Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Reise durch mehr als 14 Milliarden Jahre der Evolution: zu fernsten Planeten, die noch unerreichbar sind, und kaum bekannten Welten auf der Erde wie die Tiefsee, aber auch unser Hirn. Erst heute beginnen wir zu begreifen, in welcher Gefahr sich Erde und Menschheit u.a. durch den Klimawandel tatsächlich befinden. Was können die Wissenschaften, was können wir tun, damit die nächsten Generationen eine Zukunft haben?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 401
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Verantwortlich: Susanne Then
Übersetzung aus dem Englischen: Dieter Löffler
Redaktion und Satz: Verlags Service Dietmar Schmitz GmbH
Umschlagadaption: Alexander Knoll
Repro: LUDWIG: media
Herstellung: Bettina Schippel
Printed in Slovenia by Florjancic
Sind Sie mit diesem Titel zufrieden? Dann würden wir uns über Ihre Weiterempfehlung freuen.
Erzählen Sie es im Freundeskreis, berichten Sie Ihrem Buchhändler, oder bewerten Sie bei Onlinekauf. Und wenn Sie Kritik, Korrekturen, Aktualisierungen haben, freuen wir uns über Ihre Nachricht an NG Buchverlag, Postfach 40 02 09, D-80702 München oder per E-Mail an [email protected].
Unser komplettes Programm finden Sie unter
Alle Angaben dieses Werkes wurden vom Autor sorgfältig recherchiert und auf den neuesten Stand gebracht sowie vom Verlag geprüft. Für die Richtigkeit der Angaben kann jedoch keine Haftung übernommen werden. Sollte diese Werk Links auf Webseiten Dritter enthalten, so machen wir uns die Inhalte nicht zu eigen und übernehmen für die Inhalte keine Haftung.
In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.
Umschlagabbildung: mit freundlicher Genehmigung von Cosmos Studios Inc.
Textrechte:
S. 15: © Auszug aus Carl Sagan, Der Drache in meiner Garage oder Die Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu entlarven, aus dem Amerikanischen von Michael Schmidt © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1997 © by Carl Sagan 1996.
Trotz umfangreicher Recherche konnten möglicherweise nicht alle Rechteinhaber ermittelt werden. Berechtigte Ansprüche bleiben gewahrt.
NATIONAL GEOGRAPHIC and Yellow Border Design are trademarks of the National Geographic Society used under license.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Cosmos: Possible Worlds
Der Titel der deutschen Ausgabe lehnt sich an den Titel der Originalausgabe an. Die auf dem Buch basierende Fernsehserie wird unter dem deutschen Titel Unser Kosmos. Die Reise geht weiter ausgestrahlt.
Published by National Geographic Partners, LLC.
Copyright © 2020 der Originalausgabe: Ann Druyan. All rights reserved.
Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe: Ann Druyan. All rights reserved.
Grafikdesign der amerikanischen Originalausgabe: Melissa Farris
Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe:
NG Buchverlag GmbH
Infanteriestraße 11a
80797 München
Lizenznehmer von: National Geographic Partners, LLC
This edition is published by NG Buchverlag GmbH through licensing agreement with National Geographic Partners, LLC.
eISBN: 978-3-9555-9303-2
ISBN: 978-3-86690-690-7
Seit ihrer Gründung 1888 hat sich die National Geographic Society weltweit an mehr als 12 000 Expeditionen, Forschungs- und Schutzprojekten beteiligt. Die Gesellschaft erhält Fördermittel von National Geographic Partners LLC, unterstützt unter anderem durch Ihren Kauf. Ein Teil der Einnahmen dieses Buches hilft uns bei der lebenswichtigen Arbeit zur Bewahrung unserer Welt. Das legendäre NATIONAL GEOGRAPHIC-Magazin erscheint monatlich. Darin veröffentlichen namhafte Fotografen ihre Bilder, und renommierte Autoren berichten aus nahezu allen Wissensgebieten der Welt. National Geographic im TV ist ein Premium Dokumentations-Sender, der ein informatives und unterhaltsames Programm rund um die Themen Wissenschaft, Technik, Geschichte und Weltkulturen bereithält. Falls Sie mehr über National Geographic wissen wollen, besuchen Sie unsere Website unter www.nationalgeographic.de.
Für
Sarah,
Zoe,
Norah,
und
Helena
auf eurem Weg zu den Sternen
| PROLOG |
| 1 |DIE LEITER ZU DEN STERNEN
| 2 |O MÄCHTIGER KÖNIG
| 3 |VERLORENE STADT DES LEBENS
| 4 |WAWILOW
| 5 |DAS KOSMISCHE KONNEKTOM
| 6 |DER MANN DER BILLIONEN WELTEN
| 7 |DIE SUCHE NACH INTELLIGENTEM LEBEN AUF DER ERDE
| 8 |DIE OPFERUNG CASSINIS
| 9 |ZAUBER OHNE LÜGE
| 10 |DIE ERZÄHLUNG VON ZWEI ATOMEN
| 11 |DIE VERGÄNGLICHE GUNST DER HABITABLEN ZONE
| 12 |VOM MÜNDIGWERDEN IM ANTHROPOZÄN
| 13 |EINE MÖGLICHE WELT
| DANK |
| LITERATURHINWEISE |
| BILDNACHWEIS |
| REGISTER |
| ÜBER DIE AUTORIN |
Ich war ein Kind in hoffnungsvoller Zeit gewesen.
Schon von meiner frühesten Schulzeit an wollte ich Wissenschaftlerwerden. Dieser Wunsch nahm feste Formen an, als ich zumerstenmal kapierte, daß die Sterne mächtige Sonnen sind, als es mirzum erstenmal dämmerte, wie unglaublich weit entfernt sie seinmüssen, um als bloße Lichtpunkte am Himmel zu erscheinen.
Ich weiß nicht, ob ich damals überhaupt das Wort »Wissenschaft«kannte, aber irgendwie wollte ich mich selbst in all diese Großartigkeitversenken. Ich war fasziniert von der Pracht des Universums,gebannt von der Aussicht zu verstehen, wie die Dinge wirklichfunktionieren, dabei behilflich zu sein, tiefe Geheimnisse aufzudecken,neue Welten zu erkunden – vielleicht sogar im wahrstenSinne des Wortes. Zum Glück hat sich dieser Traum zum Teil erfüllt.
Für mich bleibt die romantische Liebe zur Wissenschaft so reizvollund neu wie an jenem Tag vor über einem halben Jahrhundert, alsmir die Wunder der Weltausstellung von 1939 gezeigt wurden.
CARL SAGAN,DER DRACHE IN MEINER GARAGEODER DIE KUNST DER WISSENSCHAFT,UNSINN ZU ENTLARVEN, 1997
Am Abend des 30. April 1939 wurde im New Yorker Stadtteil Queens die Zukunft zu einem Ort, den man besuchen konnte. Selbst ein Platzregen hielt 200 000 Menschen nicht davon ab, zur Eröffnungszeremonie der Weltausstellung nach Flushing Meadows zu kommen. Bis zur Schließung im Herbst 1940 besichtigten 45 Millionen Besucher dieses Land der Verheißungen im Art-déco-Stil mit dem Thema »Die Welt von morgen«.
Einer davon war ein fünfjähriger Junge, dessen Eltern so arm waren, dass sie ihre Brotzeit selbst mitbringen mussten. 20 Cent für ein Schokoladeneis mit Sahne waren unerschwinglich, und das galt auch für die blauen und orangefarbenen Taschenlampen und Schlüsselanhänger aus Bakelit, die der Junge so gern gehabt hätte. Auch kindliche Trotzreaktionen halfen da nichts.
