Unser soziales Gehirn - Nicole Strüber - E-Book

Unser soziales Gehirn E-Book

Nicole Strüber

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Beschreibung

»Wir müssen sozialem Miteinander wieder mehr Raum geben, damit wir körperlich und psychisch gesund bleiben: Let's sync!«Dr. Nicole Strüber Die renommierte Neurobiologin Nicole Strüber erklärt die erstaunlichen Prozesse unseres Gehirns und verdeutlicht, warum Nähe zu anderen Menschen so wichtig ist. Denn ein geregeltes und erfülltes Miteinander nimmt immer weniger Raum in unserem Alltag ein – dies wiederum gefährdet unsere körperliche und psychische Gesundheit. Wir erleben es überall: Kinder in unzureichend betreuten Kitagruppen, auf Effizienz getrimmtes Familienleben,WhatsApp-Nachrichten statt spontanem Besuch, Videokonferenz statt persönlicher Besprechung, mit Stoppuhr ablaufende Arzttermine und Pflegebehandlungen – wir verbringen immer weniger Zeit in einem wirklichen Miteinander. Unser Gehirn benötigt diesen Austausch jedoch. Wir synchronisieren uns, und es werden Botenstoffe wie Oxytocin ausgeschüttet. All dies fördert unsere Entspannung, unsere Gesundheit, unsere Bereitschaft zu Veränderung, unsere Empathie und unser Vertrauen in andere. Und es lässt uns im Miteinander andere verstehen und mit ihnen kooperieren. Miteinander fördert Miteinander: Let's snyc! Nicole Strüber vereint neuestes Forschungswissen mit der aktuellen Situation – und fordert ein politisches und gesellschaftliches Umdenken. 

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Seitenzahl: 422

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Dies ist der Umschlag des Buches »Unser soziales Gehirn« von Nicole Strüber

Nicole Strüber

Unser soziales Gehirn

Warum wir mehr Miteinander brauchen

Klett-Cotta

Lange habe ich nachgedacht, wie ich gendergerecht schreiben kann. Ich habe es versucht, jedoch festgestellt, dass der Einsatz von Sternchen und Co. den Lesefluss erheblich beeinträchtigt. Mit der Doppelform bin ich ebenfalls an meine Grenzen gekommen. Auch die genderneutralen Formulierungen haben nicht funktioniert – mein ohnehin bisweilen wissenschaftlicher Text klang damit wie eine Bedienungsanleitung. Bliebe noch der abwechselnde Gebrauch des generischen Maskulinums und des generischen Femininums. Aber da ich so viele Studien vorstelle, ist dies verwirrend, man fragt sich, ob das, was ich schreibe, nur für Frauen oder nur für Männer gilt. Deshalb habe ich nun das generische Maskulinum verwendet. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass mit den entsprechenden Bezeichnungen alle Menschen gemeint sind.

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: © Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Maskot/GettyImages

Illustrationen Innenteil: © 2024 Henriette Hufgard

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96621-3

E-Book ISBN 978-3-608-12358-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Erster Teil

Warum das Gehirn Miteinander braucht

1 Miteinander – so wichtig!

2 Biochemie des Miteinanders – Oxytocin, Dopamin und Co.

Biochemie der Bindung

Biochemie des sozialen Miteinanders

3 Synchronität im Miteinander – wir verbinden uns

Synchronität des Verhaltens im Experiment: Wir fühlen uns verbunden

Synchronität überall: Physiologie und Gefühle im Gleichklang

Synchronität im Gehirn: Nervenzellen im Gleichklang

Synchronität und Biochemie: Engelskreise

Synchronität im Überblick: Was soll das alles?

4 Persönlichkeit im Miteinander – wir sind unterschiedlich

Unterschiedlich ausgeprägte Oxytocinfreisetzung

Unterschiedliche Bindungsmodelle

Unterschiede im elterlichen Verhalten

Unterschiede in der Anfälligkeit für psychische Erkrankungen

Unterschiedliche Neigung zur Synchronisation

5 Empathie im Miteinander – Mitgefühl, Stress, Burnout

Empathie im Gehirn: Wie geht das?

Empathie als Eigenschaft

Empathie-Overload: Burnoutprävention für Careworker

6 Regulation im Miteinander – gemeinsam zur Ruhe

7 Berührungen im Miteinander – der Schlüssel

Berührungen stimulieren das soziale Gehirn

Berührungen haben langfristige Auswirkungen

Berührungen im Fokus der Forschung

8 Die Gruppe im Miteinander – vorbereitet auf Abgrenzung?

Die Gruppe als Empfänger von Empathie

Die Gruppe als Einheit: Zusammenhalt, Konflikt und Vorurteile

9 Gesund im Miteinander – Oxytocin als »Medizin der Natur«

Gesund durch Oxytocin

Gesund durch Oxytocin: noch ein weiter Weg

Zweiter Teil

In welchen Lebensbereichen unser Gehirn das miteinander braucht

10 Von Anfang an auf gutem Kurs – Miteinander rund um die Geburt

Unsere Welt!

Was tun?

11 Geborgen aufwachsen – Miteinander in der Familie

Unsere Welt!

Was tun?

12 Krippe, Kita, Schule, Jugendhilfe – Miteinander außer Haus

Unsere Welt!

Was tun?

13 Zusammen glücklich – Miteinander in der Partnerschaft

Unsere Welt!

Was tun?

14 Geborgen unter Freunden – Miteinander in freundschaftlichen Beziehungen

Unsere Welt!

Was tun?

15 Zusammenarbeit zahlt sich aus – Miteinander im Business

Unsere Welt!

Was tun?

16 Verschiedene Wege führen zum Ziel – Miteinander der Kulturen

Unsere Welt!

Was tun?

17 Menschlichkeit heilt – Miteinander in der Arzt-Patienten-Beziehung

Unsere Welt!

Was tun?

18 Therapeutische Allianz – Miteinander in Therapie und Beratung

Unsere Welt!

Was tun?

19 Glücklich bis zum Schluss – Miteinander in der Pflege und in der Prävention von Demenz

Unsere Welt!

Was tun?

20 Gesellschaft im Miteinander – wo stehen wir?

Dank

Anmerkungen

1 Miteinander – so wichtig!

5 Empathie im Miteinander – Mitgefühl, Stress, Burnout

8 Die Gruppe im Miteinander – vorbereitet auf Abgrenzung?

10 Von Anfang an auf gutem Kurs – Miteinander rund um die Geburt

11 Geborgen aufwachsen – Miteinander in der Familie

12 Krippe, Kita, Schule, Jugendhilfe – Miteinander außer Haus

13 Zusammen glücklich – Miteinander in der Partnerschaft

14 Geborgen unter Freunden – Miteinander in freundschaftlichen Beziehungen

15 Zusammenarbeit zahlt sich aus – Miteinander im Business

16 Verschiedene Wege führen zum Ziel – Miteinander der Kulturen

17 Menschlichkeit heilt – Miteinander in der Arzt-Patienten-Beziehung

18 Therapeutische Allianz – Miteinander in Therapie und Beratung

19 Glücklich bis zum Schluss – Miteinander in der Pflege und in der Prävention von Demenz

Literatur

Register

Erster Teil

Warum das Gehirn Miteinander braucht

Wir erleben es in vielen Lebensbereichen: Kinder in schlecht betreuten Kitagruppen, auf Effizienz getrimmtes Familienleben, WhatsApp statt spontanem Besuch in freundschaftlichen Beziehungen, Videokonferenz statt persönlicher Besprechung im Job, mit Stoppuhr ablaufende Arzttermine und Pflegebehandlungen – wir verbringen immer weniger Zeit in einem wirklichen Miteinander. Unser Gehirn benötigt dieses Miteinander jedoch, um eine hohe körperliche und psychische Gesundheit gewährleisten zu können.

In diesem Miteinander werden Oxytocin und andere Botenstoffe ausgeschüttet. Oxytocin fördert unsere Entspannung, unsere Kreativität, unsere Bereitschaft zu Veränderung, unsere Empathie(1), unser Vertrauen in andere, unsere Fähigkeit, deren Gefühle zu lesen und unsere eigenen auszudrücken. In diesem von Oxytocin getragenen Zustand synchronisieren wir uns mit unserem Gegenüber: Nonverbale Kommunikation, Herzfrequenz, EEG-Wellen, der endokrine Zustand – all dies wird in Momenten des vertrauten Miteinanders aneinander angepasst und erlaubt uns Beteiligten, uns wahrzunehmen, zu verstehen, zu kooperieren und auch uns zu verändern, etwa dysfunktionale Verhaltensmuster und Gewohnheiten abzulegen. Gleichzeitig wird infolge der Synchronität mehr Oxytocin ausgeschüttet, es entstehen Engelskreise einer gelingenden Interaktion.

