mich doch an!« Als diese Worte aus mir hervorbrechen, höre und sehe ich mich das sagen und denke: Glennon, dein Benehmen ist peinlich. In deiner Angst bist du noch hässlicher als sowieso schon. Ich frage mich, welche dieser Stimmen ich bin – jene, die fühlt, oder jene, die meine Gefühle verspottet? Ich habe keine Ahnung, was real ist. Ich weiß nur, dass ich nicht schön bin. Wenn also jemand sagt, dass er mich liebt, geschieht das nur, weil er Erwartungen erfüllen will. Mein Ausbruch ist ein Schock für meinen Vater. Er hält am Straßenrand und beginnt, auf mich einzureden. Ich erinnere mich nicht, was er sagt.
Ich überlebe die Middle School ungefähr so, wie ein Wal vielleicht einen Marathonlauf überleben würde: langsam, schmerzvoll, mit großer Anstrengung und unangenehm auffallend. Doch dann, während des Sommers zwischen Middle und High School, wird meine Haut besser, und ich finde Kleidung, unter der ich mein kaum vorhandenes Gewicht verbergen kann. In diesem Sommer kommt mir eine Erkenntnis: Vielleicht habe ich ja Fischschwärme inzwischen lange genug studiert, um vortäuschen zu können, dass ich bei einem von ihnen dazugehöre. Vielleicht darf ich bei den schönen Mädchen mitmachen, wenn ich mich auf richtige Weise kostümiere, mehr lächle, so lache, wie sie es erwarten, genau auf die Winke der Anführerin achte und kein Mitgefühl zeige, keine Verletzlichkeit. Vielleicht nehmen sie es mir ab, wenn ich so tue, als wäre ich selbstbewusst und cool. Also sage ich mir jeden Morgen, bevor ich zur High School gehe: Halte einfach den Atem an, bis du nach Hause kommst. Ich ziehe die Schultern nach hinten, lächle und betrete die Schule wie eine Superheldin. Für Außenstehende sieht es aus, als hätte ich endlich zu mir selbst gefunden. Was natürlich nicht stimmt.
Gefunden habe ich eine Art Stellvertreterin, die cool und modisch genug ist, um die High School zu überleben. Dadurch, dass ich eine Stellvertreterin zur Schule schicke, kann mein wahres Ich nicht verletzt werden. Das ist das Tolle daran. Als jemand anderes bin ich also endlich in der Welt angekommen. Den ganzen Tag halte ich in der Schule den Atem an, und wenn ich nach Hause komme, entspanne ich mich mit pfundweise Nahrungsmitteln und der Toilette. Dieser Rhythmus funktioniert. Ich werde bei den Mädchen populär. Sie spüren, dass ich etwas weiß, was sie nicht wissen. Und schließlich bemerke ich, dass die Jungs mich bemerken. Wenn ich auf dem Schulflur an ihnen vorbeigehe, übe ich mich in einer Pose, die ihnen signalisiert: Ich bin jetzt verfügbar, um das Spiel zu spielen. Und dann setze ich mich aufs Schachbrett und warte darauf, dass jemand mich spielt. Und wie es Bauern immer ergeht, werde ich tatsächlich übers Spielfeld geschoben.
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An das erste Mal, als Sex mit mir passierte, habe ich eine lebhafte Erinnerung: Camel Lights. Eines Tages findet sich mein Zehntklässlerinnen-Selbst nach der Schule im Doppelbett meines Zwölftklässler-Freundes wieder, versucht, unter seiner Schwere den Atem anzuhalten, und fragt sich, wie lange Sex wohl dauert. Auf seinem Ghettoblaster laufen die Eagles, und die ersten Töne von »Hotel California« bewirken, dass ich mich leer fühle und Angst bekomme. Während mein Freund sich auf mir windet wie ein riesiges, aufgeregtes Kleinkind, schweift mein Blick durch sein Zimmer. Auf der Kommode liegt eine Schachtel Camel Lights. Ein grünes Feuerzeug liegt diagonal auf der Packung, und für einen Moment erinnern das Feuerzeug und die Zigaretten mich an uns beide, die wir wie zufällig aufeinanderliegen, dazu gedacht, einander auf rasche, praktische Weise nützlich zu sein. Mir wird klar, dass ich dabei das Feuerzeug bin. Schließlich hört er auf, sich zu winden, bleibt aber auf mir liegen. »Hotel California« erklingt weiter. Ich frage mich, ob die Länge des Songs Teil seiner Botschaft ist: Das Leben ist nicht nur gruselig und hoffnungslos, sondern dauert auch noch viel zu lang. Nach diesem Nachmittag treibt er es mit mir in der Waschküche im Keller seines Elternhauses. Er hatte nur versucht, unser erstes Mal zu etwas Besonderem zu machen.
