Unsere Körper sind euer Schlachtfeld - Christina Lamb - E-Book

Unsere Körper sind euer Schlachtfeld E-Book

Christina Lamb

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Beschreibung

»Ein Weckruf ... Die Geschichten dieser Frauen werden Sie zum Weinen bringen und dann wütend machen auf die Gleichgültigkeit der Welt.« Amal Clooney

Das erschütternde Schicksal von Frauen in Kriegsgebieten wird gern übersehen, die Aufmerksamkeit gilt meist den Kämpfern an der Front. Dabei wird immer häufiger sexuelle Gewalt gegen Frauen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Christina Lamb von der »Sunday Times« ist eine von ganz wenigen Kriegskorrespondentinnen. Seit Jahren bereist sie Krisengebiete wie Irak, Syrien, Nigeria und Myanmar und spricht mit den Frauen, Überlebenden, Geflüchteten über ihre Erfahrungen in Kriegszeiten: von Jesidinnen, die von IS-Kämpfern versklavt wurden, bis zur Ärztin im Kongo, die täglich Vergewaltigungsopfer versorgt. Ihnen will sie endlich eine Stimme geben und damit zugleich auf einen Missstand aufmerksam machen: Vergewaltigungen, die zur Massenvernichtungswaffe geworden sind, gehören endlich international geahndet!

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Das Buch

»Ein Weckruf … Die Geschichten dieser Frauen werden Sie zum Weinen bringen – und dann wütend machen auf die Gleichgültigkeit der Welt.« Amal Clooney

Das erschütternde Schicksal von Frauen in Kriegsgebieten wird gern übersehen, die Aufmerksamkeit gilt meist den Kämpfern an der Front. Dabei wird sexuelle Gewalt gegen Frauen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Christina Lamb von der Sunday Times ist eine von ganz wenigen Kriegskorrespondentinnen. Seit Jahren bereist sie Krisengebiete wie Irak, Syrien, Nigeria und Birma und spricht mit den Frauen, Überlebenden, Geflüchteten über ihre Erfahrungen in Kriegszeiten: von Jesidinnen, die von IS-Kämpfern versklavt wurden, bis zu ehemaligen Gefangenen des argentinischen Militärregimes. Ihnen will sie eine Stimme geben und damit zugleich auf einen Missstand aufmerksam machen: Vergewaltigungen, die zur Massenvernichtungswaffe geworden sind, gehören endlich international geahndet!

Die Autorin

Christina Lamb, geboren 1965, britische Journalistin und Autorin, ist als Auslandskorrespondentin seit vielen Jahren in der Kriegsberichterstattung tätig. Für ihre Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, fünfmal gewann sie den Titel »Foreign Correspondent of the Year«. Sie ist die Co-Autorin von »Ich bin Malala«, der Autobiografie der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai.

»Christina Lamb hat das Unmögliche vollbracht, sie hat Frauen in die Geschichte hineingeschrieben. Wenn Sie dieses Jahr ein Buch lesen, lesen Sie dieses. Es ist außerordentlich.« Eve Ensler, Autorin von »Die Vagina-Monologe«.

CHRISTINA LAMB

Unsere Körper

sind euer

Schlachtfeld

FRAUEN, KRIEG

UND GEWALT

Aus dem Englischen von Maria Zettner,

Friedrich Pflüger, Heike Schlatterer,

Anja Lerz und Karin Schuler

Das Original erschien 2020 unter dem Titel

Our Bodies, Their Battlefield. What War Does to Women

bei William Collins, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2020 by Christina Lamb

Copyright © der deutschen Ausgabe 2020

by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,

nach einem Entwurf von Kristen Haff

Umschlagfoto: Arcangel/Sharmin Zaman

Redaktion: Margret Trebbe-Plath

Karten:[[>>]]© Peter Palm, Berlin

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-23540-6V001

www.penguin-verlag.de

Wir haben das Wertvollste gegeben, das wir haben,

und sind innerlich viele Male gestorben,

doch unsere Namen wurden in kein Mahnmal

und kein Kriegerdenkmal eingraviert.

Aisha, Vergewaltigungsüberlebende im Bangladesch-Krieg von 1971

INHALT

Prolog Das Mädchen, das ich einmal war

1 Auf Mussolinis Insel

2 Die Mädchen im Wald

3 Die Macht eines Hashtags

4 Für das Vergewaltigungsopfer bitte hier anstellen

5 Frauen, die ins Leere starren

6 Die Frauen, die den Lauf der Geschichte verändert haben

7 Die Rosen von Sarajevo

8 So sieht ein Völkermord aus

9 Jagdstunde

10 Dann war es still

11 Der Imker aus Aleppo

12 Die Ninive-Prozesse

13 Der Wunderdoktor und die Stadt der Freude

14 Mama hat die Tür nicht richtig zugemacht …

15 Die Lolas – bis zum letzten Atemzug

Nachwort Den Frauen eine Stimme geben

Dank

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

PROLOG

DAS MÄDCHEN, DAS ICH EINMAL WAR

Sie warfen die Namen in die Schüssel und zogen einen nach dem anderen heraus. Zehn Namen, zehn Mädchen. Die Mädchen zitterten wie Kätzchen unter einem tropfenden Wasserhahn. Für sie war es kein Glückstopf. Die Männer, die die Papierstreifen zogen, waren Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS), und jeder von ihnen wollte sich ein Mädchen als Sklavin nehmen.

Naima schaute auf ihre Hände, das Blut pochte ihr in den Schläfen. Das Mädchen neben ihr war jünger als sie, etwa 14. Es wimmerte vor Angst. Doch als Naima seine Hand halten wollte, riss einer der Männer seinen Gürtel herunter und schlug sie damit auseinander.

Dieser Mann war älter und größer als die anderen, so um die 60, schätzte sie, mit einem Bauch, der über den Hosenbund quoll, und einem boshaften Grinsen auf den Lippen. Naima war mittlerweile neun Monate in der Gefangenschaft des IS. Sie wusste, dass keiner der Männer irgendetwas Freundliches an sich hatte, doch sie betete, dass nicht dieser ihren Namen zog.

»Naima.« Der Mann, der ihren Namen vorlas, war Abu Danoon. Er sah jünger aus, beinahe wie ihr Bruder, das Haar an seinem Kinn war noch Flaum. Vielleicht war sein Herz ja etwas weniger grausam.

Die Auslosung ging weiter. Der Dicke zog das Mädchen neben ihr. Doch dann sagte er etwas auf Arabisch zu den anderen, zog zwei frische Hundertdollarscheine heraus und knallte sie auf den Tisch. Abu Danoon zuckte mit den Schultern, steckte das Geld ein und händigte seinen Papierstreifen aus.

Minuten später schob der Dicke Naima in seinen schwarzen Land Cruiser und fuhr mit ihr durch die Straßen von Mossul, einer Stadt, die sie früher so gern einmal besucht hätte, die heute aber die Hauptstadt dieser Ungeheuer war, die über ihr Heimatland hereingebrochen waren und sie sowie sechs ihrer Brüder und Schwestern zusammen mit Tausenden anderen entführt hatten.

Sie schaute durch die getönten Scheiben. Ein alter Mann auf einem Karren peitschte auf einen Esel ein, um ihn anzutreiben, und Leute waren zum Einkaufen unterwegs. Allerdings trugen die wenigen Frauen auf der Straße alle schwarze Hidschabs. Es war eigenartig zu sehen, dass der Alltag für die anderen Menschen normal weiterging, fast so, als würde man sich einen Film ansehen.

Ihr Kidnapper war ein Iraker mit Namen Abdul Hasib. Er war ein Mullah. Die Religiösen waren die Schlimmsten. »Er hat alles mit mir gemacht«, berichtete sie später. »Schläge, Sex, an den Haaren ziehen, Sex, alles … Ich habe mich geweigert, also zwang er mich und schlug mich. Er sagte: ›Du bist meine sabaya‹ – meine Sklavin.

Danach lag ich einfach nur da und versuchte, meinen Geist über meinem Körper schweben zu lassen, als würde es jemand anderem passieren, damit er mir nicht alles rauben konnte.

Er hatte zwei Frauen und eine Tochter, aber sie haben nichts unternommen, um mir zu helfen. Zwischendurch musste ich die ganze Hausarbeit erledigen. Als ich einmal den Abwasch machte, kam eine der Ehefrauen und zwang mich, eine Tablette einzunehmen – so etwas wie Viagra. Sie gaben mir auch Verhütungsmittel.« Alle zehn Tage gab es eine kleine Atempause. Dann fuhr der Mullah nach Syrien, um den anderen Teil ihres Kalifats zu besuchen.

Nach ungefähr einem Monat verkaufte Abdul Hasib Naima für 4500 Dollar an einen anderen Iraker namens Abu Ahla und machte dabei einen beträchtlichen Profit. »Abu Ahla betrieb eine Zementfabrik und hatte zwei Frauen und neun Kinder. Zwei seiner Söhne waren Kämpfer beim IS. Es war wieder das Gleiche, ich wurde zum Sex gezwungen. Doch dann nahm er mich mit zu seinem Freund Abu Suleiman und verkaufte mich für 8000 Dollar. Abu Suleiman verkaufte mich an Abu Daud, der mich für eine Woche behielt und dann an Abu Faisal verkaufte, einen Bombenbauer in Mossul. Er vergewaltigte mich 20 Tage lang und verkaufte mich danach an Abu Badr.«

Am Ende war Naima an zwölf verschiedene Männer verkauft worden. Sie listete jeden Einzelnen von ihnen auf, ihre Kampfnamen und ihre richtigen Namen, sogar die Namen ihrer Kinder, die sie sich alle eingeprägt hatte, denn sie war entschlossen, sie zur Rechenschaft zu ziehen.