Das im Miteinander ausgeschüttete Oxytocin fördert jedoch nicht nur glückliche Beziehungen und die Veränderungsfähigkeit des Einzelnen, sondern – wie zahlreiche aktuelle Studien zeigen – auch die körperliche und psychische Gesundheit. Es wirkt entzündlichen Prozessen entgegen, schützt vor Herz- und Kreislauferkrankungen, wird im Hinblick auf die Behandlung von Krebserkrankungen erforscht, hat Potenzial im Kampf gegen Demenz(1) und unterstützt die Wirkung von Placebos(1). Demgegenüber ist die Funktion von Oxytocin bei vielen psychischen Erkrankungen vermindert und auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit wird in der medizinischen Forschung große Hoffnung auf eine therapeutische Einsetzbarkeit dieses Stoffes gesetzt.

Obwohl Oxytocin in Form eines Nasensprays künstlich zugeführt werden kann, und diese Verabreichung in der Forschung umfangreich eingesetzt wird, ist das therapeutische Potenzial dieser Anwendung aufgrund zahlreicher methodischer Schwierigkeiten begrenzt. Wir können die körpereigenen Prozesse noch nicht nachbilden.

Aber eigentlich muss dies auch gar nicht sein. Die evolutionäre Entwicklung des Menschen hat vorgesorgt: Sie hat einen äußerst komplizierten Apparat geschaffen, der dafür sorgt, dass wir in einem Umfeld des sozialen Miteinanders reifen und körperlich und psychisch gesund bleiben können: Unser soziales Gehirn. Unser Gehirn, das einen großen Teil seiner Kapazitäten eben nicht nur dem Denken und anderen kognitiven Operationen widmet, sondern viel Energie darauf verwendet, uns in unserer sozialen Welt navigieren und reifen zu lassen. Unser soziales Gehirn liebt Berührungen und Umarmungen und es liebt vertrauliche Gespräche. Dadurch schüttet es Oxytocin aus und lässt diesen Stoff seine zahlreichen positiven Wirkungen entfalten.

Die biologischen Mechanismen sind also da – aber ohne funktionierendes Miteinander liegen sie brach. Im schlimmsten Fall werden wir krank, körperlich und psychisch. Wenn wir gesund bleiben wollen, müssen wir umdenken, wieder beginnen, gehirngerecht zu leben und dem Miteinander einen größeren Stellenwert einzuräumen. Wir haben uns abgewöhnt, ruhige Momente des gemeinsamen Nichtstuns mit Kindern zu genießen, mal eben mit der Freundin zu telefonieren oder bei der Nachbarin zu klingeln, mit dem Partner spazieren zu gehen, ohne weitere Ablenkung kuschelnd auf dem Sofa zu liegen oder mit Kunden entspannt über den Alltag zu reden.

Und nicht wenigen ist das Fehlen des Miteinanders bereits auf das Gemüt geschlagen. Oder, um es mit Blick auf das Gehirn auszudrücken: Ihre neurobiologischen Mechanismen des Miteinanders, ihr Oxytocinsystem, ihre Fähigkeit zur Synchronität wurden durch das anhaltende Fehlen des Miteinanders heruntergefahren. Es gelingt ihnen daraufhin weniger gut, Miteinander aufzubauen und sich darin zu entspannen.

Auch die Politik hat sich abgewöhnt, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem Miteinander Zeit und Raum geben. Therapeutische Beratung wird im Minutentakt abgerechnet, ebenso die Versorgung psychisch und körperlich erkrankter, pflegebedürftiger und von Demenz(2) betroffener Personen. Ausbildungen und Tätigkeiten im Bereich Erziehung, Bildung, Betreuung und Pflege(1) sind wenig lukrativ, der Fachkräftemangel wird immer größer. Eine Investition in all diese Bereiche dürfte sich vor dem Hintergrund der physiologischen Notwendigkeit des herzlichen Miteinanders mehr als auszahlen.

Aber nicht nur die Politik ist in der Verantwortung. Wir selbst sollten uns die Wichtigkeit des Miteinanders vor Augen führen, wir selbst sollten umdenken, mehr Miteinander in unseren Alltag integrieren und versuchen, die Politik so mitzugestalten, dass bessere Bedingungen für mehr Miteinander geschaffen werden. Für uns, für unsere Kinder und auch für diejenigen, die bereits unter dem Fehlen des Miteinanders leiden und die nun therapeutische Hilfe benötigen.

Im ersten Teil des Buches stelle ich unser soziales Gehirn vor. Es wird darum gehen, wie das emotionale Band im Gehirn verankert wird, welche Wirkungen Stoffe wie Oxytocin auf uns ausüben und wie sehr unser soziales Gehirn es schätzt, sich mit anderen Menschen zu synchronisieren und in diesem biologischen Gleichklang zu kommunizieren und zu kooperieren. Es wird deutlich werden, dass das gemeinsame Schwingen uns ermöglicht, Empathie(2) für andere zu empfinden, uns aber auch zu Gruppen zusammenschweißt. Und uns mitunter andere ausgrenzen(1) lässt. Ich beschreibe, dass wir uns in unserer Neigung zum Miteinander und in unseren sozialen Fähigkeiten unterscheiden, dass aber das Bedürfnis nach Miteinander, nach vertrauensvollen Gesprächen, Nähe und Berührungen tief in uns verankert ist. Ich stelle unser soziales Gehirn als ein Organ vor, das an ein Leben im Miteinander angepasst ist, sich im Miteinander entwickelt, reguliert, regeneriert und gesund hält und dessen größtes Potenzial seine herausragenden sozialen Fähigkeiten sind.

Im zweiten Teil nehme ich Lebensbereiche in den Fokus, in denen wir Miteinander brauchen, in denen uns dieses aber – Tendenz zunehmend – fehlt. Vom Kreißsaal über Familie, Krippe, Schule, Jugendhilfe, Partnerschaft, Freundschaftsbeziehungen, Business, Medizin, Therapie bis hin zur Pflege(2) – der Blick auf unseren Alltag in all diesen Lebensbereichen legt nahe, dass wir auf dem falschen Weg sein könnten.

Wir sollten unser soziales Gehirn nicht vergessen. Es hat uns zuverlässig durch die Evolution getragen, es wäre beleidigt, wenn wir es nun ignorieren.

1 Miteinander – so wichtig!

Ich sitze auf einer Bank und schaue auf das Wattenmeer, genieße die Ruhe und den weiten, unverstellten Blick, während ich über dieses Kapitel nachdenke und Ideen in mein Smartphone(1) diktiere. Ich denke daran, dass für uns Menschen nicht nur Nahrung und Wärme überlebensnotwendig sind, sondern auch vertrauensvolle Begegnungen mit anderen Menschen, das Zusammensein in Gruppen. In der Nähe zupfen einige Kühe, unbeeindruckt von Fragen des Seins, das saftige Gras ab. Auch sie stehen in der Gruppe zusammen. Zwei Frauen schlendern den Weg entlang, bleiben vor den Kühen stehen und versuchen Kontakt aufzunehmen. Eine Kuh blickt auf, schaut sie an und muss wohl eine Grimasse schneiden, denn ich höre lautes Gelächter. Die beiden fotografieren die noch immer unbeeindruckte Kuh. Sie haben Spaß, wie man ihn nur in einem solchen Moment der Gemeinsamkeit erlebt.

Warum ist das Miteinander so wichtig? Es heißt, Miteinander fördere das Wohlgefühl, Hoffnungen angesichts von Unglück, die körperliche Gesundheit und ein besseres Älterwerden. Soziale Isolation hingegen bewirke Stress, Gesundheitsstörungen und einen vorzeitigen Tod. Das klingt einflussreich, aber auch statistisch.

Blicken wir in unseren Alltag: Wie viele Situationen gibt es, in denen wir schlicht und einfach körperliche Hilfe benötigen? Einen anderen Menschen, der uns etwas Schweres trägt, der etwas repariert, der auf die Kinder aufpasst, der uns ein Pflaster auf eine unerreichbare Stelle am Rücken klebt. Hilfreich ist das Miteinander auch, wenn wir vor einem Problem stehen. Erzählen wir anderen von unseren Schwierigkeiten, dann strukturieren wir die Angelegenheit im Gespräch und finden Worte, unser Problem zu beschreiben. Manchmal muss der andere gar nichts sagen, er muss nur nicken und lächeln, und wir haben eine Lösung. Wir haben es uns selbst erklärt. Das zuhörende Gegenüber war jedoch Voraussetzung.