An einem heißen Sommermorgen nach dem zehnten Schuljahr gehen meine beste Freundin und ich in das örtliche Zoogeschäft, um die Tiere dort zu besuchen. Meine Freundin überlegt, mit ihrem Freund zu schlafen, und fragt mich, wie Sex ist. Ich sehe zu, wie die Kätzchen in ihrem Käfig spielen. Eines von ihnen fällt regelrecht über den Kratzbaum her. Ich zeige auf dieses Kätzchen und sage: »So ist Sex. Ich bin der Kratzbaum, und Joe fällt über mich her, wenn es ihn überkommt. Mein Körper ist ein Spielzeug, mit dem er sich gern beschäftigt, aber für mich interessiert er sich eigentlich nicht besonders. Er fasst mich an – aber er berührt nicht wirklich mich. Sex ist nicht wirklich persönlich. Es ist einfach so, dass ich seine Freundin bin, und deshalb ist mein Körper sein Spielzeug. Für mich fühlt sich das irgendwie kindisch an. So wie Katzen sich mit ihrem Kratzbaum beschäftigen oder Kinder mit dem Spielzeug des anderen spielen, sich sonst aber weitgehend ignorieren. Ich habe allerdings einen Trick gelernt: Ich lasse einfach meinen Körper daliegen, um es hinter mich zu bringen, und klinke mich aus, indem ich mich gedanklich mit etwas anderem beschäftige. Ich überlege, was ich morgen anziehe, und solche Sachen.« Ich wende mich von den Kätzchen ab und schaue meine Freundin an. »Sex ist nicht wirklich etwas, das ich habe. Es passiert einfach mit meinem Körper, während ich hier oben in meinem Kopf bin und warte, dass es vorbei ist. Aber ich denke nicht, dass Joe das weiß. Oder dass es ihn interessiert.«
Meine Freundin starrt mich schweigend an. Ich sehe an ihrem Gesichtsausdruck, dass ich viel zu viel preisgegeben habe. Das gerade eben war nicht das Selbst, das sprechen darf. Das war nicht meine Stellvertreterin. Ich warte. Schließlich sagt sie: »Das ist ja komisch. Im Fernsehen sieht es so aus, als würde Sex Spaß machen.«
»Ich weiß«, sage ich. »In Wirklichkeit ist es nicht so wie im Fernsehen. Jedenfalls für mich. Aber, was soll’s.« Sie geht zu ihren Hündchen zurück, und ich wende mich wieder meinen Kätzchen zu. Ich bin sechzehn Jahre alt und will, dass meine Welt wieder klein ist – es soll nur kleine Katzen und Hunde und meine beste Freundin darin geben.
Ein paar Wochen später hat meine Freundin zum ersten Mal Sex. Sie ruft mich an und sagt: »Ich weiß gar nicht, wovon du neulich geredet hast. Sex ist die beste Sache der Welt. Total super!« Von da an spreche ich nicht mehr über Sex. Gegenüber Joe und meinen Freundinnen tue ich so, als fände ich das alles total super. Sex, Freundschaften, die High School, mich selbst – alles total super!