Aber der Junge nahm etwas viel Wertvolleres mit: die Koordinaten für seinen weiteren Lebenslauf. Auf dem Spielplatz in der Halle »Elektrisches Leben« durfte der Junge gebannt einen durch Musik gesteuerten Lichtstrahler bedienen. Er hatte sich in die Zukunft verliebt und begriffen, dass die Wissenschaft der einzige Weg war, um dorthin zu kommen. Träume ähneln Landkarten.
Diese zukünftige Welt hatte gleichermaßen egalitäre wie wissenschaftliche Ambitionen. Eine der Modellgemeinden hieß tatsächlich »Democracity«. Es gab keine Slums – dafür einen Fernseher, ein Gerät zur Textverarbeitung und einen Roboter. Die Besucher bekamen dort zum ersten Mal Dinge zu sehen, die ihr Leben verändern sollten. Doch an diesem letzten Aprilabend wollten sie dem größten Wissenschaftler seit Isaac Newton lauschen. Albert Einstein moderierte eine Vorführung, die die Kräfte der Natur in eine Art Choreografie einband, wie sie auch die Synchronschwimmer des Wasserballetts in der »Aquacade« der Ausstellung vorführten. Nach einigen einleitenden Worten legte Einstein den Schalter zu einem Spektakel um, das den größten künstlichen, im Umkreis von 65 Kilometern zu sehenden Lichtstrahl der Technikgeschichte versprach. Ein Aha-Effekt – aber nicht so überwältigend wie die Quelle dieser plötzlichen unerhörten Helligkeit.
Auf der anderen Seite des East River, in Manhattan, kalibrierte Professor W. H. Burton Jr. vom Hayden Planetarium des American Museum of Natural History Instrumente, die geheimnisvolle Blitze aus unbekannten Teilen des Universums einfingen und in Licht verwandelten. Er entriss dem Kosmos Energie, so wie Prometheus den Göttern das Feuer stahl.
Einige Jahrzehnte zuvor hatte der Wissenschaftler Victor Hess Strahlenblitze aus geladenen Teilchen entdeckt, die viele Male am Tag auf die Erde treffen. Ein einzelnes Proton kann dabei die Energie eines fast 100 Stundenkilometer schnellen Baseballs erreichen. Die Teilchen nannte man Kosmische Strahlung. Am Hayden Planetarium waren drei überdimensionale Geigerzähler installiert, die zehn kosmische Strahlen für die Eröffnung der Weltausstellung einfangen sollten. Ihre Energie wurde durch Vakuumröhren verstärkt und über Kabel in den Stadtteil Queens übertragen, wo Einstein und die Zuschauer warteten. Die kosmischen Strahlen sollten jene Energie liefern, die die Nacht zum Tag machte und dank der Wissenschaft eine neue Welt mit blendendem Licht überflutete.
Aber zuerst erklärte Einstein dem Publikum, was Kosmische Strahlung ist. Man wollte ihm höchstens 700 Worte zugestehen, was er aber zunächst als unmöglich ablehnte. Die kosmischen Strahlen waren zu Einsteins Zeit ein Mysterium, und sie blieben es noch lange. Als die Arbeiten an diesem Buch begannen, enthüllte die Wissenschaft, dass die kosmischen Strahlen aus fernen Galaxien stammen und bei einigen der gewaltigsten Prozesse des Universums entstehen.
Einstein hielt es ungeachtet der lästigen Redezeitbeschränkung für seine wissenschaftliche Pflicht, die Öffentlichkeit zu informieren. Deshalb willigte er ein, die Ansprache zu halten.
Man stelle sich diesen spannungsgeladenen Frühlingsabend 1939 vor. Wenige Monate später marschierten deutsche Truppen in Polen ein und entfesselten den Zweiten Weltkrieg, den furchtbarsten Aderlass der Menschheitsgeschichte. Der fünfjährige Carl Sagan bekam weder Eis noch Souvenirs, weil seine Eltern wie so viele andere noch immer mit den Folgen der schlimmsten Wirtschaftskrise der Geschichte kämpften. In Deutschland, wo man während der Hyperinflation 1923 eine Schubkarre benötigt hatte, um das Papiergeld für einen Laib Brot zu transportieren, wandte sich die Bevölkerung einem chauvinistischen Demagogen zu. Dennoch strömten trotz der düsteren Vorzeichen die Menschen in New York in Massen herbei, um die Zukunft zu feiern, vielleicht sogar, um ihr zu huldigen.
Bei Sonnenuntergang trat Einstein ans Mikrofon. Im Monat zuvor war er 60 Jahre alt geworden. Der berühmte Forscher genoss seit Jahrzehnten Verehrung wegen seiner fundamental neuen physikalischen Entdeckungen.
Seit 2400 Jahren, seit dem griechischen Genie Demokrit, formulierte die Wissenschaft Theorien über unsichtbare Materieeinheiten, die sogenannten »Atome«. Nie war es jemandem gelungen, ihre Existenz zu belegen. Mit 25 lieferte Einstein den ersten sicheren Beweis für Atome und ihre Verbindungen, die Moleküle, und maß sogar ihre Größe. Er lehnte die vorherrschende Lichttheorie ab und propagierte, das Licht bewege sich in Teilchen fort, den Photonen. Ferner lieferte er die Grundlage für die Quantenmechanik und erweiterte die Grenzen der klassischen Physik, als er die Energie der ruhenden Partikel entdeckte.
Seine Erkenntnis, dass die Gravitation Licht beugt, fasste Einstein in eine Formel, die die berühmteste aller wissenschaftlich-mathematischen Gleichungen ist. Er hob das universelle Gravitationsgesetz Newtons auf eine neue Ebene, indem er es als Eigenschaft der Raumzeit verstand. Das war das Tor zur modernen Astrophysik und zur Erforschung der dunkelsten Orte des Universums, in denen das Licht durch die Gravitation gefangen ist.
Einstein begann zu sprechen. Seine Ansprache verfolgten neben den Besuchern der Ausstellung viele weitere Zuhörer in den Vereinigten Staaten und der Welt am Radio. Er erzählte von Victor Hess, dem österreichischen Physiker, der die Kosmische Strahlung entdeckte, als er zwischen 1911 und 1913 Ballonfahrten in großen Höhen unternahm. Einstein nutzte einige der 700 zugestandenen Worte, um an Hess’ Herkunft als Einwanderer zu erinnern, »der, nebenbei bemerkt, wie so viele andere vor Kurzem in diesem gastfreundlichen Land Zuflucht suchen musste«. Er erklärte, was die Wissenschaft über die Kosmische Strahlung wusste, und schloss mit der Vermutung, dass sie den Schlüssel zur »innersten Struktur der Materie« liefern könnte.
Die Stimme eines Ansagers schallte durch die Nacht: »Wir werden nun diese interplanetaren Botschafter rufen, um die Welt von morgen zu erhellen. Der erste Strahl, den wir einfangen werden, ist noch fünf Millionen Meilen entfernt und reist mit einer Geschwindigkeit von 186 000 Meilen pro Sekunde zu uns.« Das Auftreffen jedes kosmischen Strahls an den Geigerzählern wurde mitgezählt. Nach dem zehnten Mal legte Einstein den Schalter um – und einige Leuchten brannten durch. Es war trotzdem ein großartiges Erlebnis. Der Weg in die Zukunft stand offen.