»So von einem an den anderen verkauft zu werden, als wären wir Ziegen, das war das Schlimmste«, sagte sie. »Ich habe versucht, mich umzubringen, mich aus dem Auto zu werfen. Ein anderes Mal fand ich ein paar Tabletten und habe sie alle geschluckt. Aber ich bin trotzdem wieder aufgewacht. Es kam mir vor, als wollte nicht einmal der Tod mich noch haben.«

Ich schreibe ein Buch über Vergewaltigungen im Krieg. Es ist die schäbigste Waffe, die es gibt. Sie richtet Familien zugrunde und entvölkert Dörfer. Sie macht junge Mädchen zu Ausgestoßenen, sodass sie wünschten, ihr Leben wäre vorbei, obwohl es noch kaum begonnen hat. Sie setzt Kinder in die Welt, die ihre Mütter jeden Tag aufs Neue an ihr Martyrium erinnern und die häufig von ihren Gemeinschaften als »böses Blut« abgelehnt werden. Und sie wird fast immer in den Geschichtsbüchern ausgeklammert.

Jedes Mal, wenn ich denke, ich hätte das Schlimmste gehört, treffe ich jemanden wie Naima. In Jeans, kariertem Hemd und schwarzen Turnschuhen, das haselnussbraune Haar aus dem blassen, geschrubbten Gesicht zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, sah sie aus wie ein Teenager, obwohl sie schon 22 war und gerade 18, als man sie gefangen nahm. Wir saßen auf Kissen in ihrem ordentlich gefegten Zelt im Lager Khanke nahe der nordirakischen Stadt Dohuk, einem aus den vielen Reihen von weißen Zelten, die für Tausende von Jesiden so etwas wie ein Zuhause geworden waren. Wir redeten stundenlang. Als sie erst einmal angefangen hatte, mochte sie nicht wieder aufhören. Und auch wenn sie gelegentlich einmal lachte bei der Erinnerung an kleine Racheakte, die ihr gegen ihre Kidnapper gelungen waren, lächelte sie kein einziges Mal.

Bevor ich mich verabschiedete, drehte sie ihr Handy um, damit ich das Passfoto auf der Rückseite sah. Es zeigte sie als lächelndes Schulmädchen, das Einzige, das ihr noch aus einer Kindheit geblieben war, in der sie niemals das Wort Vergewaltigung gehört hatte. »Ich muss daran glauben, dass ich noch immer dieses Mädchen bin«, sagte sie.

Vielleicht sind Vergewaltigungen für Sie ja etwas, das »es in Kriegen immer schon gegeben hat«, eine Begleiterscheinung von Plünderungen. Seit Menschen sich bekriegen, haben sich Männer an Frauen bedient, sei es, um den Feind zu demütigen, sei es, um Rache zu nehmen oder um die eigene Lust zu befriedigen – oder einfach nur, weil die Möglichkeit besteht.

Als eine der wenigen Frauen auf einem Gebiet, das immer noch überwiegend männlich besetzt ist, kam ich durch Zufall zur Kriegsberichterstattung. Es war nicht das Geballere, das mich interessierte, sondern das, was sich hinter der Front abspielt – wie die Menschen ihr Leben aufrechterhalten, ihren Kindern zu essen, eine Schulbildung und ein Dach über dem Kopf ermöglichen und wie sie ihre Alten schützen, während um sie herum die Hölle tobt.

Die afghanische Mutter, die mir erzählte, dass sie Moos von den Felsen abkratzte, um ihre Kinder am Leben zu erhalten, während sie sie auf der Flucht vor den Bomben durch die Berge lotste. Die Mütter, die während der Belagerung der Altstadt von Aleppo aus gebratenem Mehl und zusammengesuchten Blättern Sandwiches für ihre Kinder zauberten und die Kinder wärmten, indem sie Möbel oder Fensterrahmen verbrannten, während in den Straßen alles zu Staub gebombt wurde. Die Rohingya-Frauen, die ihre Kinder auf den Armen durch Wälder und über Flüsse in Sicherheit trugen, nachdem birmanische Soldaten die Männer abgeschlachtet und ihre Hütten niedergebrannt hatten.

Die Namen dieser Frauen finden sich in keinem Geschichtsbuch und auch nicht auf den Kriegsdenkmälern, an denen wir in unseren Bahnhöfen und Innenstädten vorübergehen, aber für mich sind sie die wahren Heldinnen.

Je länger ich diesen Job mache, desto mehr wächst meine innere Unruhe, nicht nur wegen der Gräuel, die ich mit ansehen muss, sondern vor allem wegen des Gefühls, dass wir nur die halbe Wahrheit zu hören bekommen, vielleicht weil es sich bei denjenigen, die die Berichte zusammenstellen, in der Regel um Männer handelt. Selbst heute noch werden die Chroniken dieser Konflikte überwiegend von Männern verfasst. Männer, die über Männer schreiben. Und dann gelegentlich einmal Frauen, die über Männer schreiben. Die Stimmen der Frauen werden zu oft außen vor gelassen. Während der ersten Phase des Irakkriegs 2003, bis zum Sturz von Saddam Hussein, war ich für meine Zeitung, die Sunday Times, als eine von sechs Korrespondenten vor Ort. Als ich im Nachhinein die Berichte las, stellte ich fest, dass sowohl meine drei männlichen Kollegen als auch eine meiner beiden Kolleginnen nicht eine einzige irakische Frau zitiert hatten. Es war, als wären sie überhaupt nicht vorhanden.

Es sind aber nicht nur die Journalisten, die diese Kriegsschauplätze als Männer-Schauplätze betrachten. Frauen werden auch fast immer von den Verhandlungen über ein Ende der Kämpfe ausgeschlossen, obwohl eine Studie nach der anderen zeigt, dass Friedensvereinbarungen eher eingehalten werden, wenn Frauen daran beteiligt sind.

Früher dachte ich, als Frau wäre man in Kriegsgebieten sicherer, es gäbe so etwas wie einen Ehrenkodex gegenüber Frauen. Aber unter Terrorgruppen und Söldnern des Bösen gibt es keinen Ehrenkodex. Ganz ohne Zweifel ist es in vielen unserer heutigen Konfliktzonen sogar gefährlicher, eine Frau zu sein. Während der vergangenen fünf Jahre habe ich in vielen Ländern mehr schockierende Brutalität gegenüber Frauen erlebt als in über 30 Jahren als Auslandskorrespondentin.

Man muss nur die großen Kunstmuseen der Welt besuchen oder in den Klassikern blättern, dann sieht man, dass Vergewaltigungen im Krieg nichts Neues sind. Herodot schrieb über persische Soldaten, die in den griechisch-persischen Kriegen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Massenvergewaltigungen an griechischen Frauen verübten. In Homers Ilias verspricht der griechische General Agamemnon Achilles Frauen im Überfluss, wenn er Troja einnähme: »Die Götter geben, dass wir die große Stadt des Priamos zerstören … troische Frauen zwanzig soll er sich selbst auswählen.« Tatsächlich ist die Fehde zwischen den beiden Männern erst dadurch entstanden, dass Agamemnon gezwungen wurde, die Frau, die er sich als »Beute« genommen hatte, wieder aufzugeben, und daraufhin versuchte, sich stattdessen die von Achilles zu nehmen.

Vergewaltigung und Plünderung waren Mittel zur Entlohnung unbezahlter Rekruten, und ein Eroberer konnte mit ihnen seinen Sieg bekräftigen, indem er den Gegner bestrafte und unterjochte – die Römer prägten dazu den Ausspruch vae victis (Wehe den Besiegten).

Und es blieb nicht auf die Antike beschränkt. Wenn wir den alten Griechen, Persern und Römern, Alexander dem Großen und all den blonden, blauäugigen Kindern in ganz Zentralasien bis hin zu den »Trostfrauen« der Kaiserlich Japanischen Armee und den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg nachspüren, erkennen wir, dass Frauen schon sehr, sehr lange als Kriegsbeute betrachtet werden.

»Die Entdeckung des Mannes, daß seine Genitalien als Waffe zu gebrauchen sind, um damit Furcht und Schrecken zu verbreiten, muss neben dem Feuer und der ersten groben Streitaxt als eine der wichtigsten Entdeckungen in prähistorischer Zeit angesehen werden«, schlussfolgerte die amerikanische Autorin Susan Brownmiller in ihrer wegweisenden Dokumentation zum Thema Vergewaltigung, Gegen unseren Willen, die 1975 als Buch erschien.

Vergewaltigung ist ebenso sehr eine Kriegswaffe wie die Machete, die Keule oder die Kalaschnikow. In jüngerer Zeit haben ethnische und konfessionelle Gruppen von Bosnien bis Ruanda, Irak bis Nigeria, Kolumbien bis zur Zentralafrikanischen Republik Vergewaltigungen als gezielte Strategie eingesetzt, fast wie eine Massenvernichtungswaffe, und das nicht nur, um Würde zu zerstören und Gemeinschaften zu terrorisieren, sondern auch, um ihrer Wahrnehmung nach feindliche Ethnien oder Ungläubige auszulöschen.

»Wir werden euer Rom erobern, eure Kreuze zerbrechen und eure Frauen versklaven«, warnte Abu Mohammad al-Adnani, Sprecher des sogenannten Islamischen Staates, in einer Botschaft an den Westen, als 2014 IS-Kämpfer in Nordirak und Syrien einfielen und Tausende junger Mädchen wie Naima entführten.

Eine ähnliche Drohung kam von Boko Haram, einer noch mordlüsterneren Terrorgruppe, als sie Dörfer im Norden von Nigeria stürmten, die Männer töteten und Mädchen als »Buschfrauen« zusammentrieben, damit sie in Lagern Nachkommen hervorbrachten, eine neue Generation von Dschihadisten in einer schaurigen Realversion von Margaret Atwoods Report der Magd.

»Ich habe eure Mädchen entführt … Ich werde sie, bei Allah, auf dem Markt verkaufen«, verkündete Abubakar Shekau, nachdem er Hunderte Schulmädchen gekidnappt hatte. »Ich verheirate eine Frau im Alter von zwölf Jahren. Ich verheirate ein Mädchen im Alter von neun Jahren.«

Ich habe mir unvorstellbare Geschichten von Frauen angehört, und während ich mich mit ganzer Seele bemühte, ihnen in den Berichten für die Leser meiner Zeitung gerecht zu werden, habe ich mich wieder und wieder gefragt: Wie kann das nur weiterhin passieren?

Der intime Charakter von Vergewaltigungen bringt es mit sich, dass sie im Allgemeinen nur sehr lückenhaft dokumentiert werden. Das gilt umso mehr für Konfliktzonen, wo immer mit Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen ist und sich nur schwer Beweise sichern lassen. Anders als bei Mord gibt es keine Leichen, und Zahlen sind kaum zu ermitteln.

Doch selbst da, wo wir Bescheid wissen, wo mutige Frauen sich melden und ihre Torturen schildern, wird kaum etwas unternommen. Es schien mir fast so, als würde Vergewaltigung, wenn sie im Krieg passiert, insbesondere an entlegenen Orten, irgendwie heruntergespielt und einfach hingenommen. Oder dass wir nichts davon wissen wollen. Manchmal sagten mir Redakteure, nachdem ich mein letztes Satzzeichen eingetippt und meinen Artikel abgeschickt hatte, die Geschichte wäre zu schockierend für die Leser, oder sie klatschten eine Warnung: »Verstörender Inhalt« darüber.

Zu meinem Erstaunen wurde Vergewaltigung erst 1998 erstmals als Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgt. Aber waren Kriegsvergewaltigungen denn nicht schon seit Jahrhunderten ungesetzlich? Der erste Prozess, den ich ausfindig machen konnte, fand 1474 in der deutschen Stadt Breisach statt. Damals wurde Peter von Hagenbach, ein Ritter im Dienst des Herzogs von Burgund, verurteilt wegen Verstoßes »gegen die Gesetze Gottes und der Menschen«, einer fünf Jahre währenden Schreckensherrschaft, während der er als Landvogt am Oberrhein Zivilistinnen vergewaltigt oder getötet hatte. Seine Rechtfertigung, er habe »lediglich Befehle ausgeführt«, wurde zurückgewiesen, und er wurde hingerichtet. Manche bezeichnen das vom Erzherzog von Österreich eingesetzte 28 Mann starke Tribunal als den ersten internationalen Strafgerichtshof, während andere geltend machen, dass es sich hier nicht um Kriegsvergewaltigungen handelte, da zu der Zeit gar kein Krieg herrschte.

Eine der allerersten umfassenden Bemühungen um eine Festschreibung des Kriegsrechts verwarf die lange vertretene Sicht, Vergewaltigungen seien eine unvermeidliche Folge von Kampfhandlungen. Präsident Abraham Lincolns Allgemeine Bestimmung Nr. 100, besser bekannt als Lieber Code, die 1863 das Verhalten der Unionssoldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg regeln sollte, belegte Vergewaltigung »bei Todesstrafe« mit einem strengen Verbot.

1919 wurde als Reaktion auf die Gräueltaten des Ersten Weltkriegs, darunter das Blutbad der Türken an Hunderttausenden Armeniern, eine »Verantwortungskommission« eingerichtet. Vergewaltigung und Zwangsprostitution rangierten ganz oben auf einer Liste von 32 Kriegsverbrechen.

Das verhinderte sie allerdings nicht im Zweiten Weltkrieg. Entrüstung über die Schrecken dieses Krieges, als alle Parteien auch der Vergewaltigung beschuldigt wurden, veranlasste die Siegermächte zur Einrichtung der ersten internationalen Gerichtshöfe in Nürnberg und Tokio, um Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Doch es gab keine einzige Anklage wegen sexueller Gewalt.

Nicht einmal eine Entschuldigung. Stattdessen Schweigen. Schweigen zur sexuellen Versklavung der Trostfrauen. Schweigen zu den Tausenden von Stalins Truppen vergewaltigten deutschen Frauen, von denen nichts in meinen Schulbüchern stand. Schweigen auch in Spanien, wo General Francos Falangisten Frauen vergewaltigt und ihre Brüste mit Brandzeichen versehen hatten.

Zu lange schon ist das die typische Reaktion. Kriegsvergewaltigungen wurden stillschweigend hingenommen und straffrei begangen. Militärische und politische Führungskräfte taten sie ab, als handele es sich um eine Nebensache. Oder sie wurden schlichtweg geleugnet.

Abschnitt 2 von Artikel 27 der Genfer Konvention, die 1949 in Kraft trat, besagt: »Frauen sollen besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung geschützt werden.«

Jahrzehntelang war es das am meisten vernachlässigte Kriegsverbrechen der Welt. Es mussten erst wieder mitten in Europa Vergewaltigungslager entstehen, bevor die internationale Aufmerksamkeit geweckt wurde. Wie viele andere auch hörte ich zum ersten Mal von sexueller Gewalt in militärischen Konflikten in den 1990er-Jahren während des Bosnienkrieges. Die darauffolgende allgemeine Empörung versprach ein Ende der stillschweigenden Akzeptanz von Kriegsvergewaltigungen, die seit Jahr und Tag geherrscht hatte. 1998, im Jahr des ersten Schuldspruchs, wurde Vergewaltigung im Römischen Statut, der vertraglichen Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, als Kriegsverbrechen verankert.

Am 19. Juni 2008 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig Resolution 1820 über den Einsatz von sexueller Gewalt in Kriegen. Darin heißt es, dass »Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine die Tatbestandsmerkmale des Völkermords erfüllende Handlung darstellen können«. Ein Jahr später wurde das Amt eines Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten geschaffen. Doch 22 Jahre nach der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs hatte dieser noch keinen einzigen Schuldspruch wegen Kriegsvergewaltigung erlassen, der zu einer Haftstrafe führte. Die einzige derartige Verurteilung war nach einer Revision aufgehoben worden.

Dass diese Verbrechen heute in den Gesetzbüchern stehen, ist ein Anfang, aber noch lange keine Garantie dafür, dass sie auch geahndet oder auch nur angemessen untersucht werden. Für derartige Vergehen gibt es allein schon wegen ihres Charakters meist keine Zeugen und keine klaren schriftlichen Anordnungen, sodass es die Opfer schwer haben, sie zu beweisen oder geltend zu machen. Es ist auch nicht unbedingt hilfreich, dass die Ermittler häufig Männer sind und nicht immer sehr geschickt darin, die Opfer in einer so sensiblen Angelegenheit zu Aussagen zu bewegen. Entscheidungsträger sind in diesen Fällen ebenfalls oft männliche Ankläger oder Richter, für die sexuelle Gewalt verglichen mit Massenmord keine sehr hohe Priorität hat und die zuweilen sogar nahelegen, die Frauen hätten »es herausgefordert«.

Leider hat die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft inzwischen anerkennt, dass sexuelle Gewalt oft als bewusste militärische Strategie eingesetzt wird, die strafrechtlich verfolgt werden kann, an vielen Orten der Welt nicht für ein Ende gesorgt. Der Bericht der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten von 2018 listet 19 Länder auf, in denen Frauen im Krieg vergewaltigt wurden, und benennt zwölf nationale Militär- beziehungsweise Polizeiverbände sowie 39 nichtstaatliche Akteure. Es sei keineswegs eine umfassende Liste, so wurde betont, sondern sie beziehe sich auf Orte, »wo glaubwürdige Informationen verfügbar waren«.

Und dann kam #MeToo. Vielen von uns wird das Jahr 2017 im Gedächtnis bleiben als Wendepunkt hin zu einem offeneren Umgang mit dem Thema sexuelle Gewalt. Die MeToo-Bewegung, die aus den Vorwürfen einer Reihe von Schauspielerinnen und Produktionsassistentinnen gegen Hollywoodproduzent Harvey Weinstein entstand, befreite die vielen betroffenen Frauen vom Gefühl der Schuld und Scham und ermutigte sie, offen darüber zu sprechen.

Wie viele andere Frauen habe auch ich die MeToo-Bewegung mit einer Mischung aus Freude und Entsetzen verfolgt. Freude darüber, dass so viele Frauen ihre Stimme erhoben und sich weigerten, sich die Belästigungen noch länger gefallen zu lassen, die viele von uns Frauen mittleren Alters früher als gegeben hinnahmen. Entsetzen darüber, dass sexuelle Gewalt so weitverbreitet ist. Jede dritte Frau erfährt in ihrem Leben sexuelle Gewalt. Sexuelle Gewalt kennt keine Ethnien, keine sozialen Schichten, keine Grenzen – sie geschieht überall.

Doch ich verspürte auch ein gewisses Unbehagen. Was ist mit den Frauen, die nicht die Mittel haben für teure Anwälte oder Zugang zu den Medien? Was ist mit den Frauen in Ländern, wo Vergewaltigung als Waffe eingesetzt wird?

Wie wir am Beispiel derer gesehen haben, die sich zu Harvey Weinstein äußerten, reden selbst starke, emanzipierte Frauen aus dem liberalen Westen nur mit allergrößter Mühe und Scheu Klartext über Sexualstraftäter. Häufig werden sie von der Presse an den Pranger gestellt und müssen untertauchen, wie es Christine Blasey Ford ergangen ist, der Anwältin, die sagte, sie sei als Teenager sexuell belästigt worden von Brett Kavanaugh, dem Kandidaten für ein Richteramt am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.

Und jetzt stelle man sich Frauen ohne Geld und Schulbildung vor in Ländern, wo die Männer mit dem Gewehr oder der Machete die Macht ausüben. Da gibt es keine Vergewaltigungstherapie oder Entschädigung. Vielmehr sind nicht selten die Frauen diejenigen, die verdammt werden. Verdammt zu einem Leben mit Trauma und schlaflosen Nächten, Problemen beim Eingehen von Beziehungen, ganz zu schweigen von körperlichen Verletzungen, womöglich einem Dasein ohne Kinder – manche werden sogar von ihren Gemeinschaften geächtet, was eine Frau einmal einen »langsamen Mord« nannte. Überall auf der Welt ist der Körper einer Frau noch immer ein Schlachtfeld, und Hunderttausende von Frauen leiden unter unsichtbaren Kriegswunden.

Und so machte ich mich daran, die Geschichten einiger dieser Frauen in ihren eigenen Worten zu erzählen. Es sollte der Beginn einer schockierenden Reise durch Afrika, Asien, Europa und Südamerika werden, auf der Spur einiger der dunkelsten Untaten der Menschheit. Je mehr Orte ich besuchte, desto deutlicher wurde mir, wie weitverbreitet Vergewaltigung ist – aufgrund des fortwährenden Versagens der internationalen Gemeinschaft und der inländischen Gerichte, Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Es ist nicht leicht, diese Geschichten zu erzählen oder sie sich anzuhören. Doch sie zeugen vielfach auch von erstaunlichem Mut und Heldentum. Frauen sind keine bloßen Zuschauer der Geschichte. Es wird Zeit, nicht mehr nur die eine Hälfte zu erzählen.

1

AUF MUSSOLINIS INSEL

Leros, August 2016

Wenn ich zurückdenke an jenen Sommer auf der winzigen griechischen Insel Leros, an die verfallene Irrenanstalt voller Taubendreck und verrosteter Bettgestelle, wo ich das erste Mal Jesiden begegnete, sehe ich immer noch die Augen des Mädchens vor mir, so tief, so aufgewühlt und flehentlich.

Sie schiebt mir ihr Handy entgegen, um mir ein Video zu zeigen. Ich sehe einen Eisenkäfig mit vielleicht einem Dutzend junger Frauen darin. Arabische Männer mit Kalaschnikows über der Schulter drängen sich johlend um ihn herum. Zuerst begreife ich nicht. Die Frauen sehen aus wie in Panik. Da treten die Männer zurück, Flammen verschlingen den Käfig, man hört Schreie, und dann ist das Video zu Ende.

»Das ist meine Schwester«, erklärt das Mädchen. »Sie verbrennen Jungfrauen bei lebendigem Leib.«

Alles scheint plötzlich stillzustehen und sich zu drehen. Es ist eine Höllenvision. Ich weiß nicht, ob der Ton in meinem Kopf das Meer da draußen ist oder Blut, das mir in den Ohren pocht. Sonnenlicht strömt durch ein Loch im Dach, und Schweiß läuft uns das Gesicht hinunter. Ein kleines jesidisches Kind kriecht durch den Schutt, die Glasscherben und die herabgefallenen Dachsparren. Es singt vor sich hin, ein verwahrlostes kleines Ding, dem die Haarsträhnen wie Farnwedel an der Wange kleben. Es gerät immer näher an einen großen Trichter im Fußboden, bis ich es in Panik wegreiße. Die Mutter lehnt neben dem Mädchen, dessen Schwester lebendig verbrannt wurde, an einer Steinwand und starrt ausdruckslos vor sich hin. Was ist mit diesen Menschen geschehen?

Ich will raus aus dieser Anstalt mit ihren vergitterten Fenstern und fleckigen Wänden. Bevor ich hergekommen bin, habe ich mir einen alten Dokumentarfilm mit dem Titel »Insel der Ausgestoßenen« angesehen. Mir schießen Bilder aus diesem Film durch den Kopf von kahlgeschorenen Männern und Frauen, manche von ihnen nackt an ihre Betten gekettet, mit Gliedmaßen, die in eigenartigen Winkeln zucken; andere in unförmigen Kutten zusammengepfercht auf dem Boden eines Zimmers, von wo aus sie in die Kamera starren.

Durch die Gitter des Fensters kann ich nach unten sehen auf Reihen von weißen Fertigcontainern, umgeben von Stacheldrahtzaun, und dahinter die Ägäis mit ihrer verstörenden tiefblauen Vollkommenheit.

Das Lager, in dem die Jesiden leben, ist über 1000 Kilometer von ihrer Heimat unter dem hohen heiligen Berg zwischen Irak und Syrien entfernt, auf dem nach ihrem Glauben Noahs Arche gestrandet ist.

Leben in Containern im Schatten der verfallenen Anstalt

Ich war noch nie zuvor Jesiden begegnet. Ihre Religion ist eine der ältesten der Welt, aber wie die meisten Leute hörte ich das erste Mal von ihnen am Ende des Sommers 2014, als ich die Bilder von Tausenden Jesiden sah, gefangen auf jenem Berg, auf den sie vor den Konvois mit schwarzgekleideten IS-Kämpfern geflohen waren, die entschlossen waren, sie zu vernichten.

In den Ruinen der Anstalt an jenem drückend heißen Augusttag 2016 traten sie, einer nach dem anderen, aus dem Schatten, um mir ihre Geschichten zu erzählen; Geschichten, die mich bis ins Mark erschütterten, die schlimmer waren als alles, was ich in drei Jahrzehnten als Auslandskorrespondentin gehört hatte.

Gebrochene Menschen, die Frauen mit dünnen wogenden Körpern und langen purpurnen Haaren, die Gesichter umrahmten, in denen jedes Leuchten erloschen war. Auf mich wirkten sie weder tot noch lebendig. Alle hatten Eltern, Brüder, Schwestern verloren. Im Flüsterton wie ein Windhauch erzählten sie mir von ihrer geliebten Heimat Sindschar, das sie Schingal aussprachen, und dem Berg desselben Namens, von dem sie sich Zuflucht versprochen hatten, wo aber viele einen qualvollen Hungertod gestorben waren. Sie erzählten von einer kleinen Stadt namens Kodscho, die der IS 13 Tage lang belagert hatte, bevor er alle Männer und älteren Frauen abschlachtete und die Jungfrauen gefangen nahm. Und vom Galaxy-Kino am Ostufer des Tigris, wo Mädchen – darunter auch ihre Schwestern – in hässlich und schön unterteilt und dann auf einem Markt den IS-Kämpfern vorgeführt und als Sexsklavinnen verkauft wurden.

Die Mutter des kleinen Mädchens, das um ein Haar in das Loch gefallen wäre, stammte aus Kodscho. Sie war 35, hieß Asma Bashar, und ihre Stimme klang so abgehackt wie Maschinengewehrfeuer. Die anderen nannten sie Asma Loco, weil sie, wie sie sagten, den Verstand verloren habe. Sie erzählte mir, dass 40 Mitglieder ihrer Familie abgeschlachtet worden seien, darunter ihre Mutter, ihr Vater und ihre Brüder. Vier Schwestern und zwölf Nichten waren zu Sexsklavinnen genommen worden. »Ich habe niemanden mehr außer einer Schwester, der die Flucht aus der Gefangenschaft gelang und die jetzt in Deutschland ist«, sagte sie. »Ich nehme Pillen, um auszulöschen, was passiert ist.«

Ayesha, deren Eltern und Brüder vom IS getötet wurden

Eine jüngere Frau, die bis dahin so still wie ein Gemälde an der rissigen blauen Wand gelehnt hatte, begann zu sprechen. »Ich bin 20, aber ich fühle mich wie über 40«, sagte sie. Ihr Name war Ayesha, und sie erzählte mir, dass ihre Eltern und Brüder in Kodscho umgekommen waren. »Ich sah meine Großmutter sterben, ich sah Kinder sterben, und jetzt kann ich mich nur noch an schlimme Dinge erinnern. Vier meiner Freundinnen wurden für nur 20 Euro verkauft.«

Ihr war es, zusammen mit ihrem Mann, gelungen, auf den Berg zu fliehen, dann waren sie irgendwie durch das kriegsgeschundene Syrien in die Türkei gelangt. Dort hatten sie 5000 Dollar an Menschenschmuggler gezahlt, um über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen in notdürftig zusammengeflickten, überfüllten Beibooten waren sie schließlich auf der Insel angelangt.

»Nach all dem stellen wir fest, dass wir immer noch nicht frei sind«, sagte sie. Sie streckte ihr linkes Handgelenk aus. Rote Narben zogen sich kreuz und quer über die blasse Haut wie zornige Würmer. »Ich habe versucht, mich mit einem Messer umzubringen«, erklärte sie mit einem Achselzucken. Das letzte Mal lag nur zwei Wochen zurück.

Leros war immer schon eine Insel der Ausgestoßenen – eine Leprakolonie, ein Internierungslager für politische Gefangene und eine Anstalt für sogenannte »Unheilbare«. Seit 2015 ist sie eine der vielen griechischen Inseln, die von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak und Afghanistan überschwemmt werden.

Es war die Flüchtlingskrise, die mich als Journalistin auf die Insel gebracht hatte. Leros gehörte zu den fünf griechischen Inseln, die zu »Hotspots« erklärt worden waren, nachdem die Europäische Union 2016 einen Handel mit der Türkei abgeschlossen und ihr drei Milliarden Euro dafür gezahlt hatte, dass sie alle Neuankömmlinge von einer Überquerung der Ägäis abhielt. Zehntausend auf den Inseln gestrandete Flüchtlinge wurden in diesen fünf Bearbeitungszentren zusammengedrängt, doch die Bearbeitung verlief so langsam, dass sie faktisch Gefangene der Inseln waren. Auch in den Zentren auf Lesbos, Chios und Kos hatte ich das prekäre Nebeneinander der verzweifelten Flüchtlinge schon gesehen, die eingepfercht in Lagern, Sportstadien und ehemaligen Fabriken waren und so von Sexhändlern belagert wurden, dass die Frauen nachts Windeln trugen, um ihre Zelte nicht verlassen zu müssen. Derweil erfreuten sich direkt daneben sorglose Urlauber an Sonne, Meer und Moussaka, das sie mit Ouzo hinunterspülten.

Auf Leros war es anders. Ich war noch nie an einem vergleichbaren Ort gewesen. Hier gab es die blendend weißen Fischerdörfer mit ihren kreuz und quer stehenden Häusern, Windmühlen, Tavernen und strahlend blauem Wasser, wie sie für griechische Inseln typisch sind. Doch der Hauptort Lakki war ein Lehrstück in stalinistischem Art déco: breite Prachtstraßen und Betonvillen mit spitzen Winkeln, dazu ein Kino im Kolonnadenstil, ein kreisrunder Marktplatz, eine Schule, die eher einem landwirtschaftlichen Silo ähnelte, ein minimalistischer Uhrenturm sowie Gebäude, die aussahen wie ein Ufo und ein altmodisches Transistorradio. Es war, als hätte man sich in eine vergessene Filmkulisse verirrt.

Die Insel hatte einst eine zentrale Rolle in Mussolinis Plänen gespielt, ein zweites Römisches Reich zu erschaffen. Leros war mitsamt allen übrigen Inseln des Dodekanes 1912 dem Osmanischen Reich entrissen und einem italienischen Kolonialreich einverleibt worden, zu dem auch Libyen, Somalia und Eritrea gehörten. Als Mussolini in den 1920ern die Macht übernahm, entschied er, dass der tiefe Naturhafen der Insel den perfekten Flottenstützpunkt abgeben würde, von dem aus sich das gesamte östliche Mittelmeer beherrschen ließe. Und so sandte er neben Flottenstreitkräften und -beamten auch Architekten dorthin, damit sie eine moderne Stadt im faschistischen Stil entwarfen, den die Italiener als razionalismo bezeichnen.

Nach der Niederlage der Italiener im Zweiten Weltkrieg gingen die Inseln an Griechenland, und Lakki (beziehungsweise Portolago, wie die Italiener es genannt hatten) verwaiste weitgehend. Als 1967 in Griechenland die Obristen die Macht ergriffen, nutzten sie Mussolinis Marinekasernen, um politische Gefangene einzusperren, später dann als Verbannungsort für psychisch Kranke. Tausende Patienten wurden vom Festland hierhergeschifft und unter mittelalterlichen Bedingungen untergebracht – bis die Zustände von der Presse und dem Dokumentarfilm von 1990, den ich gesehen hatte, öffentlich gemacht wurden. Die gesamte EU war entrüstet, und die Einrichtung wurde 1997 geschlossen. Dann kamen die Geflüchteten. Um zum Flüchtlingslager zu gelangen, fuhr ich an einer Reihe von verlassenen Backsteingebäuden und verrosteten Krankenwagen vorbei. Ein paar Leute kamen nach draußen und starrten mich an, darunter ein Mann mit irrem Blick, der eine Schubkarre schob und mit der Faust drohte – einige Patienten waren geblieben.

Es war ein unheimlicher Ort für ein Lager. Drinnen lebten etwa 700 Syrer, Iraker, Afghanen und Pakistaner, ein Drittel davon Kinder. Ungefähr 100 von ihnen waren Jesiden. Die Flüchtlinge bildeten 10 Prozent der Bevölkerung der kleinen Insel.

Aus der Nähe entpuppten sich die weißen Container als Isoboxen, ursprünglich für den Transport von Lebensmitteln gedacht und jetzt zu Unterkünften umgewandelt. Zwischen ihnen waren Wäscheleinen gespannt, und vor den Türen hockten Männer und spielten mit Flaschendeckeln eine improvisierte Art von Backgammon. Verglichen mit einigen der Lager, die ich schon besucht hatte, waren die Bedingungen gar nicht so schlecht, doch wie der Lagerverwalter, Yiannis Hrisafitis, geltend machte: »Das hier haben sie sich nicht erträumt.« Es war ihnen nicht gestattet, die Insel zu verlassen, und so verharrten sie im Schwebezustand, während die EU-Länder sich nicht einigen konnten, wer sie aufnehmen würde. Derweil hatten sie nichts zu tun, nichts, um ihre Gedanken zu füllen, als ihre schlimmen Erinnerungen, und keine Hoffnung auf Zukunft.

Ich spazierte zwischen den Wäscheleinen hindurch, gefolgt von einem kleinen Jungen, der einen großen Teddybären umklammert hielt. Als ich ihn ansprechen wollte, lief er weg. Eine kleine Schar syrischer Frauen saß rauchend auf einem Bett, ihre Gesichter von tiefen Falten durchzogen. Das hiesige Krankenhaus hatte mir berichtet, dass es regelmäßig Selbstmordversuche gab.

Das Lager war von einem Doppelzaun umgeben, mit gewundenem Klingendraht als Abschluss, wie bei einem Gefängnis. »Es soll die da draußen davon abhalten reinzukommen«, erklärte Yiannis. »Könnte ja sein, dass einer Kinder oder junge Frauen stehlen, Organe kaufen oder mit Drogen handeln will.«

Um den Jesiden-Block zog sich noch ein Zaun, gewissermaßen ein Lager innerhalb des Lagers. Yiannis erläuterte, dass ein paar Wochen vor meinem Besuch die Jesiden von anderen Flüchtlingen attackiert worden waren, sunnitischen Muslimen, die sie als Teufelsanbeter verunglimpften, genauso, wie der IS es getan hatte. Also hatte er sie zu ihrem eigenen Schutz abgeriegelt. Sie waren in die alte Anstalt gegangen, um mit mir zu sprechen, weil ihnen das sicherer erschien.

Mir fiel auf, dass die Jesiden alle rot-weiße Schnüre um die Handgelenke gebunden hatten. Als ich mich erkundigte, was das bedeutete, erklärten sie mir, das Weiß symbolisiere den Frieden, nach dem sie sich sehnten, und das Rot das Blut ihrer Landsleute, die bei früheren Völkermorden getötet worden waren – von Muslimen, Persern, Mongolen, Osmanen, Irakern … alles ihre Nachbarn. Sie erzählten, dass der jüngste Völkermord, jener durch den IS, der vierundsiebzigste war. Es hat schon immer so viel Gewalt gegen Jesiden gegeben, dass sie ein Wort für versuchte Vernichtung besaßen, ferman – lange vor dem offiziellen Begriff Genozid (Völkermord), der erst 1944 von dem polnischen Anwalt Raphael Lemkin geprägt wurde.

»Hier ist es wie im Gefängnis, jeder kämpft gegen jeden«, sagte Ayesha, das vollkommen reglose Mädchen, das einem Bild entstiegen zu sein schien. »Wir besitzen nichts mehr, kein Geld, wir haben alles ausgegeben, um hierherzukommen, und die Welt schert sich nicht um uns.«

An meinem letzten Tag auf der Insel erzählten mir die Jesiden von einem versteckten Dorf in Deutschland, wo über 1000 der als Sexsklavinnen missbrauchten Mädchen Zuflucht gefunden hätten, nachdem sie fliehen konnten oder gerettet worden waren. Das machte mich neugierig.

2

DIE MÄDCHEN IM WALD

Baden-Württemberg

Turko schaute auf ihr Handgelenk hinunter, an dem sie ein Armband aus blauen augenförmigen Perlen trug, wie sie im Nahen Osten als Schutz gegen den bösen Blick weitverbreitet sind, und dazu eine der gedrehten rot-weißen Völkermord-Schnüre. An beiden spielte sie herum. »Was habe ich davon, wenn ich meine Geschichte erzähle?«, wollte sie wissen.

Das war eine schwierige Frage. Turko stammte aus Kodscho, dem Dorf, in dem der IS 600 Menschen niedergemetzelt und viele Mädchen verschleppt hatte. Sie sagte mir, sie sei 35, doch mit ihren schwarzen zurückgebundenen Haaren und einem Gesicht, in dem alles Leuchten erloschen zu sein schien, sah sie zehn Jahre älter aus.

Ich war hin- und hergerissen zwischen dem journalistischen Wunsch, etwas zu erfahren, der Furcht vor dem, was sie zu sagen haben mochte, und vor allem der Sorge, dass das Erzählen ihr weiteren Kummer bereiten würde. Ich schaute mich in dem kleinen Zimmer um, in dem sie seit etwa einem Jahr wohnte, spärlich eingerichtet mit einem Einzelbett, einem schmalen Kleiderschrank und ein paar Fotografien von Kindern an der Wand, beinahe wie eine Studentenbude. Vor dem Fenster war nichts als dunkler Wald.

»Vielleicht, dass es anderen Frauen nicht auch passiert?«, schlug ich zögernd vor. »Aber sagen Sie nichts, was Sie nicht sagen möchten.«

Turko fixierte mich mit ihrem Blick, als wollte sie in mein Herz schauen. Dann fing sie an zu reden. »Alles begann am ersten Sonntag im August vor zwei Jahren, als die Daesh nach Sindschar vorrückten«, erzählte sie. »Wir dachten, die Peschmerga [kurdische Miliz], die die Kontrollpunkte besetzte, würde uns beschützen, aber die waren geflohen.

Ich machte damals Gelegenheitsjobs auf den Feldern und war früh an dem Morgen mit meiner Mutter und meiner dreijährigen Nichte zusammen, als plötzlich drei Autos aufheulten und bewaffnete Männer in Schwarz heraussprangen. Sie trieben ungefähr 40 Leute zusammen und schoben uns in einen Hühnerstall, wo sie riefen: ›Gebt uns eure Handys, Gold und Geld!‹ Sie nahmen uns alles ab, was wir besaßen.

Dann trennten sie die Männer von den Frauen und Kindern. Mein Onkel und mein Cousin waren bei uns. Sie brachten sie aufs Feld. Dann hörten wir die Schüsse, rat-a-tat-tat, einen nach dem anderen.

Wir fingen an zu zittern. Sie steckten uns in einen Lastwagen und fuhren uns an den Leichen der Männer vorbei zum Badusch-Gefängnis. Die Gefangenen waren freigelassen worden, und sie hatten es mit Frauen gefüllt, Hunderten von Frauen. Es war wie in der Hölle. Wir bekamen kein Essen und kein Wasser, nur jeden Tag ein trockenes Stück Brot. Wir waren so verzweifelt, dass wir gezwungen waren, aus den Latrinen zu trinken.

Am ersten Tag brachten die Kämpfer einen Mann mit langem Bart mit. Er hatte drei Korane dabei und sagte uns, er würde uns im Islam unterrichten. Wir sagten nein, wir wollen eure Religion nicht, wir wollen unsere Familien zurück. Das machte sie wütend. Sie richteten ihre Gewehre auf uns und sagten: ›Wir werden euch töten, wenn ihr nicht konvertiert!‹ Dann stießen sie uns gegen die Wand und schlugen uns mit Holzknüppeln.

Wir machten für jede Nacht eine Kerbe in die Wand. Nach 15 Tagen wurden wir in Busse nach Tal Afar verfrachtet und in ein Hotel gebracht, wo wir mit Hunderten Frauen zusammengepfercht waren. Als Erstes sonderten sie die Kinder unter zwölf aus, dann teilten sie uns nach verheirateten Frauen und Jungfrauen auf. Ich gab vor, die Mutter meiner dreijährigen Nichte zu sein, um nicht zu den Jungfrauen zu müssen.

Zwei Monate wurden wir in diesem Hotel festgehalten. Von Zeit zu Zeit kamen IS-Kämpfer, schlugen alle, nahmen dann eine Frau oder ein junges Mädchen für zwei Tage mit und brachten sie danach wieder zurück. Eine Zeit lang wurde ich mit einigen von den älteren Frauen und Müttern ins nächste Dorf gebracht, um in einer Bäckerei zu arbeiten und für Essen zu sorgen. Aber dann merkten sie, dass die Kinder nicht unsere waren, und sagten, sie würden uns nach Syrien bringen.«

Sie machte eine Pause, um sich mit zitternder Hand eine Zigarette anzuzünden, und zog intensiv daran.

»So gegen elf Uhr abends kamen wir nach Raqqa«, fuhr sie fort. »Sie brachten uns in ein zweistöckiges Gebäude mit ungefähr 350 Frauen und Mädchen. Jeden Tag kamen Leute und begutachteten uns, dann wurden Frauen genommen und an IS-Männer übergeben.«

Turko wurde 40 Tage lang in diesem Marktplatz festgehalten und bangte die ganze Zeit über. Schließlich war sie an der Reihe. Gemeinsam mit ihrer kleinen Nichte wurde sie in die syrische Stadt Deir ez-Zor gebracht und einem saudischen Mann übergeben, einem Richter am Scharia-Gerichtshof des IS. In der ersten Nacht bestellte er sie in sein Schlafzimmer. »Ich habe dich gekauft, also bist du meine sabaya, und im Koran steht geschrieben, dass ich dich vergewaltigen darf«, erklärte er ihr.

Er bezog sich auf eine im Oktober 2014 vom ISIS Resurgence Fatwa Department (auf Deutsch etwa »Fatwa-Ausschuss des wiedererstarkten IS«) herausgegebene Broschüre mit Richtlinien über die Haltung, Gefangennahme und den sexuellen Missbrauch von Sklavinnen. Darin stand, dass Jesiden Ungläubige seien, deren Versklavung »in der Scharia fest verankert« sei, sodass sie systematisch vergewaltigt werden dürften. Sie könnten nach Gutdünken des Eigentümers verschenkt oder verkauft werden, denn sie seien »bloß Besitz«.

»Ich versuchte, mich gegen ihn zu wehren, aber er schlug mich, bis mir Blut aus der Nase lief«, berichtete sie. »Am nächsten Morgen packte er mich an den Haaren, kettete meine Arme ans Bett [sie mimte eine ausgestreckte Haltung wie am Kreuz] und tat mir Gewalt an. Vier Monate ging das so, er vergewaltigte mich dreimal am Tag und ließ mich niemals raus.

Wenn er zur Arbeit ging, schloss er mich ein. Meine Nichte schlug er, vergewaltigte sie aber nicht.

Eines Tages kam er mit einer britischen Frau nach Hause, die er geheiratet hatte. Sie war 22 und hörte auf den Namen ›Muslima‹. Immer wenn er mich vergewaltigte, rastete diese Frau aus, sie war sehr eifersüchtig. Schließlich hatte er es satt, steckte mich in einen schwarzen Hidschab, fuhr mit mir zum IS-Hauptquartier in der Stadt und sperrte mich im Auto ein. Nach zehn Minuten kam er zurück und sagte: ›Ich habe dich für 350 Dollar verkauft.‹ Sie handelten mit uns im Internet.« Die Kämpfer hatten ein Forum mit der Bezeichnung Kalifat-Markt, wo sie neben PlayStation-Konsolen und Gebrauchtwagen auch Frauen feilboten.

»Mein neuer ›Besitzer‹ war ein Gefängnisaufseher aus Syrien. Er brachte mich und meine Nichte zu einer IS-Frau, wo wir von da an wohnen sollten. Es war genau wie vorher. Jeden Abend kam der Syrer und vergewaltigte mich, und morgens verschwand er dann wieder. Wenn die IS-Frau ausging, kettete sie mich mit Handschellen irgendwo an, damit ich nicht fliehen konnte.

Jedes Mal, wenn ein Jesiden-Mädchen aus der Gefangenschaft entkam und im Fernsehen auftrat, schlugen sie uns stärker und sagten: ›Sie reden den IS schlecht, deshalb werden wir euch eine Lektion erteilen.‹ Ich habe oft daran gedacht, mich umzubringen. Der einzige Grund, warum ich es nicht tat, war, dass ich die kleine Tochter meines Bruders bei mir hatte, denn dann wäre auch sie gestorben.«

Der Gefängnisaufseher behielt Turko zwei Monate lang, bis einer ihrer Onkel schließlich 2500 Dollar zahlte, um sie und ihre Nichte freizubekommen. Am 25. Mai 2015 wurde sie, nach mehr als neun Monaten Gefangenschaft, in ein Flüchtlingslager im Nordirak gebracht.

Auf der Hand hatte sie ein kleines Tattoo. Sie erklärte mir, dass es der Name ihres Bruders sei. »Ich habe sonst niemanden«, sagte sie. »Mein Vater starb schon vor Jahren, und meine Mutter sah ich das letzte Mal im IS-Gefängnis, nachdem man uns gefangen genommen hatte. Aus meiner ganzen Familie sind so viele gestorben. Deshalb habe ich mich, als ich von der Luftbrücke nach Deutschland hörte, gemeldet, um mit meiner Schwägerin und meiner Nichte mitzufliegen. Was sollten wir noch im Irak, wir, die wir vergewaltigt und beschmutzt worden waren?«

Turko in Schwäbisch Hall

In Deutschland gab es zu diesem Zeitpunkt schon lange eine recht große jesidische Gemeinde. Der Gedanke, Frauen wie Turko Schutz zu bieten, war im September 2014 aufgekommen, als Jesidenführer aus der Region an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann herantraten. »Bitte, unternehmen Sie etwas!«, baten sie ihn inständig und zeigten ihm Bilder vom Massenmord an ihren Landsleuten in Sindschar, darunter solche von Enthauptungen und Kreuzigungen. Sie berichteten ihm auch von Mädchen, die als Sexsklavinnen gehalten werden.

Als bekennender Christ und Mitglied der Grünen war Kretschmann entsetzt. Gemeinsam mit Michael Blume, dem Beauftragten der Landesregierung für religiöse Minderheiten, der mit einer türkischen Muslimin verheiratet ist, fand er heraus, dass ein Bundesland nach deutschem Gesetz in einer humanitären Krise im Ausland tätig werden kann, auch wenn noch niemand von diesem Recht Gebrauch gemacht hatte.

Im Oktober desselben Jahres veranstaltete die Landesregierung einen Flüchtlingsgipfel, zu dem sie Mitglieder politischer Parteien, Kirchenvertreter und Bürgermeister an einen Tisch brachte. Alle waren sich einig, dass man helfen müsse, und mittels einer Luftbrücke sollten 1100 Frauen und Kinder aus dem Irak herausgeholt werden und drei Jahre gültige Visa bekommen. 90 Millionen Euro wurden für das Projekt Sonderkontingent-Nordirak bereitgestellt. Michael Blume übernahm die Leitung.

»Die Bundesregierung sagte, wir, das Land, müssten alles alleine machen«, erläuterte er. »Wir wussten nicht, wie – wir hatten keine Armee, keine Leute vor Ort.«

Blume setzte sich mit Jan Kizilhan in Verbindung, einem auf Traumata spezialisierten Psychologen mit jesidisch-kurdischen Wurzeln, und im Februar 2015 machten sie sich zusammen mit einem Arzt auf den Weg in den Irak.

Vielen der versklavten Frauen war schon die Flucht gelungen, oder sie waren wie Turko freigekauft worden und befanden sich in Lagern im nordirakischen Kurdistan. Etwa 1600 Frauen wurden an die deutschen Ärzte verwiesen. Jede unterzog sich einer einstündigen psychologischen Beurteilung, einer medizinischen Untersuchung sowie einem Gespräch darüber, wie ihr das Programm von Nutzen sein könnte.

Ihre Geschichten lagen jenseits der Vorstellungskraft der drei Deutschen. »Wenn man das gehört hat, kann man nicht schlafen«, sagte Michael Blume.

Da war die Mutter, die ihm erzählte, wie sie gezwungen worden war, zu konvertieren und aus dem Koran vorzulesen, dann aber in einem Abschnitt ins Stocken geriet, woraufhin man ihr Baby vor ihren Augen folterte und tötete. Ein achtjähriges Mädchen, das von einem Mann zum anderen weiterverkauft und Hunderte Male vergewaltigt worden war. Oder die junge Frau mit dem schwer vernarbten Gesicht und Hals, die sich vor Verzweiflung selbst angezündet hatte.

»Als Mann schäme ich mich, und meine Frau tut das auch, weil sie Muslimin ist«, erklärte er. »Und als Deutscher weiß ich, dass vor weniger als einem Jahrhundert unsere eigene europäische Zivilisation auch so schlimme Dinge getan hat, und wir scheinen nichts dazuzulernen.«

Vielleicht war es kein Zufall, dass gerade Deutschland die jesidischen Frauen aufnahm, so wie auch Angela Merkel gesagt hatte: »Wir schaffen das«, als sie für eine Million Flüchtlinge die Grenzen öffnete, während das übrige Europa seine Grenzen schloss.

»Das Schwerste war zu entscheiden, wen wir mitnehmen sollten und wen nicht«, erzählte Michael Blume. »Wie entscheidet man sich zwischen einer Frau, die zwei Kinder verloren hat, und einer anderen, die nur eins verloren hat, das aber vor ihren Augen getötet wurde?«

Oberste Priorität hatten Notfälle. »Manche waren selbstmordgefährdet«, so Blume, »oder wären gestorben, weil sie schwerkrank waren – gynäkologische Verletzungen oder schlimme Verbrennungen durch Selbstverstümmelung.«

Für die Übrigen gab es drei Kriterien: ob sie traumatisierende Gewalt erfahren hatten, ob sie ohne familiären Rückhalt waren (viele Ehemänner, wenn sie denn noch lebten, nahmen ihre Frauen nicht wieder auf) und ob ein Ortswechsel nach Deutschland ihnen helfen würde.

»Es war schrecklich, nicht alle mitnehmen zu können«, bekannte Blume. »Aber jedes Leben ist die Mühe wert.«

Im März 2015 wurden die ersten Frauen von Erbil nach Stuttgart geflogen. Im folgenden Jahr reiste Blume noch zwölfmal in den Irak und holte 500 weitere Frauen und 600 Kinder heraus. Etwa 1000 von ihnen nahm Baden-Württemberg auf, 60 Niedersachsen und 32 Schleswig-Holstein.

Es war eine bemerkenswerte Geste eines einzelnen Bundeslandes. Allerdings ging man von mehr als 5000 versklavten Frauen aus, sodass sie, wie Blume schätzte, nur einem Drittel der Bedürftigen hatten Zuflucht geben können. »Am Ende wurden etwa 2000 an uns verwiesen, und in der Zwischenzeit stieg die Zahl weiter an, da mehr Mädchen die Flucht gelang oder sie sich freikaufen konnten. Wir glauben, dass immer noch über 2000 Frauen in irakischen Lagern auf Hilfe warten.«

Unter den geretteten Kindern waren Jungen, die geschlagen und zum Dienst als Kindersoldaten gezwungen worden waren. Sie waren alle unter 13, da der IS über 14-Jährige tötete. »Sie wurden umgebracht, wenn sie Haare an den Fußknöcheln hatten«, berichtete Blume.

Als Vater von zwei Söhnen und einer Tochter gingen ihm die Geschichten der Kinder besonders nah. »Einmal kam ich in mein Büro im Irak, und dort stand ein 13-jähriges jesidisches Mädchen mit dem Rücken zu mir. Sie sah ganz genauso aus wie meine Tochter. Die Haare und alles … Da wurde mir bewusst, dass es auch unsere hätten sein können. Diese Kinder sind nicht anders als unsere Kinder.«

Es kostete mich eine Reihe von Anrufen und ein paar Wochen nach meiner Rückkehr aus Leros, um herauszufinden, dass es kein geheimes Dorf mit geretteten jesidischen Mädchen gab, wie die Flüchtlinge mir berichtet hatten, sondern ein ganzes Bundesland. Man hatte sie an 23 verdeckten Schutzorten in 21 unterschiedlichen Städten einquartiert, überwiegend in abgelegenen Gegenden, den Blicken entzogen, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden.

Michael Blume war einverstanden, dass ich mich mit einigen der Frauen traf, die bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen. Das erste Anzeichen dafür, wie schwierig sich die Reise gestalten würde, kam, als Shaker Jeffrey, der junge jesidische Flüchtling, der in Deutschland lebte und sich als Dolmetscher zur Verfügung gestellt hatte, in den Tagen unmittelbar vor meinem Flug nach Stuttgart plötzlich nicht mehr an sein Telefon ging.

»Er macht gerade eine persönliche Krise durch«, erklärte mir der jesidische Arzt, der den Kontakt hergestellt hatte. Als wir uns dann schließlich kennenlernten, erfuhr ich von ihm, dass auch seine Verlobte, Dil-Mir, unter den versklavten Mädchen war, die man nach Raqqa, dem IS-Stützpunkt in Syrien, gebracht hatte. »Alles war vorgezeichnet in meinem Leben«, sagte er. Er sprach ausgezeichnet Englisch, denn er hatte schon als Dolmetscher für die US-Truppen im Irak gearbeitet. »Ich studierte Pharmazie an der Universität von Mossul, hatte Geld von meinem Job gespart und sollte an meinem Geburtstag, dem 4. September 2014, das Mädchen heiraten, das ich liebte. Doch einen Monat zuvor kam der IS und nahm sie mit.«

Wie Zehntausende weitere Jesiden flohen Shaker, seine Mutter und fünf Geschwister in die Berge, wo sie in brütender Hitze die Felsen hinaufkletterten. »Es gab kein Wasser, kein Essen, keinen Schatten – es war ein Inferno«, erklärte er. Da rief Dil-Mir an und sagte ihm, dass sie entführt worden war. Seltsamerweise hatte der IS den Mädchen nicht ihre Handys abgenommen, sodass sie sich aus der Gefangenschaft mit besorgten Angehörigen in Verbindung setzen konnten.

»Am ersten Tag vergewaltigten sie sie dreimal«, fuhr er fort. »Dann wurde sie an zwei Brüder weitergereicht, Kämpfer, die sie für sich kochen und tanzen … und noch andere Sachen machen ließen.«

Während er seine kranke Mutter in die Türkei begleitete, suchte Shaker nach Mitteln und Wegen, Dil-Mir freizukaufen. Zweimal versuchte sie zu entkommen und scheiterte. Er verkleidete sich sogar als IS-Kämpfer und ging auf einen Sklavenmarkt in der Nähe von Aleppo in der Hoffnung, sie kaufen zu können. »Das letzte Mal, als es ihr gelang, mich anzurufen, sagte sie: ›Ich wünschte, ich wäre tot.‹ Sie klang so müde.«

Ihre letzte SMS lautete: »Komm mich suchen, Shaker. Mach schnell.« Dann meldete sie sich nicht mehr. Schließlich erfuhr er, dass sie Selbstmord begangen hatte. Er zeigte mir den Bildschirmschoner auf seinem Handy, ein Bild von einem hübschen Mädchen mit langen rotbraunen Haaren, einem breiten Lächeln und tanzenden Augen. »Ich konnte sie nicht retten«, sagte er. »Sie wäre jetzt 21.«

Seine Augen waren feucht. »Deshalb bin ich hier«, sagte er nach einer Weile. »Was ich in den Bergen sah und was sie meiner Verlobten angetan haben, hat mein Herz versteinert – es war mir egal, ob ich lebte oder starb. Zuerst wollte ich gegen die Leute kämpfen, die das getan haben. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass die beste Rache war, nach Europa zu gehen und den Mädchen zu helfen, die überlebt haben, und der Welt die Augen zu öffnen.«

Er nahm Abschied von seiner Mutter und verließ das Lager, in dem sie in der Türkei lebten. Dann überquerte er einen Fluss nach Bulgarien und zog weiter durch Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland, wobei er die 4000 Dollar, die er für seine Hochzeit gespart hatte, für einen Schlepper ausgab. Die Reise dauerte 22 Tage, während derer er mehrere Male festgehalten wurde. In Deutschland hatte man ihm Asyl gewährt. Dort unterhielt er auch eine Facebook-Gruppe von Jesiden-Aktivisten, um zu versuchen, andere Mädchen zu retten – doch das war nicht das Leben, das er sich erträumt hatte.

Der erste Schutzort war eine lange Autofahrt von Stuttgart entfernt, und so nutzte ich die Gelegenheit, um Shaker zum Jesidentum zu befragen, über das ich bereits einiges gelesen hatte seit meinem Besuch bei den Flüchtlingen auf Leros. »Wenn man das Jesidentum googelt, ist nur 1 Prozent davon wahr«, erklärte er.

Das Jesidentum ist eine geheimnisvolle Religion, die ursprünglich aus Mesopotamien kommt und älter ist als der Islam. Sie umfasst Elemente aus dem Christentum, dem Sufismus und dem Zoroastrismus. Die Jesiden nennen sich selbst auch Eziden, ein Begriff, der sich ableitet von ihrer Bezeichnung für Gott und der wörtlich Anhänger Gottes bedeutet.

Manche halten das Jesidentum nicht für eine Religion, da es, anders als Christentum, Judentum und Islam, kein heiliges Buch besitzt. Doch Shaker ist anderer Meinung. »Wir hatten ein solches Buch, das Schwarze Buch, aber es wurde gestohlen«, erklärte er.

Ich sagte ihm, dass es mich wundere, ihn in einem blauen Hemd zu sehen – ich hatte nämlich gelesen, dass Jesiden eine Aversion gegen Blau haben wie auch gegen Kopfsalat. Er lachte. »Das gilt für die ältere Generation wie meine Mum – sie würde nie Salat essen!«

Die Abneigung gegen Salat konnte er sich auch nicht erklären, er glaubte aber, dass die Aversion gegen Blau in die Zeit des osmanischen Herrschers Ahmed Pascha zurückreicht, dessen Truppen einen der vielen Völkermorde an den Jesiden begingen. Sie trugen blaue Hüte.

Es gibt etwa eine Million Jesiden auf der Welt. 450 000 davon lebten in Sindschar. Neben Deutschland leben viele von ihnen in den USA. Sie verehren die Sonne und einen Pfauenengel, den ihrem Glauben nach Gott noch vor dem Menschen erschaffen und dann auf die Erde geschickt hat, damit er sie mit den Farben seines Gefieders bemale und zum schönsten Planeten mache. Mittwochs duschen Jesiden nicht, weil sie glauben, dass an diesem Tag der Pfauenengel auf die Erde kam.

Den IS-Kämpfern wurde beigebracht, dieser Pfauenengel sei Iblis, die satanische Gestalt aus dem Koran, und Jesiden seien Teufelsanbeter. Dabei kamen sie mir wie die sanftesten Menschen vor, denen ich je begegnet war.

Unterwegs kauften wir für die Frauen Kuchen in Schwäbisch Hall, einem mittelalterlichen Städtchen mit rosa und gelben Fachwerkhäusern und Kopfsteinpflaster, das aussieht, als stamme es aus einem Märchen. Der Schutzort war ganz in der Nähe, aber so abgeschieden, dass es eine Weile dauerte, bis wir ihn fanden. Schließlich kamen wir zu einer Ansammlung von Wohnhäusern, fast wie ein Studentenwohnheim mitten im Grünen. Zu meiner Überraschung war das hier wieder eine psychiatrische Klinik. Wir machten das dreistöckige Gebäude ausfindig, in dem die 39 Jesidinnen wohnten. Ein paar Kinder spielten nah bei der Tür mit ihren Fahrrädern, trauten sich aber nicht weit weg.

Wir wurden in einen langen kahlen Raum geführt, dessen einzige Dekoration in einer Reihe von an die Wand gehefteten bunten Kinderzeichnungen von Vögeln, Blumen und Schmetterlingen bestand. Eine Gruppe von Frauen kam herein, mit gehetzten Blicken wie Figuren aus einem Edvard-Munch-Gemälde. Einige Türen führten zu Schlafräumen. In einem davon trafen wir Turko.

Dann gingen wir nach oben, um eine sehr viel jüngere Frau von erst 18 Jahren namens Rojian zu treffen. Sie begrüßte uns mit einem unsicheren Lächeln hinter einem Vorhang aus mahagonifarbenem Haar.

Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, bekleidet mit einem schwarzen T-Shirt und schwarzer Jogginghose. Ihr einziger Schmuck war ein goldener Pfauenengel an einer Kette um den Hals. Wie Turkos Zimmer war auch das ihre klein und karg. Lediglich ein jesidischer Kalender diente als Verzierung. Neben ihr auf dem Bett lag ihr Handy. Das Wort Hope stand in funkelndem Pink auf der Hülle geschrieben.

Rojian erzählte mir, dass sie die Nichte von Nadia Murat sei, die der Tragödie der Jesiden weltweit ein Gesicht gegeben hat. Murad war mit 19 von IS-Kämpfern gefangen genommen worden, die sechs ihrer Brüder sowie ihre Mutter töteten. Nachdem ihr die Flucht gelungen war, war sie die Erste, die ihre Geschichte auf der Weltbühne erzählte. Im September 2016 war sie zur Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel ernannt worden.

»Nadia und ich wurden zusammen gefangen genommen«, berichtete Rojian. »Mein Vater, den der IS umbrachte, war ihr Bruder. Das ist sein Name«, erklärte sie, während sie die Inschrift auf ihrem Pfauen-Anhänger berührte.

Rojians Pfauenengel-Anhänger

Rojian war erst 16, als am 3. August 2014 der IS in ihr Dorf in der Nähe von Kodscho eindrang. Wie die meisten Jesiden in Sindschar war ihre Familie arm, und sie hatte zwei Jahre zuvor die Schule verlassen, um auf den Feldern beim Anbau von Kartoffeln und Zwiebeln mitzuhelfen.

»Einige Dorfbewohner flohen zum Berg Sindschar. Sie dachten, unser heiliger Berg würde ihnen Schutz bieten. Aber er war weit weg, und wir hörten, dass die IS-Kämpfer alle töteten, die es versuchten, daher flüchteten wir uns ins Nachbardorf, wo meine Großmutter [Nadias Mutter] lebte.

Fast zwei Wochen lang wurden wir belagert. Alle Wege nach draußen wurden von IS-Kämpfern versperrt, wir konnten die Gebetsrufe von ihren Kontrollpunkten hören. Wir blieben im Haus, weil wir Angst hatten. Immer wenn Strom da war, schauten wir fern und sahen, wie die Menschen auf dem Berg verzweifelt versuchten, in die irakischen Hubschrauber zu gelangen, die man zu ihrer Rettung geschickt hatte, oder die Hilfspakete zu ergattern, die sie abwarfen.

Wir wussten nicht, was mit uns passieren würde. Nach neun Tagen kam ein IS-Kommandant und stellte uns ein Ultimatum – entweder wir konvertierten und wurden Angehörige des Kalifats, oder wir mussten die Folgen tragen.

Drei Tage später kamen noch mehr Kämpfer. Sie kletterten auf die höchsten Dächer und riefen durch Megafone alle in der Grundschule zusammen. Zum ersten Mal seit der Umzinglung des Dorfes waren die Straßen voller Menschen, aber wir hatten solche Angst, dass niemand etwas sagte oder den anderen grüßte.

Die Männer mussten im Hof bleiben, und wir Frauen und Kinder wurden nach oben geschickt. Sie sagten uns: Gebt uns alles, was ihr besitzt, dann gehen wir wieder. Sie hielten uns große Taschen hin, und die Leute warfen Geld, Handys und Schmuck hinein. Meine Großmutter gab ihren Ehering ab.

Dann luden sie Männer und halbwüchsige Jungen in Lastwagen und fuhren mit ihnen weg. Ein paar Minuten später hörten wir Schüsse. Die Leute fingen an zu schreien: ›Sie bringen die Männer um!‹, dann sahen wir IS-Kämpfer mit Schaufeln.«

Nicht weniger als 600 Männer aus dem Dorf wurden getötet, darunter ihr Vater und fünf ihrer Onkel, Nadias Brüder. Nur wer so jung war, dass er noch keine Haare an den Beinen oder unter den Armen hatte, wurde verschont und zur Ausbildung weggebracht.

»Dann kamen die Lastwagen zurück zur Schule, um uns Frauen und Mädchen zu holen. Wir flehten sie an: ›Was habt ihr mit unseren Männern gemacht?‹, aber sie befahlen uns nur einzusteigen. Wir hatten schreckliche Angst, aber uns blieb keine Wahl.

Sie fuhren mit uns zu einer anderen Schule, wo Jungfrauen wie ich und Nadia von den älteren Frauen oder denen mit Kindern wie meine Mutter getrennt wurden. Große Busse mit Vorhängen an den Fenstern kamen, um uns Jungfrauen abzuholen.«

Die Busse brachten sie nach Mossul. Die irakische Stadt war im Juni vom IS eingenommen worden, und der Anführer der Gruppe, Abu Bakr Baghdadi, war in der altehrwürdigen Al-Nuri-Moschee erschienen und hatte das Kalifat ausgerufen, das sich seiner Ankündigung nach vom Irak bis nach Spanien erstrecken sollte.

»Sie steckten uns in ein dreistöckiges Gebäude, das vollgestopft war mit Hunderten von Frauen und Kindern und jeder Menge Kämpfern. Ein Mann ging herum und fasste uns an den Haaren, Brüsten und am Gesäß an, er tastete alle unsere Körperteile ab. Er erklärte uns, wir wären Ungläubige und sabaya – und er sagte: ›Wenn ihr schreit, werde ich euch töten.‹ Ich war mit Nadia zusammen, und als der Mann sie begrapschte, fing sie laut an zu schreien und die anderen Mädchen auch, deshalb schleiften sie Nadia aus dem Zimmer und schlugen sie und verbrannten sie mit Zigaretten.

Wir hörten, dass sie sich die Schönsten aussuchten, deshalb schmierten wir uns Dreck in die Haare, um abstoßend auszusehen, aber ein Mädchen verriet ihnen, was wir machten.

In der Nacht kam ein sehr dicker IS