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An einem Sommerabend sehe ich zu, wie Joe vom Direktor unserer High School sein Abschlusszeugnis überreicht wird. Während er und seine Freunde ihre Hüte hoch in die Luft werfen, stehe ich an die Wand gelehnt und finde es aufregend, wenigstens irgendwie Teil dieser Feier zu sein, hierher zu gehören, zu ihnen. Nach der Zeremonie fährt er mich zu sich nach Hause. Aus seinen Autolautsprechern dröhnt Van Halen. Dort, auf dem Beifahrersitz, neben diesem erfolgreichen Highschool-Absolventen, schaue ich durch das offene Schiebedach hinauf zu den Sternen und fühle mich frei, wichtig, glücklich und stark. An diesem Abend, auf seiner Abschlussfeier, bekommt Joe von seinen Eltern ein Geschenk: eine Schachtel Kondome. Am nächsten Tag will er mit seinen Freunden für eine Woche an den Strand fahren. »Die wirst du brauchen«, sagt seine Mutter augenzwinkernd. Er lacht, und seine Familie lacht auch. Niemand achtet darauf, ob ich mich darüber wundere, dass mein Freund Kondome braucht, wenn er ohne mich verreist. Ich lächle. Wirklich lustig. Kondome! Jungs, ihr wisst schon.
Joe küsst mich zum Abschied und fährt mit seinen Kumpeln und seinen Kondomen in den Strandurlaub. Zwei Tage später klopft Rob an meine Tür, ein Junge, den ich seit dem zweiten Schuljahr kenne. Ich gehe zu ihm nach draußen auf die Veranda, wo er ein bisschen herumstammelt und dann mit nervösem Lächeln sagt, dass er mir etwas erzählen muss. Er ist zu den anderen an den Strand gefahren und hat dort erfahren, dass Joe die vorige Nacht im Gefängnis verbracht hatte. Joe war verhaftet worden, weil ein Mädchen aus der zwölften Klasse ihn beschuldigte, sie vergewaltigt zu haben. Am Strand ist es das Thema, und Rob will, dass ich es von ihm erfahre, ehe die Neuigkeit hier zu Hause die Runde macht. Er berichtet, dass Joe am Morgen wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, weil es in der Aussage des Opfers »Unstimmigkeiten« gegeben habe. Ich bedanke mich bei Rob, bitte ihn zu gehen. Dann erwarte ich Joe. Ich frage ihn nach der Vergewaltigung, und er lacht und sagt, das sei eine falsche Beschuldigung. Er hätte nichts damit zu tun. Ich trenne mich nicht von ihm. Meine Freunde und ich gehen mit der Angelegenheit so um, dass wir öffentlich übereinstimmen, das Mädchen, das Joe bezichtigte, von ihm vergewaltigt worden zu sein, wäre betrunken, dumm und eifersüchtig gewesen und hätte gelogen. Ich denke nicht, dass irgendjemand wirklich glaubte, sie hätte gelogen, aber das geben wir voreinander nicht zu. Ich weiß nicht, ob wir uns so verhalten, weil es uns einfach egal ist, oder weil wir uns an die ungeschriebenen Regeln des High-School-Lebens halten: Misstraue anderen Mädchen und betrüge sie, um bei den beliebten Jungs gut anzukommen. Ein paar Wochen später begegnet mir das Opfer im Umkleideraum des Fitnessstudios meiner Mutter. Ich gehe mit hoch erhobenem Kopf an ihr vorbei. Sie senkt ihren Kopf und schaut weg. Ich verspüre das elektrisierende Gefühl, gesiegt und mich behauptet zu haben.
Joe und ich haben noch ein ganzes Jahr Waschküchensex, trinken und hören Van Halen. Als ich schließlich mit ihm Schluss mache, weint er, während ich ihn ungläubig anstarre. Ich denke: Warum weinst du denn? Was verlierst du, das sich zu besitzen lohnen würde? Aber ich sage nichts. Ich finde einen anderen Freund mit einem anderen Keller, wir saufen andere Drinks und besuchen die gleichen Partys. Ich weiß, wie es mir nachts gelingt, untergetaucht zu bleiben. Im Licht des Tages ist es schwieriger, sich zu verstecken.