In anderen Situationen wollen wir lediglich unser Herz ausschütten, wir erwarten keine Lösung, wohl aber ein paar zugewandte Worte, Trost, Zuneigung, das Gefühl, nicht allein zu sein. Das kann auch in Alltagsbegegnungen gegeben sein, in denen es nur um die kleinen Unzulänglichkeiten des Lebens geht. Im Gespräch an der Bushaltestelle über das seit Wochen dunkle und verregnete Wetter oder auch im Wortwechsel mit Kollegen, anderen Eltern, anderen Patienten, oder mit wem auch immer wir uns gerade in einer ähnlichen Lebenssituation befinden. Wir tauschen uns aus. Über den ungerechten Chef, die anstrengenden Kinder, die Belastungen durch die Erkrankung. Die Gespräche lassen uns die kleinen Missstände im Alltag besser aushalten.

Als ich kürzlich auf der Rückreise von einem Vortrag abends unwetterbedingt in einem Bahnhof gestrandet bin, fühlte ich mich sehr allein. Keine Bahn wollte mich in meine Heimatstadt führen, kein Hotel hatte noch Betten zur Verfügung. Ich fühlte, wie sich meine Tränen in Bereitschaft sammelten. Nach vielen Telefonaten, einer fast vergeblichen Taxisuche und einer bedrohlich nachlassenden Akkuleistung meines Handys fand ich zu später Stunde schließlich Unterschlupf in einer gerade nicht genutzten Wohnung eines Freundes. Ich war völlig erschöpft. Man könnte meinen, ich habe nun schlafen und mich ausruhen wollen. Fehlanzeige. Über Stunden telefonierte ich, erzählte Freunden von meinem Erlebnis. Es ging mir immer besser. Miteinander ist wichtig. In guten Zeiten, um das Gute zu genießen, und in schlechten, um das Unglück auszuhalten. Wir Menschen brauchen das Miteinander, um uns gegenseitig zu helfen, um uns selbst besser zu verstehen, um Halt zu finden und um psychische Sicherheit zu fühlen.

Wenn es uns verwehrt bleibt, ein intensives Miteinander in unserem Alltag zu erleben, weil es uns nicht gelingen will, intensive und erfüllende Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, oder schlicht auch, weil wir in eine andere Stadt gezogen sind und noch keine Freunde gefunden haben, oder aus anderen Gründen unsere Beziehungen nicht für uns verfügbar sind, dann fühlen wir oft eine innere Leere.

Einige von uns haben es sich auch abgewöhnt, in sich hineinzufühlen. Sie wehren das Bedürfnis nach Bindungen ab und spüren es gar nicht mehr bewusst. Sie funktionieren, schlafen, stehen auf, frühstücken, arbeiten, essen zu Abend, schauen Fernsehen und schlafen. Sie achten nicht auf ihre Gefühle, werden jedoch oft von Störungen der psychischen Befindlichkeit übermannt, von Zwängen, Ängsten, Depressionen(1).

Ein vertrautes Miteinander benötigen wir von Beginn an. Für kleine Kinder ist es sogar überlebensnotwendig. Ohne Miteinander sterben sie. Das zeigen schauerliche Experimente aus vergangenen Zeiten: Um zu untersuchen, ob es eine Ursprache gibt, die ein Mensch spräche, wenn er ohne Kontakt zu anderen aufwüchse, sollen im 7. Jahrhundert vor Christus Pharao Psammetich und im 13. Jahrhundert Kaiser Friedrich II. Versuche unternommen haben, Kinder ohne Kommunikation aufwachsen zu lassen. Ammen hatten die Kinder stillen, baden und trockenlegen dürfen, ohne sie jedoch zu liebkosen oder mit ihnen zu sprechen. Den Überlieferungen zufolge überlebte keines der Kinder.[1]

Kinder kommen unfertig und hilflos auf die Welt, sie müssen nicht nur versorgt werden, sondern benötigen die Nähe fürsorglicher Bindungspersonen. Entsprechend ist das Gehirn dahingehend vorverdrahtet, dass schon das Neugeborene auf soziale Signale achtet, lieber ein Gesicht anschaut als andere Muster und lieber einen menschlichen Daumen greift als ein Stück Holz. Der Säugling ist biologisch auf das Leben im sozialen Miteinander vorbereitet. Der Anthropologe Michael Tomasello (2020, S. 3) schreibt:

»Die einzigartigen sozial-kognitiven Fähigkeiten menschlicher Säuglinge sind mit ziemlicher Sicherheit Anpassungen an das Leben in einer kulturellen Gruppe, das heißt an ein Leben, in dem die Individuen sich auf unzählige Arten koordinieren, kommunizieren und voneinander lernen müssen, um sich normal entwickeln zu können.«

Unser soziales Gehirn bringt genetisch verankerte Voreinstellungen mit, die unsere Aufmerksamkeit(1) auf die soziale Welt lenken und die uns dazu anhalten, mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu kooperieren und uns zu verbinden. Wie wir dies tun, wie wir uns entwickeln, ist bekanntlich individuell unterschiedlich, und unser soziales Gehirn zeichnet sich durch eben diese Eigenschaft aus: Es kann sich an eine Vielzahl sozialer Umwelten anpassen.

Nun wollen wir uns diese Voreinstellungen ansehen. Zunächst schauen wir auf die Welt der Stoffe, auf die Biochemie des Miteinanders. Dann geht es um die Neigung des Gehirns, sich mit anderen zu synchronisieren.

2 Biochemie des Miteinanders – Oxytocin, Dopamin und Co.

Eben rief mich einer meiner Söhne an, erzählte von einem ziemlich verzwickten Konflikt mit seinem Zwillingsbruder. Mein Sohn war aufgebracht, gestresst. Ich versuchte in abwechselnden Telefonaten mit den beiden zu vermitteln. Mit jeder Minute, die ich mich mehr in diese Diskussion verstrickte, stieg die Konzentration an Stresshormonen(1) in meinem Blut. Ich spürte es. Gleichzeitig wusste ich: Meine beiden brauchen mich gerade. Bald hatte ich das Gefühl, mein Blut würde vor lauter Stresshormonen(2) beginnen zu blubbern. Ich war kurz davor, mich selbst zu streiten und beendete das Telefonat. Nun spürte ich mein eigenes Bedürfnis, mit jemanden zu reden, über diesen Streit meiner Kinder und über die Aussichtslosigkeit meiner Vermittlungsversuche.

Immer dann, wenn irgendetwas Wichtiges in unserer Umwelt oder in uns selbst passiert, werden im menschlichen Gehirn Stoffe ausgeschüttet, die die Arbeitsweise unseres Gehirns beeinflussen, sogenannte neuromodulatorisch wirksame Stoffe. Sie beeinflussen, wie wir uns fühlen und wie wir auf unsere Welt reagieren. Bei einem Streit machen sie uns konzentriert, in der Konfrontation mit Gefahren wachsam, sie lassen uns einander vertrauen oder motivieren uns zu Handlungen, wenn eine Belohnung winkt. In Situationen des Miteinanders ist vor allem ein Stoff wichtig: das Oxytocin.

Wenn ich mit meiner Freundin im Restaurant sitze, wir beide uns berichten, wie es uns jenseits von Smalltalk und Freundlichkeiten wirklich geht oder wenn ich ihr von meinen Diskutier-Zwillingen erzähle, dann schütten wir Oxytocin aus. Wir merken es zwar nicht, aber das Oxytocin steuert uns durch diese soziale Situation. Wir alle kennen diese Bubble. Wir reden mit jemandem, zunächst bleibt die Unterhaltung an der Oberfläche, »schönes Wetter heute«, »unglaublich, wie voll es hier ist«, etwas später gewinnt das Gespräch an Tiefe. Wie läufts im Job, was macht der Nachwuchs, die Eltern, das Knie? Vielleicht sind auch ein paar Schwierigkeiten Thema. Wir öffnen uns, vertrauen einander: Und schwups sind wir in der Bubble. Unsere Aufmerksamkeit(2) ist voll auf unser Gegenüber gerichtet. Wir bekommen nicht mehr mit, was um uns herum geschieht. Würde uns jemand beobachten, dann fiele ihm auf, dass wir häufig die gleichen Bewegungen machen. Uns gleichzeitig durch die Haare fahren, gleichzeitig einen Schluck aus unserem Glas nehmen. Typisches Bubble-Verhalten eben.

Auch wenn gefühlte Bubbles wissenschaftlich nicht gut untersucht werden können, dürfte dieses Gefühl, sich miteinander in einer Bubble zu befinden, mit einer erhöhten Oxytocinfreisetzung einhergehen. Denn gezeigt hat die Wissenschaft, dass vertrauensvolle Gespräche von einer solchen begleitet werden.

In populären Medien wird das Oxytocin oft als Bindungshormon bezeichnet. Es fördert den Aufbau von Bindungsbeziehungen und wurde besonders intensiv im Hinblick auf seine Rolle beim Aufbau der Eltern-Kind-Beziehung beforscht. Über diese Rolle als vereinender Klebstoff hinaus beeinflusst das Oxytocin jedoch auch grundsätzlich, wie wir soziale Situationen erleben und uns darin verhalten. Es ist nicht nur ein Bindungshormon, sondern auch ein Sozialhormon. Auf diese beiden Funktionen und weitere beteiligte Stoffe wollen wir nun im Detail schauen.

