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Die Stabilität der Demokratie scheint heutzutage zunehmend fragil. In einer Zeit multipler Krisen, Bedrohungen und manifester Veränderungen wirkt die gesetzliche Krankenversicherung – gesamtgesellschaftlich betrachtet – als systemstabilisierend. In der nächsten Legislaturperiode stehen gleichwohl Weichenstellungen an, die entscheidend dafür sind, ob unser Gesundheitswesen auch am Ende dieses Jahrzehnts noch sozial gerecht und effizient sein und den Menschen in Deutschland auch in Zukunft die Teilhabe am medizinischen Fortschritt ermöglichen wird. Dies hat auch Auswirkungen darauf, wie sich aktuelle und längerfristige Veränderungen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Technologie weiter auswirken und wie sich die freiheitliche und pluralistische Demokratie verändert. Trotz einiger Fortschritte, z. B. in der Digitalisierung, ist unser Gesundheitswesen weiterhin nicht ausreichend zukunftsfest und resilient. Der Handlungsbedarf ist groß. Entscheidend ist deshalb, konkrete Handlungsansätze zu formulieren, was in der nächsten Legislaturperiode angepackt werden muss. Dieses Buch will keinen Masterplan formulieren, sondern Denkanstöße vermitteln und Optionen aufzeigen, die direkt die Gesundheitspolitik adressieren, aber darüber hinaus auch die Stabilität der demokratischen Mitte in Deutschland berühren. Das Buch richtet sich in alle, die im Gesundheitswesen Verantwortung tragen und die Zukunft im Interesse der Patientinnen und Patienten gestalten wollen.
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jens Baas (Hrsg.)
Unser Gesundheitssystem
Stabilitätsanker für die Demokratie
mit Beiträgen von
J. Baas | C. Baldeweg | T. Ballast | B. Bertele | K. Blank | T. Brackert | D. Cardinal | D. Chytrek | L. Diel | D. Engelmann | S. Feierabend | P. Giewer | K. Grießmeier | K. Höfer-Scheffold | B. Holl | I. Holldorf | F. Huber | M. Hülskötter | K. Jedlitschka | G. Kom | I. Laboga | G. Lehmann | F. Leive | J. Manthey | F. Marx | A. Meusch | T. Nebling | J. Pendzialek | C. Redeker | R. Rüsenberg | S. Scheffler | J. Schreyögg | W. Schroeder | A. Schulz | J. Syring | T. Thierhoff | I. Wahl | K. Walkenhorst
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Der Herausgeber
Dr. med. Jens Baas
Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK)
Bramfelder Str. 140
22305 Hamburg
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Unterbaumstr. 4
10117 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN 978-3-95466-949-3 (eBook: PDF) ISBN 978-3-95466-950-9 (eBook: ePub)
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© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2025
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Zuschriften und Kritik an:
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„Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität“ (Kurt Schumacher). Und der Blick auf diese Realität fällt für die Gesundheitspolitik nicht positiv aus. Einer Studie der OECD vom November 2024 zufolge liegt die Lebenserwartung in Deutschland erstmals unter dem EU-Durchschnitt – obwohl Deutschland EU-weit das meiste Geld für Gesundheit ausgibt. Zudem stiegen von Januar 2024 bis Januar 2025 die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung um durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte.
Die Beitragsspirale dreht sich dabei immer schneller und die Sprünge sind mittlerweile deutlich spürbar: Wer als Angestellte oder Angestellter monatlich 4.000 Euro brutto verdient und ein Kind hat, zahlt 2025 im Durchschnitt 240 Euro mehr als 2024, 192 Euro mehr für die Krankenversicherung und 48 Euro mehr für die Pflegeversicherung. Die finanziellen Defizite sind strukturell – es braucht dringend ein grundlegendes Konzept, das die Finanzierung sicherstellt und die Beitragszahlenden entlastet.
Teil des Problems ist, dass die Solidargemeinschaft für immer mehr Dinge bezahlen soll, für die eigentlich der Staat zuständig ist. Hinzu kommt, dass der Staat Rückzahlungsverpflichtungen an die Solidargemeinschaft aussitzt. Gleichzeitig werden die Chancen, die der Kassenwettbewerb in Sachen Effizienz und Wirtschaftlichkeit bietet, nicht genutzt – im Gegenteil: Die unternehmerischen und wettbewerblichen Handlungsspielräume der Krankenkassen wurden eingeschränkt statt erweitert.
Das Ende der Ampel-Regierung hat auch die Planungen für dieses Buch über den Haufen geworfen. Es sollte ursprünglich vor der Bundestagswahl erscheinen und liegt nun erst im Nachhinein vor. An den Buchbeiträgen wurde schon gearbeitet, als die Koalition zerbrach und die zwischendurch stattgefundene Wahl ändert auch nichts an den grundsätzlichen Problemen und Herausforderungen des Systems. Bei der Lektüre werden die Leserinnen und Leser feststellen: Die Themen und die hier vertretenen Positionen sind für die gesamte Legislaturperiode bis zum Ende des Jahrzehnts relevant. Bis dahin werden wir große Veränderungen in Deutschland und der Welt erleben. Unser Gesundheitswesen ist als Stabilitätsanker für die Menschen deshalb wichtiger denn je.
Trotz der ernsten Lage wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch Freude und neue Erkenntnisse bei der Lektüre dieses Buches. Sehen Sie es als Einladung zum Dialog.
Dr. Jens Baas
Im März 2025
IStabilitätsanker Gesundheitssystem
1Demokratie und GesundheitWolfgang Schroeder
2Ein verlässliches Gesundheitssystem als Grundlage für eine stabile DemokratieJens Baas, Dennis Chytrek und Kerstin Grießmeier
3Trendlinien der Gesundheitspolitik: Rückblick und PerspektivenDirk Engelmann, Inga Laboga und Robin Rüsenberg
4Das Gesundheitswesen im Klimawandel: Wege zu mehr Nachhaltigkeit und sozialem FriedenThomas Ballast und Thomas Nebling
5Diversity: Warum Vielfalt (nicht nur) für eine Krankenkasse wichtig istMareike Hülskötter, Isabelle Wahl und Karen Walkenhorst
6Strategien zur Überwindung von Fachkräfteengpässen im GesundheitswesenJonas Schreyögg
IIReformbausteine für ein stabiles Gesundheitssystem
1Mehr Wettbewerb wagen: Entwicklungen auf dem Gesundheitsmarkt und die Rolle der GKVThorsten Brackert und Philip Giewer
2Von der Elektronisierung zur Digitalisierung: Wie digitale Lösungen das Gesundheitswesen und die Demokratie stärkenThorsten Brackert und Jonas Pendzialek
3Kurs halten in rauer See: Finanzstabilität als Grundlage für eine gute Gesundheitsversorgung der ZukunftThomas Thierhoff und Barbara Bertele
4Neustart für Gesundheitsförderung und PräventionAndreas Meusch
5Gesundheitspartner: Innovativ, digital, vernetztDaniel Cardinal und Jacqueline Syring
6Arzneimittelversorgung: Zwischen Game-Changer und KostentreiberLars Diel, Ghainsom Kom und Sandra Scheffler
7Sektorenübergreifende Versorgung: Vorankommen an der DauerbaustelleKatrin Blank, Katharina Höfer-Scheffold, Katja Jedlitschka und Göran Lehmann
8Reform der Notfallversorgung: Vorankommen auf der GroßbaustelleClaudia Baldeweg, Katharina Höfer-Scheffold und Carsten Redeker
9Nach der Reform ist vor der Reform: Handlungsbedarf in KlinikenFelicitas Marx, Inken Holldorf, Jörg Manthey und Annika Schulz
10Die Zukunft der Pflegeversicherung: Sozial gerecht – bedarfsgerecht – generationengerechtFrank Leive
11Die Versorgung psychisch Kranker zukunftssicher gestaltenBirgit Holl, Florian Huber, Göran Lehmann und Stefanie Feierabend
Sachwortverzeichnis
Wolfgang Schroeder
Ohne ein gut funktionierendes Gesundheitssystem droht auch das demokratische System seine Legitimation zu verlieren.