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Zu Beginn meines letzten Schuljahres stehe ich am Ende der Schlange fürs Mittagessen an, halte mein Tablett gerade und schaue auf das Meer aus Tischen in der Schulkantine. Ich versuche mich zu entscheiden, auf welche Weise ich einen unnahbaren Eindruck machen will, während ich nach einem freien Platz suche. Wie soll ich es mit diesen Absätzen über den rutschigen Boden schaffen? Wie soll ich mein hautenges Kleid am Hochrutschen hindern, während ich dieses Tablett trage? Wie soll ich in diesem fluoreszierenden Licht meine Akne verbergen? Wie soll ich cool wirken, während ich so schwitze? Das ist der unmögliche Augenblick, in dem ich mich Tag für Tag wiederfinde. Hunderte von uns wurden mit zwei einander widersprechenden Pflichten in diese Kantine geschickt: Sei unverletzlich, während du Dinge tust, die dich besonders verletzlich machen – sich in eine Gruppe einfügen und essen. Dieser Raum ist wie Herr der Fliegen, und überleben kann man nur, wenn man seine Schwäche verbirgt. Meine Schwäche sind meine Bedürfnisse: akzeptiert werden und essen. Diese Bedürfnisse sind viel zu menschlich für die High School. Also stehe ich dort, voller Angst, dies könnte der Tag werden, an dem mein hungriges, schwitzendes, bedürftiges Ich zu dicht an die Oberfläche kommt und die Aufmerksamkeit der Haie erregt. Ehe ich mich in Bewegung setze, verspüre ich den heftigen Wunsch, wir hätten reservierte Sitzplätze. Ich blicke in das Meer aus Gesichtern und erkenne, dass wir alle in unserer Freiheit ertrinken. Wo sind die Erwachsenen? Wir könnten sie hier wirklich gebrauchen.
Ich habe zu lange gezögert, und jetzt steht jemand hinter mir. Ich tue so, als würde mich eine Freundin an ihren Tisch winken, und schicke meine Stellvertreterin hinaus ins Leere. Schließlich finde ich einen Platz an einem von B-Promis unserer High School besetzten Tisch. Die Leute an diesem Tisch stehen im Rang weder zu weit über noch zu weit unter mir – das passt, ist gut und sicher. Ich setze mich zu ihnen und versuche mich in Smalltalk, aber es fällt mir zu schwer. Ich fühle mich in lächerlicher Weise entblößt. Ich möchte nicht hier in aller Öffentlichkeit Schiffbruch erleiden. Ich will allein sein und untertauchen. In meiner Angst esse ich viel zu viel für mein enges Kleid. Ich bringe das Tablett zurück, stakse auf meinen hohen Absätzen aus der Kantine und gehe sofort zu den Toiletten, um mir Erleichterung zu verschaffen. Dort stehen die Mädchen Schlange. Ich bin also nicht ungestört. Es wird nicht funktionieren. Ich gehe durch den Flur zu einer anderen Toilette. Auch dort drängeln sich die Mädchen, frischen ihr Make-up auf, lachen, tratschen, verstecken sich. Die dritte Toilette, die ich finde, ist außer Betrieb. Das Essen in meinem Bauch fängt an, sich in mir festzusetzen. Bald wird es zu spät sein. Ich schwitze, mein Herz hämmert, und ich beobachte, wie ich meine Schuhe ausziehe und durch den Schulflur renne. Die anderen drehen die Köpfe und starren mich an. Ich mache eine Szene. Ich sehe, wie sie mich beobachten, und in mir zerbricht etwas. Statt nach einer vierten Toilette zu suchen, laufe ich ins Sekretariat. Die Sekretärin fragt, ob ich einen Termin habe. Ich schaue sie an und denke: Man hat doch keinen Termin, wenn man verzweifelt ist. Verzweiflung lässt sich nicht planen. Wenn ihr nur Schülern helft, die einen Termin haben, werdet ihr niemals jemandem helfen, der Hilfe braucht. Ich gehe an der Sekretärin vorbei, öffne die Tür zum Büro der Vertrauenslehrerin und setze mich vor sie an den Schreibtisch. Sie blickt alarmiert von ihren Akten auf. Ich sage: »Ich bin so erschöpft. Es geht mir nicht gut. Ich glaube, ich werde sterben. Rufen Sie meine Eltern an. Ich muss ins Krankenhaus. Ich komme einfach nicht mehr klar. Jemand muss mir helfen.«
Ich weiß nicht, was ich damit eigentlich meine. Ich weiß nicht, ob das eine Selbstmorddrohung ist oder nur eine passive Beobachtung. Ich nehme an, ich will eine Krankenhausbehandlung für meinen Körper, weil ich den Verdacht habe, dass mein Körper krank ist. Doch die Art, wie sie mich anschaut, verrät mir, dass sie sich eher Sorgen um meine Psyche macht. Sie ruft meine Eltern an, und an diesem Nachmittag fährt man mich an einen Ort für Menschen, deren Seele krank ist.