Hinweis: In den letzten Jahren wurde deutlich, dass in der Forschung häufig nur eines der Geschlechter in den Fokus genommen wurde, dass etwa Medikamente nur an Männern erprobt wurden oder elterliches Verhalten vor allem am Beispiel der Mütter erforscht wurde. Der Stoff Oxytocin wird sowohl bei Männern als auch bei Frauen ausgeschüttet und sicherlich, wenngleich dies meines Wissens unerforscht ist, auch bei non-binären Personen – wobei fraglich ist, ob im Falle künftiger Einbindung in die Forschung ausreichend große Stichprobengrößen zusammenkommen würden. Der Stoff fördert sowohl bei Männern als auch bei Frauen die soziale Wahrnehmung und das angemessene Verhalten im sozialen Miteinander und hat bei beiden weitere Funktionen, auf die ich später eingehen werde. Dennoch kann er bei Männern und Frauen auch unterschiedliche Wirkungen haben, etwa auf den Umgang mit ihrem Kind – wie wir gleich sehen werden. Auch die Höhe der Oxytocinfreisetzung und die Verteilung der Rezeptoren, die den Stoff nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip binden, unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern. Hinzu kommt, dass sich Freisetzung und Wirkung bei Frauen auch innerhalb des monatlichen Zyklus unterscheiden und zudem in verschiedenen Lebensphasen, etwa Schwangerschaft, Mutterschaft und Wechseljahren, verschieden sind. So kann beispielsweise in den Wechseljahren eine Verringerung der Oxytocinfreisetzung für viele Wechseljahresbeschwerden verantwortlich sein. Auch empfängnisverhütende Mittel können die Oxytocinfreisetzung beeinflussen. So kann es geschehen, dass in einer Studie Geschlechtsunterschiede(1) in der Oxytocinfreisetzung gefunden werden, diese aber nach Berücksichtigung der Verabreichung dieser Mittel nicht mehr vorhanden sind. All diese Unterschiede und Eventualitäten werden nicht Fokus dieses Buches sein, und ich werde mitunter verallgemeinern, um grundlegende Prozesse transportieren zu können.

Biochemie der Bindung

Bekannt ist Oxytocin für seine Wirkung unter der Geburt(1). Es wird im Körper der werdenden Mutter ausgeschüttet und fördert die Kontraktionen der Gebärmutter. Das Kind wird geboren. Auch unmittelbar nach der Geburt wird es ausgeschüttet, sowohl bei der Mutter als auch beim Kind. Es hilft beiden, sich vom Stress der Geburt zu erholen, sich aufeinander einzulassen und langsam eine Bindung aufzubauen. Und wenn der Vater hinzukommt, schüttet auch sein Gehirn Oxytocin aus, er beginnt, sich an das Kind zu binden (siehe Strüber 2024).

Auch jenseits der Geburt(2) wird das Oxytocin im Miteinander von Eltern und Kind in den Gehirnen aller Beteiligten ausgeschüttet: beim Kuscheln, in Situationen gegenseitiger Hautberührungen, beim Stillen, im vertrauensvollen Miteinander und im Spiel von Eltern und Kind. Im elterlichen Gehirn fördert es deren elterliches Verhalten.

Während nun Eltern und Kind oder auch eine andere Bezugsperson und das Kind miteinander umgehen, während sie kuscheln, spielen oder auch mal unterschiedlicher Meinung sind – etwa, wenn das Kind gestillt werden möchte, die Mutter aber gerade Auto fährt –, dann beginnen sie, eine Bindung miteinander aufzubauen. Es wird fest abgespeichert, dass man zueinander gehört. Das Kind lernt, wer für es da ist, wer es schützt, wer es mit Nahrung versorgt und wer ihm Liebe schenkt. Die Eltern haben im Idealfall ein tiefes Gefühl der Verantwortung für das Kind und sind hochmotiviert, für es zu sorgen.

Neben Oxytocin spielt auch der Stoff Dopamin(1) eine Rolle für den Aufbau der Bindung. Dopamin(2) gehört zum Belohnungssystem des Gehirns und signalisiert uns, was gut für uns ist. Nehmen wir bewusst oder unbewusst etwas wahr, dass wir mit einem schönen Erlebnis verbinden, zum Beispiel ein Café, in dem wir eine besonders gute Cremetorte gegessen haben, dann wird von Zellen im sogenannten Striatum Dopamin(3) ausgeschüttet. Bei mir selbst ist es nicht nur eine cremige Torte, die mein Dopamin(4) zum Sprudeln bringt, sondern auch Käse, Wein, Musik und vieles weitere. Bei anderen sind es Sammelobjekte: Comics, Bücher, Schallplatten, Barbiepuppen, Münzen, Bilder von Zügen, marokkanische Teegläser, Nachttöpfe – die Auswahl ist endlos. Sieht man das Objekt der Begierde, geht es los: Das Dopamin(5) tritt den Kampf mit dem Portemonnaie an und gewinnt nicht selten.

Wenn es gewinnt und wir die Belohnung in den Händen halten, dann werden körpereigene Opioide(1), etwa die Endorphine(1), ausgeschüttet. Auch die Opioide(2) gehören zum Belohnungssystem, sie bringen das »Mögen«, das »Genießen« hervor. Dopamin(6) hingegen das »Wollen«. Es motiviert uns, uns so zu verhalten, dass wir Belohnungen erhalten, ein schönes Ereignis wiedererleben. Auch in weniger prägnanten Situationen motiviert das Dopamin(7) unser Handeln. Habe ich eine Haarsträhne im Gesicht, motiviert es mich, diese Haarsträhne zur Seite zu schieben. Und es motiviert mich auch, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn ich im kalten Winter morgens um sieben auf dem Weg zur Arbeit bin. Schließlich ist es schön warm dort, und am Ende des Monats kommt das Gehalt.

Zurück zum Aufbau der Bindungsbeziehung. Das Zusammenwirken dieser Stoffe verankert nicht nur die Bindungsbeziehung von Eltern und Kind im Gehirn, sondern auch weitere Beziehungen, in denen wir uns anderen verbunden fühlen: Geschwister, romantische Partner, enge Freunde. Wenn unser soziales Gehirn lernt, wer gut für uns ist, mit wem wir also eine Bindung eingehen sollten, dann wirken Oxytocin, Dopamin(8) und die Opioide(3) zusammen. Oxytocin wird im Miteinander ausgeschüttet und aktiviert das Dopaminsystem(9). Das Erleben des Miteinanders mit der Person, in deren Beisein Oxytocin ausgeschüttet wird, erhält den Stempel »Das ist schön« verbunden mit der Motivation, das Miteinander zu wiederholen. Genauso wie in unserem Gehirn unbewusst eine Verknüpfung zwischen der Torte und einer effizienten Kalorienversorgung hergestellt wird, und wir weiterhin motiviert sind, Torte zu essen, entsteht eine Assoziation der Bindungsperson mit dem Gefühl des Wohlbefindens. Wir sind motiviert, mit dieser Person Zeit zu verbringen, haben in unserem unbewusst arbeitenden Gehirn abgespeichert, dass sie uns guttut, wir fühlen uns verbunden.

Auch die körpereigenen Opioide(4) sind an diesem Prozess beteiligt. Sie liegen den Zufriedenheitsgefühlen zugrunde, die mit sozialer Bindung verbunden sind. Fehlen sie, dann sind wir traurig und fühlen uns einsam.

Im Detail: Opioide(5) sind körpereigene Stoffe mit einer opiatähnlichen Wirkung. Eine Wirkung dieser Stoffe ist die Minderung der Schmerzempfindung. Die schmerzhemmende Wirkung erstreckt sich nicht nur auf körperlichen, sondern auch auf seelischen Schmerz, etwa bei sozialer Ablehnung und Ausgrenzung(2). Die bekanntesten körpereigenen Opioide(6) sind wohl die Endorphine(2). Sie fördern durch ihre Bindung an eine bestimmte Klasse von Rezeptoren (die μ-Rezeptoren) das Wohlgefühl eines Individuums in seiner sozialen Umwelt. Sie dürften auch dafür verantwortlich sein, dass es schmerzlindernd wirken kann, wenn man das Bild des Partners betrachtet. Wenn man traurig ist, scheint dies hingegen mit einer verringerten Bindung der Endorphine an ihre Rezeptoren einherzugehen (für eine Übersicht siehe Roth und Strüber 2018).