Am nächsten Tag berichtete die New York Times, dass aufgrund von Einsteins starkem Akzent und der unzureichenden Verstärkeranlage die Anwesenden kaum mehr als die Eröffnungsworte seiner Rede verstanden hatten: »Wenn die Wissenschaft, wie die Kunst, ihre Mission wahrhaftig und vollständig erfüllt, müssen ihre Errungenschaften nicht nur oberflächlich, sondern in ihrer vollen Bedeutung in das Bewusstsein der Menschen eindringen.«
Dies könnte auch als Motto über Unser Kosmos stehen. Als ich auf YouTube auf diese kaum bekannten Worte Einsteins in dieser Eröffnungsnacht stieß, wirkten sie wie das Credo für die Arbeit von 40 Jahren. Einstein drängte uns, die Barrieren zur Wissenschaft niederzureißen, die viele ausschlossen und abschreckten, und die wissenschaftlichen Erkenntnisse vom technischen Jargon ihrer Hohepriester zu befreien und allgemein verständlich zu fassen, damit wir sie verinnerlichen und uns durch die Begegnung mit den Wundern verändern können, die sie enthüllen.
Während der gemeinsamen Arbeit an der interstellaren Botschaft für die beiden Voyager-Sonden der NASA 1977 verliebten Carl Sagan und ich uns. Carl war damals schon ein gefeierter Astrophysiker und einer der Hauptexperten für die Erkundungsmissionen der Voyager-Sonden. Wir hatten bereits bei einem Fernsehprojekt zusammengearbeitet. Deshalb engagierte Carl mich als Kreativdirektorin für jene Botschaft, die als Golden Record bekannt werden sollte.
Carl hatte die Idee, dass Voyager 1 ein Bild von unserer Welt vermitteln sollte, nachdem die Sonde ihre Erkundungsmission beendet und ein letztes Bild von Neptun gesendet hatte. Jahrelang kämpfte er bei der NASA gegen Zweifel am wissenschaftlichen Wert dieser Aktion, während er von ihrer durchschlagenden Wirkung überzeugt war. Als sich Voyager 1 hoch über der Bahnebene unseres Sonnensystems befand, gab die NASA nach. Auf den Fotos, die dabei für das Familienalbum der Welten unseres Sonnensystems entstanden, ist unsere Erde so klein, dass man sich anstrengen muss, um sie zu finden.
Das Bild »Pale Blue Dot« und Carls prosaische Betrachtungen darüber sind seither Allgemeingut. Für mich erfüllte es die Hoffnungen, die Einstein in die Wissenschaft gesetzt hatte. Wir vermochten ein Raumfahrzeug vier Milliarden Kilometer weit zu entsenden, das uns ein Bild von der Erde schickte. Unsere Welt als einzelnen Punkt in der unermesslichen Dunkelheit zu sehen, sagt alles über unsere wahre Lage im Kosmos aus, und das begreift jeder einzelne Mensch sofort. Ein akademischer Grad ist dafür nicht nötig. Dieses Foto erhellt schlagartig die verborgene Bedeutung von vier Jahrhunderten astronomischer Forschung. Es ist wissenschaftliches Faktum und Kunst zugleich, es spricht unsere Seele an und verändert unser Bewusstsein. Das Foto ist wie ein bedeutendes Buch, Film oder Kunstwerk. Es lässt uns etwas von der Realität erahnen – eine Realität, von der manche unter uns lange nichts wissen wollten.
Eine so winzige Welt kann unmöglich das Zentrum des Kosmos sein, geschweige denn im Fokus ihres Schöpfers stehen. Der hellblaue Punkt ist eine stille Mahnung an die Fundamentalisten, die Nationalisten, die Militaristen, die Umweltverschmutzer – an jeden, der den Schutz unseres Planeten und des Lebens darauf in dieser weiten kalten Dunkelheit nicht über alles andere stellt. Der Botschaft dieser wissenschaftlichen Leistung kann man sich nicht entziehen.
Als ich mit Carl und dem Astronomen Steven Soter 1980 anfing, das Drehbuch der ersten Serie zu schreiben, kannten wir das Einstein-Zitat von 1939 nicht. Wir fühlten uns nur dazu berufen, die ungeheure Macht der Wissenschaft zu teilen, den geistigen Reiz zu vermitteln, den das Universum offenbart, und so die Warnungen von Carl, Steven und anderen vor den Folgen unserer Lebensweise für den Planeten zu verstärken. Unser Kosmos gab diesen Prophezeiungen eine Stimme, durchdrungen von Hoffnung und Selbstachtung, die auf dem Erfolg beruhten, unseren Weg im Universum zu finden, und auf dem Mut der Wissenschaftler, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen.
Die erste preisgekrönte Staffel und das Buch Unser Kosmos von 1980 fanden ein weltweites Millionenpublikum. Der Washingtoner Library of Congress zufolge ist es eines von »88 Büchern, die Amerika prägten« und steht damit auf demselben Rang wie Common Sense von Thomas Paine, die Federalist Papers von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, Moby-Dick von Herman Melville, Grashalme von Walt Whitman, Der unsichtbare Mann von Ralph Ellison und Der stumme Frühling von Rachel Carson.
Ein Dutzend Jahre nach Carls Tod übernahm ich mit einem gewissen Unbehagen die Aufgabe, zusammen mit Steven weitere 13 Stunden der Serie zu erstellen. Während der sechs Jahre, in denen wir Unser Kosmos: Die Reise geht weiter schrieben und produzierten, plagten mich Albträume, dass mein begrenztes Wissen Carl, den ich liebe und bewundere, kaum Ehre machen würde.
Mit dieser jetzigen, der dritten Staffel über die Reisen mit dem »imaginären Raumschiff«, arbeite ich nun 40 Jahre an Unser Kosmos. Das Raumschiff und der Kosmische Kalender sind keine Relikte vergangener »Reisen«. Einige bildliche Ausdrücke, Anekdoten und Lehrmittel verfügen aus meiner Sicht über eine unwiderstehliche Erklärungskraft, weswegen ich sie auch hier verwende. Es wird zwangsläufig Wiederholungen und Überschneidungen mit Gedanken geben, die Carl und ich zuvor schon erläutert haben. Doch heute sind sie dringlicher denn je. Einmal mehr unterstützten mich brillante Mitarbeiter und ich hegte die Befürchtung, den Ansprüchen nicht zu genügen. Aber mich treibt an, was wir heute erleben.
Wir alle sehen den Schatten, den unsere Gegenwart auf die Zukunft wirft. Wir müssen etwas tun, sonst verdammen wir unsere Kinder zu Gefahren und Sorgen, denen wir uns niemals gegenübersahen. Wie rütteln wir uns selbst wach, damit wir nicht schlafwandlerisch in eine unumkehrbare klimatische oder nukleare Katastrophe stolpern, die unsere Zivilisation und zahllose Arten zerstört? Wie lernen wir, lebensnotwendige Dinge wie Luft, Wasser und unser gesamtes Lebenserhaltungssystem auf der Erde mehr zu schätzen als Geld und kurzlebige Annehmlichkeiten? Nur ein globales Erwachen kann uns alle verändern.