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In der Aufnahme der Psychiatrie schauen meine Familie und ich schweigend zu, wie die Krankenschwester meine Tasche nach Gegenständen durchsucht, mit denen ich mich verletzen könnte. Sie nimmt meinen Rasierer und meinen Müsliriegel, hält beides hoch, lächelt entschuldigend, und legt die Sachen in einen Zip-Beutel, auf dem mein Name steht. Meine Eltern versuchen tapfer, Haltung zu bewahren, aber ich sehe deutlich, dass sie ihre Tränen nur mühsam unterdrücken können. Meine Tränen befinden sich auch dicht unter der Oberfläche, aber bei mir sind es Tränen der Erleichterung. Ja, bitte, denke ich, nehmt mir alles ab, was Angst macht. Ja, ja. Haltet mich davon ab, mich selbst zu verletzen. Bitte ermöglicht es mir, mich hier bei euch zu verstecken. Sagt mir, was ich tun soll, wie ich leben soll. Ja. Nehmt es, nehmt alles.
Meine Schwester schaut ebenfalls zu. Ihre Augen sind weit aufgerissen, und sie ist so verwirrt, so ängstlich. Ich spüre, dass auch sie versucht, tapfer zu sein, aber nicht weiß, wie Tapferkeit in einem solchen Moment auszusehen hat. Ist es tapfer, mich mit dieser Krankenschwester mitgehen zu lassen, oder vielmehr, meine Hand zu nehmen und mit mir aus der Klinik zu flüchten? Niemand weiß das. Die Krankenschwester fordert mich auf, zum Abschied meine Familie zu umarmen, und folgsam umarme ich zuerst meinen Vater, dann meine Mama, dann meine Schwester. Sie zittert, und ich muss mein Herz stählen, um angesichts des Schreckens und der Scham, die ich ihr aufbürde, nicht zusammenzubrechen. Ich tue, was ich tun muss. Ich lasse sie los und folge der Krankenschwester durch einen kleinen Flur. Meine Familie bleibt in der Patientenaufnahme zurück und schaut mir nach. Ich bleibe stehen, drehe mich zu ihnen um, und es erschreckt mich, wie klein sie wirken, dicht zusammengedrängt in dem kalten, weißen Neonlicht. Sie bleiben zusammen, und ich gehe allein. So muss es sein. Dort sind sie, und hier bin ich. Ich passe nicht in ihre Welt, und sie sollten mir besser nicht in meine folgen. Sie brauchen nicht, was ich brauche. Ich biege um eine Ecke, und sie verschwinden völlig. Jetzt bin nur noch ich da, in meiner Welt. Ich betrete mein neues Zimmer und packe meine Sachen aus. Unter meiner Kleidung finde ich einen Zettel, auf den in der Handschrift meiner kleinen Schwester ein Songtext notiert ist.
Du findest eine Heldin
Wenn du in dein Herz schaust
Du brauchst keine Angst zu haben
Vor dem, was du bist
Ich werde noch zwanzig Jahre brauchen, bis ich verstehe, was meine vierzehnjährige Schwester mir sagen möchte. Wie kann es sein, dass sie der einzige Mensch war, der wusste, was mit mir nicht stimmte und wie es sich heilen ließ?
Als ich an meinem ersten Morgen in der Klinik erwache, muss ich nichts weiter tun als mir die Zähne putzen. Ich muss nicht duschen, mich nicht anziehen oder schminken, weil man hier keine Kostümierung braucht. Also putze ich mir die Zähne und stehe dann draußen im Flur herum und warte darauf, dass die Klingel ertönt, damit ich mich mit den anderen Patienten für die Medikamentenausgabe anstellen kann. In dieser Schlange gibt es keinen Smalltalk. Alle scheinen das Schweigen angenehm zu finden. Es gibt keine ungeschriebenen sozialen Regeln, die eingehalten werden müssen. Ich spüre, wie die Erleichterung darüber bewirkt, dass meine Muskeln sich entspannen. Meine Schultern sinken herab, meine Atmung wird tiefer. Nachdem wir unsere Medikamente eingenommen haben, treffen wir uns zur Gruppentherapie. Wir sitzen auf Stühlen, die uns zugewiesen werden, im Kreis und schauen uns an. Wir erzählen unsere Geschichten. Wenn uns nicht nach Lächeln zumute ist, tun wir es nicht. Den meisten von uns ist nicht nach Lächeln zumute. Wir sind hier, weil wir des Lächelns müde sind.
Eines Tages sagt ein Mädchen mit zerschnittenen Armen: »Meine Mutter hat mich hergeschickt, weil sie sagt, dass niemand mir auch nur ein Wort glauben kann.« Ich schaue sie an und möchte zu ihr sagen: Sieht sie denn nicht, dass du auf deinen Armen die Wahrheit sagst? So wie ich auf der Toilette die Wahrheit sage? Zu dem Zeitpunkt, wenn wir in der Klinik landen, gelten wir bei den meisten unserer Verwandten als unsensible Lügner, aber so waren wir nicht von Anfang an. Am Anfang waren wir hochsensible Wahrheitssager. Wir sahen alle um uns herum lächeln und ständig sagen: »Mir geht es prima! Alles bestens!« Und wir waren nicht in der Lage, dieses Theater mitzuspielen. Wir mussten die Wahrheit sagen, und sie lautete: »Ehrlich gesagt, geht es mir überhaupt nicht prima.« Aber niemand wusste, wie man damit umgeht, dass jemand so ehrlich ist. Also fanden wir andere Wege, unsere Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Wir benutzten, was sich in Reichweite befand – Drogen, Alkohol, Essen, Geld, unsere Arme, andere Körper. Wir demonstrierten unsere Wahrheit, statt sie auszusprechen. Und so wurde unser ganzes Leben zu einer gottverdammten Katastrophe. Dabei haben wir nur versucht, aufrichtig zu sein.
Meine Zimmernachbarin heißt Mary Margaret. Mary Margaret ist magersüchtig. Da ich nicht mit meiner kleinen Schwester reden kann, erlaube ich es, dass Mary Margaret für eine Weile ihren Platz einnimmt. Wir unterhalten uns flüsternd bis spät in die Nacht, jede Nacht. Eines Abends, nachdem das Licht gelöscht ist, erzähle ich Mary Margaret von meinem Urgroßvater. Ich erzähle, dass er in Pittston, Pennsylvania, als Bergmann arbeitete. Jeden Morgen packte meine Urgroßmutter ihm ein Lunchpaket, und dann fuhr er hinab in die Mine. Die Arbeit war gefährlich, denn unter Tage gab es tödliche, unsichtbare Gifte. Da die Körper der Bergleute nicht empfindlich genug waren, um diese Gifte zu bemerken, nahmen sie manchmal einen Kanarienvogel mit hinunter. Dessen Körper war sensibel genug, und so wurde der Vogel zu ihrer Lebensversicherung. Wenn die Konzentration der Giftgase in der Luft zu hoch wurde, hörte der Kanarienvogel auf zu singen, und diese Stille war für die Bergleute das Signal, aus der Mine zu fliehen. Taten sie das nicht schnell genug, starb der Vogel und kurze Zeit später erstickten auch die Bergleute.
Ich erzähle Mary Margaret, dass ich uns nicht für verrückt halte. Ich glaube, dass wir Kanarienvögel sind. »Könnte es nicht sein«, frage ich sie, »dass wir uns das alles nicht einbilden, sondern eine ganz reale Gefahr spüren?« Ich sage zu Mary Margaret, dass meiner Meinung nach die Welt mehr als nur ein bisschen giftig ist und dass sie und ich die Fähigkeit besitzen, das zu spüren. Ich sage ihr, dass es auf der Welt viele Orte gibt, wo man Kanarienvögel zu schätzen weiß. Man achtet sie als die Schamanen, die Dichter und Weisen. Aber hier bei uns ist das nicht so. Ich sage: »Wir sind die, die am Bug der Titanic stehen und ›Eisberg!‹ rufen, aber alle anderen wollen einfach weitertanzen. Sie wollen nicht aufhören. Sie wollen nicht wissen, wie kaputt ihre Welt ist. Stattdessen ziehen sie es vor, uns für kaputt zu halten. Wenn wir aufhören zu singen, suchen sie nicht nach frischer Luft, sondern sperren uns weg. Diese Klinik hier ist der Ort, wo sie ihre Kanarienvögel verwahren.«
Ich rede noch eine Weile über Kanarienvögel. Mary Margaret schweigt, woraus ich schließe, dass sie mit meinen Erkenntnissen übereinstimmt. Doch als ich meinen Vortrag beendet habe und zu ihr hinschaue, sehe ich, dass sie schläft. Ich steige aus dem Bett und gehe zu ihr. Ich ziehe die Decke über ihren winzigen Körper und küsse sie auf die Stirn. Sie wiegt knapp zweiunddreißig Kilo und sieht aus wie ein Vogel, der zu müde zum Singen ist. In diesem Moment frage ich mich, ob meine Freundin bald sterben wird. Ich frage mich, ob Sterben die einzige Warnung ist, die Mary Margaret der Welt noch geben kann. Ich hoffe, dass wir hier drinnen nicht mehr in den Minen sind. Vielleicht sind wir hier in diesem kleinen Zimmer vor den Toxinen sicher.
Spät an einem Abend schreiben Mary Margaret und ich Schwüre auf, dass wir immer füreinander sorgen werden. Wir unterschreiben die Schwüre mit Kreide, weil wir keine Bleistifte haben dürfen. Ich muss Mary Margaret versprechen, die Kreide nicht zu essen. Ich sage ihr, dass sie vielleicht die Kreide essen sollte. Wir lachen. Hier drinnen fühlen wir uns sicher genug, um zu lachen. Doch als die Zeit unserer Entlassung aus der Klinik gekommen ist, hören wir auf zu lachen.
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Könnte ich noch einmal zum Morgen meiner Entlassung zurückkehren, würde ich zu meinen Eltern sagen: Ich weiß, dass ich von hier fortmuss – aber ich will nicht wieder zurück auf die High School. Dort gibt es zu viele Toxine und ich kann nicht atmen. Aber ich sage nichts. Ich versichere allen, dass es mir jetzt gut geht. An der Schule ist Willkommenswoche und ich werde gleich zur »führenden Anführerin« meiner Klasse gewählt. Kurz nach der Entlassung aus der psychiatrischen Klinik sitze ich im hübschen blauen Kostüm, mit einer Schärpe geschmückt, auf dem Heck eines Cabrios und winke den Leuten zu, die sich dicht gedrängt von den Bürgersteigen aus die Parade der High School anschauen. Meine Mutter und Großmutter fahren mich durch die Menge, und ich kann die Hoffnung der beiden spüren. Wir haben so viel durchgemacht, und hier bin ich und werde bewundert. Für sie fühlt es sich wie ein Sieg an, aber ich kenne die Wahrheit. Man muss einen Menschen kennen, um ihn zu lieben. Und von diesen winkenden Leuten kennt mich niemand. Sie kennen nur meine Stellvertreterin. Das ist keine Siegesparade für mich, sondern für sie. Sie ist es, die winkt. Ich bin diejenige, die wieder den Atem anhält, im Verborgenen. Sie ist der Star; ich bin die Psychiatriepatientin.