Wenn in unserem Gehirn etwa aufgrund einer individuellen Veranlagung nur wenige Opioide(7) wirksam sind, wenn wir also weniger davon ausschütten oder weniger Rezeptoren haben, dürften wir ein erhöhtes Bedürfnis nach Nähe haben. Auch wenn in einem Experiment ein Medikament (Naltrexon) verabreicht wird, das den Rezeptor für die Opioide(8) chemisch blockiert, sodass die Stoffe nicht wirken können, haben die Versuchspersonen weniger das Gefühl, dass sie mit anderen verbunden sind (Inagaki et al. 2016). Ohne Opioide(9) fühlen wir uns leer, unverbunden, und wir wollen Nähe. Eine hohe Wirksamkeit der Opioide(10) scheint uns hingegen eine Zufriedenheit im Hinblick auf die sozialen Kontakte zu vermitteln. Wir fühlen uns verbunden mit anderen, geborgen, aufgefangen in unserer sozialen Welt.

Sind wir in unserer Bubble des vertrauensvollen Miteinanders mit anderen, dann aktiviert das ausgeschüttete Oxytocin die Opioidfreisetzung. Ein Mangel beider Stoffe kann deshalb Gefühle der Einsamkeit(1) hervorbringen. In Kapitel 19 stelle ich Studien vor, in denen die experimentelle Stimulation der Oxytocinfreisetzung oder auch die Verabreichung von Oxytocin dieses Gefühl verringern konnte.

Wie man inzwischen weiß, ist ein weiteres Puzzleteilchen in der Biochemie der Bindung das sogenannte Vasopressin(1). Dieser Stoff, der eher für seine Wirkung in der Regulation des Wasserhaushaltes bekannt ist, ist dem Oxytocin sehr ähnlich und gilt ebenfalls als Bindungshormon. Beide Stoffe haben ihre eigenen Bindungsstellen, ihre eigenen Rezeptoren, an die sie nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip binden. An späterer Stelle in diesem Buch wird jedoch eines wichtig: Das Oxytocin kann dann, wenn seine eigenen Rezeptoren besetzt sind, auch an den Vasopressinrezeptor(2) binden. Das ist ungefähr so, als würde man mit Sorgen zu einer besten Freundin gehen und dann, wenn die beste Freundin keine Zeit hat, bei der zweitbesten klingeln. Wenn Oxytocin an den Vasopressinrezeptor(3) bindet, dann wirkt es so wie das Vasopressin. Klar, wenn man bei der zweitbesten Freundin klingelt, öffnet ja nicht die erstbeste.

Richtig kompliziert wird die Angelegenheit dadurch, dass die Oxytocinrezeptoren und die Vasopressinrezeptoren(4) teilweise gegensätzliche Wirkungen haben. Oxytocin verringert Angst(1) und Stress, es beruhigt uns und fördert auch, dass man beispielsweise gelerntes Angstverhalten ablegen kann, während Vasopressin(5) Angst und Stress, aber auch Aggressivität(1) verstärkt, und auch gelerntes Angstverhalten verfestigt (Huber et al. 2005). Wenn Oxytocin also an die Vasopressinrezeptoren(6) bindet, dann könnte uns dies aufregen statt beruhigen. Denken wir an unsere Freundinnen, können wir uns vorstellen, dass die erstbeste uns in den Arm nimmt und unsere Sorgen beruhigt, die zweitbeste uns hingegen aufstachelt.

Schauen wir auf unser Verhalten in Bindungsbeziehungen, dann wird angenommen, dass Oxytocin eher die »passiven« Aspekte der Verbundenheit fördert, also die zärtliche, beruhigende Seite, während Vasopressin(7) tendenziell die mobilisierte, besitzergreifende und in manchen Fällen aggressivere(2) Seite der Verbundenheit aktiviert – so etwa schützende Verhaltensweisen (Carter 2017). Tiermodelle deuten darauf hin, dass Vasopressin(8) ein wenig mehr das männliche Verhalten in Bindungsbeziehungen beeinflusst als das weibliche.

Biochemie des sozialen Miteinanders

Im Hinblick auf die Biochemie, die uns die Anforderungen unserer sozialen Welt bewältigen lässt, wurde vor allem das Oxytocin untersucht. Es wird im Miteinander ausgeschüttet, bindet an seine Bindungsstellen und hat zahlreiche Wirkungen. Eine sehr wichtige Wirkung besteht darin, dass es dann, wenn es im Miteinander mit anderen ausgeschüttet wird, unsere Stresshormonfreisetzung hemmt. Es ist hiermit das physiologische Korrelat von Trost. Wir können uns im Miteinander mit anderen beruhigen und entspannen. Kinder fühlen sich aufgefangen, wenn sie gehalten werden, und auch wir Erwachsene fühlen uns besser, fühlen uns geborgen, wenn wir infolge eines vertrauensvollen Gespräches oder einer Umarmung Oxytocin freisetzen.

Aus der Forschung: In verschiedenen Studien konnte diese stresshemmende Wirkung des Oxytocins demonstriert werden. So etwa in einer Studie der University of Wisconsin. Die Forscher setzten Mädchen im Grundschulalter dem Stress aus, vor einem kritisch beurteilenden Publikum eine Präsentation zu halten und schwierige Rechnungen durchzuführen. Die Mädchen schienen diese Aufgaben tatsächlich als stressig zu erleben, denn es kam beim ihnen zu einem Anstieg der Konzentration des Stresshormons Cortisol(1). Durften die Mädchen jedoch direkt nach den Aufgaben ihre Mutter kontaktieren, und da reichte schon ein Anruf, dann schütteten sie Oxytocin aus, und die Cortisolfreisetzung wurde schnell reduziert. Das im Miteinander ausgeschüttete Oxytocin schien eine beruhigende Wirkung gehabt zu haben (Seltzer et al. 2010).

In einer anderen Studie wurden Männer dem Stress unterzogen, vor einem kritischen Publikum eine Rede halten sowie Rechenaufgaben durchführen zu müssen. Einige der Versuchspersonen waren vor dem Test von ihrem besten Freund unterstützt worden, andere nicht. In beiden Gruppen hatten zudem einige Oxytocin per Nasenspray erhalten und andere ein Placebo(2), sodass insgesamt vier Bedingungen untersucht wurden. Es zeigte sich: Durften die Versuchspersonen ihre Zeit vor dem Stress gemeinsam mit ihrem besten Freund verbringen oder erhielten sie per Nasenspray Oxytocin, dann schütteten sie anschließend weniger Cortisol(2) aus als diejenigen ohne diese Unterstützung. Sie waren zudem weniger ängstlich(2). Interessanterweise ging die Kombination von Oxytocin-Nasenspray und sozialer Unterstützung mit den niedrigsten Cortisolwerten sowie einer höheren Gelassenheit und einer geringeren Ängstlichkeit einher (Heinrichs et al. 2003).

Heutzutage weiß man: Oxytocin bindet an seine Rezeptoren im Hypothalamus und hemmt dort nach einer Reihe von Zwischenschritten die Freisetzung von Stresshormonen(3). Es handelt sich hierbei um einen grundlegenden Mechanismus, der sogar bei Nagetieren wirksam ist.

Diese stresshemmende Wirkung des Oxytocins dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass wir nach Konflikten oder anderen stressreichen Ereignissen am liebsten mit uns Nahestehenden sprechen möchten.

Oxytocin hat zahlreiche weitere Wirkungen, die uns ermöglichen, unser soziales Leben zu bewältigen. In der Forschung wird es per Nasenspray verabreicht und aus den Folgen der Verabreichung für das Verhalten auf die Wirkungen geschlossen. Zunächst hieß es infolge dieser Experimente, Oxytocin würde prosoziales Verhalten fördern – es würde uns sozialer machen, altruistischer, unsere Kooperation und Empathie(3) fördern. Es zeigte sich aber auch, dass es so einfach nicht ist. Denn Oxytocin kann mitunter auch eine gegenteilige Wirkung haben. Es fördert etwa Schadenfreude oder auch Aggressionen(3) (siehe Kapitel 8).

Die israelischen Psychologen Simone Shamay-Tsoory und Ahmad Abu-Akel (2016) formulierten daraufhin die sogenannte »Social Salience Hypothese« des Oxytocins. Hiernach könnte es eine wesentliche Funktion des Oxytocins sein, die Aufmerksamkeit(3) auf soziale Reize zu lenken – in positiven kooperativen Situationen erhöht es die Aufmerksamkeit(4) für positive soziale Reize und in kompetitiven Settings richtet es den Fokus auf potenzielle Bedrohungen aus.

Entsprechend verstärkt Oxytocin auch den Fokus darauf, ob Menschen vertrauenswürdig sind. Unter dem Einfluss von Oxytocin ist das soziale Gehirn scheinbar besser darin, dies zu beurteilen. Dies könnte erklären, warum Menschen mit einer ausgeprägten Vorliebe für soziales Miteinander, denen man eine hohe Oxytocinfunktion zuschreiben würde (siehe Kapitel 4), mitunter sozial sehr vorsichtig sind. Oder andersherum, warum Menschen, denen man eher eine geringe soziale Kompetenz zusprechen und annehmen würde, sie stünden weniger unter dem Einfluss von Oxytocin, immer wieder in Sachen Vertrauen auf die Nase fallen – etwa bei der Partner- oder Mitarbeiterauswahl.