Wie die Liebe ermöglicht es die Wissenschaft, zur Fülle des Lebens zu finden. Die wissenschaftliche Annäherung an die Natur und mein Verständnis von Liebe decken sich: Liebe überwindet kindliche Projektionen persönlicher Hoffnungen und Ängste, um die Wirklichkeit des Anderen zu erfassen. Diese Art der Liebe hört nie auf, tiefer zu schürfen oder nach Höherem zu streben.
Genau so liebt die Wissenschaft die Natur. Das Fehlen eines endgültigen Ziels, einer absoluten Wahrheit, macht die Wissenschaft zur geeigneten Methode für die wahrhafte Suche, eine endlose Lektion in Demut. Die Weite des Universums und die Liebe, die diese Weite erträglich macht, bleiben den Überheblichen verschlossen. Der Kosmos ist nur jenen zugänglich, die auf ihre innere Stimme hören, die uns sagt, dass wir uns auch irren können. Was real ist, muss schwerer wiegen als das, was wir glauben wollen. Doch wie erkennen wir den Unterschied?
Der dunkle Schleier, der uns daran hindert, die Natur vollständig zu erfassen, kann nur durch die Regeln der Wissenschaft gelüftet werden: Ideen durch Versuche und Beobachtungen zu überprüfen, auf denjenigen aufzubauen, die den Test bestehen, und zu verwerfen, was durchfällt. Den Beweisen zu folgen, wo immer sie auch hinführen. Alles zu hinterfragen, auch Autoritäten. Dann gehört der Kosmos dir.
Was sonst wäre der lange Weg zum Verständnis unserer tatsächlichen Rolle im Universum, des Ursprungs von Leben und Naturgesetzen, anderes als eine spirituelle Suche?
Ich bin keine Wissenschaftlerin, sondern sammle nur Geschichten. Am liebsten solche über Forscher, die uns den großen dunklen Ozean durch Inseln des Lichts erschließen halfen und die sich in die bodenlosen Weiten des Kosmos vorwagten. Reisen wir gemeinsam zu den Welten, die sie entdeckten – zu den vergessenen, den noch blühenden und denjenigen, die noch kommen werden.
Auf den folgenden Seiten erzähle ich Ihnen die Geschichte eines unbekannten Genies, das einen Brief 50 Jahre in die Zukunft sandte, mit dessen Hilfe die Apollo-Mission zum Mond erfolgreich durchgeführt werden konnte. Und eine über jenen Wissenschaftler, der den Kontakt zu einer alten Lebensform fand, die wie wir eine symbolische Sprache besaß. Diese in Physik und Astronomie gebildeten Wesen führten mathematische Berechnungen durch und lebten eine Konsensdemokratie vor, die unsere übertraf.
Ich möchte Sie in Welten führen, die wir uns nur dank der Wissenschaft vorstellen, wieder zum Leben erwecken und besuchen können; in eine Welt, in der es Diamanten regnet; zu einer uralten Stadt auf dem Meeresgrund, in der womöglich das Leben auf der Erde anfing; zur innigsten stellaren Beziehung im Kosmos, zu zwei in ewiger Umarmung vereinigten Sternen, die über eine 13 Millionen Kilometer lange Feuerbrücke miteinander verbunden sind.
Lauschen wir am verborgenen, weltweiten irdischen Netzwerk, das für die uralte Kooperation der Reiche des Lebens steht. Lernen wir einen kaum bekannten Wissenschaftler kennen, der uns eine längst verlorene Welt erschloss. Er deckte vor über 200 Jahren auch eine logische Lücke in der Realität auf, die noch immer unerklärbar ist, trotz Einsteins großartiger Bemühungen.
Am bewegendsten ist für mich die Leidenschaft jenes Mannes, der einen entsetzlichen Tod durch die Hand eines schrecklichen Mörders wählte. Durch einen wissenschaftlichen Betrug hätte er sich retten können, aber das wollte er nicht. Seine Schüler folgten ihm bereitwillig in ein Martyrium, um etwas zu schützen, was für sie lediglich eine abstrakte Vorstellung war – die Generationen nach ihnen. Wir.
Das bringt uns zu jener anderen Welt, die mich am meisten reizt – zur Zukunft, die unsere Welt immer noch haben kann. Der Missbrauch der Wissenschaft gefährdet unsere Zivilisation, doch sie besitzt auch erlösende Kräfte. Sie kann die mit Kohlendioxid vergiftete Atmosphäre durch Lebewesen reinigen, die das von uns freigesetzte Gift neutralisieren. In einer Gesellschaft, die nach Demokratie strebt, kann der Wille einer informierten und motivierten Öffentlichkeit diese Zukunft Realität werden lassen.
Dies sind Geschichten, die mich für unsere Zukunft hoffen lassen. Durch sie spüre ich den Zauber der Wissenschaft noch intensiver, genauso wie das Wunder, jetzt zu leben, in diesen speziellen Koordinaten der Raumzeit, weniger alleine, mehr zu Hause, hier im Kosmos.
ANN DRUYAN
Nicht ich, sondern die Welt sagt es: Alles ist Eins.
HERAKLIT, UM 500 V. CHR.
99 Prozent der Zeit seit Entstehen unserer Spezies waren wir
Jäger und Sammler … Nur die Erde, der Ozean und der Himmelsetzten uns Grenzen …
Wie sollen wir uns ins Weltall vorwagen, Welten versetzen,Planeten umformen, benachbarte Sternensysteme besiedeln, wenn wirnicht einmal unseren Heimatplaneten in Ordnung halten können? …Wenn wir fähig sind, das nächstgelegene Planetensystem zu besiedeln,werden wir uns verändert haben, schon weil so viele Generationen verflossensind. Wir mussten uns verändern. Wir sind eine anpassungsfähige Art. …
Trotz all unserer Fehler, trotz unserer Einschränkungen undFehlbarkeit können wir Menschen Großartiges bewirken …Wie weit wird unsere nomadische Art am Ende des nächstenJahrhunderts gewandert sein? Und des nächsten Jahrtausends?
CARL SAGAN, BLAUER PUNKT IM ALL:UNSERE ZUKUNFT IM KOSMOS, 1996
Wir sind sehr jung, Neulinge in der Unermesslichkeit. Wir verharren am Ufer des kosmischen Ozeans wie Kleinkinder, die gelegentlich einen Vorstoß wagen, bevor ihre Angst sie wieder in den Schoß der Mutter zurücktreibt.
Vor einem halben Jahrhundert statteten wir Menschen dem Mond einige kurze, vorübergehende Besuche ab. Seither überließen wir unsere Erkundungsreisen Robotern. 1977 schickten wir Voyager 1, unseren kühnsten Abgesandten dieser Art, weiter weg, als die Sonnenwinde reichen, hinaus in die interstellare Tiefe.
Unsere Sonne ist lediglich der nächste Stern. Mit 60 000 Stundenkilometern würde Voyager 1 fast 80 000 Jahre bis zum zweitnächsten Stern Proxima Centauri benötigen. Das ist nur eine Spritztour in der Milchstraße, eine durch die Gravitation zusammengehaltene Ansammlung von Hunderten von Milliarden Sternen. Und sie ist nur eine von einer Billion Galaxien – zwei Billionen, wenn wir alle Zwerggalaxien mitzählen, die inzwischen mit größeren Galaxien wie der unseren verschmolzen sind. Der Kosmos besteht aus Milliarden von Billionen Sternen und vermutlich einem tausendfachen Mehr an anderen Welten.
Und das ist nur der sichtbare Teil des Universums. Der Kosmos ist größtenteils hinter einem Schleier aus Zeit und Entfernung verborgen. In der frühen, hyperlichtschnellen Expansion des Raumzeitgefüges verschwanden riesige Massen des Universums aus der Reichweite unserer Teleskope. Vielleicht ist das unermessliche Universum auch nur ein winziger Teil eines Multiversums, jenseits unserer Erkenntnis oder Vorstellung. Kein Wunder, dass wir uns ängstlich an den Irrglauben klammern, im Zentrum zu stehen, das einzige Kind des Schöpfers zu sein. Wie können sich winzige Wesen, die sich regelmäßig auf einem Punkt verirren, angesichts dieser überwältigenden Realität im Universum zu Hause fühlen?
Seit es uns Menschen gibt, erzählen wir uns Geschichten, die uns die Furcht vor der Dunkelheit nehmen sollen. »Dunkelheit« ist eine Eigenschaft, keine Größe. In einem Kinderzimmer ist die Nacht ein eigener Kosmos. Unsere Spezies geht ihren Weg, indem sie die Dunkelheit durch Erzählungen zähmt. Wir konnten diese nicht anhand der Realität überprüfen, bevor es die Wissenschaft gab. Wir trieben im Ozean der Raumzeit, ohne zu wissen wo und wann, bis die Wissenschaft anfing, unsere Koordinaten zu bestimmen.
Die neueste Erkenntnis über das Alter des Universums lieferte das Weltraumteleskop Planck der Europäischen Weltraumorganisation. Es suchte über ein Jahr lang den gesamten Himmel ab und vermaß akribisch das Licht, das das junge Universum 380 000 Jahre nach dem Urknall ausstrahlte. Planck zeigt den Kosmos, wie er vor 13,82 Milliarden Jahren aussah – hundert Millionen Jahre älter, als die Wissenschaft vor Kurzem noch annahm.
Das liebe ich an der Wissenschaft. Kein Wissenschaftler versuchte, die Entdeckung, dass das Universum wohl älter war als angenommen, zu vertuschen. Sobald die neuen Daten überprüft waren, wurde diese Korrektur von der gesamten Wissenschaftsgemeinde sofort angenommen. Diese fortschrittliche Haltung, die Offenheit für den Wandel, bildet den Kern der Wissenschaft und macht sie so wirksam.
DIE ANFÄNGE DER WISSENSCHAFTLICHEN GESCHICHTE der Zeit liegen so weit zurück, dass wir sie auf menschliche Kategorien herunterbrechen müssen. Der Kosmische Kalender bringt ihre 13,82 Milliarden Jahre in eine für uns begreifbare Bezugsgröße, ein einziges Erdjahr. Die Zeit beginnt oben links mit dem Urknall am 1. Januar und endet um Mitternacht des 31. Dezember unten rechts. In diesem Maßstab steht jeder Monat für etwas mehr als eine Milliarde Jahre. Jeder Tag repräsentiert 38 Millionen Jahre. Jede Stunde 1,6 Millionen Jahre. Eine kosmische Minute entspricht 26 000 Jahren. Eine kosmische Sekunde umfasst 438 Jahre, kaum mehr Zeit, als seit Galileos erstem Blick durch ein Teleskop verstrichen ist.
Daher ist der Kosmische Kalender für mich so bedeutungsvoll. In den ersten neun Milliarden Jahren der Zeit gab es keinen Planeten Erde. Erst nach zwei Dritteln des kosmischen Jahres, am 31. August, ballt sich aus der Gas- und Staubscheibe um unseren Stern die winzige Erde zusammen. Der größte Teil der Geschichte des Universums findet ohne uns statt. Da ist Demut angesagt.
Während der ersten Milliarde Jahre musste unser Planet ziemlich viel einstecken. Am Anfang prallten viele Trümmer auf die neuen Welten, als sie ihre Umlaufbahnen freiräumten. Als später Jupiter und Saturn auf andere Umlaufbahnen wanderten, verursachte ihre Größe im Sonnensystem vermutlich ein Chaos, das Asteroiden aus der Bahn warf und sie mit Planeten und Monden kollidieren ließ.
Das Große Bombardement war noch nicht vorbei, als sich am Meeresgrund Leben zu entwickeln begann. Das ermutigt alle, die Leben anderswo im Universum zu finden hoffen. Die Geschichte unserer Sonne und ihrer Welten ist im Kosmos vermutlich ein häufiger Vorgang. Die Körper, die auf unsere Erde trafen, könnten die notwendigen Zutaten für das Leben und sogar die notwendige Energie mitgebracht haben, um das Leben in Gang zu bringen.
Alles Leben auf der Erde scheint einen gemeinsamen Ursprung zu haben. Vermutlich begann es am 2. September tief im Ozean, in einer Stadt aus Steintürmen am Meeresboden. Darauf gehen wir später genau ein. Das erste Leben besaß einen Kopiermechanismus, der mehr Leben herstellte. Es war ein Molekül, geformt wie eine verdrehte Leiter – DNS. Eine seiner Stärken war seine Unvollkommenheit. Gelegentlich machte es Kopierfehler oder wurde von kosmischen Strahlen beschädigt. Einige dieser zufälligen Mutationen führten zu erfolgreicheren Lebensformen – wir nennen das Evolution durch natürliche Selektion. Die Leiter legte um einige Sprossen zu.
Es erforderte drei weitere Milliarden Jahre Evolution, bis aus einzelligen Organismen komplexe Pflanzen entstanden, die wir mit bloßem Auge sehen können. Es gab zwar noch keine Augen, aber der einzellige Organismus, der weiß: »Dich esse ich, meinesgleichen nicht«, zeugt wohl von einem gewissen Bewusstsein.
DIE GESCHICHTE DES MENSCHLICHEN LEBENS ist Teil dieses Kontinuums. Doch in der letzten Woche des kosmischen Jahres gab es eine dramatische Entwicklung. Hätte der Kosmische Kalender Feiertage, wäre der 26. Dezember einer davon. Denn irgendwann an diesem Tag vor 200 Millionen Jahren erschienen die Säugetiere.
Die ersten Säugetiere waren winzige spitzmausähnliche Wesen. »Winzig« heißt wirklich klein – nicht viel größer als eine Büroklammer. Sie wagten sich nur bei Nacht hinaus, denn ihre Jäger, wie die Dinosaurier, beherrschten den Tag. In der Trias standen die Chancen der kleinen Säuger gegenüber den monströsen Reptilien nicht besonders gut. Aber eines Tages sollten sie das Erdreich besitzen.
Die Säugetiere besaßen einen neuen Hirnbereich: den Neocortex. Wie der Rest ihres Körperbaus war dieser Bereich anfangs klein, doch er wuchs schnell – und ermöglichte es ihnen, sich in größeren Gruppen sozial zu organisieren. Neu an den Plazentatieren war auch, dass sie ihre Jungen säugten und aufzogen. Im Kosmischen Kalender fällt der Muttertag auf den 26. Dezember.
Evolution durch natürliche Selektion bedeutet, dass besser an ihre Umwelt angepasste Lebewesen vermutlich eher überleben und Nachwuchs hinterlassen. Intelligenz wirkt dabei als starker Selektionsvorteil. Der Neocortex faltete sich in mehrere Lagen, was mehr Oberfläche für die Informationsverarbeitung bot. Die Gehirnlappen bildeten Furchen aus, was zusätzliche Fläche für Rechenleistungen brachte.
Das Gehirn veränderte die Form, wurde größer und bekam mehr Falten. Am 31. Dezember gegen 19 Uhr spaltete sich unser Evolutionsweg von dem unserer nächsten Verwandten, den Schimpansen, ab. Sie entwickelten sich zu Waldtieren, die sich gegenseitig pflegen, den Verlust von Freunden und Verwandten beklagen, mit Schilf als Werkzeug nach Ameisen als Futter angeln, ihre Jungen darin unterrichten und zusammen den Sonnenuntergang bewundern. Doch wir wissen fast nichts darüber, wie sie zur Zeit unseres letzten gemeinsamen Vorfahren waren.
Was unterscheidet uns Menschen, die 99 Prozent der Gene mit den Schimpansen teilen, so stark von ihnen? Warum haben wir als Einzige der fünf Milliarden Arten, die jemals auf der Erde lebten, eine Lebensform entwickelt, die Zivilisationen hervorbringt, die Welt verändert und Raumfahrt betreibt? Vor nicht allzu langer Zeit verblüffte uns das Feuer. Irgendwie verwandelten wir uns in Wesen, die in Lichtgeschwindigkeit kommunizieren, die in Partikel, Atome und Zellen blicken, die die Ursprünge der Zeit erforschen und die das Licht von Milliarden von Lichtjahren entfernten Galaxien am Rand der Ewigkeit einfangen.
Vor etwa sieben Millionen Jahren führte etwas zu einer Veränderung im winzigen Maßstab, die sich auf den gesamten Planeten auswirkte und schließlich auch auf andere. Die größte Zelle des Menschen, das Ei, sieht man mit bloßem Auge kaum. Die kleinste, die Spermazelle, ist zu klein dazu. Doch im Kern fast jeder Zelle befindet sich eine codierte Botschaft aus drei Milliarden Basenpaaren oder Sprossen, die gewundene Leiter der Doppelhelix.
Das Schicksal des Planeten wurde durch ein Ereignis auf einer einzigen Sprosse verändert, das nur 13 Atome betraf. Wie klein sind 13 Atome? Sie sind zusammen eine Billiarde Mal kleiner als ein Salzkorn. In der DNS eines unserer Vorfahren fand vor einigen Millionen Jahren eine Mutation statt, und das sorgt zum Teil dafür, dass Sie gerade diese Worte lesen können.
Jegliches Selbstwertgefühl, alles, was wir lernen und herstellen, ist das Ergebnis dieser Änderung an einem Basenpaar eines einzelnen Gens, an einer Sprosse einer Leiter mit drei Milliarden Sprossen. Sie ließ den Neocortex wachsen und sich noch stärker falten. Vielleicht legte ein kosmischer Strahl zufällig den Schalter um, oder es war ein Übertragungsfehler von einer Zelle zur anderen. Was immer zu dieser Veränderung unserer Art führte, die sich schließlich auf alle anderen Arten dieser Erde auswirkte: Es geschah kurz nach dem Abendessen am Silvestertag unseres Kosmischen Kalenders.
So gesehen beruht unsere Fähigkeit zur Loyalität und zur Sorge um zunehmend größere Gruppen, die Fixierung auf bestimmte Glaubenssysteme, die Möglichkeit, uns die Zukunft vorzustellen, die Macht, die Welt zu verändern und im Kosmos Antworten zu suchen – schon der Name, den wir unserer Art gaben, Homo sapiens, lateinisch für »verstehender Mensch« – vielleicht lediglich darauf: eine einzelne Sprosse in der mikroskopisch kleinen Leiter zu den Sternen.
59 Minuten der letzten Stunde des Kosmischen Kalenders gehörten unseren Vorfahren, dem archaischen Homo sapiens, Jägern und Sammlern in kleinen Gruppen, die, wie Carl Sagan es formulierte, »nur durch Erde, Ozean und Himmel begrenzt waren«.
Mich erstaunt, wenn Menschen achselzuckend alles auf »die menschliche Natur« schieben. Sie meinen meist Gier, Arroganz und Gewalt. Doch wir sind seit einer halben Million oder mehr Jahren Menschen. Und meistens waren wir nicht so. Woher wir das wissen? Durch die Berichte von Forschern und Anthropologen, die Jäger-Sammler-Gesellschaften seit Jahrhunderten begegnen. Es gibt natürlich Ausnahmen. Krisen haben schon immer das Schlechteste in uns zum Vorschein gebracht. Doch alle stimmen überein, dass die Menschen relativ harmonisch miteinander und mit der Umwelt lebten.
Wir teilten das wenige, was wir hatten, denn wir wussten, dass unser Überleben von der Gruppe abhängt. Besitz über das Nötige hinaus bedeutete uns nichts, denn er war auf der Wanderschaft nur Last. Wir begannen uns von unseren Primatenvorfahren mit ihren um Dominanz kämpfenden Alphamännchen zu unterscheiden. Es gibt Hinweise darauf, dass Geschlechtergleichheit herrschte und die Ressourcen gerecht geteilt wurden. Die meisten Gesellschaften handelten im Bewusstsein, dass sie einander brauchen.
Die höchste Tugend unter unseren Jäger-Sammler-Vorfahren war Demut, als hätten unsere Vorfahren erkannt, dass ein überheblicher Jäger eine Gefahr für die Gruppe bedeutete. Wenn er mit seiner Beute zu Hause angab, dann wurde behauptet, das Fleisch sei zäh und schmecke nicht. Wenn das sein Verhalten nicht änderte, dann griffen sie zur schlimmsten Sanktion – sie isolierten ihn. Was er auch tat, sie verhielten sich, als gäbe es ihn nicht.
(Manchmal frage ich mich, ob nicht ein ritualisiertes Echo aus uralten Zeiten in uns fortwirkt, wenn wir jemanden zur Berühmtheit hochjubeln, sie oder ihn dann in Ungnade fallen lassen und schließlich aus dem öffentlichen Leben verbannen.)
Und wo war Gott? Überall. In den Felsen, in den Flüssen, in den Bäumen, in den Vögeln, in allem Lebendigen. Das war eine halbe Million Jahre lang die Natur des Menschen.
UM 23 UHR 52 AM SILVESTERABEND des Kosmischen Kalenders, oder vor einigen 100 000 Jahren, lebten in Afrika alle Vertreter der Gattung Homo sapiens – alle 10 000. Wenn ich höre, dass es von einer Art nur noch 10 000 gibt, dann mache ich mir um sie Sorgen. Hätte damals ein Außerirdischer auf einer Erkundungsmission die Erde besucht, hätte er vielleicht angenommen, wir wären eine bedrohte Art. Nun zählen wir Milliarden. Was ist passiert?
In der Blombos-Höhle machten unsere Vorfahren einen gigantischen Sprung nach vorne, und vielleicht auch an vielen anderen, bisher unentdeckten Orten. Die Blombos-Höhle am Indischen Ozean an der Südspitze Afrikas ist unser ältestes Chemielabor und der früheste Beleg für eine der größten Anpassungsfähigkeiten unserer Art: die Fähigkeit, etwas aus der Umwelt für einen neuen Zweck zu verändern.
In der Höhle fanden sich Mischtiegel aus Gehäusen von Meeresschnecken, Speerspitzen, Gerätschaften zur Verarbeitung von Ocker, gravierte Knochen, harmonisch zusammengefügte Perlenstränge, Eierschalen von Schildkröten und Straußenvögeln und feines Werkzeug aus Knochen und Stein. Wer waren diese ersten Chemiker? Wir. In der Blombos-Höhle wurden bis jetzt keine Knochen, nur sieben menschliche Zähne gefunden. Sie zeigen uns, dass uns diese Menschen anatomisch glichen. Und nicht nur anatomisch.
70 Gehäuse von Meeresschnecken in ähnlicher Größe und Farbe und mit einem Loch an derselben Stelle zeugen von regelrechter Perlenproduktion. Die Blombos-Menschen experimentierten mit einem eisenreichen Mineral: Ocker. In Abalone-Schalen mischten sie den Ocker mit Tierknochenmehl und Holzkohle und formten daraus längliche Klötzchen. Damit hätte man Dinge oder Menschen mit roten Farbtupfen schmücken oder Tierhäute konservieren, es für medizinische Zwecke, zum Schärfen von Werkzeugen oder vielleicht als Insektenschutzmittel verwenden können.
Tatsächlich kam etwas – nach unserer Kenntnis – völlig Neues ins Spiel. In den Ocker ritzte man ein geometrisches Muster ein. Kunst. Kein Mittel zur Verteidigung, zur Nahrungsgewinnung oder um einem Gefährten zu gefallen. Symbolträchtig oder zufällig: Die charakteristischen Kreuzschraffuren ähneln einer Leiter oder einer … Doppelhelix. Es ist das früheste Artefakt menschlicher Kultur. Man hatte eine Methode gefunden, etwas Menschliches zu hinterlassen. Ein Kommunikationsmittel, so rätselhaft es 70 000 Jahre später auch wirkt. Hier in der Blombos-Höhle entstand etwas sehr Machtvolles.
In den Zehntausenden Jahren danach brachen einige unserer Vorfahren aus Afrika auf, um den Planeten zu erkunden, und hinterließen Belege für ihren Wunsch, dass man sich an sie erinnern möge. Ein besonders denkwürdiges Zeugnis menschlicher Geschicklichkeit ist in Spanien in den Cuevas de la Araña (Spinnenhöhlen) nahe dem heutigen Valencia zu sehen. Eine menschliche Gestalt klettert ein Seil oder eine Leiter empor, um mithilfe eines Rauchtopfs den Honig aus einem Bienenstock zu plündern. In der Literatur geht man davon aus, dass es ein Mann sei, was vermutlich nur ein Relikt aus jener Zeit ist, als Mensch und Mann gleichgesetzt wurden. Ich finde, das Bild des Honigdiebs spricht eher für eine Frau.
NUR EIN PAAR TAUSEND JAHRE ZUVOR hatten die Menschen überall auf der Welt etwas entscheidend Neues entdeckt. Statt zu jagen, nach Nahrung zu suchen und den wandernden Herden zu folgen, lernten sie, Nahrung anzubauen und wilde Tiere zu zähmen. Das änderte alles. Unsere Vorfahren taten einen entscheidenden Schritt: Sie ließen sich nieder und bauten Häuser. Sie erfanden neue Werkzeuge – Technologie –, pflanzten und ernteten auf der eigenen Scholle. Die Beziehungen zur Natur und untereinander änderten sich für immer.
Die neolithische Revolution, die Domestikation von Pflanzen und Tieren, ist die Mutter aller Revolutionen, denn alle anderen lassen sich darauf zurückführen. Die Konsequenzen reichen über unsere Zeit hinaus. Wie die meisten Umstürze zog auch dieser sowohl großartige als auch entsetzliche Veränderungen nach sich. Das Wort »Heimat« bekam wohl eine neue Bedeutung. Lag sie zuvor dort, wo wir gerade wanderten, verband sich nun ein bestimmter Ort damit. Mit der Zeit wuchsen die Siedlungen, bis etwa 20 kosmische Sekunden vor Mitternacht der nächste Sprung erfolgte.
Willkommen in einer der ersten Städte: Çatalhöyük, eine Siedlung in der anatolischen Hochebene der heutigen Türkei. Ein Tag vor 9000 Jahren, es ist Abend und jeder ist zu Hause. In dieser Nacht leben in dieser Urstadt etwa so viele Menschen wie einst in ganz Afrika. Çatalhöyük besteht aus festen Wohnhäusern und ist fast 20 Fußballfelder groß. In den 90 000 Jahren, seit die Menschen in der Blombos-Höhle erste chemische Versuche unternahmen, hat sich einiges verändert.
Die Stadt ist noch so neu, dass es keine Straßen gibt – oder Haustüren. Der einzige Weg in die Wohnung führt über das Dach des Nachbarn. Über eine Leiter betritt man durch die Dachluke die eigene Behausung.
In Çatalhöyük fehlt noch etwas: Es gibt keinen Palast. Den bitteren Preis der Ungleichheit für die Erfindung der Landwirtschaft muss die menschliche Gesellschaft erst noch bezahlen. Hier gibt es keine Dominanz der Wenigen über die Vielen. Es gibt nicht das eine Prozent, das Reichtum anhäuft, während die meisten anderen nur überleben oder nicht einmal das. Das Ethos des Teilens ist hier lebendig. Es gibt Hinweise auf Gewalt gegen Frauen und Kinder, aber die Schwächsten essen das Gleiche wie die Stärksten. Wissenschaftliche Analysen der Ernährung der hier lebenden Frauen, Männer und Kinder zeigen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit. Die Häuser gleichen sich, ohne farblos zu sein. Den Raum dominiert ein riesiger Auerochsenkopf mit spitzen Hörnern, der an der reich bemalten Wand hängt. Die Mauern sind mit Zähnen, Knochen und Tierfellen geschmückt.
Die Wohnungen in Çatalhöyük wirken ausgesprochen modern. Der einheitliche Grundriss ist höchst zweckmäßig und modular. Es gibt Nischen für Arbeit, Essen, Unterhaltung und Schlafen. Holzbalken tragen die Decke. Hier leben Großfamilien mit sieben bis zehn Menschen.
Der Ocker, den unsere Vorfahren 100 000 Jahre zuvor in Afrika entdeckten, dient in Çatalhöyük zur Ausschmückung der Innenräume, für Wandgemälde mit Auerochsen, Leoparden, einem Läufer, Geiern, die Fleisch aus einem kopflosen Kadaver reißen, und Jägern, die einem Hirsch nachstellen. Auch bei der Totenverehrung spielt Ocker eine bedeutende zeremonielle Rolle.
Eine Prozession mit einem Leichnam verlässt Çatalhöyük in Richtung eines weiten, offenen Platzes in der Ebene. Eine hohe Plattform erwartet sie. Die Teilnehmer legen den Leichnam auf der Plattform ab und geben ihn den Raubvögeln und Elementen preis. Eine Person wacht darüber, dass die Knochen zurückbleiben. Geier kreisen über der Plattform, ein Sturm zieht auf. Die Zeit vergeht. Wenn nur noch das nackte Skelett übrig ist, holt eine Prozession es wieder ab. Es wird in eine Fötuslage gefaltet und mit rotem Ocker geschmückt, bevor es im Boden unter dem Wohnzimmer begraben wird. Manchmal werden die Gräber wieder geöffnet, vielleicht bei einem Ritual, und der Schädel wird mitgenommen. Ich frage mich, ob diese Menschen mit dem Tod besser zurechtkamen als wir.
Der rote Ocker dient noch einem weiteren wichtigen Zweck: Geschichte und Kartografie. Ein Künstler malt die Umrisse der Dächer, die wie ein einziger großer Organismus dem nahen Vulkan gegenüberstehen. Zum ersten Mal entwerfen Menschen ein zweidimensionales Abbild ihrer Umgebung in Raum und Zeit. »Vom Vulkan aus gesehen steht hier mein Haus.« Und mit ein paar hingeworfenen Strichen, die aufsteigenden Rauch andeuten, sendet der Künstler eine Nachricht über 9000 Jahre hinweg: »Ich war hier, als der Vulkan ausbrach.«
DAS EXPERIMENT IN ÇATALHÖYÜK und anderen Urstädten erwies sich als erfolgreich. Innerhalb weniger Tausend Jahre entstanden überall Städte. Wenn sich Menschen verschiedener Kulturen an einem Ort versammeln, dann werden Ideen ausgetauscht und neue Möglichkeiten geboren. Die Stadt ist wie ein Gehirn, ein Brutkasten für neue Ideen.
Im Amsterdam des 17. Jahrhunderts mischten sich Menschen der alten und neuen Welt wie niemals zuvor. Die gegenseitige Befruchtung führte zu einem Goldenen Zeitalter der Wissenschaft und Kunst. In Italien verkündeten Giordano Bruno und Galileo die Existenz anderer Welten. Für ihre Häresie mussten sie allerdings büßen. Doch schon 50 Jahre später wurde der Astronom Christiaan Huygens, der dieselben Ansichten vertrat, in Holland mit Ehren überhäuft.
Licht war das Leitmotiv der Epoche; das Licht der Gedanken- und Religionsfreiheit; das der Forschung, die den Menschen des Planeten brutal klarmachte, dass sie einen einzelnen Organismus bewohnen; das Licht, das die Gemälde dieser Zeit, besonders von Vermeer, so wunderbar macht; und das Licht als Objekt wissenschaftlicher Forschung.
Damals lebten in Amsterdam drei Männer, deren Leidenschaft für Licht sie dazu anregte, Geräte zu erfinden und zu vervollkommnen, die dem Licht etwas scheinbar Unmögliches entlockten. Sie konzentrierten oder streuten Lichtstrahlen durch ein gewölbtes Glas – die Linse. Die Sehhilfe eines Textilhändlers, mit der er die Qualität von Stickereien beurteilte, wurde das Fenster zu verborgenen Welten.
Antoni van Leeuwenhoek enthüllte mit einer einzelnen Linse den Kosmos der Mikrobenwelt. Er untersuchte damit Speichel, Samenflüssigkeit und Teichwasser und entdeckte ganze Gesellschaften von Lebewesen, die bis dahin völlig unbekannt waren.
Sein Freund Christiaan Huygens benutzte zwei Linsen, um Sterne, Planeten und Monde zu sich heranzuholen. Als Erster sah er, dass die Ringe den Saturn nicht berührten, und erkannte ihre wahre Natur. Er entdeckte den Saturnmond Titan, den zweitgrößten Mond unseres Sonnensystems. Er erfand die Pendeluhr und vieles andere wie den Filmprojektor und Zeichentrickfilme. Mit ihm werden wir später auf unserer Reise noch eine ganze Nacht verbringen.
Huygens erkannte in den Sternen andere Sonnen mit eigenen Planeten und Monden. Für ihn bestand das Universum aus unendlich vielen Welten, von denen viele belebt waren. Doch warum gab es in den heiligen Büchern keinen Hinweis darauf? Warum sollte Gott uns das verschweigen? Gott war in diesem Punkt kategorisch: Er erwähnte außer uns keine anderen Kinder.
Während dieser Widerspruch bei den Aufklärern für Unbehagen sorgte, sprach nur einer das Thema offen an. Auch dieser Mann war ein Genie des Lichts. Als der Früchtehandel seines verstorbenen Vaters Bankrott ging, verdiente er seinen Lebensunterhalt mit dem Schleifen der Linsen, mit denen die verborgenen Welten gefunden wurden, die großen wie die kleinen.
Der 1632 geborene Baruch de Spinoza war Mitglied der jüdischen Gemeinde in Amsterdam. Doch mit Anfang Zwanzig begann er, öffentlich von einer neuen Art von Gott zu sprechen. Sein Gott war kein zorniger Tyrann, der vorschrieb, welche Rituale man durchführen, was man essen oder wen man lieben musste. Spinozas Gott war das physikalische Gesetz des Universums. Seinen Gott interessierten keine Sünden, seine Thora war das Buch der Natur.
Die Gemeinde der Amsterdamer Synagoge zeigte sich von diesen Äußerungen, die sie als gottlos empfand, begreiflicherweise entsetzt. Zahlreiche ihrer Mitglieder waren vor der Inquisition und ihren Folterknechten aus Spanien und Portugal geflohen, wo sie gezwungenermaßen konvertieren und häufig hilflos zusehen mussten, wie ihre Angehörigen gequält und ermordet wurden. Amsterdam bot diesen Juden Zuflucht. Spinozas radikale Ideen konnten sie nur als Bedrohung der mühsam errungenen Sicherheit sehen. Sie exkommunizierten den jungen Rebellen und beschlossen, ihn auszustoßen, so wie das unsere Jäger-Sammler-Vorfahren wohl aus anderen Gründen gemacht hätten.
Ihr Dekret von Juli 1656 war eine Umkehrung der Aufforderung im 5. Buch Mose, 6:4,6–7, die ihnen und ihren Vorfahren befiehlt, den Herrn mit allem zu lieben, was sie haben. Ich lernte diese Worte als Kind und erinnere mich noch immer daran.
Höre, o Israel: Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr:
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Und diese Worte, die ich dir an diesem Tag befehle, sollen in deinem Herzen sein:
Und du sollst sie gewissenhaft deinen Kindern lehren, und von ihnen sprechen, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du unterwegs bist und wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst.
Die Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Amsterdam wendeten in ihrem Urteil eine Variation dieser Glaubensformel an, um ihre Wut auf Spinozas »teuflische Ansicht« und »abscheuliche Häresie« auszudrücken: »Verflucht sei er am Tag und verflucht sei er bei Nacht; verflucht sei er, wenn er sich hinlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht. Verflucht sei er, wenn er hinausgeht, und verflucht sei er, wenn er hereinkommt.«
Die Ängste der Gemeinde sind verständlich. Sie hatte auf der iberischen Halbinsel erlebt, wie sich ihre Welt in einen Albtraum verwandelte, und sehnte sich nach Frieden und Akzeptanz. Trotzdem liegt darin eine gewisse Ironie. Die Thora lehrt uns, dass Gott in jeder einfachen Handlung unseres Alltags gegenwärtig ist. Und ist es nicht genau das, was Spinoza meinte, indem er Gott überall sah, in allem – in der gesamten Natur?
Deshalb hegte Spinoza einen Widerwillen gegen Wunder. Im sechsten Kapitel des Theologisch-politischen Traktats von 1670 erläutert er ausführlich, warum er ihre angebliche Bedeutung nicht ertrug. Suche nicht in den Wundern nach Gott, sagt Spinoza. Wunder verstoßen gegen die Naturgesetze. Wenn Gott der Verfasser der Naturgesetze ist, sollte Gott dann nicht am besten darin erkannt werden? Wunder sind Fehldeutungen von Naturereignissen. Erdbeben, Überflutungen, Dürren dürfen nicht persönlich genommen werden. Gott spiegelt nicht die Hoffnungen und Ängste der Menschen wider, sondern ist die schöpferische Kraft hinter dem Universum, der man am besten in der Erforschung der Naturgesetze begegnet.