Demokratie und Gesundheit – das mag auf den ersten Blick wie eine sehr zufällige Kombination zweier völlig verschiedener Begriffe wirken. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich, dass beide stärker miteinander zusammenhängen als gedacht. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Gesundheit und Demokratie, das sind siamesische Zwillinge, sie gehören untrennbar zusammen. Und so heißt es auch im Volksmund: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Übertragen auf das demokratische politische System bedeutet dies: Der Zustand und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems sind nicht alles, aber ohne ein gut funktionierendes Gesundheitssystem, das eine gute, flächendeckende Versorgung der Bevölkerung garantieren kann, droht auch das demokratische System seine Legitimation zu verlieren.
Das Gesundheitssystem ist ein zentraler Bestandteil des Sozialstaates, die Krankenversicherung ist auch der älteste Zweig der deutschen Sozialversicherungen. Sozialstaat und Demokratie gehören in Deutschland fest zusammen, so ist es nicht zuletzt auch im Grundgesetz festgelegt. Doch auch in illiberalen, nicht-demokratischen Staaten kann es durchaus gute Gesundheitssysteme geben. Das Wesensmerkmal demokratischer Gesundheitspolitik beziehungsweise von Gesundheitspolitik in Demokratien ist, dass sie neben einer Output-Legitimation eben auch eine Input-Legitimation vorweisen. Die Basis der Legitimation sind allgemeine, freie Wahlen, bei denen Gesundheitspolitik natürlich immer auch eine gewisse Rolle spielt. In den Wahlkämpfen wird häufig über zentrale gesundheitspolitische Vorhaben und Probleme wie die Bürgerversicherung, den Ärzte- und Pflegemangel, die Krankenhausversorgung oder die Finanzierung des Gesundheitswesens gestritten. Daneben ist in Deutschland insbesondere die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen zu nennen, über die eine direkte demokratische Beteiligung der Versicherten ermöglicht wird. Die Sozialwahl, bei denen die Versicherten der Renten- und Krankenversicherungen ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen oder bestimmen, ist nach der Bundestags- und der Europawahl mit 52 Millionen Wahlberechtigten die drittgrößte Wahl in Deutschland. In den Organen der selbstverwalteten Sozialversicherungen wirken diese Vertreterinnen und Vertreter gemeinsam mit denen der Arbeitgeberseite an allen wesentlichen Entscheidungen mit und üben Kontrollfunktionen aus. Somit gibt es neben den allgemeinen demokratischen Wahlen eine weitere Quelle der Input-Legitimation in der Sozial- und Gesundheitspolitik.
Nicht bei allen Sozialversicherungen finden tatsächlich Wahlen statt. So gibt es bei einigen auch sogenannte Friedenswahlen, bei denen nur so viele Kandidierende aufgestellt werden, wie es Plätze im entsprechenden Gremium gibt, und eine Wahl entfällt dadurch.
Der vorliegende Beitrag beleuchtet auf verschiedenen Ebenen den Zusammenhang zwischen Demokratie und Gesundheit unter der Leitfrage: Inwiefern beeinflusst die In- und Output-Performance des Sozialversicherungssystems bzw. des Gesundheitssystems die Zufriedenheit mit der Demokratie? Dabei können folgende Thesen aufgestellt werden, die nachfolgend ausgeführt und untermauert werden:
Das Gesundheitssystem als Teilsystem des Sozialstaats ist konstitutiv für eine funktionierende Demokratie.
Das Gesundheitssystem ist aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts einer ständigen Rationalisierung unterworfen und muss dennoch für alle zugänglich sein.
Missstände im Gesundheitssystem schwächen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie nachhaltig.
Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem stärkt die Stabilität der Demokratie und macht sie resilienter.
Weitergehend fragt der Beitrag danach, ob sich aus dem Zustand des deutschen Gesundheitssystems Herausforderungen oder sogar Gefahren für die Demokratie ergeben. Wo sind hier die zentralen „Knackpunkte“, die Einflugschneisen für Kritik und Unzufriedenheit und wie kann eine resiliente Demokratie dem begegnen?
Demokratie und Sozialstaat gehören unabdingbar zusammen.
Demokratie und Sozialstaat gehören heute unabdingbar zusammen, das genaue Maß an Wohlfahrtsstaatlichkeit unterscheidet sich dabei in den entwickelten Demokratien und ist abhängig von der geschichtlichen Entwicklung im jeweiligen Land (Pfadabhängigkeit), doch ein Mindestmaß an sozialer Sicherung findet sich in allen entwickelten Demokratien. Nach dem klassischen Essay von T.H. Marshall kann der Sozialstaat als Ausdruck sozialer Rechte („social citizenship“) als letzte Stufe einer Entwicklung umfassender demokratischer Rechte angesehen werden. Erlangten die Bürgerinnen und Bürger in den heutigen westlichen Demokratien im 18. Jahrhundert zunächst die bürgerlichen Rechte und im 19. Jahrhundert die politischen, folgten im 20. Jahrhundert schließlich die sozialen Rechte, die verschiedene Aspekte umfassen:
„vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Wohlstand und Sicherheit bis hin zum Recht, in vollem Umfang am sozialen Wohlstand teilzuhaben und das Leben eines zivilisierten Menschen nach den in der Gesellschaft vorherrschenden Normen zu führen“ (Marshall 2009 [1950], S. 149; eigene Übersetzung).
Auch in Deutschland begann die Entwicklung der Sozialstaatlichkeit zum Ende des 19. Jahrhunderts, als Antwort auf die erstarkende Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie und die negativen Auswüchse des Industriekapitalismus. Die Krankenversicherung war dabei die erste der nach und nach eingeführten Sozialversicherungen und sicherte den in den Fabriken schuftenden Arbeiterinnen und Arbeitern eine Versorgung im Krankheitsfall zu. Die schrittweise Einführung verschiedener Elemente des Sozialstaates bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kann somit auch als eine demokratische Einhegung des Kapitalismus verstanden werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollten und sollen nicht gnadenlos ausgebeutet werden, sondern gegen die Lebensrisiken Krankheit, Unfall und Alter abgesichert sein.
Die moralischen und ethischen Begründungen für Sozialstaatlichkeit lassen sich darüber hinaus auch aus einem humanistischen Menschenbild und der christlichen Soziallehre ableiten und sie haben inzwischen auch ihren Einzug in Grundrechtskataloge gefunden. So heißt es in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
„Jeder Mensch hat das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl für sich selbst und die eigene Familie gewährleistet.“
Auch die EU-Grundrechtecharta umfasst ein Recht auf soziale Sicherheit und Unterstützung (Art. 34) sowie ein Recht auf Gesundheitsversorgung (Art. 35). Und schließlich verpflichtet auch das Grundgesetz in Artikel 20 den Staat zur Sozialstaatlichkeit. Auch wenn es dabei recht unkonkret bleibt und lediglich postuliert, die Bundesrepublik Deutschland sei ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“, hat das Bundesverfassungsgericht diese in diversen Entscheidungen konkretisiert und etwa aus der Kombination mit der Menschenwürdegarantie in Artikel 1 das Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum entwickelt.
Artikel 20 des Grundgesetzes – der neben Artikel 1 unter die Ewigkeitsklausel aus Artikel 79 fällt – ist darüber hinaus interessant, da er Demokratie und Sozialstaat auf eine gemeinsame Stufe stellt und sie als zwei von fünf sogenannten Staatsstrukturprinzipien definiert (die weiteren drei sind Bundesstaat, Republik und Rechtsstaat). Sie bedingen sich somit und gehören untrennbar zusammen.
Doch was meinen wir, wenn wir von Gesundheit sprechen? Im Diskurs über den Sozialstaat meint Gesundheit immer mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit (biomedizinisches Modell), sie umfasst vielmehr „psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden“, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) formuliert. Dieser umfassende Gesundheitsbegriff findet seinen Niederschlag im von der WHO beschlossenen Konzept des „Health in All Policies“, das „in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive eine Antwort darauf gibt, wie die Gesundheit der Bevölkerung wirksam und nachhaltig verbessert werden kann“ (Bräunling et al. 2020, S. 1). Gesundheit wird somit als Querschnittthema verstanden, das in verschiedenen Politikbereichen und durch interdisziplinäre Kooperation bearbeitet werden muss (Whole-of-Government-Ansatz) und bei dem zusätzlich nichtstaatliche Akteure aus der Gesellschaft mit in die Verantwortung genommen werden (Whole-of-Society-Ansatz), um die Gesundheit der Gesellschaft zu verbessern (ebd., S. 4).
Im internationalen Vergleich kann zunächst festgehalten werden, dass Deutschland unter den OECD-Staaten eines der teuersten Gesundheitssysteme hat. Die deutschen Gesundheitsausgaben betragen 11,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), im OECD-Schnitt sind es 9,2 Prozent. Nur die USA haben noch höhere Ausgaben von 16,7 Prozent des BIP (s. Abb. 1).
Abb. 1 Gesundheitsausgaben ausgewählter Staaten 2022 in Prozent zum BIP (OECD 2023, S. 155)
Zum Vergleich der Qualität des Gesundheitssystems können verschiedene Kennzahlen herangezogen werden. In Bezug auf die vermeidbare Sterblichkeit kann festgestellt werden, dass Deutschland (knapp) unter dem EU-Durchschnitt liegt. 2021 gab es in Deutschland 252,54 vermeidbare Todesfälle pro 100.000 Einwohner:innen. Auch wenn Deutschland bei beiden Werten (knapp) unter EU-Schnitt liegt, zeigt sich, dass es von den west- und nordeuropäischen Staaten die schlechtesten Werte vorweist – trotz vergleichsweise sehr hoher Kosten (s. Abb. 2). Auch bei der Lebenserwartung liegt Deutschland zwar mit 80,7 Jahren (2022) genau im EU-Schnitt, weist damit aber die niedrigste Lebenserwartung aller west- und nordeuropäischen Staaten auf; zudem ist sie seit 2019 (mit 81,3 Jahren) zurückgegangen (OECD u. European Observatory on Health Systems and Policies 2023, S. 4).
Abb. 2 Rate vermeidbarer Todesfälle pro 100.000 Einwohner 2021 (OECD u. European Observatory on Health Systems and Policies 2023, S. 11)
Dies zeigt sich auch, wenn man vermeidbare Sterblichkeit und Gesundheitsausgaben in Relation zueinander setzt (s. Abb. 3). Man sieht, dass Deutschland eine durchschnittliche vermeidbare Sterblichkeit aufweist, dabei aber mit Abstand die höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf hat, insgesamt und gerade auch in Vergleich mit Ländern mit ähnlicher oder besserer vermeidbarer Sterblichkeit. Dies deutet auf eine ineffektive Mittelverwendung der deutschen Gesundheitsausgaben hin. Denn angesichts der hohen Kosten sollte man eine bessere Qualität erwarten können.
Abb. 3 Behandelbare Todesursachen pro 100.000 Einwohner und Gesundheitsausgaben, ausgenommen Langzeitpflege in Euro KKP pro Kopf (Müller 2020)
Was den Zugang zur Gesundheitsversorgung angeht, schneidet Deutschland besonders gut ab. So ist die Rate der ungedeckten medizinischen Behandlungsbedarfe eine der niedrigsten in der EU und es bestehen eher weniger Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen (s. Abb. 4). Zugleich ist das Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichsweise umfangreich. Dem Anspruch, eine universelle Gesundheitsversorgung zu bieten, wird das deutsche Gesundheitssystem also gerecht.
Abb. 4 Ungedeckter medizinischer Bedarf in Prozent der Befragten (OECD u. European Observatory on Health Systems and Policies 2023, S. 14)
Insgesamt zeigt sich, dass sich das deutsche Gesundheitssystem relativ gut bewährt und alles in allem eine angemessene Qualität gewährleistet. Insbesondere mit Blick auf die Kosten sind aber Verbesserungspotenziale erkennbar. Bereits seit einigen Jahren werden diese unter den Stichworten „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ diskutiert. Beispiele dafür sind zu häufig verordnete (Hüft- und Knie-)Operationen (Überversorgung) oder eine europaweit vergleichsweise hohe Zahl nicht notwendiger Krankenhauseinweisungen (Über-/Fehlversorgung), die auch teilweise auf Mängel in der Primärversorgung hindeuten (OECD u. European Observatory on Health Systems and Policies 2023, S. 12f.).
Die Diagnose der „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ geht auf das 2001 veröffentlichte Gutachten des Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen zurück: „Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Band 3: Über-, Unter und Fehlversorgung“.