Oxytocin scheint unsere Aufmerksamkeit(5) auf soziale Signale auszurichten, uns feinfühlig für diese Signale zu machen und unsere Motivation für soziales Miteinander zu erhöhen. Unter diesem Mantel überraschen auch weitere Wirkungen des Oxytocins nicht, etwa der Befund, dass es uns hilft, unsere eigenen Gefühle auszudrücken und die Gefühle anderer zu erkennen – selbst dann, wenn sie versteckt sind.

Aus der Forschung: Eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern analysierte zahlreiche Studien und zeigte, dass Versuchspersonen, die Oxytocin per Nasenspray erhalten, signifikant besser die Emotionen anderer erkennen können als Placebo-Empfänger (Leppanen et al. 2017). In einer weiteren Studie wurde zudem demonstriert, dass Oxytocin auch hilft, versteckte Emotionen zu erkennen, also Emotionen, die sich nur sehr geringfügig im Ausdruck zeigen. Die Autoren berichten, dass Oxytocin die Wahrnehmung der emotionalen Gesichtsausdrücke anderer durchgängig verstärkt und den Eindruck so »schärft«, dass glückliche Gesichter glücklicher und wütende Gesichtsausdrücke wütender erscheinen. Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass Oxytocin die Aufmerksamkeit(6) und Empfindlichkeit für soziale Signale verstärkt und hierüber das Erkennen von Gefühlen erleichtert (Leknes et al. 2012).

Aber nicht nur die Fähigkeit zum Erkennen der Gefühle anderer wird durch Oxytocin verbessert, sondern auch das Vermögen, die eigenen Gefühle auszudrücken und so dem anderen mitzuteilen, wie es in einem selbst aussieht. Deutsche Forscher fanden, dass der mimische und stimmliche Ausdruck von Angst(3) und Freude bei Versuchspersonen nach der Gabe von Oxytocin-Nasenspray – im Vergleich mit einem Placebo(3) – verstärkt ist (Spengler et al. 2017).

Oxytocin richtet also unsere Aufmerksamkeit(7) auf das soziale Miteinander aus und erlaubt uns hiermit, den anderen zu verstehen und auch unser eigenes inneres Befinden dem anderen mitzuteilen. Wir sind sozial aufeinander eingestimmt. Im Idealfall befinden wir uns in einer Bubble, in der wir das Außen ausblenden und uns ganz aufeinander einlassen können.

Es ist deshalb kein überraschender Befund, dass Oxytocin auch die Neigung verstärkt, mit anderen zu synchronisieren.

3 Synchronität im Miteinander – wir verbinden uns

Wir fahren auf der Autobahn, ich als Beifahrerin. Ich tippe mit den Fingern auf meinem Bein herum, schnell, rhythmisch. Der Fahrer fragt mich, ob ich nervös bin. Ob er langsamer fahren soll. Erst jetzt registriere ich unsere Geschwindigkeit. »Nein«, antworte ich, er müsse nicht langsamer fahren. Ich würde lediglich der Musik zuhören. Eine für mich kaum zu kontrollierende Angewohnheit: Sobald ich schöne Musik höre, nimmt sie mich ein. Ich fange an zu tippen und zu klopfen, ergebe mich dem Rhythmus.

Es mag sein, dass mich diese Angewohnheit etwas mehr im Griff hat als viele andere, aber im Kern spiegelt sie eine durchaus übliche menschliche Eigenschaft wider: Wir bringen uns mit dem Rhythmus unserer sensorischen Umwelt in Übereinstimmung. Mit dem, was wir hören oder sehen.

Nicht nur Sie oder ich neigen dazu, uns mit unserer Umwelt in Übereinstimmung zu bringen. Auch Tiere synchronisieren ihre Aktivitäten. Am Himmel sehen wir Gänseschwärme in sich gleichmäßig weiterbewegenden Formationen, Delphine springen am Boot vorbei, gemeinsam – synchron schwingen sie sich anmutig aus dem Wasser und gleiten wieder hinein.

Eine solche Selbstorganisation scheint auch dann aufzutreten, wenn sich mehrere Menschen aufeinander einstellen, wenn sie sich auf einen gemeinsamen Rhythmus einlassen. Denken wir an ein Konzert. Die letzten Töne verklingen, ein kurzer Moment der Stille, die ersten Zuhörer klatschen, zunächst völlig unkoordiniert, hörbar als ein lautes, bisweilen donnerndes Geprassel aufeinanderschlagender Hände. Nach wenigen Sekunden entwickelt sich das Geprassel zu einem rhythmischen Klatschen. Hunderte von Menschen im Gleichklang. Sie haben sich aneinander angepasst.

Auch wenn wir nebeneinander in zwei Schaukelstühlen sitzen, können wir uns kaum einem übereinstimmenden Schaukeln entziehen. Ebenso stellt sich oft ein Gleichschritt ein, wenn wir gemeinsam spazieren gehen. Ohne darauf zu achten, passen wir uns im Rhythmus an. Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm. Wir machen es automatisch. Uns gefällt der Gleichklang. Es macht Spaß, zu Musik zu klopfen. Es ist schön, Teil einer klatschenden Masse zu sein. Es fühlt sich richtig an, im Gleichschritt zu gehen. Wir sind als Menschen biologisch darauf vorbereitet, uns mit unserer Umwelt, mit sensorischen Eindrücken, aber auch mit den Bewegungen anderen Menschen zu synchronisieren. Dies passiert unabsichtlich und überkommt Menschen selbst dann, wenn sie instruiert werden, dies nicht zu tun.

Was macht es mit uns, wenn wir uns mit anderen im Gleichklang bewegen? Bereits vor Jahrzehnten zeigte sich in der Erforschung des sogenannten »Chamäleon-Effektes«(1), dass die Synchronität mit anderen eine ganze Reihe positiver Auswirkungen auf uns hat.

Aus der Forschung: Der Chamäleon-Effekt(2) beschreibt unsere unbewusste Nachahmung der Verhaltensweisen, der Körperhaltung und des Gesichtsausdrucks unseres Gegenübers. Ungewollt passen wir unser eigenes Verhalten an das des anderen an. In Studien kam heraus, dass diese unbewusste Nachahmung die Sympathie zwischen den Gesprächspartnern erhöht. Es zeigen sich auch Unterschiede zwischen Menschen: besonders empathische Menschen haben eine größere Neigung, den anderen zu imitieren (Chartrand und Bargh 1999). Nachfolgende Untersuchungen dieses unbewussten Nachahmungsverhaltens kamen zu einer ganzen Reihe aufsehenerregender Ergebnisse. Sie fanden etwa, dass eine Kellnerin ein höheres Trinkgeld erhält, wenn sie ihre Gäste imitiert, oder auch, dass imitierenden Personen eher geholfen wird und sie als selbstsicherer und überzeugender eingestuft werden. Sie demonstrierten auch, dass Männer vor allem bei attraktiven(1) Partnerinnen mehr zu Imitation neigen und Frauen vor allem bei Partnern mit hohem sozialem Status zum Chamäleon werden (für eine Übersicht siehe Ramseyer 2008).

In Studien über den Chamäleon-Effekt(3) imitiert der eine den anderen. In anderen wissenschaftlichen Studien ist es nicht wichtig, wer mit dem Verhalten angefangen hat und wer den anderen imitiert. Stattdessen geht es darum, was passiert, wenn beide gleichzeitig das Gleiche machen, also beide synchron handeln. In der Regel wird hierbei eine Gruppe von Menschen aufgefordert, sich synchron zu verhalten, während eine andere Gruppe asynchron handeln soll. Die erste Gruppe würde beispielsweise immer synchron ihren Arm heben, die zweite Gruppe einfach irgendwann.

Anschließend werden beide Gruppen verglichen. Die Forscher lassen die Probanden über den Campus spazieren, Lieder trällern oder Tassen verschieben. Und sie haben bisher fast immer festgestellt, dass die Versuchspersonen, die sich synchron bewegen, eine größere Verbundenheit fühlen, anschließend netter zueinander sind, sich gegenseitig besser unterstützen, mehr dazu neigen, miteinander zu kooperieren und sich selbst besser fühlen (Mogan et al. 2017). Diese Auswirkungen treten auf, obwohl die Synchronität in diesen Forschungsexperimenten nicht selbstorganisiert wie beim gemeinsamen Klatschen oder unbewusst wie beim Chamäleoneffekt auftritt, sondern aktiv gesteuert wird. Das zeigt, dass sie ursächlich für die Effekte auf das Fühlen und Verhalten ist. Schauen wir uns diese Auswirkungen einmal genauer an.

Synchronität des Verhaltens im Experiment: Wir fühlen uns verbunden

Wenn wir ohne Synchronität etwas gemeinsam machen, etwa Fußball spielen oder gemeinsam kochen, verstärkt dies zwar auch unser Gefühl, zusammenzugehören, wenn wir aber Aktivitäten synchron ausüben, also wir gemeinsam rudern, Ballett tanzen oder im Chor singen, dann ist das Gefühl der Verbundenheit noch ausgeprägter. Wir fühlen uns connected.

In Studien, in denen Menschen aufgefordert werden, synchron mit anderen zu tanzen, im Gleichschritt zu gehen oder im Rhythmus zu klopfen, entstehen selbst dann Gefühle von Zusammengehörigkeit, wenn sich Menschen zuvor gar nicht gekannt haben. Die Synchronität bindet uns zu Gruppen zusammen. Diese Wirkung des synchronisierten Miteinanders wird mitunter auch absichtlich genutzt.

IM DETAIL: Armeen, Kirchen und andere Gemeinschaften fordern häufig zu Aktivitäten auf, die die Gruppenmitglieder dazu bringen, synchron zu handeln, zum Beispiel Marschieren, Singen und Tanzen. Diese Rituale rufen Gefühle der Verbundenheit hervor – die psychologischen Grenzen zwischen dem Selbst und der Gruppe werden aufgeweicht. Es wird angenommen, dass die Stärkung der sozialen Bindung zwischen den Gruppenmitgliedern deren Zusammenarbeit erhöhen kann und unter Umständen auch ein Mittel ist, um alle Mitglieder zu motivieren, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten (Wiltermuth und Heath 2009). Wird die Wirkung synchronen Miteinanders absichtlich eingesetzt, ist natürlich auch der Schritt zum Missbrauch nicht weit – etwa dann, wenn Soldaten dadurch instrumentalisiert und manipuliert werden.

Die nähefördernde Wirkung des synchronen Miteinanders tritt sogar in einer Virtual-Reality-Umgebung(1) auf. Versuchspersonen, die sich in einem digitalen Experiment selbst als virtuelle Menschen gesehen und mit virtuellen Partnern Synchronität erlebt hatten, berichteten über eine signifikant größere soziale Nähe zu ihren virtuellen Mitspielern als die Teilnehmer, die keine Synchronität erfahren hatten. Die Synchronität scheint sogar in diesem Kontext das Gefühl der Zusammengehörigkeit verstärken zu können (Tarr et al. 2018).

Wenn Synchronität Menschen zu Gruppen zusammenbindet, dann könnten, so dachten sich Forscher aus den USA, Ungarn und Malaysia, vielleicht sogar Vorurteile(1) gegenüber ethnischen Minderheiten durch synchrone Aktivitäten abgebaut werden. Und sie behielten recht! Das Gehen im Gleichschritt kann Vorurteile(2) vermindern, so etwa gegenüber Mitgliedern der Gruppe der Roma. In ihrer Studie fühlten sich diejenigen, die im Gleichschritt mit einer Person gegangen waren, die ihnen als den Roma angehörig vorgestellt worden war, dieser Person anschließend verbundener, sie waren empathischer und hatten eine weniger negative Einstellung ihr gegenüber (Atherton et al. 2019).

Wenn Menschen synchron laufen, rudern, steppen, tanzen oder im Chor singen, dann fördert dies Verbundenheit. Aus diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit scheint sich Sympathie zu entwickeln, eine erhöhte Bereitschaft, dem anderen zu vertrauen, ihm zu helfen und mit ihm zu kooperieren. Das funktioniert bereits bei Kindern.

Aus der Forschung: Im Experiment wurden 14 Monate alte Kleinkinder von einem Assistenten in einer Babytrage gehalten und im Takt eines Liedes von den Beatles gewippt. Gleichzeitig wippte eine andere Person, und zwar der dem Kind zugewandte Versuchsleiter, entweder synchron mit dem Wippen des Kindes oder in einem anderen Tempo. Versuchsleiter und Kind waren also entweder im Gleichklang oder nicht. Der Versuchsleiter ließ im Anschluss »zufällig« einen Gegenstand fallen. Es zeigte sich: Kleinkinder, die synchron mit ihm gewippt hatten, neigten mehr dazu, ihm zu helfen und ihm den fallengelassenen Gegenstand zurückzugeben, als Kinder, die asynchron gewippt wurden.

Es ging aber noch weiter: In einer nachfolgenden Untersuchung zeigte sich, dass das synchrone Wippen mit dem Versuchsleiter nur die Hilfsbereitschaft zugunsten des Versuchsleiters positiv beeinflusste, nicht aber gegenüber einem zweiten Experimentator, der nicht mitgewippt hatte. Wenn aber, so zeigte sich in einer dritten Studie, die Kleinkinder in einem Sketch vor dem Experiment gesehen hatten, dass der zweite Experimentator mit dem Versuchsleiter sozial verbunden war, dann halfen die Kinder auch ihm (siehe Cirelli et al. 2017). Was Musik alles bewirken kann! Ich finde das ziemlich beeindruckend.

Die Psychologin Laura Cirelli schließt daraus, dass synchrones Verhalten dem Menschen zeigt, zu welcher Gruppe er gehört, und ihn motiviert, innerhalb der Gruppe hilfsbereit zu sein. Auch im Miteinander von gleichaltrigen Kindern fördert Synchronität die Kooperation und die Hilfsbereitschaft. Forscher der Universität Oxford beobachteten Kinder beim Spielen und zeigten, dass Kinder, die in einem Klatschspiel synchron agiert hatten, im Vergleich zu nicht-synchronen Spielern in einem anschließenden »Wir füttern Plastikfische«-Spiel ihrem gleichaltrigen Spielpartner deutlich mehr dabei halfen, Plastikfischfutter aufzuheben, das aus einer präparierten Dose auf den Boden gefallen war, als Kinder, die sich asynchron bewegt hatten (hätte ich die Studie früher gekannt, hätte ich meine Zwillinge im Kleinkindalter stündlich zum synchronen Klatschen animiert!). In der Studie zeigte sich zudem, dass Kinder, die synchron spielten, sich mehr anlächelten und Blickkontakt(1) herstellten. Es galt: Je höher das Ausmaß des gegenseitigen Lächelns und des Blickkontakts(2) während des Klatschspiels war, desto ausgeprägter die Neigung, anschließend mit dem Plastikfischfutter zu helfen (Tunçgenç und Cohen 2018).

Ich erinnere mich an meine eigene Kindheit, an all die alten Klatschspiele und Abzählreime, »Em pom pie Kolonie«, »Bei Müllers hat’s gebrannt, -brannt, -brannt«, und daran, dass ich diese gelegentlich auch mit meinen eigenen Kindern gespielt habe. Daran, dass ich zwar über den Inhalt kurz den Kopf geschüttelt habe, die Spiele aber zuverlässig gute Laune erzeugt haben. Gleiches gilt für rhythmische Kinderlieder: »Ein Schneider fing ’ne Mi-Ma-Mausemaus«. Da mag noch so gnadenlos das Fell abgezogen und ein Sack daraus genäht werden: Die Lieder erzeugen Synchronität, Verbundenheit, Hilfsbereitschaft, Kooperation.

Schon wieder sitze ich auf einer Bank, schaue auf das Wattenmeer und spreche Texte in mein Smartphone(2). Gleicher Weg, andere Bank. Eine ältere Dame kommt an mir vorbei. Sie zieht einen Hund hinter sich her. »Greta, jetzt wird gelaufen«, sagt sie. Der Hund bockt. Mit allen Vieren sträubt er sich gegen das Weitergehen. Die Dame blickt zu mir herüber und sagt, sie habe wohl einen Esel. Wie eine Statue steht der Eselhund da, während sie unermüdlich an der Leine zieht: »Greta, jetzt wird gelaufen«. Greta ist stur. Greta weiß nicht, warum sie mit Gretas Frauchen laufen soll. Und Gretas Frauchen weiß nicht, warum Greta dies nicht will. Es eskaliert. Gretas Frauchen ist stärker, sie schleift Greta über den sandigen Weg. Ich stelle mir vor, dass sie sich kurz runterbeugt, Greta über den Kopf streichelt, ihr in die Knopfaugen blickt und dass Greta anschließend mitkommt. Schließlich gibt es wissenschaftlichen Studien zufolge auch in Mensch-Hund-Beziehungen Synchronität. Greta und Frauchen in Kooperation.

Synchronität mit anderen Menschen fördert nicht nur die Verbundenheit, die Gruppenzugehörigkeit und die Hilfsbereitschaft untereinander, sondern auch das Wohlbefinden des Einzelnen. Negativen Gefühlen wird entgegenwirkt. Man empfindet beispielsweise weniger Schmerzen(1), wenn man synchron mit anderen tanzt und hat nach synchronen Bewegungen ein höheres Selbstbewusstsein. Es dürften einmal mehr unsere Stoffsysteme sein, unser Oxytocin, unsere Opioide(11), die diese positiven Auswirkungen der Synchronität vermitteln. Darum wird es weiter unten noch im Detail gehen.

Ob wir nun im Laborexperiment gemeinsam klopfen, klatschen oder schaukeln: Wir fühlen uns verbunden, sind motiviert, hilfsbereit zu sein und mit anderen zu kooperieren, und wir fühlen uns wohl.

Synchronität überall: Physiologie und Gefühle im Gleichklang

Eben ging es um Experimente, in denen Menschen aufgefordert worden waren, sich synchron zu bewegen. Die gefundenen Auswirkungen dürften sich auch dann einstellen, wenn Menschen in natürlichen Umgebungen gemeinsam im Gleichschritt spazieren, wenn sie tanzen, rudern, singen oder demonstrieren. Wenn sie gar nicht daran denken, nun synchron zu handeln, sondern es einfach tun.

Ebenso unbewusst wie wir etwa beim Spaziergang unsere Schritte synchronisieren, bringen wir auch unser Inneres in einen Gleichklang. Bereits in den 1950er Jahren wurde beobachtet, dass dann, wenn Mutter und Kind miteinander interagieren, die beiden nicht nur ihre Bewegungen, sondern auch ihre Blickrichtung, ihren Affekt und ihre stimmlichen Äußerungen synchronisieren. Heutzutage weiß man, dass auch im Körper übereinstimmende Muster vorhanden sind, etwa im Hinblick auf den Herzrhythmus, die Gehirnaktivität oder die Freisetzung von Oxytocin. Man weiß ebenfalls, dass diese Kopplung nicht nur im Miteinander von Eltern und Kind, sondern auch in romantischen sowie freundschaftlichen Beziehungen stattfindet. Sogar im Miteinander mit Fremden kann es zu einer solchen Übereinstimmung kommen, wenn man gemeinsame Aktivitäten ausübt und sich Herzfrequenz und Gehirnaktivität im Gleichklang verändern. Wir bringen uns nicht nur mit unserem Verhalten, sondern auch mit unserer Biologie in einen Gleichklang – deshalb spricht man hier auch von »biobehavioraler Synchronität« (Feldman 2017).

Synchronität wird hiernach in mehreren Systemen beobachtet:

Synchronität nonverbalen Verhaltens

Es wird das nonverbale Verhalten aufeinander abgestimmt. Hierzu zählen die Körpersprache, die Gestik, die Mimik, aber auch der Blickkontakt(3), der Tonfall, Berührungen und weitere Aspekte.

Synchronität von Sprache

Menschen haben die spontane Neigung, ihren Wortgebrauch zu synchronisieren.

Synchronität von Gefühlen und Stimmungen

Einige Wissenschaftler beschreiben eine Kopplung der Gefühle und Stimmungen und bezeichnen die Abstimmung als »affektive Synchronität«.

Synchronität peripherer physiologischer Merkmale

Es werden physiologische Merkmale wie der Herzrhythmus und Eigenschaften des autonomen Nervensystems aneinander angepasst. Auch das Atemmuster synchronisiert sich – insbesondere in Momenten des Wechsels beim Sprechen oder in Perioden gleichzeitigen Lachens. Um diese Maße von den Vorgängen im Gehirn abzugrenzen, spricht man von »peripherer physiologischer Synchronität«.

Synchronität der Gehirnaktivität

Es entsteht eine Synchronität zwischen den Gehirnen der Beteiligten – was strenggenommen ebenfalls zur physiologischen Synchronität gehört. Viele Forschungsgruppen untersuchen aber ausschließlich diese Synchronität. Ihr ist unten ein eigener Abschnitt gewidmet.

Synchronität der Hormonausschüttung

Es kommt zu ähnlichen Profilen der Hormonausschüttung unter den Beteiligten. Auch sie gehört strenggenommen zur physiologischen Synchronität.

Eigentlich gehört alles zusammen. Wenn wir etwas fühlen oder denken, dann geht dies mit einer bestimmten Physiologie einher, und wir drücken unsere Gefühle und Gedanken mit unserem Verhalten aus. Und wir synchronisieren uns ganzheitlich: Gefühle, Physiologie, Verhalten. In der Forschung wird jedoch oft das eine oder andere untersucht. Wissenschaftler setzen ihren Schwerpunkt hier oder dort.

Ein Forschungszweig, der seinen Schwerpunkt auf die Untersuchung der Gefühle legt, untersucht die sogenannte »emotionale Ansteckung(1)«. Genauso wie wir im Sinne des Chamäleon-Effektes(4) dazu neigen, unbewusst und unkontrolliert das Verhalten anderer zu imitieren, übernehmen wir häufig auch die Gefühle anderer – wir stecken uns an.

Im Detail: Die emotionale Ansteckung(2) (emotional contagion) ist die Tendenz, automatisch Gesichtsausdrücke, stimmliche Eigenschaften, die Körperhaltung und Bewegungen einer anderen Person zu übernehmen und infolgedessen in emotionale Übereinstimmung zu kommen. Wenn uns jemand mit trauriger Stimme etwas erzählt und wir selbst traurig werden oder wenn ein charismatischer Anführer seine Begeisterung auf uns überträgt, wenn eingespielte Lacher in einer Sitcom uns glauben lassen, wir finden etwas witzig: Wir übernehmen die Gefühle anderer. Eine solche emotionale Ansteckung(3) kann positiv, aber auch negativ sein, wie etwa in Studien demonstriert wurde, in denen Mitbewohner einer depressiven Person(2) selbst zunehmend verstimmter wurden (siehe Ramseyer 2008). Und auch das Schreien eines Säuglings kann einen anderen Säugling anstecken, weiß die Forschung (und auch die Zwillingsmutter-Autorin).

Es wird angenommen, dass diese Gefühlsübertragung automatisch abläuft und dass hierfür unsere Neigung wichtig ist, die Mimik des anderen nachzuahmen. Wir ahmen unbewusst dessen Gesichtsausdruck nach und die mit unserem eigenen Ausdruck einhergehende Aktivierung unserer Gesichtsmuskeln bringt wiederum diejenigen neuronalen Zustände in uns hervor, die für diese Emotion charakteristisch sind. Entsprechend zeigen Studien, dass Menschen, die in ihrer Mimik eingeschränkt sind, Schwierigkeiten haben, die Gesichtsausdrücke anderer zu beurteilen, sie können beispielsweise nicht gleichermaßen gut ein echtes von einem falschen Lächeln unterscheiden. Sie halten beide für echt.

Exkurs: Da soll noch einer sagen, Botox hätte keine Nebenwirkungen! Die Forschung über die Bedeutung der Mimik für das Erkennen von Gefühlen inspirierte Wissenschaftler zu Untersuchungen über die Auswirkungen von Botoxinjektionen. Botox wird zur Behandlung unerwünschter Gesichtsfalten eingesetzt, es lähmt die dafür verantwortlichen Muskeln, die mimische Aktivität wird verringert. Die Studienergebnisse zeigten tatsächlich, dass die Behandlung die Fähigkeit zur Erkennung von Emotionen vermindert. Und nicht nur das. Der Hypothese folgend, dass durch unsere Gesichtsmuskeln eigene Gefühle beeinflusst werden, kann auch die Botoxbehandlung unsere Stimmung modulieren. In einer Studie zeigte sich entsprechend, dass die Glättung von Zornesfalten die Stimmung der Patientinnen verbesserte, während die Behandlung von Lachfalten mit einem Anstieg der Depressionswerte(3) verbunden war (und außerdem die sexuelle Funktion vermindert – aber wir wollen hier keine Panik verbreiten; Lewis 2018).

Wir synchronisieren uns also mit den Gefühlen der anderen. Wie in der Übersicht verdeutlicht, koordinieren wir aber auch unsere nonverbalen Handlungen und unsere physiologischen Prozesse. Herzfrequenz, Hirnaktivität, alles geht mit. Mein Gegenüber lacht, ich ahme seinen Gesichtsausdruck nach, bin auch froh und lache ebenfalls, verbunden mit all dem, was in meinem Körper so passiert, wenn ich froh bin. Wir sind synchronisiert.

Wir bringen uns also im Miteinander in einen synchronen physiologischen Zustand. Alles ganz einfach? Nein. Die Wissenschaft weiß immer noch einen draufzusetzen. Im Miteinander, auch in einem harmonischen Miteinander, kommt es nämlich zu vorgesehenen Unterbrechungen der Synchronität, anders gesagt zu einem dynamischen Wechsel von Synchronität und Unabhängigkeit. Das ist kompliziert.

Aus der Forschung: