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Ein kraftvolles und provokantes Plädoyer für Veränderung!
Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren. Caroline Criado-Perez erklärt, wie dieses System funktioniert. Sie legt die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Die so entstandene Wissenslücke liegt der kontinuierlichen und systematischen Diskriminierung von Frauen zugrunde und erzeugt eine unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das Leben von Frauen auswirkt. Kraftvoll und provokant plädiert Criado-Perez für einen Wandel dieses Systems und lässt uns die Welt mit neuen Augen sehen.
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Seitenzahl: 513
Zum Buch
Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren. Caroline Criado-Perez erklärt, wie dieses System funktioniert. Sie legt die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Die so entstandene Wissenslücke liegt der kontinuierlichen und systematischen Diskriminierung von Frauen zugrunde und erzeugt eine unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das Leben von Frauen auswirkt. Kraftvoll und provokant plädiert Criado-Perez für einen Wandel dieses Systems und lässt uns die Welt mit neuen Augen sehen.
Zur Autorin
CAROLINE CRIADO-PEREZ, 1984 geboren, ist Autorin und Rundfunkjournalistin. Sie publiziert u. a. im New Statesman und im Guardian und hält regelmäßig Vorträge. Ihr erstes Buch »Do it Like a Woman« wurde von den Medien als »ein eindringlicher journalistischer Text« und zu einem der »Bücher des Jahres« des Guardian gekürt, »Alle jungen Mädchen und Frauen sollten ein Exemplar besitzen.« Als eine der international bedeutendsten feministischen Aktivistinnen der Gegenwart wurde Criado-Perez mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Zu ihren bekanntesten Kampagnen-Erfolgen gehören die Mitfinanzierung der Website Women’s Room, der Abdruck einer Frau auf britischen Banknoten, die Verpflichtung von Twitter, seinen Umgang mit dem Thema Missbrauch zu ändern, und die Aufstellung einer Statue der Frauenrechtlerin Millicent Fawcett auf dem Parliament Square. 2013 wurde Caroline Criado-Perez zum Human Rights Campaigner of the Year ernannt. Seit 2015 ist sie Officer of the Order of the British Empire (OBE). Sie lebt in London.
Caroline Criado-Perez
UNSICHTBARE FRAUEN
Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert
Aus dem Englischen von Stephanie Singh
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Invisible Women. Exposing data in a world designed for men« bei Chatto & Windus, London.
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© by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe © Caroline Criado-Perez 2019. All rights reserved.
Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Illustration von © Sophie Harris
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
mr · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-22377-9V008www.btb-verlag.de
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Für die beharrlichen Frauen – bleibt verdammt noch mal schwierig!
Vorwort
Einleitung: Der männliche Prototyp
TEIL I: Alltagsleben
1 Kann Schneeräumen sexistisch sein?
2 Geschlechtergerechtigkeit mit Urinalen?
TEIL II: Am Arbeitsplatz
3 Der lange Freitag
4 Der Mythos von der Meritokratie
5 Der Henry-Higgins-Effekt
6 Wenn frau weniger wert ist als ein Schuh
TEIL III: Design
7 Die Pflug-These
8 Was Männern passt, hat allen zu passen
9 Ein Männermeer
TEIL IV: Der Arztbesuch
10 Wirkungslose Medikamente
11 Das Yentl-Syndrom
TEIL V: Öffentliches Leben
12 Die Ausbeutung einer kostenlosen Ressource
13 Von der Handtasche zum Geldbeutel
14 Frauenrechte sind Menschenrechte
TEIL VI: Wenn etwas schiefgeht
15 Wer leistet den Wiederaufbau?
16 Nicht die Katastrophe ist tödlich …
Nachwort
Danksagung
Anhang
Die Vorstellung der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit dem der absoluten Wahrheit gleichsetzen.
SIMONE DE BEAUVOIR
Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Beginnend mit der Theorie vom Mann als Jäger räumten die Chronisten der Vergangenheit der Frau in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht viel Platz ein. Stattdessen galten männliche Lebensläufe als repräsentativ für alle Menschen. Über das Leben der anderen Hälfte der Menschheit wurde und wird oft einfach nur geschwiegen.
Dieses Schweigen ist überall; es durchzieht unsere gesamte Kultur, von Filmen über Nachrichten, Literatur, Wissenschaft und Stadtplanung bis in die Wirtschaft hinein. Alle Geschichten, die wir über unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen, sind von Abwesenheit geprägt – genauer: entstellt. Diese Leerstelle hat eine dezidiert weibliche Form. Es ist eine geschlechterbezogene Lücke in den wissenschaftlichen Daten, eine Gender Data Gap.
Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. Diese Folgen können relativ gering ausfallen, etwa wenn Frauen frieren, weil die Temperaturnormen in Büros an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet sind, oder wenn sie ein Regal nicht erreichen können, das gemäß der Norm nach männlicher Körpergröße gebaut wurde. Gewiss, solche Dinge nerven. Und sind zweifellos ungerecht.
Aber sie sind nicht lebensbedrohlich – anders als bei einem Unfall mit einem Auto, dessen Sicherheitsvorrichtungen weibliche Körpermaße nicht berücksichtigen. Anders als bei einem unerkannten Herzinfarkt einer Frau, dessen Symptome als »untypisch« gelten. Für Frauen in diesen Situationen kann das Leben in einer Welt, die auf männerbezogenen Daten basiert, tödliche Folgen haben.
Eine der wichtigsten Feststellungen über die Gender Data Gap ist, dass sie keine bösen Absichten verfolgt oder auch nur bewusst erzeugt wurde. Im Gegenteil. Sie ist schlicht und einfach Ergebnis eines Denkens, das seit Jahrtausenden vorherrscht und deshalb eine Art Nicht-Denken ist. Sogar ein doppeltes Nicht-Denken: Männer sind die unausgesprochene Selbstverständlichkeit, und über Frauen wird gar nicht geredet. Denn wenn wir »Mensch« sagen, meinen wir meistens den Mann.
Diese Beobachtung ist nicht neu. Berühmt ist etwa Simone de Beauvoirs Formulierung aus dem Jahr 1949: »Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: Sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen. […] Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: Sie ist das Andere.«1 Neu ist aber der Kontext, in dem Frauen weiterhin »das Andere« bleiben – eine Welt, die immer stärker auf Daten basiert und immer stärker von Daten beherrscht wird. Konkret von Big Data. Die wiederum auf von großen Computern mittels großer Algorithmen produzierten großen Wahrheiten beruhen. Aber wenn Big Data von umfassendem Schweigen korrumpiert wird, bekommen wir bestenfalls Halbwahrheiten – die auf Frauen oft gar nicht zutreffen. Informatikerinnen und Informatiker fassen dieses Problem bekanntlich mit der Wendung garbage in, garbage out zusammen.
In diesem neuen Kontext ist es umso dringender geboten, die Geschlechterlücke in den Daten zu schließen. Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt bereits heute Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosestellung, sichtet Bewerbungen oder führt sogar Bewerbungsgespräche. Doch die Daten, auf denen die KI basiert, sind voller Lücken – und da Algorithmen oft als proprietäre Software geschützt sind, können wir nicht einmal untersuchen, ob diese Lücken berücksichtigt wurden. Allem Anschein nach geschieht dies nicht.
Zahlen, Technologie und Algorithmen sind für die Geschichte der Unsichtbaren Frauen von entscheidender Bedeutung. Aber sie erzählen nur die halbe Geschichte. »Daten« ist nur ein anderes Wort für Informationen, und Informationen können aus vielen Quellen stammen. Statistiken sind eine Art Information, genauso aber menschliche Erfahrungen. Ich vertrete deshalb die Ansicht, dass wir eine Welt, die für alle funktionieren soll, nicht ohne Frauen entwerfen können. Wenn Entscheidungen, die uns alle betreffen, nur von weißen, gesunden Männern getroffen werden, die in neun von zehn Fällen aus den USA stammen, ist auch dies eine Datenlücke – genau wie das Übergehen weiblicher Körper in der medizinischen Forschung. Ich werde zeigen, dass das Fehlen der weiblichen Perspektive eine unabsichtliche Verzerrung zugunsten der Männer befördert, die sich selbst – oft ohne böse Absicht – als »geschlechterneutral« begreifen. Genau das meinte de Beauvoir, als sie sagte, Männer verwechselten den eigenen Standpunkt mit der absoluten Wahrheit.
Die von Männern nicht berücksichtigten frauenspezifischen Faktoren betreffen die verschiedensten Bereiche. Dieses Buch wird jedoch zeigen, dass drei Themen wieder und wieder auftauchen: der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen. Diese Themen sind von so großer Bedeutung, dass sie alle Bereiche – von öffentlichem Nahverkehr über Arbeitsplätze und ärztliche Eingriffe bis hin zur Politik – betreffen. Doch Männer vergessen diese Themen, weil sie keine weiblichen Körper haben. Wie wir sehen werden, leisten Männer nur einen Bruchteil der unbezahlten Arbeit, die von Frauen erledigt wird. Sie sind zwar auch von männlicher Gewalt betroffen, doch diese manifestiert sich anders als die Gewalt, von der Frauen betroffen sind. So werden die Unterschiede ignoriert, und wir fahren fort, als seien der männliche Körper und dessen Lebenserfahrung geschlechterneutral. Dabei handelt es sich um eine Form der Diskriminierung von Frauen.
In diesem Buch verwende ich die Begriffe biologisches Geschlecht (sex) und soziales Geschlecht (gender). Als biologisches Geschlecht bezeichne ich die biologischen Merkmale, die ein Individuum als männlich oder weiblich determinieren, also die Chromosomen XX und XY. Mit dem sozialen Geschlecht meine ich die gesellschaftlichen Zuschreibungen, die wir diesen biologischen Fakten aufzwingen – wie Frauen behandelt werden, weil sie als weiblich wahrgenommen werden. Eine der beiden Bedeutungen von »Geschlecht« ist vom Menschen gemacht, aber beide sind real. Und beide haben starke Auswirkungen auf Frauen, die sich in dieser auf männerbasierten Daten basierenden Welt zurechtfinden müssen.
Obwohl ich zwischen biologischem und sozialem Geschlecht unterscheide, verwende ich den Begriff »geschlechterbezogene Datenlücke« (gender data gap) als übergeordneten Begriff, weil das biologische Geschlecht nicht der Grund für den Ausschluss von Frauen aus der Erhebung wissenschaftlicher Daten ist. Grund dafür ist vielmehr gender, das soziale Geschlecht. Indem ich das Phänomen benenne, das so vielen Frauen in so hohem Maße schadet, will ich keinen Zweifel an der Ursache lassen. Entgegen vieler in diesem Buch zitierter Behauptungen ist der weibliche Körper nicht das Problem. Das Problem sind die sozialen Bedeutungen, die wir diesem Körper zuschreiben, und das – gleichermaßen gesellschaftlich bestimmte – fehlende Eingeständnis dieser Zuschreibungspraxis.
Unsichtbare Frauen ist eine Geschichte der Abwesenheit, weshalb es manchmal schwer ist, diese Geschichte niederzuschreiben. Es gibt eine Leerstelle in den wissenschaftlichen Daten in Bezug auf Frauen im Allgemeinen (weil wir diese Daten meist nicht erheben und, falls wir es doch tun, sie nicht nach Geschlecht unterscheiden), doch über Schwarze Frauen, behinderte Frauen oder Frauen aus der Arbeiterschicht gibt es praktisch keinerlei wissenschaftliche Daten. Nicht nur, weil sie gar nicht erst erhoben werden, sondern auch, weil sie nicht von den über Männer erhobenen Daten getrennt werden (also nicht geschlechtsspezifisch sind). Statistiken über Anteile an akademischen Berufen oder Filmrollen beinhalten Daten über »Frauen« und »ethnische Minderheiten«, aber weibliche Angehörige ethnischer Minderheiten gehen in diesen größeren Gruppen verloren. Wo solche genauen Daten existieren, führe ich sie an – aber das ist fast nie der Fall.
Dieses Buch will keine Psychoanalyse sein. Ich habe keinen direkten Zugang zu den Gedankenwelten derer, die die geschlechterbasierte Datenlücke fortschreiben. Deshalb kann dieses Buch auch keinen letzten Beweis dafür liefern, warum es diese Leerstelle gibt. Ich kann die Daten nur präsentieren und meine Leserinnen und Leser bitten, sich die Tatsachen anzusehen. Doch mich interessiert auch gar nicht, ob der Hersteller eines Geräts, das Männer bevorzugt, insgeheim sexistisch ist. Private Gründe sind hier bis zu einem gewissen Grad irrelevant. Entscheidend ist das Muster. Entscheidend ist, ob angesichts der in diesem Buch dargelegten Daten die Schlussfolgerung getroffen werden kann, die Datenlücke sei bloßer Zufall.
Meine Antwort lautet: Sie ist kein Zufall. Die geschlechtsbezogene Datenlücke ist sowohl Grund als auch Folge eines Nicht-Denkens, das sich die Menschheit als fast ausschließlich männlich vorstellt. Ich werde zeigen, wie häufig diese Bevorzugung auftritt, wie weit verbreitet sie ist und wie sie die angeblich objektiven Daten verzerrt, die unser aller Leben zunehmend bestimmen. Ich werde zeigen, dass – selbst in unserer hochrationalen, zunehmend von unparteiischen Supercomputern gesteuerten Welt – Frauen noch immer das andere Geschlecht sind, von dem Simone de Beauvoir sprach, und dass die Reduktion von Frauen auf einen Subtyp des Männlichen auch und gerade heute ganz reale Gefahren birgt.
Das Bild vom Mann als Prototyp des Menschen ist grundlegend für die Struktur unserer Gesellschaft. Es ist eine alte, tief verwurzelte Tradition, die so weit reicht wie die Theorie der menschlichen Evolution selbst. Schon Aristoteles behandelte im 4. Jahrhundert vor Christus in Von der Entstehung der Tiere den männlichen Prototyp als unbestreitbares Faktum, indem er weiblichen Nachwuchs als eine Abweichung bezeichnete. (Immerhin gestand er zu, diese Abweichung sei eine natürliche Notwendigkeit.)
Mehr als 2000 Jahre später fand an der University of Chicago 1966 ein Symposion über primitive Jäger-Sammler-Gesellschaften statt. Die Veranstaltung trug den Titel »Der Mann als Jäger«. Über 75 Sozialanthropologen aus der ganzen Welt diskutierten über die Bedeutung der Jagd für die Entwicklung der Menschheit. Man kam zu dem Schluss, dass die Jagd von zentraler Bedeutung war: »Den Jägern der Vergangenheit verdanken wir die Biologie, Psychologie und Sitten, die uns von den Affen trennen«,2 resümierte ein Artikel aus dem Sammelband zum Symposion. Das ist alles schön und gut, stellt aber, wie viele Feministinnen und Feministen aufgezeigt haben, ein Problem für die Evolution der Frauen dar. Der Sammelband präsentiert die Jagd als männliche Aktivität. Wenn aber »unser Intellekt, unsere Interessen, Gefühle und Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens alle das evolutionäre Produkt der erfolgreichen Anpassung an die Jagd« sind, was bedeutet das für das Menschsein der Frau? Wenn die menschliche Evolution von Männern vorangetrieben wird – sind Frauen dann überhaupt Menschen?
In ihrem mittlerweile klassischen Essay Woman the Gatherer (Die Frau als Sammlerin) hinterfragte die Anthropologin Sally Slocum den Primat des männlichen Jägers. Anthropologinnen und Anthropologen »suchen nach Beispielen männlichen Verhaltens und halten dies für eine ausreichende Erklärung«.3 Um das Schweigen zu brechen, stellte sie eine einfache Frage: »Was machten die Frauen, während die Männer auf der Jagd waren?« Die Antwort: Sie sammelten und kümmerten sich um die Kinder, wobei die Stillzeit viel länger dauerte als heute. Auch diese Tätigkeiten setzten Kooperation voraus. Vor diesem Hintergrund verleiht laut Slocum »die Schlussfolgerung, die grundlegende menschliche Anpassungsleistung sei das Bedürfnis der Männer nach der Jagd und dem Töten gewesen, […] der Aggression eine zu große Bedeutung, obwohl auch sie nur einer von vielen Faktoren des menschlichen Lebens ist«.
Slocums Kritik ist schon über 40 Jahre alt, aber die Verzerrung zugunsten der Männer innerhalb der Evolutionstheorie besteht fort. »Die Menschen haben Forschern zufolge einen Instinkt für tödliche Gewalt entwickelt«, lautete 2016 eine Überschrift der Zeitung The Independent. Berichtet wurde über den Fachartikel The phylogenetic roots of human lethal violence (Die phylogenetischen Wurzeln tödlicher Gewalt beim Menschen). Die These war, dass Menschen im Laufe ihrer Entwicklung sechsmal tödlicher für ihre eigene Spezies wurden als das durchschnittliche Säugetier.4
Insgesamt trifft dies auf unsere Spezies zweifellos zu. Doch tatsächlich wird Gewalt von Menschen gegen Menschen überwiegend von Männern ausgeübt: Eine über 30 Jahre dauernde Untersuchung über Morde in Schweden ergab, dass neun von zehn Morden von Männern verübt werden.5 Dies deckt sich mit Statistiken aus anderen Ländern, darunter Australien,6 Großbritannien7 und den USA.8 Eine Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2013 ergab, dass 96 Prozent der Mordenden weltweit männlich sind.9 Sind also Menschen oder Männer mörderisch veranlagt? Und wenn Frauen im Allgemeinen nicht morden, was ist dann von der weiblichen »Phylogenetik« zu halten?
Die – sofern nicht explizit anders markierte – rein männliche Herangehensweise an wissenschaftliche Forschung scheint die verschiedensten Bereiche der Ethnografie infiziert zu haben. Beispielsweise zeigen Höhlenmalereien oft Tiere, die gejagt wurden. Forschende nahmen deshalb an, die Zeichnungen stammten von Männern – nämlich den Jägern. Neue Analysen von Handabdrücken neben solchen Malereien in französischen und spanischen Höhlen legen jedoch nahe, dass die Mehrheit der Darstellungen von Frauen angefertigt wurde.10
Selbst menschliche Knochen fallen diesem männlichen Denken zum Opfer. Man könnte glauben, menschliche Skelette seien von diesem Denken ausgenommen, weil sie objektiv entweder männlich oder weiblich sind. Dieser Glauben wäre falsch. Über 100 Jahre lang wurde ein Wikingerskelett aus dem 10. Jahrhundert, bekannt als »Birka-Krieger«, für männlich gehalten, obwohl es ein weibliches Becken hat. Grund für diesen Irrglauben war die Tatsache, dass das Skelett zusammen mit einem vollständigen Waffensatz und zwei geopferten Pferden begraben war.11 Diese Grabbeigaben wiesen darauf hin, dass die beigesetzte Person ein männlicher Krieger war12 – die zahlreichen Verweise auf Kämpferinnen in den Wikingersagen bezeichneten die Forschenden als »mythische Ausschmückungen«.13 Obgleich Waffen im Hinblick auf das Geschlecht offensichtlich mehr Aussagekraft haben als Beckenknochen, können sie doch die DNA nicht entkräften: 2017 bestätigten Tests, dass die Knochen tatsächlich einer Frau gehörten.
Der Streit wurde damit jedoch nicht beendet, sondern nur verschoben.14 Vielleicht seien die Knochen vertauscht worden, oder es gebe andere Gründe für die Beisetzung einer Frau mit diesen Gegenständen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten mit beidem Recht haben (allerdings widersprechen die Autoren der Originalstudie diesen Kritikpunkten mit Verweis auf die Anordnung der Grabinhalte). Doch ihr Widerstand spricht für sich, insbesondere weil männliche Skelette unter ähnlichen Auffindebedingungen »nicht auf dieselbe Weise hinterfragt« werden.15 Wenn Archäologinnen und Archäologen Gräber ausheben, finden sie meist mehr Männer. Wie der Anthropologe Philip Walker 1995 in einem Kapitel über die Geschlechtsbestimmung von Schädeln trocken feststellte, entspricht dies »nicht dem, was wir über die Geschlechterverhältnisse rezenter menschlicher Populationen wissen.«16 Wikingerfrauen durften Eigentum besitzen, erben und sich manchmal zu mächtigen Händlerinnen entwickeln. Ist es so unwahrscheinlich, dass sie auch gekämpft haben?17
Immerhin sind dies bei Weitem nicht die einzigen bislang gefundenen Knochen von Kriegerinnen. »Skelette mehrerer Frauen mit Kampfverletzungen wurden in den eurasischen Steppen von Bulgarien bis in die Mongolei entdeckt«, so Natalie Hayes im Guardian.18 Die Skythen beispielsweise kämpften zu Pferd mit Pfeil und Bogen, sodass männliche Krieger keine Vorteile hatten. DNA-Tests an mit Waffen beerdigten Skeletten in skythischen Grabhügeln von der Ukraine bis nach Zentralasien haben gezeigt, dass bis zu 37 Prozent skythischer Frauen und Mädchen aktive Kämpferinnen waren.19
Unser Denken wird in hohem Maß von der Annahme »männlich bis zum Beweis des Gegenteils« bestimmt. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass es auch einem der Grundbausteine der Gesellschaft eingeschrieben ist – der Sprache selbst. Als Slocum die Verwerfungen innerhalb der anthropologischen Datenerhebung zugunsten der Männer kritisierte, sah sie die Schieflage »nicht nur in der Art, wie die spärlichen Daten interpretiert werden, sondern in der dabei verwendeten Sprache«. Sie stellte fest: »Das Wort ›Mann‹/›Mensch‹ (man) wird so uneindeutig verwendet, dass nicht klar wird, ob es sich auf Männer oder auf die menschliche Spezies als Ganzes bezieht.« Dieser Bedeutungseinbruch führte Slocum zu dem Verdacht, »in der Vorstellung vieler Anthropologen [sei] ›man‹, das doch angeblich die gesamte Spezies meint, exakt gleichbedeutend mit ›männlich‹«. Die Fakten zeigen, dass sie wohl Recht hatte.
Zahlreiche Studien in verschiedenen Sprachen haben in den letzten 40 Jahren immer wieder gezeigt, dass das »generische Maskulinum« (also die Verwendung männlicher Begriffe auf geschlechtsneutrale Weise) tatsächlich nicht generisch interpretiert wird.20 Vielmehr wird es in der überwältigenden Mehrheit der Fälle als männlich interpretiert.
Wo das generische Maskulinum verwendet wird, erinnern sich Menschen eher an berühmte Männer als an berühmte Frauen,21 glauben, eine Berufsgruppe sei von Männern dominiert22, und schlagen eher männliche Bewerber für bestimmte Posten oder politische Ämter vor.23 Frauen bewerben sich auch seltener auf Stellen, die mit dem generischen Maskulinum ausgeschrieben sind, und schneiden in entsprechenden Bewerbungsgesprächen schlechter ab.24 Das generische Maskulinum wird so umfassend als männlich interpretiert, dass es sogar andere mächtige Stereotypen überschreibt: Berufe wie Kosmetiker/in, die stereotyp weiblich konnotiert sind, werden plötzlich als männlich betrachtet.25 Das generische Maskulinum verzerrt wissenschaftliche Studien und führt zu einer Art geschlechtsbezogener Metadatenlücke: 2015 wurde untersucht, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre eigene Voreingenommenheit einschätzen. Die Studie ergab, dass die Verwendung des generischen Maskulinums in Fragebögen die Antworten von Frauen beeinflusste und möglicherweise sogar »die Bedeutung von Testergebnissen« verzerrte.26 Die Autoren kamen zu dem Schluss, das generische Maskulinum könne »nicht existierende Unterschiede zwischen Männern und Frauen darstellen, die mit geschlechtsneutralen oder nach natürlichen Geschlechtern unterscheidenden Formulierungen in demselben Fragebogen nicht aufträten«.
Obwohl die Fakten seit Jahrzehnten zeigen, dass das generische Maskulinum alles andere als eindeutig ist, betrachtet es die offizielle Sprachpolitik vieler Länder weiterhin als reine Formalität, die im Sinne der Klarheit weiterverwendet werden müsse. Noch 2017 wetterte die Académie Française, Frankreichs höchste Autorität in Sachen Sprache, über »den Irrweg ›inklusiven Schreibens‹«. Die »französische Sprache befinde sich in tödlicher Gefahr« angesichts der Versuche, das generische Maskulinum zu umgehen. Ähnliche Debatten gab es in vielen weiteren Ländern, darunter Spanien27 und Israel.28
Das Englische ist keine in grammatischer Hinsicht geschlechtsspezifische Sprache. Im modernen Gebrauch ist das generische Maskulinum deshalb eher selten. Begriffe wie doctor (Arzt) und poet (Dichter) waren früher generisch maskulin; Ärztinnen und Dichterinnen wurden als doctoresses und poetesses bezeichnet. Heute gelten diese Begriffe jedoch als geschlechtsneutral. Zwar bestehen heute nur noch Pedanten darauf, mit he »he or she« zu bezeichnen. Doch das generische Maskulinum feiert ein Comeback in umgangssprachlichen – angeblich geschlechtsneutralen – Amerikanismen wie dude und guys (bzw. lads in britischem Englisch). In Großbritannien kam es 2017 zu einer öffentlichen Debatte, die zeigt, wie viel Bedeutung der männliche Standard noch immer hat: Als die erste Chefin der Londoner Feuerwehr, Dany Cotton, vorschlug, fireman (Feuerwehrmann) durch firefighter zu ersetzen (was heute Standard – und, wenn wir ehrlich sind, viel cooler – ist), erhielt sie eine Flut an Hasszuschriften.29
In Sprachen wie Französisch, Deutsch und Spanisch wird jedoch nach dem Geschlecht gebeugt, sodass die Vorstellung von männlich und weiblich den Sprachen selbst eingeschrieben ist. Alle Nomen sind entweder männlich oder weiblich (oder, im Deutschen, auch sächlich).
Im Spanischen beispielsweise ist der Tisch weiblich, das Auto aber männlich: la mesa roja (der rote Tisch); el coche rojo (das rote Auto). Im Fall von Nomen, die auf Personen bezogen sind, gibt es zwar Maskulinum und Femininum, aber das Standardgeschlecht ist immer männlich. Sucht man bei Google etwa nach der deutschen Übersetzung für lawyer, erhält man Anwalt. Das Wort bezeichnet einen männlichen Anwalt, wird aber generisch für beide Geschlechter verwendet. Geht es spezifisch um eine Frau, wird Anwältin verwendet. Weibliche Nomen sind, wie hier, oft modifizierte männliche Nomen und damit eine weitere subtile Positionierung des Weiblichen als Abweichung vom Männlichen – als das »Andere«, wie de Beauvoir es ausgedrückt hat. Das generische Maskulinum wird auch verwendet, um Gruppen zu bezeichnen, wenn das Geschlecht unbekannt oder eine gemischte Gruppe gemeint ist. Im Spanischen beispielsweise würde eine Gruppe von 100 Lehrerinnen als las profesoras bezeichnet, doch sobald ein einziger männlicher Lehrer hinzukommt, wird daraus los profesores. Hier zeigt sich, wie mächtig der männliche Standard ist.
In Sprachen, in denen nach Geschlecht gebeugt wird, ist das generische Maskulinum nach wie vor allgegenwärtig. Stellenausschreibungen verwenden oft die männliche Form, besonders wenn es um Führungspositionen geht.30 Eine australische Studie über den Sprachgebrauch in Stellenausschreibungen für Führungspositionen ergab, dass männliche und »geschlechtergerechte« (also männliche und weibliche Begriffe umfassende) Formen im Verhältnis 27:1 stehen.31 Das Europäische Parlament meint, eine Lösung für dieses Problem gefunden zu haben, und empfiehlt seit 2008, dass Stellenausschreibungen in nach Geschlecht gebeugten Sprachen den Zusatz »(m/w)« enthalten sollten, in Deutschland seit 2018 so üblich: »(m/w/d)«. Man glaubt, das generische Maskulinum fairer zu machen, indem man an die Existenz von Frauen erinnert. Das ist ein schöner Gedanke, der aber leider nicht durch Forschungsergebnisse gestützt wird. Als die Auswirkungen wissenschaftlich überprüft wurden, kam heraus, dass die ausgrenzenden Effekte des generischen Maskulinums weiterhin so stark waren, als verwendete man es ohne den Zusatz. Dies zeigt, wie wichtig es ist, erst Daten zu erheben und dann die entsprechende Politik zu machen.32
Hat all der Streit um Worte überhaupt konkrete Auswirkungen? Wahrscheinlich schon. 2012 ergab eine Analyse des Weltwirtschaftsforums, dass in jenen Ländern die geringste Geschlechtergerechtigkeit herrscht, deren Sprachen nach Geschlecht gebeugt werden und in fast jeder Äußerung deutliche Vorstellungen von männlich und weiblich transportieren.33 Von Interesse ist das folgende Detail: In Ländern mit geschlechtslosen Sprachen (wie Ungarisch und Finnisch) herrscht keineswegs die größte Gleichberechtigung. Diese Ehre gebührt vielmehr einer dritten Gruppe, nämlich Ländern mit Sprachen, die mit dem »natürlichen Geschlecht« operieren, wie etwa das Englische. Diese Sprachen ermöglichen geschlechtliche Markierungen, schreiben sie jedoch nicht den Worten selbst ein (female teacher, male nurse). Die Autoren der Studie vermuten, dass die versteckten geschlechtsbezogenen Verzerrungen in einer Sprache nicht »korrigiert« und die »Präsenz der Frau in der Welt« nicht betont werden können, wenn das Geschlecht nicht markiert werden kann. Kurz: Weil Männer unausgesprochen immer gemeint sind, ist es von Bedeutung, ob Frauen im wahrsten Sinne des Wortes unausgesprochen bleiben.
Man könnte nun die in die Sprache eingebettete Bevorzugung von Männern für ein Überbleibsel aus rückständigen Zeiten halten. Doch die Fakten weisen in eine andere Richtung. Die »am schnellsten wachsende Sprache der Welt«,34 die von über 90 Prozent der Menschen online verwendet wird, ist Emoji.35 Sie entstand in Japan in den 1980er-Jahren und wird mehrheitlich von Frauen benutzt:36 78 Prozent der Frauen benutzen Emoji regelmäßig, im Vergleich zu 60 Prozent der Männer.37 Dennoch war die Welt der Emojis bis 2016 seltsamerweise männlich.
Die Emojis auf unseren Smartphones werden vom sogenannten Unicode Consortium ausgewählt, einer Gruppe von Organisationen aus dem Silicon Valley, die gemeinsam an universellen, internationalen Software-Standards arbeiten. Wenn Unicode beschließt, ein bestimmtes Emoji (beispielsweise »Spion«) zum aktuellen Bestand hinzuzufügen, entscheidet die Organisation auch über den Code, der dafür benutzt werden muss. Jeder Smartphone-Hersteller (oder jede Plattform wie Twitter und Facebook) entwirft dann ihre eigene Interpretation eines »Spions«. Aber sie verwenden alle denselben Code, damit User, die über verschiedene Plattformen hinweg kommunizieren, alle ungefähr dasselbe sagen. Ein Emoji-Gesicht mit Herzaugen ist eben ein Emoji-Gesicht mit Herzaugen.
Für die meisten Emoji-Figuren hat Unicode kein Geschlecht festgelegt. Das Emoji, das von den meisten Plattformen ursprünglich als laufender Mann dargestellt wurde, hieß nicht »laufender Mann«. Es hieß einfach runner (Läufer/in). Genauso nannte Unicode das Original-Emoji für einen Polizisten police officer (Polizist/in) und nicht policeman (Polizist). Doch die einzelnen Plattformen interpretierten die geschlechtsneutralen Begriffe als männlich.
2016 beschloss Unicode, etwas dagegen zu tun. Man gab die bisherige, geschlechtsneutrale Haltung auf und verlieh allen Emojis, die Menschen darstellten, explizit ein Geschlecht.38 Den bislang überall als männlich dargestellten runner ersetzte Unicode durch einen explizit männlichen Läufer und eine explizit weibliche Läuferin. Heute gibt es für alle Berufe und Sportarten männliche und weibliche Optionen. Das ist ein kleiner, aber bedeutsamer Sieg.
Es ist leicht, Smartphone-Hersteller und soziale Medien als sexistisch zu brandmarken (was sie, wie sich zeigen wird, auch sind – oft ohne es zu wissen). Fakt ist aber: Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, das Bild eines »geschlechtsneutralen« Läufers zu entwerfen, hätten die meisten es dennoch als männlich interpretiert – weil wir die meisten Dinge für männlich halten, solange sie nicht explizit als weiblich markiert sind.
Eine Studie aus dem Jahr 2015 hat analysiert, welche fünf Wörter am häufigsten in englischsprachigen Untersuchungen aus dem Jahr 2014 über die Interaktion von Menschen und Computern verwendet wurden. Die Wörter erscheinen alle genderneutral: user (Anwender/in), participant (Teilnehmer/in), person (Person), designer (Designer/in) und researcher (Forscher/in).39 Da haben die Studienautoren ganze Arbeit geleistet! Allerdings bleibt die Sache (natürlich) problematisch. Die Studienteilnehmer wurden aufgefordert, zehn Sekunden über eines der fünf Worte nachzudenken und dann ein Bild davon zu malen. Es zeigte sich, dass die scheinbar geschlechtsneutralen Begriffe nicht als gleichermaßen männlich und weiblich wahrgenommen wurden. Männliche Teilnehmer interpretierten nur designer in weniger als 80 Prozent der Fälle als männlich (aber es waren immer noch beinahe 70 Prozent). Ein researcher wurde eher geschlechtslos dargestellt als weiblich. Frauen waren etwas weniger vorurteilsbelastet, doch auch sie interpretierten geschlechtsneutrale Begriffe eher als männlich. Nur person und participant, die von 80 Prozent der männlichen Teilnehmer als männlich interpretiert wurden, standen bei den Frauen ungefähr im Verhältnis 50:50.
Dieses eher desillusionierende Ergebnis passt zu Studienergebnissen aus vergangenen Jahrzehnten. Wenn Teilnehmer aufgefordert wurden, einen Wissenschaftler zu zeichnen, malten sie mit überwältigender Mehrheit Männer. Die Bevorzugung von Männern ist historisch so ausgeprägt, dass eine Studie, laut der heute 28 Prozent der Kinder Frauen zeichnen, als großer Erfolg gefeiert wurde.40 Das Ergebnis stimmt beunruhigenderweise auch mit einer Studie von 2008 überein, in der pakistanische Schülerinnen und Schüler zwischen neun und zehn Jahren ein Bild von »uns« zeichnen sollten.41 Kaum eine der Schülerinnen und keiner der männlichen Schüler malten Frauen.
Selbst andere Lebewesen nehmen wir nicht von unserer Wahrnehmung der Welt als hauptsächlich männlich aus: In einer Studie sollten Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein geschlechtsneutrales Kuscheltier mit femininen Pronomen bezeichnen. Kinder, Eltern und Betreuende bezeichneten das Tier mit überwältigender Mehrheit dennoch als »er«.42
Fairerweise muss man sagen, dass diese Annahme nicht völlig abwegig ist: Oft ist das Tier wirklich männlich. Eine 2007 veröffentlichte internationale Studie über 25439 Fernseh-Figuren für Kinder ergab, dass nur 13 Prozent der nicht menschlichen Figuren weiblich sind. (Die Zahl menschlicher weiblicher Figuren war mit 32 Prozent etwas besser, aber noch immer niedrig.)43 Eine Analyse von Kinderfilmen, die zwischen 1990 und 2005 erschienen waren, ergab, dass nur 28 Prozent der Sprechrollen auf weibliche Figuren entfielen. Noch aussagekräftiger für die standardmäßige Darstellung von Menschen als männlich ist vielleicht, dass Frauen in Massenszenen nur 17 Prozent ausmachten.44
Männer haben nicht nur mehr Filmrollen, sondern sind auch doppelt so lange auf dem Bildschirm zu sehen. In Filmen mit männlicher Hauptrolle – also in den meisten Filmen – sogar dreimal so lange.45 Nur wenn die Hauptrolle weiblich ist, tauchen Männer und Frauen ungefähr gleich häufig auf. Anders als man vielleicht erwarten würde, sind Frauen also auch dann nicht öfter zu sehen. Männer haben insgesamt auch fast doppelt so viel Text wie Frauen; in Filmen mit männlicher Hauptrolle sogar dreimal so viel und in Filmen mit weiblichen und männlichen Co-Stars wieder fast doppelt so viel. Nur in den wenigen Filmen mit weiblicher Hauptrolle ist das Verhältnis ausgeglichen.
Dieses Ungleichgewicht herrscht nicht nur in Film und Fernsehen. Es ist überall.
Etwa bei Statuen: Ich habe alle Statuen in der Datenbank der UK Public Monuments and Sculptures Association gezählt und herausgefunden, dass es mehr Statuen von Männern namens John gibt als Statuen historischer, nicht königlicher Frauen. Der einzige Grund, warum es mehr Statuen von Königinnen als von Johns gibt, ist Queen Victoria, die mit Begeisterung Monumente von sich selbst aufstellen ließ – wofür ich ihr zähneknirschend Respekt zolle.
Das Ungleichgewicht zeigt sich auch bei den Banknoten: 2013 verkündete die Bank of England, man werde die einzige Frau auf den Geldscheinen durch einen weiteren Mann ersetzen. Dagegen führte ich eine erfolgreiche Kampagne, woraufhin auch in anderen Ländern, etwa in Kanada und den USA, solche Kampagnen entstanden.46
Das Ungleichgewicht herrscht auch in den Medien: Seit 1995 evaluiert das Global Media Monitoring Project die Darstellung von Frauen in den weltweiten Nachrichten (Printmedien, Radio und Fernsehen). Der jüngste Bericht stammt aus dem Jahr 2015. Demnach »bilden Frauen nur 24 Prozent der Personen, die in Zeitungs-, Fernseh- und Radionachrichten gehört und gesehen werden, genau wie 2010.«47
Das Missverhältnis macht sogar vor Schulbüchern nicht Halt. Seit 30 Jahren belegen Analysen von Schulbüchern unter anderem in Deutschland, den USA, Australien und Spanien, dass Männer in Beispielsätzen weit häufiger vorkommen als Frauen (durchschnittlich im Verhältnis 3:1).48 Eine US-Studie an 18 weit verbreiteten Geschichtsbüchern, die zwischen 1960 und 1990 erschienen, ergab, dass Bilder von Frauen und Männern im Verhältnis 18:100 standen und nur neun Prozent der im Index genannten Personen Frauen waren (diese Zahl hatte in einem der Bücher noch in der Ausgabe von 2002 Bestand).49 2017 ergab eine Studie von zehn Einführungswerken in die Politikwissenschaft, dass nur 10,8 Prozent der jeweiligen Texte auf Frauen Bezug nahmen. In manchen Texten war die Quote nur 5,3 Prozent.50 Dieses Ausmaß der Bevorzugung von Männern wurde auch in jüngeren Analysen armenischer, malawischer, pakistanischer, taiwanesischer, südafrikanischer und russischer Schul- und Studienbücher bestätigt.51
Die kulturelle Überrepräsentation von Männern ist so weit verbreitet, dass die Macher der klassischen Sci-Fi-Spielreihe Metroid sich darauf verließen, als sie ihre Nutzer überraschen wollten. »Wir haben uns gefragt, was alle überraschen würde, und überlegten, den Helm der Hauptfigur Samus zu entfernen. Dann sagte jemand: ›Es wäre schockierend, wenn Samus sich als Frau entpuppen würde!‹« So erinnerten sich die Macher unlängst in einem Interview.52 Damit es auch jeder verstand, steckten sie Samus in einen rosa Bikini und ließen sie mit herausgestreckter Hüfte posieren.
Im Gaming-Bereich war und ist Metroid immer noch ein Ausnahmefall. Ein Bericht53 des Pew Research Center kam 2015 zu dem Ergebnis, dass genauso viele amerikanische Männer wie Frauen Videospiele spielen. Doch nur 3,3 Prozent54 der auf der E3, der weltgrößten Spiele-Messe 2016 bei Pressekonferenzen vorgestellten Spiele hatten Protagonistinnen. Diese Zahl ist noch niedriger als 2015, als sie Feminist Frequency zufolge immerhin neun Prozent betrug.55 Wenn weibliche Figuren es in ein Spiel schaffen, werden sie oft als eines von vielen Features dargestellt. Auf der E3 2015 erklärte der Macher von Fallout 4, Todd Howard, wie leicht sich zwischen männlichen und weiblichen Figuren hin- und herwechseln lässt. Für den Rest des Vortrags behielt er dann aber die männliche Figur bei.56 Feminist Frequency fasste die Ergebnisse ihrer Untersuchung der E3 2016 so zusammen: »Die Helden sind standardmäßig männlich.«57
Die Folge dieser zutiefst männlich dominierten Kultur ist, dass männliche Erfahrungen und Perspektiven als universell angesehen werden, während weibliche Erfahrungen – also die Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als, nun ja, Randerscheinung wahrgenommen werden. Weil alles Männliche universell ist, schaffte es eine Professorin der Georgetown University mit ihrem Seminar »Weiße männliche Schriftsteller« in die Schlagzeilen, während die vielen Seminare über »Schriftstellerinnen« von der Presse unkommentiert bleiben.58
Weil alles Männliche universell (und alles Weibliche eine Randerscheinung) ist, wird ein Film über den Kampf britischer Frauen für das Wahlrecht im Guardian als »eigentümlich hermetisch« bezeichnet, da er den Ersten Weltkrieg nicht berücksichtigt.59 Auf traurige Weise bestätigt sich hier eine Beobachtung, die Virginia Wolf 1929 in Ein Zimmer für sich allein machte: »Dies ist ein wichtiges Buch, vermeint der Kritiker zu wissen, denn es handelt vom Krieg. Dies ist ein unbedeutendes Buch, denn es handelt von den Gefühlen von Frauen in einem Salon.« Deshalb auch kritisierte V. S. Naipaul Jane Austens Texte als »beschränkt«, während gleichzeitig niemand von Der Wolf der Wall Street erwartet, sich mit dem Golfkrieg zu beschäftigen, oder vom norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård, dass er über etwas anderes schreibt als sich selbst (oder mehr als eine einzige Autorin zitiert). Der New Yorker lobte Knausgård trotzdem dafür, in seiner sechsbändigen Autobiografie »universelle Ängste« zu thematisieren.
Weil alles Männliche universell ist, handelt der Wikipedia-Eintrag über die englische Fußballnationalmannschaft von der Nationalmannschaft der Männer, während die Seite über das Team der Frauen mit »Englische Frauen-Nationalmannschaft« betitelt ist. Und deshalb teilte Wikipedia 2013 US-Schriftsteller in »Amerikanische Schriftsteller« und »Weibliche amerikanische Schriftsteller« auf. Deshalb auch ergab 2015 eine Studie über Wikipedia-Einträge in mehreren Sprachen, dass Artikel über Frauen Wörter wie »Frau«, »weiblich« oder »Dame« enthalten, während Artikel über Männer nicht »Mann«, »männlich« oder »Herr« umfassen (weil das männliche Geschlecht stets unausgesprochen unterstellt wird).60
Wir bezeichnen das 14. bis 17. Jahrhundert als »Renaissance«, obwohl es für Frauen keineswegs eine Renaissance war. Wie die Sozialpsychologin Carol Travis in ihrem Buch The Mismeasure of Woman von 1991 zeigt, waren Frauen noch immer weitgehend vom intellektuellen und künstlerischen Leben ausgeschlossen. Wir nennen das 18. Jahrhundert die »Aufklärung«, obwohl es zwar die Rechte der Männer erweiterte, die der Frauen aber »einengte«, denn »ihnen wurde die Kontrolle über ihr Eigentum und ihre Einnahmen untersagt und sie waren von höherer Bildung und Berufsausbildung ausgenommen.« Wir halten das antike Griechenland für die Wiege der Demokratie, obwohl die Hälfte der Bevölkerung explizit vom Wahlrecht ausgeschlossen war.
2013 wurde der britische Tennisspieler Andy Murray in den Medien gepriesen, weil er nach 77 Jahren als erster Brite endlich wieder in Wimbledon gewonnen hatte – dabei hatte Virginia Wade bereits 1977 gewonnen. Drei Jahre später informierte ein Sportreporter Murray, er sei »der erste Mensch, der zwei olympische Goldmedaillen im Tennis gewonnen« habe. Murray antwortete korrekt, dass »Venus und Serena je ungefähr vier gewonnen« hätten.61 In den USA wird allgemein angenommen, die Fußballnationalmannschaft sei nie Weltmeister geworden oder habe auch nur das Finale erreicht – aber das stimmt nicht. Die Frauenmannschaft hat viermal gewonnen.62
In den letzten Jahren gab es einige löbliche Versuche, auf diese permanente kulturelle Vorherrschaft des Männlichen zu reagieren, doch solchen Versuchen wird oft negativ begegnet. Als Marvel Comics Thor als Frau neu erfand,63 wehrten sich die Fans – obwohl, wie die Zeitschrift Wired feststellte, niemand aufmuckte, als Thor durch einen Frosch ersetzt wurde.64 Als das Star Wars-Franchise zwei Filme nacheinander mit weiblichen Hauptrollen veröffentlichte, herrschte Empörung in der Männerwelt.65 Eine der am längsten laufenden britischen Fernsehserien (Doctor Who) ist eine Sci-Fi-Fantasy-Serie über einen Außerirdischen, der in regelmäßigen Abständen einen neuen Körper bewohnt. Die ersten zwölf Inkarnationen des Außerirdischen waren alle männlich, aber 2017 verwandelte sich der Doktor zum ersten Mal in eine Frau. Der ehemalige Doktor Peter Davison äußerte »Zweifel« an der Entscheidung, eine Frau als Doctor Who zu besetzen.66 Er bevorzugte die Vorstellung vom Doktor als »Jungen« und beklagte »den Verlust eines Vorbilds für Jungen«. Empörte Männer forderten auf Twitter einen Boykott der Serie und verurteilten die Entscheidung als »politisch korrektes« und »liberales« Signal.67
Colin Baker, der Körper, in den sich Doktor Peter Davison verwandelt hatte, widersprach seinem Vorgänger. Jungen »hatten 50 Jahre lang Vorbilder«, argumentierte er. Und müsse man das gleiche Geschlecht haben, um ein Vorbild zu sein? »Kann man nicht einfach als Mensch Vorbild sein?« Nicht wirklich, Colin, denn wie wir gesehen haben, werden »Menschen« als Männer interpretiert. Zwar gibt es Hinweise, dass Frauen Männer bis zu einem gewissen Grad als Vorbilder akzeptieren können, aber Männer tun Frauen umgekehrt nicht diesen Gefallen. Frauen kaufen Bücher von Männern über Männer, aber nur wenige Männer kaufen Bücher von Frauen und über Frauen.68 Als die Abenteuerspielreihe Assassin’s Creed 2014 verkündete, von nun an würde man im neuen Multiplayer-Modus nicht mehr als weibliche Figur spielen können, gefiel diese Entscheidung einigen männlichen Spielern.69 Sie argumentierten, das Spielen als Frau würde sie von dem Spiel entfremden.
Die Journalistin Sarah Ditum hat für dieses Argument kein Verständnis. »Hört bloß auf«, schimpfte sie in einer Kolumne. »Ihr habt als blaue Igel gespielt, als kybernetisch aufgerüstete Raumschiffe und als blöde Drachenbändiger. […] Aber der Gedanke, dass Frauen Protagonistinnen mit Innenleben und aktivem Charakter sein können, übersteigt Eure Vorstellungskraft?«70 Theoretisch hat Ditum natürlich Recht. Es sollte einfacher sein, sich selbst als Frau vorzustellen denn als blauer Igel. Andererseits irrt sie auch, denn der blaue Igel hat etwas Entscheidendes mit den männlichen Spielern gemeinsam: Sonic ist männlich. Das wissen wir, weil er nicht rosa ist, keine Schleife im Haar hat und nicht einfältig lächelt. Er ist das unmarkierte Standardgeschlecht, nicht das atypische.
Solche negativen Reaktionen auf das Zulassen von Frauen in bestimmten Bereichen lassen sich in der gesamten Kulturlandschaft beobachten. Als ich 2013 für die Rückkehr einer weiblichen historischen Persönlichkeit auf britischen Banknoten kämpfte, wurden einige Männer so wütend, dass sie mich mit Vergewaltigung, Verstümmelung und dem Tod bedrohten. Natürlich gingen nicht alle Männer, die etwas gegen die Kampagne hatten, so weit, aber selbst in den zurückhaltenderen Reaktionen kam ein Gefühl der Ungerechtigkeit zum Ausdruck. Ich erinnere mich, dass ein Mann behauptete: »Aber Frauen sind jetzt überall!« Das sind sie natürlich nicht, was unter anderem daran zu sehen ist, dass ich so hart für die Abbildung nur einer Frau auf einem Geldschein kämpfen musste. Dennoch verriet die Perspektive dieses Mannes viel über die Situation. Diese Männer empfanden noch die geringste Repräsentation von Frauen als Ungeheuerlichkeit. Aus ihrer Sicht herrschte bereits Gleichberechtigung – dass nur Männer auf den Banknoten zu sehen waren, betrachteten sie als rein objektives Ergebnis aufgrund von männlichen Verdiensten.
Bevor die Bank of England einknickte, verteidigte auch sie die rein männliche Auswahl mit dem historischen Verdienst. Über die Persönlichkeiten sei nach »objektiven Auswahlkriterien« entschieden worden. Um die es auf die »goldene Liste« der »Schlüsselfiguren unserer Vergangenheit« zu schaffen, müsse eine Person folgende Kriterien erfüllen: Der Name müsse weithin bekannt sein, sie müsse gute Kunstwerke erschaffen haben, nicht umstritten sein und einen »allgemein anerkannten, nachhaltigen Beitrag« geleistet haben. Als ich diese subjektiven Wertekriterien durchlas, wurde mir klar, wie die fünf Männer auf die Geldscheine gelangt waren: Die historische Geschlechterlücke in den wissenschaftlichen Daten macht es für Frauen weitaus unwahrscheinlicher, diese »objektiven« Kriterien zu erfüllen.
1839 schrieb die Komponistin Clara Schumann in ihr Tagebuch, sie habe einst an ihr kreatives Talent geglaubt, diese Vorstellung nun aber aufgegeben, da es bisher noch keiner Frau gelungen sei zu komponieren – warum sollte es also ihr gelingen? Die Tragödie besteht darin, dass Schumann sich täuschte. Schon vor ihrer Zeit hatten Frauen es geschafft, darunter einige der erfolgreichsten, produktivsten und einflussreichsten Komponistinnen des 17. und 18. Jahrhunderts.71 Ihre Namen waren nur nicht »weithin bekannt«, weil Frauen spätestens kurz nach ihrem Tod vergessen werden – oder bevor wir ihre Werke in der Datenlücke verschwinden lassen, indem wir sie Männern zuschreiben.
Felix Mendelssohn-Bartholdy veröffentlichte sechs von seiner Schwester Fanny Hensel komponierte Stücke unter eigenem Namen. 2010 kam heraus, dass ein weiteres seiner Manuskripte von Hensel stammte.72 Jahrelang argumentierten Altphilologen, die römische Dichterin Sulpicia könne die mit ihrem Namen unterzeichneten Gedichte nicht verfasst haben – sie seien zu gut und außerdem zu schmutzig.73 Judith Leister, eine der ersten holländischen Frauen, die in eine Künstlergilde aufgenommen wurde, war zu Lebzeiten bekannt, doch nach ihrem Tod 1660 wurde sie förmlich ausgelöscht, und ihr Werk wurde ihrem Mann zugeschrieben. 2017 wurden neue Arbeiten der Künstlerin Caroline Louisa Daly aus dem 19. Jahrhundert entdeckt, die man zuvor Männern zugeschrieben hatte – von denen einer nicht einmal Künstler war.74
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkte die mit Preisen ausgezeichnete Ingenieurin, Physikerin und Erfinderin Hertha Ayrton, Fehler seien »bekanntlich schwer zu vermeiden. [Doch …] ein Fehler, der einem Mann zuschreibt, was in Wahrheit eine Frau geleistet hat, hat mehr Leben als eine Katze.« Sie hatte Recht. Schulbücher bezeichnen noch heute Thomas Hunt Morgan als den Entdecker der Tatsache, dass das biologische Geschlecht nicht durch die Umwelt, sondern vielmehr durch die Chromosomen bestimmt wird. Tatsächlich aber hatten Nettie Stevens Experimente mit Mehlwürmern zu dieser Erkenntnis geführt; und Morgan hatte Stevens in der gemeinsamen Korrespondenz nach Einzelheiten ihrer Experimente gefragt.75 Cecilia Payne-Gaposchkins Entdeckung, dass die Sonne hauptsächlich aus Wasserstoff besteht, wird häufig ihrem männlichen Arbeitsgruppenleiter zugeschrieben.76 Das vielleicht berühmteste Beispiel dieser Art ist Rosalind Franklin. Sie hatte mit Röntgen-Experimenten und Zellvermessungen herausgefunden, dass die DNA aus einem Doppelstrang und Phosphatresten besteht. Ihre Arbeit führte James Watson und Francis Crick (die den Nobelpreis erhielten und weltberühmt sind) zur »Entdeckung« der DNA.
All das bedeutet nicht, dass die Bank of England Frauen bewusst ausschließen wollte. Es bedeutet nur, dass etwas objektiv erscheinen mag, tatsächlich aber Männer extrem bevorzugt. In diesem Fall macht es die historisch weit verbreitete Praxis, die Arbeit von Frauen Männern zuzuschreiben, den Frauen deutlich schwerer, die Anforderungen der Bank zu erfüllen. Wert ist Ansichtssache, und Meinungen werden durch die Kultur geformt. Wenn diese Kultur Männer so stark bevorzugt wie unsere, kann sie nicht anders, als Frauen zu benachteiligen. Und zwar standardmäßig.
Die subjektiven Auswahlkriterien der Bank of England zeigen auch, wie der männliche Standard sowohl Ursache als auch Folge der Gender Data Gap sein kann. Indem die Bank die historische Datenlücke nicht berücksichtigte, richteten sich ihre Auswahlkriterien nach der Art von Erfolg, der typischerweise von Männern erzielt wird. Selbst die scheinbar harmlose Anforderung, die Persönlichkeit dürfe nicht umstritten sein, ist problematisch – bekanntlich sagte die Historikerin Laurel Thatcher Ulrich: »Brave Frauen schreiben selten Geschichte.« Im Ergebnis korrigierte die Bank nicht nur die historische geschlechtsbezogene Datenlücke nicht, sondern schrieb sie sogar fort.
Solche subjektiven, als Objektivität getarnten Wertzuschreibungen gibt es überall. 2015 bemerkte die britische Studentin Jesse McCabe, dass von den 63 Musikstücken auf ihrer Seminarliste kein einziges von einer Frau stammte. Als sie die Prüfungskommission Edexcel deshalb anschrieb, verteidigte diese die Liste. »Da Komponistinnen in der westlichen klassischen Tradition (oder andernorts) nicht prominent waren«, so die Antwort, »können nur sehr wenige Komponistinnen in die Prüfungsliste aufgenommen werden.« Die Formulierung ist hier entscheidend. Edexcel sagt nicht, dass es keine Komponistinnen gebe – immerhin verzeichnet allein die International Encyclopedia of Women Composers über 6000 Einträge. Vielmehr ist hier die Rede von einem »Kanon«, also dem Korpus der Werke, die gemeinhin als einflussreich für die westliche Kulturbildung gelten.
Die Herausbildung des Kanons wird als objektive Entwicklung des Musikmarkts dargestellt. In Wahrheit ist der Kanon so subjektiv wie jedes andere Werturteil, das in einer ungleichen Gesellschaft gefällt wird. Frauen wurden aus dem Kanon ausgeschlossen, weil sie das, was im Bereich Komposition als Erfolg galt, in der Vergangenheit kaum je erreichen konnten. Wenn Frauen überhaupt komponieren durften, waren ihre Werke nur für ein Privatpublikum und das häusliche Umfeld bestimmt. Große Orchesterwerke, die für die Reputation eines Komponisten von entscheidender Bedeutung waren, durften sie nicht komponieren – das galt als »unschicklich«.77 Musik war für Frauen ein Schmuckelement, aber kein Beruf.78 Selbst im 20. Jahrhundert noch wurde Elizabeth Mahoney, die erste Frau, die je den Vorsitz der britischen Komponistengilde innehatte, von Verlegern wie Leslie Boosey gebremst: Von Frauen könne man nichts als »kleine Lieder« erwarten.
Selbst wenn die »kleinen Lieder«, die Frauen schreiben durften, ihnen einen Platz im Kanon gesichert hätten, hatten Frauen schlicht nicht die Mittel oder Positionen, die dafür nötig gewesen wären. In ihrem Buch Sounds and Sweet Airs: The Forgotten Women of Classical Music vergleicht Anna Beer die produktive Komponistin Barbara Strozzi aus dem 17. Jahrhundert (die »zu Lebzeiten mehr Musik veröffentlichte als jeder andere zeitgenössische Komponist«) mit ihrem Zeitgenossen Francesco Cavalli. Er war Musikchef in der Markuskirche in Venedig – eine Position, die Frauen damals nicht offenstand. Als solcher hatte Cavalli das Geld und das Amt, um sicherzustellen, dass all seine Werke – auch zu Lebzeiten unveröffentlichte – in einer Bibliothek aufbewahrt wurden. Er konnte einen Archivar bezahlen, der sich um die Manuskripte kümmerte, und er bezahlte für die Messen, die stets an seinem Todestag gelesen wurden. Angesichts solch ungleicher Ressourcen hatte Strozzi keine Chance, dass man sich gleichermaßen an sie erinnerte. Wer auf einem Kanon beharrt, der Frauen wie sie ausschließt, perpetuiert die zugunsten von Männern begangenen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit.
Der Ausschluss der Frauen von Machtpositionen erklärt nicht nur ihre Ausgrenzung aus der Kulturgeschichte, sondern wird auch oft als Entschuldigung dafür angeführt, dass wir Kindern im Geschichtsunterricht fast nur etwas über das Leben von Männern beibringen. 2013 wurde in Großbritannien darüber gestritten, was »Geschichte« eigentlich sei. Auf der einen Seite stand Bildungsminister Michael Gove mit seinem neuen nationalen Lehrplan mit dem Credo »back to basics«.79 Er und seine Unterstützer, eine wahre Armee von Faktenfetischisten des 21. Jahrhunderts, beharrten darauf, dass Kinder »Fakten«80 und eine »Wissensgrundlage« bräuchten.
Diese »Wissensgrundlage« aus »Fakten«, die jedes Kind kennen sollte, war, neben anderen Lücken, vor allem durch das fast gänzliche Fehlen von Frauen bemerkenswert. Im Lehrplan für die Altersgruppe der Sieben- bis Elfjährigen kamen außer zwei Tudor-Königinnen gar keine Frauen vor. Für die Altersgruppe der 11- bis 14-Jährigen umfasste der Lehrplan fünf Frauen, von denen vier (Florence Nightingale, Mary Seacole, George Elito und Annie Besant) in der Kategorie »Die Rolle der Frau im Wandel« zusammengefasst waren. Ohne Grund wurde so impliziert, dass der restliche Lehrplan sich mit Männern beschäftigte.
2009 kritisierte der bekannte britische Historiker David Starkey Historikerinnen dafür, dass sie sich seiner Meinung nach zu sehr auf die Ehefrauen Heinrichs VIII. konzentrierten statt auf den König selbst, der im »Zentrum der Aufmerksamkeit« stehen müsse.81 Die »Seifenoper« seines Privatlebens sei sekundär angesichts der politischen Folgen seiner Herrschaft, etwa der Reformation. Starkey erklärte: »Wenn man eine vernünftige Geschichte Europas jenseits der letzten fünf Minuten schreiben will, ist dies eine Geschichte weißer Männer, weil diese die Macht hatten. Etwas anderes zu behaupten heißt, Geschichtsklitterung zu betreiben.«
Starkeys Position beruht auf der Annahme, dass Ereignisse, die sich im Privaten zutragen, bedeutungslos sind. Aber trifft das zu? Auf das Privatleben von Agnes Huntingdon (geboren nach 1320) kann aufgrund von wenigen Informationen in Gerichtsakten über ihre zwei Ehen geschlossen werden.82 Daraus erfahren wir, dass sie Opfer häuslicher Gewalt war und dass ihre erste Ehe angefochten wurde, weil ihre Familie nicht mit ihrer Wahl einverstanden war. Am Abend des 25. Juli 1345 verließ sie ihren zweiten Ehemann, nachdem er sie angegriffen hatte. Am selben Abend tauchte er mit einem Messer im Haus ihres Bruders auf. Sind der Missbrauch und die fehlende Entscheidungsfreiheit einer Frau des 14. Jahrhunderts eine irrelevante Privatangelegenheit, oder sind sie Teil der Geschichte weiblicher Unterwerfung?
Die arbiträre Teilung der Welt in »privat« und »öffentlich« ist jedenfalls mindestens anfechtbar. Beide Bereiche durchdringen einander unablässig. Als ich mich mit der Geschichtslehrerin Katherine Edwards unterhielt, die sich stark im Kampf gegen Michael Goves Reformen engagierte, verwies sie auf jüngere Forschungen über die Rolle der Frauen im amerikanischen Bürgerkrieg. Frauen seien keineswegs irrelevant gewesen: »Frauen und deren Vorstellung von ihrer eigenen Rolle unterminierten die gesamten Kriegsanstrengungen der Konföderierten«.
Frauen der Elite, die dazu erzogen worden waren, an den Mythos der eigenen Hilflosigkeit zu glauben, konnten die Vorstellung nicht ablegen, Arbeit sei etwas intrinsisch Unweibliches. Sie konnten sich nicht durchringen, Stellen anzunehmen, die wegen des Kriegseinsatzes der Männer offen waren. Sie flehten ihre Männer in Briefen an, zu desertieren, nach Hause zu kommen und sie zu beschützen. Ärmere Frauen machten in anderer Hinsicht Probleme: Sie organisierten Widerstand gegen die Politik der Konföderierten, »weil sie kurz vor dem Hungertod standen und ihre Familien versorgen mussten«. Bleiben die Frauen in der Analyse des amerikanischen Bürgerkriegs unberücksichtigt, entsteht nicht nur eine geschlechtsbezogene Datenlücke, sondern auch eine Datenlücke bezüglich des Verständnisses der Entstehung der Vereinigten Staaten selbst. Und dies immerhin ist doch eine »Tatsache«, die man kennen sollte.
Die Menschheitsgeschichte. Die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte. Die Geschichte der Evolution selbst. Sie alle wurden uns als objektive Fakten präsentiert. In Wahrheit haben diese Fakten uns belogen. Sie alle wurden verzerrt, weil sie die Hälfte der Menschheit nicht berücksichtigen – nicht zuletzt durch die Worte, mit denen wir unsere Halbwahrheiten vermitteln. Dieses Scheitern hat zu Lücken in den wissenschaftlichen Daten geführt und hat das korrumpiert, was wir über uns selbst zu wissen glauben. Es hat den Mythos männlicher Universalität befördert. Und das ist eine Tatsache.
Der Fortbestand dieses Mythos beeinflusst weiterhin, wie wir uns heute sehen. Wenn die vergangenen Jahre uns eines gelehrt haben, dann, dass unsere Selbstwahrnehmung keine Kleinigkeit ist. Identität ist eine mächtige Triebkraft, und wenn wir sie ignorieren und falsch interpretieren, begeben wir uns in Gefahr: Trump, der Brexit und ISIS (um nur drei aktuelle Beispiele zu nennen) sind globale Phänomene, die die Weltordnung auf den Kopf gestellt haben – und letztlich sind sie alle Projekte, die von der Identitätsfrage befeuert werden. Doch die Fehlinterpretation und das Ignorieren von Identität ist eben ein Effekt der unter dem Deckmantel geschlechtsneutraler Universalität verborgenen männlichen Standards.
Ein Mann, mit dem ich eine kurze Beziehung hatte, versuchte Diskussionen mit mir zu gewinnen, indem er mir sagte, ich sei ideologisch verblendet. Ich könne die Welt nicht objektiv oder rational betrachten, weil ich Feministin sei und alles durch die feministische Brille sehe. Als ich ihn darauf hinwies, dass dies auch für ihn gelte (der sich als Liberaler identifizierte), widersprach er. Nein, das sei nur Objektivität, gesunder Menschenverstand – de Beauvoirs »absolute Wahrheit«. Er hielt seine Weltsicht für universell, während er den Feminismus – also die Betrachtung der Welt aus der weiblichen Perspektive – für eine Randerscheinung hielt. Für Ideologie.
Nach der US-Präsidentschaftswahl 2016 musste ich wieder an diesen Mann denken. Damals konnte man sich kaum vor Tweets, Reden und Leitartikeln retten, in denen weiße Männer die sogenannte »Identitätspolitik« beklagten. Zehn Tage nach Trumps Sieg veröffentlichte die New York Times einen Artikel von Mark Lilla, Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University. Lilla kritisierte Hillary Clinton dafür, dass sie sich »explizit an African Americans, Latinos, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender-Personen und Frauen gewandt« hatte.83 Sie habe damit »die weiße Arbeiterklasse« nicht berücksichtigt. Lilla zufolge stand Clintons »Rhetorik der Diversität« im Widerspruch zu »einer großen Vision«. Er stellte einen Zusammenhang zwischen ihrer »engen« Vision (er hatte eindeutig V. S. Naipaul gelesen) und den eigenen Erfahrungen mit seinen Studentinnen und Studenten her. Die heutigen Studierenden, so Lilla, konzentrierten sich dermaßen auf Diversität, dass sie »schockierend wenig über so wichtige Fragen wie soziale Schichten, Krieg, Wirtschaft und Gemeinwohl zu sagen« hätten.
Zwei Tage nachdem der Artikel erschien, befand sich der ehemalige demokratische Kandidat Bernie Sanders auf Lesereise84 in Boston. Dort erklärte er: »Es genügt nicht, zu sagen, ich bin eine Frau! Wählt mich!«85 Paul Kelly, Herausgeber des Australian, beschrieb Trumps Sieg als »Aufstand gegen die Identitätspolitik«,86 während in Großbritannien der Labour-Abgeordnete Richard Burgon twitterte, Trumps Amtseinführung sei das, »was passieren kann, wenn Parteien der Linken und der Mitte sich von der Veränderung des Wirtschaftssystems abwenden und sich auf Identitätspolitik verlassen«.87
Simon Jenkins beschloss im Guardian das Annus horribilis 2016 mit einer Tirade gegen die »Identitätsapostel«, die Minderheiten »zu stark verteidigt« und so dem Liberalismus den Todesstoß versetzt hätten. »Ich gehöre zu keinem Stamm«, schrieb er. Er könne sich »der vorherrschenden Hysterie« nicht anschließen. Er wolle »die glorreiche Revolution von 1832 nachspielen« – die zur Ausweitung des Wahlrechts in Großbritannien auf einige Hunderttausend wohlhabende Männer mehr führte.88 Das waren noch aufregende Zeiten!
Die hier zitierten weißen Männer teilen die folgenden Ansichten: Identitätspolitik ist nur dann Identitätspolitik, wenn sie sich mit Rasse oder biologischem Geschlecht beschäftigt; Rasse und biologisches Geschlecht haben nichts mit »breiteren« Themen wie »Wirtschaft« zu tun; es ist »beschränkt«, die Probleme von Frauen und People of Colour explizit zu adressieren; die Arbeiterklasse umfasst weiße männliche Arbeiter. Dem US-Bureau of Labor Statistics zufolge stellt die Kohleindustrie, die im Wahljahr 2016 zum Inbegriff der (implizit männlichen) Arbeiterjobs wurde, insgesamt 53420 Stellen mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 59380 Dollar.89 Zum Vergleich: Die 924640 mehrheitlich weiblichen Reinigungskräfte und Haushälterinnen verdienen im Durchschnitt jährlich 21820 Dollar.90 Wer also ist die wahre Arbeiterklasse?
Diese weißen Männer haben auch die Tatsache gemeinsam, dass sie weiße Männer sind. Ich betone diesen Punkt, weil gerade ihr Weißsein und ihr Mannsein sie dazu brachte, die logische Absurdität vorzutragen, eine Identität hätten nur jene, die nicht weiß oder männlich sind. Weil weiße Männer so daran gewöhnt sind, dass Weißsein und Mannsein unausgesprochen vorausgesetzt werden, können sie schon mal vergessen, dass auch weiß und männlich eine Identität ist.
Pierre Bourdieu schrieb 1977, das Essenzielle sei selbstverständlich, weil es stumm vorausgesetzt werde: Die Tradition schweige, nicht zuletzt über sich selbst als Tradition.91 Das Weißsein und das Mannsein werden schweigend vorausgesetzt, weil sie nicht eigens ausgesprochen werden müssen. Sie werden nicht hinterfragt. Sie sind der Standard. Und dieser Realität kann niemand entrinnen, dessen Identität nicht selbstverständlich ist, dessen Bedürfnisse und Perspektive normalerweise vergessen werden und der daran gewöhnt ist, gegen eine Welt anzukämpfen, die nicht nach den eigenen Bedürfnissen geformt wurde.
Die Selbstverständlichkeit des Weißseins und Mannseins führt mich zu meiner unschönen kurzen Beziehung zurück, weil sie intrinsisch mit dem Irrglauben an die Objektivität, Rationalität oder, mit Catherine Mackinnons »Standpunktlosigkeit« der weißen, männlichen Perspektive verbunden ist. Weil diese Perspektive nicht als weiß und männlich bezeichnet wird (und eine solche Markierung gar nicht benötigt) und weil sie die Norm ist, wird angenommen, sie sei nicht subjektiv. Vielmehr hält man sie für objektiv – gar für universell.
Diese Annahme ist unvernünftig. In Wahrheit sind Weißsein und Mannsein genauso Identitäten wie Schwarzsein oder Frausein. Eine Studie, die sich speziell damit beschäftigte, welche Ansichten weiße Amerikanerinnen und Amerikaner haben und welche Präsidentschaftskandidaten sie bevorzugen, ergab, dass Trumps Erfolg den Aufschwung »weißer Identitätspolitik« widerspiegelte. Diese Politik definierten die Forscherinnen und Forscher als »Versuch, die kollektiven Interessen weißer Wähler an der Wahlurne zu schützen«.92 Die Studie kam zu dem Schluss, weiße Identität lasse »höchstwahrscheinlich auf eine Bevorzugung Trumps schließen«. Genau wie männliche Identität. Analysen des Zusammenhangs von Geschlecht und Unterstützung für Trump ergaben: »Je frauenfeindlicher die Wählerinnen und Wähler waren, umso eher unterstützten sie Trump.«93 Aggressiver Sexismus war ein fast genauso verlässlicher Indikator für die Unterstützung Trumps wie die Identifikation mit der Republikanischen Partei. Das überrascht uns nur, weil wir so stark an den Mythos männlicher Universalität gewöhnt sind.
Die Annahme, alles Männliche sei allgemeingültig, ist eine direkte Folge der geschlechtsbezogenen Datenlücke. Weißsein und Mannsein können nur unausgesprochene Selbstverständlichkeiten sein, weil die meisten anderen Identitäten nie artikuliert werden. Aber die Selbstverständlichkeit des Männlichen ist auch ein Grund für die Datenlücke: Frauen werden nicht gesehen, und man erinnert sich nicht an sie, weil Daten über Männer den Großteil unseres Wissens ausmachen. So erscheint alles Männliche als allgemeingültig. Es führt zur Positionierung der Frauen – also der Hälfte der Weltbevölkerung – als Minderheit mit einer Nischenidentität und einem subjektiven Standpunkt. So sind Frauen dafür prädestiniert, vergessen zu werden. Sie werden überflüssig – für die Kultur, die Geschichte und die wissenschaftliche Datenerhebung. Und damit werden sie unsichtbar.
Unsichtbare Frauen erzählt, was geschieht, wenn wir die Hälfte der Menschheit einfach vergessen. Es zeigt, wie die geschlechtsbezogene Datenlücke Frauen im Lauf eines mehr oder weniger normalen Lebens schadet – hinsichtlich der Stadtplanung, der Politik oder der Arbeitsplätze. Es erzählt auch, was mit Frauen geschieht, wenn in der auf männlichen Daten basierenden Welt etwas schiefgeht. Wenn sie krank werden, ihr Haus durch Überflutung verlieren oder aufgrund von Krieg flüchten müssen.
Doch diese Geschichte birgt auch ein Element der Hoffnung: Wenn Frauen aus dem Schatten treten und ihre Stimmen hören lassen, beginnen sich die Dinge zu ändern. Die Lücken schließen sich. Im Kern ist Unsichtbare Frauen also ein Ruf nach Veränderung. Viel zu lange haben wir Frauen als Abweichung vom menschlichen Standard dargestellt und damit zugelassen, dass sie unsichtbar wurden. Jetzt ist es Zeit für einen Perspektivenwechsel. Es ist Zeit, dass Frauen gesehen werden.
Alles begann mit einem Witz. Im Jahr 2011 forderte eine Gleichberechtigungsinitiative im schwedischen Karlskoga, dass die gesamte Stadtpolitik durch die Genderbrille neu betrachtet werden müsse. Während ein Bereich nach dem anderen dieser strengen Prüfung unterzogen wurde, scherzte ein Behördenmitarbeiter, wenigstens das Thema Schneeräumen würden die »Genderleute« nicht antasten. Zu seinem Leidwesen regte gerade dieser Kommentar die »Genderleute« zum Nachdenken an: Ist Schneeräumen sexistisch?
Wie in den meisten Gemeinden wurden in Karlskoga damals zuerst die Hauptverkehrsadern vom Schnee befreit; Geh- und Fahrradwege kamen zuletzt an die Reihe. Davon waren Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise betroffen, weil Männer und Frauen sich unterschiedlich fortbewegen.
Es gibt keine konsistenten, nach Geschlechtern aufgeschlüsselten Daten für jedes einzelne Land, aber die verfügbaren Daten zeigen, dass Frauen überall weitaus häufiger zu Fuß gehen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen.94 In Frankreich sind zwei Drittel der Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln Frauen; in Philadelphia und Chicago (USA) 6495 bzw. 6296 Prozent. Männer dagegen fahren weltweit eher mit dem Auto,97 und wenn ein Haushalt über ein Auto verfügt, haben die Männer Vorrang bei der Benutzung98 – selbst in Schweden, das als feministisches Paradies gilt.99
Die Unterschiede enden nicht bei den Verkehrsmitteln, sondern betreffen auch die Frage, warum Männer und Frauen sich fortbewegen. Männer legen meist recht einfache Wege zurück: Sie fahren morgens in die Stadt hinein und abends wieder nach Hause. Die Wege von Frauen sind komplizierter. Frauen erledigen 75 Prozent der weltweiten, unbezahlten Care-Arbeit. Das beeinflusst ihre Bedürfnisse bei der Fortbewegung. Ein für Frauen typisches Fortbewegungsmuster sieht so aus: Sie bringen die Kinder zur Schule, gehen dann zur Arbeit, begleiten später ein älteres Familienmitglied zum Arzt und erledigen auf dem Heimweg die Einkäufe. Diese Aneinanderreihung mehrerer, miteinander verbundener Wege lässt sich weltweit bei Frauen beobachten.
In London bringen dreimal mehr Frauen als Männer die Kinder zur Schule100 und legen 25 Prozent101 mehr aneinandergereihte Wege zurück. Diese Zahl steigt auf 39 Prozent, wenn ein Kind über neun Jahren im Haushalt lebt. Dieser Unterschied zwischen aneinandergereihten Wegen bei Männern und Frauen besteht in ganz Europa. Frauen in Doppelverdiener-Familien haben eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit wie Männer, die Kinder auf der Fahrt zur oder von der Arbeit zur Schule zu bringen und abzuholen. Am deutlichsten ist dieser Unterschied in Familien mit jungen Kindern: Eine berufstätige Frau mit einem Kind unter fünf Jahren legt 54 Prozent mehr miteinander verknüpfte Wegstrecken zurück; ein berufstätiger Mann in der gleichen Position erhöht seine Wegstrecken nur um 19 Prozent.102
Diese Unterschiede führten in Karlskoga zu der Erkenntnis, dass der Schneeräumplan keineswegs geschlechtsneutral war. Der Stadtrat änderte also die Reihenfolge und priorisierte Fußwege und die Routen öffentlicher Verkehrsmittel. Die Überlegung war, dass es nicht mehr koste und es zudem einfacher sei, mit dem Auto durch den Schnee zu fahren, als einen Kinderwagen (oder einen Rollstuhl oder ein Fahrrad) durch den Schnee zu schieben.
Womit in Karlskoga niemand gerechnet hatte: Man sparte damit sogar Geld. Seit 1985 werden in Nordschweden Daten über die Aufnahme Verletzter in Krankenhäuser erhoben. In den Datenbanken bilden Fußgänger und Fußgängerinnen die Mehrheit. Sie werden etwa bei Glätte dreimal so häufig verletzt103