Interessant ist im internationalen Kontext zudem, dass empirische Untersuchungen nahelegen, dass Demokratien tendenziell bessere Gesundheitssysteme haben als Autokratien. So konnten Beseley und Kudamatsu (2006) zeigen, dass die Lebenserwartung in Demokratien höher ist als in Nicht-Demokratien, was auf bessere Gesundheitssysteme hindeutet. Diese Korrelation bleibt auch bestehen, wenn für andere Faktoren wie Einkommen und Bildung kontrolliert wird.
Die Lebenserwartung in Demokratien ist höher als in Nicht-Demokratien.
Roessler und Schmitt (2021) argumentieren auf Grundlage des Principal-Agent-Ansatzes, dass Regierungen in demokratischeren Systemen sich mehr bemühen, die Veruntreuung von Gesundheitsausgaben zu reduzieren, was zu einer höheren Effizienz der Gesundheitssysteme führen sollte. Die empirische Überprüfung dieser Hypothese basiert auf Daten von 158 Ländern zwischen 1995 und 2015. Die Ergebnisse unterstützen die theoretischen Implikationen und zeigen, dass die Effizienz des Gesundheitssystems in demokratischen Ländern tendenziell höher ist als in nicht-demokratischen Ländern. Allerdings verweisen die Autoren darauf, dass dies vermutlich nur auf demokratische Länder zutrifft, die ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht haben.
Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Autokratisierungsprozesse einen negativen Einfluss auf die Gesundheitspolitik haben. So konnten Son und Bellinger (2022) zeigen, dass Autokratisierung zu einem Rückgang der Gesundheitsausgaben und zu einer Verschlechterung von Gesundheitsindikatoren wie der Säuglingssterblichkeit und der Lebenserwartung von Frauen führt. Autokratische Entwicklungen haben somit nicht nur eine Einschränkung von demokratischen und Freiheitsrechten zur Folge, sondern führen ganz konkret zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung. Andererseits können Performanzprobleme des Gesundheitssystems in Demokratien selbst den Populismus und Illiberalisierungsprozess befördern. So spielte etwa ein gewisser „gesundheitspolitischer Populismus“ beim Brexit eine entscheidende Rolle. Denn die Befürworterinnen und Befürworter des Brexit argumentierten etwa, dass man die Zahlungen an die EU besser für den nationalen Gesundheitsdienst (NHS) verwenden könne.
Es handelt sich also um ein wechselseitiges Verhältnis: Demokratien müssen eine gewisse Qualität im Gesundheitswesen bieten, um Autokratisierungsprozesse zu verhindern, und gleichzeitig müssen sie diese Prozesse verhindern, um einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung vorzubeugen.
Wie hoch ist die Akzeptanz von Gesundheitssystem und Sozialstaat in Deutschland? Welche Probleme werden von der Bevölkerung als besonders drängend wahrgenommen? Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass der Sozialstaat grundsätzlich von einer breiten Mehrheit befürwortet wird. So stimmen in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2021 ganze 91,6 Prozent der Befragten der Aussage voll oder eher zu, dass der Staat dafür sorgen muss, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat (Westle et al. 2021).
Doch wird der Staat diesem Anspruch auch gerecht? In einer von Lüders und Schroeder (2020) durchgeführten Untersuchung zu den Teilsystemen des Sozialstaates waren 53,7 Prozent der Befragten der Ansicht, der Sozialstaat schaffe eine gute Gesundheitsversorgung, nur 26,6 Prozent verneinten dies (19,7 Prozent waren indifferent). Damit schnitt das Gesundheitssystem unter allen sozialen Sicherungssystemen als bestes ab und erreichte als einziges Teilsystem einen Wert von über 50 Prozent.
Das deutsche Gesundheitssystem wird auch im internationalen Vergleich als sehr gut wahrgenommen. So sind laut Healthcare-Barometer von PWC (2024) 52 Prozent der Ansicht, das deutsche Gesundheitssystem zähle zu den Top 3 weltweit. Allerdings ging dieser Wert über die letzten Jahre zurück. 2014 waren noch über 60 Prozent dieser Ansicht, im Coronajahr 2020 über 70 Prozent. Die wahrgenommene Qualität geht also leicht zurück. Zugleich sind knapp über 80 Prozent der Meinung, dass sie von ihrer Krankenversicherung alle Leistungen erhalten, die sie benötigen. Dieser Wert ist seit zehn Jahren stabil. Eine jüngste Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) bietet hingegen Anlass zur Sorge (Köcher u. Institut für Demoskopie 2024). Zwar bewerten in dieser noch immer 67 Prozent der Befragten das deutsche Gesundheitssystem positiv, jedoch waren es 2022 noch 81 Prozent, wie es seit 2012 durchgängig der Fall war. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass die Akzeptanz der Gesundheitsversorgung in jüngster Zeit deutlich zurückgeht. So gaben 40 Prozent in dieser Umfrage an, dass sich ihre Erfahrungen mit der ärztlichen Versorgung in den letzten zwei bis drei Jahren verschlechtert haben. Als die größten Probleme werden dabei lange Wartezeiten (77 Prozent machten diese Erfahrungen bei sich oder einem Familienmitglied), Medikamentenmangel (54 Prozent erlebten dies) und Probleme, überhaupt einen Arzt bzw. eine Ärztin zu finden (44 Prozent hatten diese Erfahrung), genannt.
Eine weitere Herausforderung für das demokratische Gesundheitssystem sind gesundheitliche Ungleichheiten, wozu in den letzten Jahren umfassende Forschungen durchgeführt worden sind (vgl. exemplarisch und überblicksartig: Richter u. Hurrelmann 2007; für aktuelle Daten vgl. Statistisches Bundesamt et al. 2021, S. 334ff.). Gesundheit hängt ganz wesentlich auch von den sozialen Verhältnissen ab. So gibt es etwa einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Einkommen/Bildung und Lebenserwartung/Krankheitshäufigkeit. Arme Menschen mit niedriger formaler Bildung sterben deutlich früher als reiche Menschen mit hoher formaler Bildung. Der Zusammenhang zieht sich jedoch durch die ganze Gesellschaft und kann als linear beschrieben werden. Mit sinkendem Einkommen sinkt somit auch die Lebenserwartung und Krankheiten nehmen zu (Richter u. Hurrelmann 2007, S. 4f.). Dieser Befund ist weltweit zu beobachten und nimmt sogar zu (ebd.). Dies deutet darauf hin, dass die Fortschritte in der Medizin, die zu einer immer höheren durchschnittlichen Lebenserwartung führen, eben nicht allen Menschen gleichmäßig zugutekommen und ungleich verteilt sind. Die Ursachen für diesen Zusammenhang sind einerseits vielfältig, andererseits nicht abschließend geklärt. Am sinnvollsten erscheinen zwei Erklärungsansätze: der materielle sowie der kulturell-verhaltensbezogene (hier und im Folgenden: ebd., S. 7). Ersterer fokussiert auf die sozialen Umstände, in denen Menschen leben, und erklärt krankmachende Zustände: Wer wenig Geld hat, hat schlechteren Zugang zu Gesundheitsleistungen, wohnt häufig in weniger gesundheitsförderlichen Umgebungen (etwa Schadstoffbelastung an Straßen) und arbeitet häufiger in körperlich anstrengenden Berufen. Der kulturell-verhaltensbezogene Ansatz weist hingegen darauf hin, dass gesundheitsschädliche Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum oder mangelnde Bewegung und schlechte Ernährung mit zunehmendem sozialen Status abnehmen. Als ergänzender dritter Erklärungsansatz weist der psychosoziale Ansatz darauf hin, dass sowohl psychische Belastungen als auch die Fähigkeit, diese zu bearbeiten, ungleich verteilt sind und mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängen.
Es ist ein großes Problem, dass die Fortschritte in der Medizin nicht allen Menschen gleichmäßig zugutekommen.
Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Erklärungsansätze alle teilweise richtig sind und zudem miteinander verschränkt sind. Wichtig bleibt die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht losgelöst ist von den gesellschaftlichen Verhältnissen und dass ein klarer Zusammenhang zwischen der Gesundheit und dem sozioökonomischen Status besteht. Für das Thema dieses Beitrags ist dies deshalb von Relevanz, weil gesundheitliche Ungleichheiten in der Lage sind, die Legitimation der Demokratie infrage zu stellen. Neben der Freiheit ist die Gleichheit das zentrale Versprechen der Demokratie. Wenn nun deutlich wird, dass ärmere Menschen häufiger krankheitsfördernden Umständen ausgesetzt werden und sich reichere Menschen gleichzeitig eine bessere Gesundheitsversorgung kaufen können, ist dies in der Lage, den sozialen Frieden und damit auch die Legitimation des demokratischen Systems insgesamt infrage zu stellen. Dies zeigt sich etwa auch bei der Debatte um das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, das von vielen Menschen als ungerechte Zwei-Klassen-Medizin betrachtet und abgelehnt wird. Es zeigt sich also ein differenziertes Bild. Nach wie vor ist die Bewertung des Gesundheitssystems eher positiv, es machen sich aber in jüngster Zeit negative Entwicklungen und Wahrnehmungen breit.
Die aktuelle Gesundheitspolitik wird von fast der Hälfte (48%) der Befragten als eher negativ bewertet (Köcher u. Institut für Demoskopie 2024). Für die Politik und die Demokratie im Allgemeinen ist dies gefährlich, da eine abnehmende Qualität des Gesundheitssystems das Vertrauen in das politische System und seine handelnden Akteure gefährden kann.
Im Wesentlichen lassen sich die Herausforderungen, vor denen das Gesundheitssystem schon heute steht und die sich in Zukunft noch verschärfen könnten, auf zwei übergreifende Themenkomplexe verdichten: den medizinisch-technischen Fortschritt und den demografischen Wandel. Die Lebenserwartung steigt, immer mehr Krankheiten lassen sich gut behandeln und ermöglichen ein langes Leben. Gleichzeitig gibt es schon jetzt einen Fachkräftemangel, der zu Versorgungsengpässen bei Fachärztinnen und Fachärzten sowie zu einem Landarztmangel führt, auch in der Pflege fehlt Personal. Daraus ergeben sich die oben in der Umfrage geäußerten Unzufriedenheiten in Bezug auf lange Wartezeiten und die Schwierigkeit, überhaupt einen Arzt oder eine Ärztin zu finden.
Durch den medizinisch-technischen Fortschritt und die daraus resultierende höhere Lebenserwartung ergeben sich vor allem auch höhere Kosten, durch den demografischen Wandel müssen diese jedoch von immer weniger arbeitenden Versicherten finanziert werden, gleichzeitig sind gerade die gut Verdienenden nicht im solidarischen System der gesetzlichen Krankenversicherung beteiligt. Daher sind die Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt an den Gesundheitsfonds in den letzten Jahren bereits stark angestiegen. Betrugen diese im Jahr 2004 noch eine Milliarde, werden seit 2017 jährlich 14,5 Milliarden Euro zugewendet, in den Coronajahren 2020–2023 kamen weitere Zuschüsse hinzu (Verband der Ersatzkassen 2024, S. 23)
Die Herausforderung besteht also darin, das Versprechen des deutschen Gesundheitssystems aufrecht zu erhalten, nämlich eine gleichberechtigte Teilhabe aller sozialen Schichten am medizinischen Fortschritt zu ermöglichen und dabei die – schon heute im weltweiten Vergleich sehr hohen – Kosten auf einem Niveau zu halten, das mit den erbrachten Leistungen im Einklang steht und die Akzeptanz des Systems in der Bevölkerung erhält. Eine Herausforderung, die eigentlich kaum lösbar ist: Ohne Kostensteigerungen oder gewisse Leistungseinschränkungen wird es kaum gehen.
Es wird daher in Zukunft besonders wichtig sein, den Aspekt der Prävention massiv zu stärken, um Krankheiten und dadurch entstehende hohe Kosten für die Versicherungen zu vermeiden. Gerade die sogenannten Zivilisationskrankheiten, die durch eine ungesunde Lebensweise entstehen, verursachen hohe Kosten über einen meist langen Zeitraum und müssen daher vermindert werden. Hier muss aber insgesamt in der Gesellschaft ein Wandel hin zu einer gesünderen Lebensweise erreicht werden, was nicht einfach und nicht von heute auf morgen per Gesetz umsetzbar ist. Der Gesetzgeber kann hier aber über verschiedene Maßnahmen einen Beitrag leisten, sei es über den Ausbau von Präventionsprogrammen, bessere Gesundheitserziehung und mehr Sport in der Schule, regulatorische Maßnahmen wie Einschränkungen von Alkohol- und Tabakkonsum oder die Einführung einer Zuckersteuer. Die Bundesregierung plant dazu gerade die Einrichtung einer neuen Bundesbehörde, die sich dem Thema „Public Health“ widmen soll. Sie soll zum 1. Januar 2025 unter dem Namen „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ starten, Kompetenzen in der Aufklärung, Prävention, Kommunikation und Datensammlung bündeln und die Kooperation zwischen den örtlichen Gesundheitsämtern, den Ländern und dem Bund stärken. Die Notwendigkeit einer solchen Behörde wird von der Bundesregierung dabei explizit auch durch die oben beschriebenen gesundheitlichen Ungleichheiten begründet.
Es wird in Zukunft besonders wichtig sein, die Prävention massiv zu stärken.
Da Funktion und Wirksamkeit der Gesundheitspolitik maßgeblich vom Personal abhängen und mit den Befunden vom Ärztemangel und Pflegenotstand an apokalyptischen Bildern kein Mangel herrscht, ist auch dies zu berücksichtigen. Im Kontrast zu diesen Bildern steigt die Zahl der Beschäftigten im deutschen Gesundheitswesen seit vielen Jahren kontinuierlich an. So ist die Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte von 237.700 im Jahr 1990 auf 428.500 im Jahr 2023 angestiegen (Bundesärztekammer 2024) und die Zahl der Pflegekräfte, Hebammen und Rettungskräfte hat sich mit knapp 1,2 Millionen Beschäftigten im Jahr 2023 seit 1999 fast verdoppelt (Bundesagentur für Arbeit 2024). Sowohl bei der Zahl des ärztlichen Personals, als auch der Pflegekräfte pro 100.000 Einwohner:innen liegt Deutschland im OECD-Vergleich in der Spitzengruppe (5. Platz beim ärztlichen Personal, 8. Platz bei Pflegekräften). Bei den Pflegekräften liegt Deutschland dabei auf dem Niveau von Japan und den Vereinigten Statten, bei den Ärztinnen und Ärzten auf gleichem Niveau wie Spanien und Litauen (OECD 2023, S. 177, 185).
Trotzdem besteht in vielen Regionen und Einrichtungen ein Arbeitskräftemangel. Die Ursachen dafür gehen einerseits auf die ebenfalls gestiegenen Ansprüche im Rahmen des medizinisch-technischen Fortschritts und des demografischen Wandels zurück. Andererseits können wir ein anders akzentuiertes Arbeitsverständnis unter den Beschäftigten im Gesundheitssektor feststellen. Auch wenn 46 Prozent der Ärztinnen und Ärzte angeben, mehr als 40 Wochenstunden zu arbeiten (Ärzteblatt 2021), ist ebenfalls eine historisch neue Dimension der „Verteilzeitlichung“ der Arbeitsverhältnisse im Gesundheitssektor zu beobachten. 2019 arbeiteten 41% der Ärztinnen und 16% der Ärzte weniger als 40 Wochenstunden (ebd.). Somit liegt trotz eines erheblich gewachsenen Arbeitskräftepotenzials auch ein Arbeitskräftemangel vor, der bekämpft werden muss. Dieser ist nicht nur heute schon spürbar, sondern wird sich durch das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsleben in den nächsten Jahren auch noch weiter verschärfen. Einen Beitrag hierzu können auch Digitalisierung und KI-Anwendungen leisten, denn diese haben das Potenzial, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger in ihrer Arbeit maßgeblich zu entlasten und zu unterstützen. Man sollte sich aber keine Illusionen machen, dass der Fachkräftemangel dadurch gelöst wird. Es wird auch in Zukunft ausreichend medizinisches Fachpersonal benötigt und angesichts der Tatsache, dass es einen allgemeinen Arbeitskräftemangel und schlicht weniger junge Menschen als früher gibt, wird es auch nicht ohne ausländisches Personal gehen. Schon heute arbeiten viele ausländische Fachkräfte im medizinischen Bereich und es gibt erste Anwerbeprogramme, um weiteres Personal zu rekrutieren. Doch die aktuell stattfindende Rechtsentwicklung ist dabei alles andere als hilfreich.
Es wird schwierig werden, ausländisches Fachpersonal zu gewinnen, wenn eine weit rechtsstehende Partei immer stärker wird und sich rassistische Zwischenfälle häufen. Ironischerweise sind dabei gerade die Regionen in Deutschland, in denen die AfD am stärksten ist – nämlich die ostdeutschen Länder – auch genau die Regionen, in denen medizinisches Personal aus dem Ausland dringend gebraucht wird.
Ein aktuelles Projekt, das sich der Probleme im Gesundheitssektor annimmt, ist die Krankenhausreform, die seit vielen Jahren diskutiert wird. Nicht zuletzt, weil Deutschland auch im internationalen Vergleich zu viele Krankenhäuser betreibt; darunter auch viele mit Unterauslastung sowie geringer Spezialisierung. Ziel der Reform ist die Sicherung und Steigerung der Behandlungsqualität sowie die Gewährleistung einer flächendeckenden Versorgung und Entbürokratisierung (Deutscher Bundestag 2024; Tagesschau 2024b). Dabei soll das System der Finanzierung über Fallpauschalen teilweise durch sogenannte Vorhaltepauschalen ersetzt werden, die Krankenhäuser für das Vorhalten bestimmter Leistungen erhalten sollen. Dies würde zu einer abnehmenden Zahl von Kliniken mit zugleich stärkerer Spezialisierung führen – eine Folge die von der Bundesregierung durchaus gewollt, von den Ländern und der Bevölkerung – insbesondere auf dem Land – jedoch äußerst kritisch betrachtet wird. So halten nur 16% der Befragten die Zusammenlegung von Krankenhäusern für sinnvoll (Köcher u. Institut für Demoskopie 2024). Immerhin 33% könnten sich diese Zusammenlegungen jedoch vorstellen, wenn die Qualität steigt und weiterhin ein Krankenhaus im Umkreis von 50 km erreichbar ist (ebd.). Hier zeigt sich sehr gut das Dilemma der Gesundheitspolitik, nämlich dass die hohen Erwartungen kaum erfüllbar sind. Einerseits sollen die Kosten nicht weiter steigen, andererseits sollen selbst kleine, unwirtschaftliche und auch wenig spezialisierte Krankenhäuser erhalten bleiben, dabei hat Deutschland schon heute eine im internationalen Vergleich sehr hohe Krankenhausdichte und Bettenanzahl.
Das deutsche Gesundheitssystem sieht sich nach allem Gesagten mit großen Herausforderungen konfrontiert, die dazu geeignet sind, die Legitimation der Demokratie zu erschüttern, wenn sie nicht adäquat gelöst werden. Es kommt also in den nächsten Jahren für die etablierten demokratischen Parteien darauf an, diese Probleme anzugehen und in den Griff zu bekommen.
Gesundheitspolitik ist ein wichtiges Thema für die Wählerinnen und Wähler, es ist ein Bereich der Politik, der eigentlich jede und jeden betrifft. Das Gesundheitssystem ist einer der Bereiche, wo die Bürgerinnen und Bürger direkt mit dem Staat in Kontakt treten. Missstände und Probleme im Gesundheitssystem werden von den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar wahrgenommen und prägen ihren Eindruck von der Leistungsfähigkeit des Staates direkt. Dennoch spielt die Gesundheitspolitik oftmals keine große Rolle im öffentlichen Diskurs oder im Wahlkampf. Die Parteien versuchen das Thema kleinzuhalten. Zu unpopulär sind meist die notwendigen Reformen, wie oben am Beispiel der Krankenhausreform deutlich wurde. Ausnahmen gibt es jedoch immer wieder, wenn bestimmte große Vorhaben auf dem Tisch liegen, wie die Diskussionen um die Gesundheitsprämie (2004), die Bürgerversicherung (ab 2002) oder den Gesundheitsfonds (2007).
Es gibt jetzt schon Hinweise darauf, dass Mehrheiten in der Bevölkerung ein innovativeres Verhalten in der Gesundheitspolitik erwarten. Jedenfalls scheinen gesundheitspolitische Themen wieder an Wichtigkeit zu gewinnen und auch stärker politisiert zu werden. 68 Prozent der Befragten gaben 2021 an, die Gesundheitspolitik spiele eine (sehr) große Bedeutung für ihre Entscheidung bei der Bundestagswahl, der zweithöchste Wert nach der Sozial- und Rentenpolitik mit 71 Prozent (Ärztezeitung 2021). Dabei besteht durchaus auch die Gefahr, dass populistische Akteure aus den ungelösten Problemen Profit schlagen. So drohte etwa der Brandenburger BSW-Chef, gegen Lauterbachs Krankenhausreform vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Auch bei der Landtagswahl in Thüringen zeigt sich, wie die schlechte Performanz des Gesundheitssystems Populisten nützt. So geben 38 Prozent der Befragten an, dass sich in ihrer Gegend die Lebensumstände in den letzten Jahren verschlechtert hätten (Tagesschau 2024a). Bei den Wählerinnen und Wählern des BSW sind es 39 Prozent, bei der AfD sogar 58 Prozent. Gefragt nach den Bereichen, in denen sich die Umstände verschlechtert haben, liegt die ärztliche Versorgung auf dem ersten Rang: 59 Prozent nennen diese, ein Plus von 18 Prozentpunkten im Vergleich zu 2019. An diesem Beispiel lässt sich die Brisanz und Dringlichkeit der Probleme im Gesundheitswesen deutlich erkennen und auch, welche weiterführenden Probleme sich dabei für die Demokratie ergeben. Ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem bzw. Sozialsystem im Allgemeinen führt zu Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien und zur Wahl populistischer und rechter Parteien. Für die etablierten Parteien ist es daher wichtig, die Herausforderungen im Gesundheitssystem anzugehen und auch vor weitreichenden und tiefgehenden Reformen nicht zurückschrecken, auch wenn diese unpopulär sind.
Es wäre wichtig, die Wahlbeteiligung bei der Sozialwahl zu steigern.
Eine Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems ist die Selbstverwaltung. Gemäß dem deutschen Korporatismus sind Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten in den Gremien der Krankenversicherungen vertreten und wirken an wesentlichen Willens- und Entscheidungsprozessen mit (die folgenden Überlegungen beruhen auf Schroeder 2022). Letztere werden dabei von allen Versicherten durch die Sozialwahlen gewählt (Urwahl) oder in sogenannten Friedenswahlen bestimmt, wodurch eine demokratische (Mit-)Beteiligung der Versicherten besteht und somit eine weitere Form der Input-Legitimation geschaffen wird. Gleichwohl wird die Selbstverwaltung, deren konkrete Einflussmöglichkeiten in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen sind, vielfach kritisiert. So kann schon seit Längerem gewissermaßen von einer Beteiligungs- und Legitimationskrise gesprochen werden, die sich nicht zuletzt in der niedrigen Wahlbeteiligung bei der Sozialwahl 2023 von nur 22 Prozent niederschlug.
Die Selbstverwaltung geht auch auf das politische Ziel zurück, den gesellschaftlichen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu befrieden, entsprechend ist die Krankenversicherung erwerbsarbeitsbasiert und die Vertreterinnen und Vertreter sind einerseits die Repräsentanten der Versicherten, also vor allem die Gewerkschaften und weitere Verbände der Beschäftigten, andererseits die Arbeitgeberverbände. Doch durch eine zunehmend pluraler werdende Gesellschaft mit neuen Interessenlagen und -gruppen, immer mehr nicht erwerbstätigen Versicherten und einer stärker werdenden Steuerfinanzierung verliert diese Dichotomie an Bedeutung. Die Krankenversicherung ist keine Arbeiterversicherung mehr, sondern schließt nahezu alle Bürgerinnen und Bürger ein. Und so kommen neue Gruppen dazu, die Einfluss in der Selbstverwaltung haben wollen und zum Teil schon haben, etwa Patientenvertreter oder Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten des Gesundheitswesens. Die Selbstverwaltung wird so zur gesamtgesellschaftlichen Legitimationsinstitution. Daher sollte sie wieder gestärkt werden, um die Versicherten weiterhin aktiv an der Krankenversicherung zu beteiligen. Insbesondere eine Steigerung der Wahlbeteiligung bei der Sozialwahl ist anzustreben, was einerseits durch mehr Werbung und andererseits durch eine Steigerung der Sichtbarkeit der Selbstverwaltung und der Versichertenvertreter zu erreichen ist. Auch die Widerspruchsausschüsse müssen gestärkt und ihre Arbeit bekannter werden. Denn hier haben die Versicherten wohl den größten Nutzen der Selbstverwaltung, können sie doch hier ihre Beschwerden über Entscheidungen einem von ihnen selbst mitgewählten Gremium vorlegen. Zudem ist eine bessere Integration von Patienten- und Sozialverbänden anzustreben, um Repräsentationslücken zu schließen. Letztlich müssen sich die demokratisch gewählten Gremien auch selbst durch eigene Aktivitäten wieder relevanter machen und verstärkt den öffentlichen Austausch suchen. Denkbar sind etwa Diskussionsveranstaltungen mit Politik und Wissenschaft, um Themen der Gesundheitsversorgung stärker in die Debatte einzubringen und gleichzeitig Sichtbarkeit für die Selbstverwaltungsgremien zu schaffen. So kann die Selbstverwaltung wieder zu einer Stärke des deutschen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems werden, da sie neben der eher abstrakten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger durch Wahlen eine konkretere, direkte Beteiligung der Betroffenen ermöglicht.
Bürgerräte sind ein interessantes Instrument zur Stärkung der Input-Legitimation.
Ein gänzlich neues Instrument zur Stärkung der Input-Legitimation könnten Bürgerräte sein. Bei diesen handelt es sich um eine Form der deliberativen Demokratie, bei der einem Gremium von per Zufallsprinzip ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern spezifische Fragen zur Lösung übergeben werden. Ein Bürgerrat diskutiert diese Fragen und hört dazu Expertinnen und Experten an. Anschließend erarbeitet er eine Empfehlung für das Parlament. Auf Bundesebene wurde ein solcher Bürgerrat erstmals zum Thema Ernährung durchgeführt. Auf kommunaler Ebene sind in Deutschland gegenwärtig rund 300 Bürgerräte damit befasst, eine spezifische Expertise für ganz unterschiedliche Fragen zu entwickeln. Die Vorteile bestehen darin, Bürgerinnen und Bürger stärker direkt in komplexe Entscheidungen einzubinden und Demokratie praktisch erlebbar zu machen. Verbunden damit ist die Hoffnung, dass die getroffenen Entscheidungen besser akzeptiert werden, da sie nicht von Berufspolitikerinnen oder -politikern, sondern von „ganz normalen“ Leuten als Ergebnis eines offenen, nicht von Parteipolitik geleiteten Deliberationsprozesses getroffen wurden. Andererseits sind an diesen Entscheidungen eben nur die paar dutzend ausgelosten Bürgerinnen und Bürger beteiligt, alle anderen haben auf die Entscheidungen des Bürgerrates keinen Einfluss. Auch haben die Entscheidungen keine bindende Wirkung, sondern sind lediglich Empfehlungen, die im parlamentarischen Prozess geändert oder auch gänzlich verworfen werden können. In einem Bürgerrat bestünde aber immerhin die Möglichkeit, die großen, zukunftsentscheidenden Fragen der Gesundheitspolitik zu debattieren und Vorschläge zu erarbeiten, die im weiteren politischen Prozess diskutiert und konkretisiert werden könnten. Dennoch sollten solche Bürgerräte eher als zusätzliche Chance begriffen werden, nicht als Ersatz für Parteien und Parlamente und erst recht nicht als Ersatz für die etablierte Selbstverwaltung.
Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Das gilt nicht nur für das Privatleben, sondern ganz besonders auch für die Demokratie. Sie muss sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung bei verkraftbaren Kosten haben, ansonsten droht sie an Akzeptanz zu verlieren.
Das deutsche Gesundheitssystem steht an einer Weggabelung, die ein einfaches „Weiter so“ verbietet. Die großen Herausforderungen sind nicht nur finanzieller Natur, wenngleich sich das jetzt erreichte Ausgabenniveau durch eine besondere Brisanz auszeichnet. Zugleich bestehen auch selbst verantwortete Qualitätsmängel, wodurch insgesamt die Akzeptanz des Systems bedroht werden könnte. Hinzu kommen:
Fachkräftemangel in Form von Ärzte- und Pflegemangel, insbesondere auf dem Land;
daraus resultierende lange Wartezeiten und Probleme, einen Arzt bzw. eine Ärztin zu finden;
weitere Versorgungsengpässe wie Medikamentenmangel;
demografischer Wandel und steigende Kosten, die aus dem Ruder zu laufen drohen.
Insbesondere der demografische Wandel stellt das System vor große Herausforderungen. In einer alternden Gesellschaft gibt es mehr zu behandelnde Patientinnen bzw. Patienten und mehr zu pflegende Personen. Gleichzeitig wird es schwieriger, junge Menschen für einen medizinischen oder pflegenden Beruf zu finden. Zugleich ist auch zu konstatieren, dass es angesichts der enormen Zunahme an Arbeitskräften auch möglich sein sollte, durch bessere Anreize und innovative Arbeitszeitkonzepte ein größeres Angebot zu generieren.
Die genannten Probleme müssen gelöst werden, um die Funktionsfähigkeit und Qualität des deutschen Gesundheitssystems sowie dessen politische Akzeptanz aufrechtzuerhalten. Gelingt es den demokratischen Parteien nicht, drohen sie dafür von den Wählerinnen und Wählern abgestraft zu werden. Die Populisten stehen schon bereit.
In den kommenden Jahren wird es somit darum gehen, das Versprechen aufrecht zu erhalten und einzulösen, nämlich alle Menschen am medizinisch-technischen Fortschritt teilhaben zu lassen und ihnen eine gute Gesundheitsversorgung zu bieten und dabei gleichzeitig die Kosten in Zaum zu halten. In der Demokratie ist es ganz besonders wichtig, die dazu notwendigen Reformen gut zu kommunizieren und möglichst viele Menschen zu beteiligen. Dazu bedarf es einer Stärkung der Selbstverwaltung und vielleicht auch neuer Formen wie Bürgerräte.
Für seine Unterstützung bedanke ich mich bei Hauke Bruns.
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Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Wolfgang Schroeder leitet als Professor das Fachgebiet „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland – Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Kassel und ist Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Sozialpolitik, Politische Soziologie sowie Demokratie- und Parteienforschung.
Jens Baas, Dennis Chytrek und Kerstin Grießmeier
Wie in Kapitel I.1 beschrieben, ist das Gesundheitssystem ein wichtiger Teil unserer demokratischen Gesellschaft. Ein unzureichendes oder gar mangelhaftes Gesundheitssystem allein wird unsere Demokratie zwar nicht gefährden, allerdings ist es ein nicht zu unterschätzender Faktor und kann im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren, wie Politikverdrossenheit, wachsender sozialer Ungleichheit oder Armut, zu einer Spaltung der Gesellschaft führen. Somit ist ein gut funktionierendes Gesundheitssystem, in dem die Menschen unabhängig von sozioökonomischen Faktoren wie Alter oder Einkommen eine gute und in Hinsicht auf Innovationen zeitgemäße Versorgung erhalten, ein wichtiger Stützpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Wie gewichtig gesundheitspolitische Themen mittlerweile sind – und welche offenen Flanken eine als ungerecht, mangel- oder lückenhaft empfundene Versorgung für Populismus und Spaltung lässt –, zeigen die Wahlkämpfe in den USA beziehungsweise im Vereinigten Königreich aus jüngster Vergangenheit: So machte im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 der damalige Präsidentschaftskandidat Donald Trump seine Kritik an Präsident Barack Obamas Öffnung des öffentlichen Gesundheitswesen für eine größere Zahl vorwiegend armer Menschen (Patient Protection and Affordable Care Act/„Obamacare“) zu einem Schwerpunkt seiner Kampagne. Und ein zentrales Wahlversprechen der „Vote Leave-Campaign“, die das Vereinigte Königreich aus der EU führte, war, das staatliche Gesundheitssystem NHS (National Health Service) mit jenen Geldern zu stützten, die in die EU abflossen.
Zu lange schon werden die offensichtlichen strukturellen Missstände ignoriert.
Auch vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass die Politik hierzulande zugelassen hat, dass auch das deutsche Gesundheitssystem Gefahr läuft, selbst zum Patienten zu werden. Die seit Jahren offensichtlichen strukturellen Missstände wurden zu lange ignoriert: große Lücken bei der Finanzierung, Rückstand bei der Digitalisierung und eine ineffiziente Versorgung. Vor den Herausforderungen des demografischen Wandels werden diese Fragen umso drängender. Gelang es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch, die Finanzierungslücken durch den Abbau der Kassenreserven zu kaschieren und so einen drastischen Beitragsanstieg zu vermeiden, war das angesichts leerer Reserven für die Ampelregierung nicht mehr möglich. Letztere nahm die wiederholten Sprünge im Beitragssatz achselzuckend in Kauf. Im Wahljahr 2025 ist das System an einem Punkt angekommen, an dem die Kostensteigerung voll auf die Versicherten durchschlägt – und zwar ohne dass die Menschen dafür mehr Leistung bekommen. Die Lebenserwartung in Deutschland liegt laut einer Studie der OECD 2023 erstmals unter dem EU-Durchschnitt und ist in allen westlichen EU-Ländern sowie den skandinavischen Ländern höher (OECD u. European Commission 2024). Auch in Sachen Innovation und Zugang bietet das deutsche Gesundheitssystem kein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis.