Unten auf der Piazza ist niemand - Dolores Prato - E-Book

Unten auf der Piazza ist niemand E-Book

Dolores Prato

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Beschreibung

Dolores Prato und das Buch ihres Lebens: „Ein magisches Werk, das in eine versunkene Welt entführt – das literarische Moment einer ganzen Epoche.“ Le Monde

International als Entdeckung gefeiert und nun erstmals auf Deutsch. Dolores Prato, die große Außenseiterin der italienischen Literatur, war achtzig, als sie das Buch ihres Lebens schrieb: die Geschichte ihrer Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts in Treja, einer Kleinstadt in den Marken. Unehelich geboren, wächst sie bei Verwandten auf, fühlt sich ungeliebt und einsam. Ihr Blick ist klarsichtig und zugleich verzaubert, sie erzählt von häuslichen und religiösen Ritualen, von Karnevalsbällen bei Adel und Volk, und von magischen Praktiken. „Treja war mein Raum, das Panorama ringsum, meine Vision: Ort des Herzens und des Traums.“ Pratos „Meisterwerk“ (Le Monde) ist ein Atlas der Emotionen und das einzigartige Gemälde eines verschwundenen Italiens. Mit einem Nachwort von Esther Kinsky.

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Das ist das Cover des Buches »Unten auf der Piazza ist niemand« von Dolores Prato

Über das Buch

International als Entdeckung gefeiert und nun erstmals auf Deutsch. Dolores Prato, die große Außenseiterin der italienischen Literatur, war achtzig, als sie das Buch ihres Lebens schrieb: die Geschichte ihrer Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts in Treja, einer Kleinstadt in den Marken. Unehelich geboren, wächst sie bei Verwandten auf, fühlt sich ungeliebt und einsam. Ihr Blick ist klarsichtig und zugleich verzaubert, sie erzählt von häuslichen und religiösen Ritualen, von Karnevalsbällen bei Adel und Volk, und von magischen Praktiken. »Treja war mein Raum, das Panorama ringsum, meine Vision: Ort des Herzens und des Traums.« Pratos »Meisterwerk« (Le Monde) ist ein Atlas der Emotionen und das einzigartige Gemälde eines verschwundenen Italiens. Mit einem Nachwort von Esther Kinsky.

Dolores Prato

Unten auf der Piazza ist niemand

Roman

Aus dem Italienischen von Anna Leube

Mit einem Nachwort von Esther Kinsky

Hanser

Ich wurde unter einem Tisch geboren. Ich hatte mich versteckt, weil die Haustür zugeschlagen worden war, also kam der Onkel heim. Der Onkel hatte gesagt: »Schick sie zu ihrer Mutter zurück, siehst du nicht, dass sie uns im Haus stirbt?«

Da war nichts sonst im Raum, auch kein Gesicht, nur diese Stimme. Mutter, stirbt, das bedeutete nichts, aber »schick sie zurück«, das wohl, schick sie zurück hieß, setze sie vor die Tür. Schick sie zurück hieß, setze sie vor die Tür und mach die Tür zu.

Zwar schützte mich das Tischtuch, dessen Fransen den Boden berührten, doch ich hörte es ganz deutlich: Schon oft hatten sie nach mir gesucht, um mich rauszuwerfen!

Ich saß auf den Fliesen. Hart gewordene Brotkrumen bohrten sich mir in die Haut wie Kiesel. Dieses erste Stückchen Welt, das mein Gedächtnis gespeichert hat, sehe ich vor mir, so wie ich jetzt meine schreibende Hand sehe. Rechteckige Fliesen in der Farbe von Brotrinde, die ein Fischgrätmuster bildeten. Die Decke war die von hölzernen Streben durchzogene Unterseite des Tischs; die vier Beine waren mit schmalen Brettern verbunden, auf die man die Füße stellte, in der Mitte stärker abgenutzt; das Ganze vom schweren Tischtuch bedeckt: nur nächtliche Farben, von Goldfäden durchwirkt; schwarze Blätter, Blumen in toten Farben, spitze, golden gesprenkelte Häuser, auf dem weniger dunklen Hintergrund Gesichter von Mohren und funkelnde Augen. Das erste historische Geschehen in meinem Leben, vermischt mit Furcht und Staunen, ereignete sich unter jenem Tisch.

Die Ursache von alledem ein Priester. Wie hätte er wissen können, dass Kinder mehr begreifen, als die Erwachsenen ahnen? Das wussten ja nicht einmal die Erzeuger dieser Kinder.

Für die besseren Leute war er Don Domenico, für die gewöhnlichen Menschen war er Don Domé. Die Tante sagte auch Menghino, ein Name von woanders her, der verschwand, als Domé entstand. Alles, was sie tat, tat sie als Signora, nur wenn sie den Bruder beim Namen nannte, machte sie sich mit dem Volk gemein. Er nicht, er verkürzte nie einen Namen, er sagte Paolina, sprach so genau wie ein Wörterbuch. Aber was ihm widerfuhr, widerfuhr auch ihr: Die eine Sorte von Leuten sagte Sora Paolì, die andere Signora Paolina.

Wir haben keinen Anfang; niemand wird den Haken finden, an dem der erste Ring der Kette befestigt ist; gefunden, ohne danach zu suchen, hat ihn das Jesuskind, das, kaum geboren, schon alles zu sehen, alles zu wissen scheint; es war ein Kind, das die Alten segnen konnte. Wir beginnen unser Dasein mit der ersten Erinnerung, die wir speichern. Der Ort, an dem sich das Leben zum ersten Mal manifestiert, wird zu einem selbst. Treja war mein Raum, das Panorama ringsum, meine Vision: Ort des Herzens und des Traums.

Und doch schien mir der Name, als ich dort aufwuchs, wie etwas Ältliches; er war mir peinlich, so wie mir die Tante peinlich war, die mir ebenfalls lächerlich und ältlich vorkam: Zwischen uns beiden fehlte eine Mutter als Zwischenglied. Natürlich bedeutete dieses Gefühl Zugehörigkeit: Man geniert sich nicht für jemanden, der nicht zu einem gehört — man geniert sich für sich selbst oder für die, die wir lieben.

Ich gehörte nicht zu Treja, Treja gehörte zu mir; der Ort hatte mich nicht gerufen, ich war auf seinen Straßen, in seinen Kirchen ihm nicht willkommen, das sah ich ganz genau, und auch das gehörte zu mir.

Treja nahm mich nicht auf, wie auch der Körper nicht den Dorn aufnimmt, der sich in ihn gebohrt hat; zwischen mir und Treja kam es zu einem Prozess der Ablehnung. Die Einzige, die mich nicht ablehnte, war die so fröhliche und großzügige Signora Antonietta, doch sie stammte nicht von dort. Ich blieb nicht lange, die Kindheit, die Zeit der Zärtlichkeiten; mir wurden keine zuteil, ich gehörte nicht dazu, der Ort gehörte zu mir: Ohne es zu wissen, trug ich ihn mit mir fort.

Während der langen, gleichförmigen, unveränderlichen Klammer, der Zeit im Internat, erschien der Name Treja nur noch auf der eingehenden Post, ansonsten war er verschwunden, ersetzt durch den Namen des Internats.

Doch nach dem Internat tauchte ich plötzlich in Rom auf, und dort, als ich in einem Labyrinth der alten Stadt »Piazza dell’Olmo di Treja« las, empfand ich auf einmal die ganze entzückte Zärtlichkeit für diesen Ort, die ich ohne es zu wissen schon immer empfunden hatte. Es war die erste von vielen Epiphanien.

Ich habe später nach dieser Piazza gesucht und sie nicht mehr gefunden. Vielleicht gibt es sie nicht, vielleicht hat es sie nie gegeben. Doch ich habe es gesehen, dieses Schild aus einer Zeit, da Gassen, Straßen, Plätze noch einen volkstümlichen Namen trugen; ich sah das kleine, verspielte Plätzchen; der Baum hätte dort nicht sein Zentrum finden können, er war, wo er war, die Ulme von Treja; ich berührte sie nicht. Ich sah nur den Namen Treja: Er schloss ganz Rom ein.

Wenn aber der Name Treja nie als Baum in Rom gepflanzt worden war, ist er dort doch als Asche verstreut worden: Auf dem Campo de’Fiori wurde Pomponio Rustici, Priester aus Treja, bei lebendigem Leib verbrannt. Das steht so fest, wie feststeht, dass Treja seit eh und je in den Wassern des Tibers fließt.

Wo die beredten Ruinen von Faleri seine Fabel erzählen, da ist Treja: ein kurzer Wasserlauf, der keinem anderen gleicht; eingezwängt zwischen steilen, farbigen Felsen, spiegelt er deren Farben, Schatten, Lichter, Scharten wider. Nur für ihn die jungfräuliche Vegetation, die der Mensch nicht entweihen kann, weil die Felswände häufig direkt aus dem Wasser aufragen und weil, wer bis dahin mühsam dem Rinnsal gefolgt ist, sich davon entfernen und die Felsen umgehen muss; die kleine Gottheit hat sich versteckt; geheimnisvoll und launisch taucht sie wieder auf, verschwindet, taucht wieder auf und mündet schließlich in den Tiber, der sie nach Rom bringt.

Rom und Treja teilen das Geheimnis ihres Namens. Der Name Rom ist eine Maske und verbirgt den wahren Namen; so wie wir nie diesen Namen kennen werden, werden wir auch nie wissen, welche verwirrte oder maskierte Gottheit Treja den Namen verlieh. Es gibt keine gesicherte Herkunft des Worts; man ahnt etwas durch einen flatternden Schleier hindurch, und es verschwindet wieder. Aus einem unlösbaren Geheimnis entstand Treja, das mit »terra«, Erde, viele Buchstaben teilt.

Ich werde es eine Ortschaft nennen, aber es ist eine Stadt. Die städtische Würde gab ihr ein Papst, dem ein in der Luft schwebendes Monument gewidmet wurde: sein Abbild als Bronzebüste; alles Übrige ist Stein, Schwung, Licht; sie erhebt sich im Raum wie eine riesige Monstranz und kann als Hintergrund nur den Himmel haben.

Auf dem Wappen war die Stadt durch drei kleine Berge dargestellt, die aneinanderlehnten, wie um Einigkeit in der Dreieinigkeit zum Ausdruck zu bringen, dazwischen zwei Blumen, Lilien oder Klatschmohn; die Blumen konnten frech oder schamhaft wirken; die drei Buckel, die den Ort dominieren, konnte ich nie auseinanderhalten.

Auf dem langen, schmalen Kamm im Norden ein antikes Tor, alte Häuser, die steil bis zur weiten, vom Dom begrenzten Fläche vor dem Bischofspalast anstiegen. Von dort führte eine breite, von schönen Gebäuden flankierte Straße zwar nicht direkt steil, doch mit starker Neigung in die Höhe, bis sie dann flacher wurde und in den Platz mit dem Rathaus und dem luftigen Denkmal mündete. Flacher tauchte sie wieder auf, öffnete sich hin zur Piazzetta del Teatro: ein Salon; sie wurde enger, verzweigte sich im unregelmäßigen, phantastischen Raum vor der Rotonda, fiel nach rechts ab, nach links, beinahe geradeaus, nach kurzem Abstieg und kurzem Aufstieg gelangte sie zu der riesigen Fläche vor dem Krankenhaus: ein unermesslich weiter Platz aus Luft, Licht, Leere; von dort betrat man Straßen, die man nicht als Straßen bezeichnen konnte, auch nicht als Gassen, es waren Durchgänge, Klüfte, Gräben zwischen dunklen zusammengewürfelten Häuschen; es war das geheimnisvolle Ojolina, das in einem ungestalteten Areal endete, wo es außer einer endlos langen Treppe zu einem Kloster, das wie ein Berg aussah, und einem uralten Stadttor ein wenig von allem gab: steile Wege, abschüssige Wege, Häuschen und Hütten, zwei Kirchen, zwei Sakristeien, einen Brunnen und keinen einzigen Laden.

Von dieser Niederung aus, in der der massive Dom förmlich einsank, stieg der Bergrücken, ob man es merkte oder nicht, ständig nach Süden an; am Ortsende von Ojolina, von diesem aufragenden Platz aus, stieg er zum höchsten, kühnen, wunderbaren Sporn des Felsens an, der schroff den Ort entzweiteilte und den Turm von San Marco dem Himmel entgegenhob.

Unterhalb des Turms gab es einen grasbewachsenen Platz: ein Schiffsbug, von dem aus man einzig in die Ferne blickte. Turm und Grasfläche waren durch die Stadtmauer verbunden. So sagte man zwar, doch da war keine Mauer, da war eine Straße: eine Schotterstraße, die den ganzen Ort umfasste, indem sie sich um ihn herum wand: die östliche und die westliche Stadtmauer; an sie lehnten sich die Rückseiten der Häuser und die Gärten auf den Wällen. Von hier ging eine Baumreihe aus, auf der Außenseite war eine schützende Einfassung aus quadratischen Balken, eine Art Bretterzaun, um zu verhindern, dass man abstürzte, in Wirklichkeit aber dazu da, dass man sich dort an die Sonne setzen konnte. Der eigentliche und geheime Name dieses Zauns war Geländer. Jedes Geländer dient dazu, einen Sturz zu verhindern, doch dieses war da, weil es die Terrasse gab, und die Terrasse war da, weil es die Aussicht gab. Noch war die moderne Architektur unbekannt, die die Fassaden der Häuser mit Myriaden von Balkonen ausstaffiert, von denen aus nichts zu sehen ist.

Die östliche Mauer bildete einen kurvenreichen Balkon: vor gewellten Hügeln, Flussbetten, den kleineren Einschnitten der Sturzbäche, in weiter Ferne der Horizont: eine Linie, unterbrochen vom Buckel des Conero und von hochgelegenen Dörfern wie turmbewehrte Diademe; das Gefunkel von Lichtern, die bei Nacht flimmerten. Eine Senke inmitten der Linie, erfüllt von Helligkeit: das Meer, niemals in Einklang mit dem Himmel, stets heller oder dunkler. In dieser Meeresmulde konnte, wer scharfe Augen hatte, eine Riesenkuppel wie die vom Petersdom erkennen: das Haus der Madonna.

Im Westen dieselbe Schotterstraße, wellig und vom Bretterzaun geschützt, an manchen Stellen nur von einem schlichten Mäuerchen; wenn man sich schräg darüber beugte, konnte man die ersten Primeln pflücken. Auf dieser Seite fiel der Hügel nämlich nicht so steil ab, sodass sich die Ortschaft zwischen dem Höhenkamm und den Mauern in einem Gewirr von ineinander übergehenden Gässchen, Treppen, flachen Stufen hatte ausdehnen können — den Strade Basse: Straßenstummel, wo es keine größeren Gebäude gab, nur Häuser, und in den Nebengässchen Häuschen und Hütten. Von der Westmauer aus war das Panorama nicht so großartig wie das im Osten, eine perfekte himmlische Halbkugel, wenn der Conero nicht gewesen wäre. Hier im Westen wurde die Aussicht schon von großen Bergen in der Ferne verstümmelt, und zwei kleinere, der Pitì und die Roccaccia, störten noch mehr, gerade weil sie so nahe waren. Hinter der Mauer fiel das Land sanft bis ins Tal hinunter ab, wo statt eines Flusses ganz weiß die Stradanova verlief.

Der Ort, der sein Haupt in San Marco erhob, ließ im Norden seinen Schwanz in einem kühnen Abhang; daneben, getrennt, aber doch ganz nah, der Borgo, eine Ansammlung von Häusern, die nur deshalb dastanden, weil es oben keinen Platz für sie gab; sie breiteten sich aus bis ins offene Land, wo sich Liguster zwischen die Maulbeerbäume mischte.

Es gab keine Fabriken, daher auch kein Beiwerk wie Schuppen, Pfosten, Mauern, verbranntes, steiniges Erdreich; Stadt und Landschaft atmeten mit den gleichen Lungen.

Die gleichen Stunden, die gleichen Stimmen, die gleichen Geräusche: Kirchenglocken, Frösche, Hufschmiede, Zikaden, Grillen, Morraspieler, Gesang von Frauen, Rufe; das Geräusch der ersten Motoren, erkennbar, als wären es Menschen, mischte sich mit den anderen Lauten, ohne sie zu übertönen.

Jener Tisch, unter dem sich mein Bewusstsein zum ersten Mal regte, stand in der Mitte eines riesigen rechteckigen Speisezimmers in der Casa del Beneficio. Als Priester war der Onkel ein Benefiziat, ein Begünstigter; das Haus war dem Benefizium zur Nutzung überlassen. Begünstigte, Benefiziate, hießen die, die weniger bekamen und unten im Chorgestühl saßen, die oben saßen und mehr bekamen, hießen Kanoniker.

Die große Wohnung war zur Straßenseite hin ebenerdig; die Fenster, die nach hinten, zur Mauer, gingen, befanden sich auf Höhe eines piano nobile; darunter lagen Keller, Stall und Magazin; über dem piano nobile ein weiteres Geschoss; von hier aus hatte man freie Sicht auf den Pitì und die Roccaccia; zwischen den beiden Hügeln und uns leuchtete zwischen den Bäumen weiß die Stradanova.

Durch die Haustür betrat man ein quadratisches Vorzimmer, in dem sich ein Bogen und mehrere Türen öffneten. Hinter der Tür gleich rechts, tückisch mit derselben Farbe wie die Wand kaschiert, endete eine hässliche, dunkle, abgetretene Treppe, die zum Magazin, zum Keller, zum Stall führte. Hinter dem Bogen und dem sich anschließenden Vorraum stieg die Treppe aus grauem Stein mit zwei bequemen, hellen Treppenabsätzen zum oberen Stock hinauf, vermietet an Leute, die nur gelegentlich da waren. Für mich war es, als wäre er nicht vorhanden, denn ich sah nie jemanden die Haustür auf- oder zuschließen. Die Haustür war alles, Eigentum, Teilung, Einheit, Intimität; hätte ich gesehen, dass jemand anders sie öffnete oder schloss, wäre es nicht unser Haus gewesen.

Wir hatten da oben, im oberen Stock, nur einen Raum, das Gästezimmer; es gab dort einen Spiegel, und wenn ich die Tür aufmachte, schien es, als würde ein anderes Ich, von vorn gesehen, eine identische Tür aufmachen.

Die Türen zu diesem Zimmer und zu der vermieteten Wohnung führten auf einen geräumigen Treppenabsatz, eingefasst von einem Geländer, so grau wie die Treppenstufen.

Ich sah zwischen den Sprossen dieses Geländers hindurch, wie zwei Männer ein kleines Bett mit einer Art Zaun drumherum hinuntertrugen, wie sie langsamer wurden, als sie sich auf dem Treppenabsatz umdrehten, um weder gegen die Wand noch gegen das Bettchen zu stoßen. Dieses Kinderbett kehrte nach Hause zurück, jemand hatte es mir oder besser der Tante geliehen. Also war mein erstes Zimmer das Gästezimmer.

Unten, etwas weiter links vom Eingang, war die Tür, die zu den beiden Zimmern des Onkels führte, zum Studierzimmer und zum Schlafzimmer: ein Universum, das mehr enthielt als das Universum, wo es viele Sterne, aber nichts als Sterne gibt, nicht all die Dinge, die es dort gab, von der Rose von Jericho bis zu den Karten des Teufels.

Von der Diele aus betrat man das Speisezimmer, wo sich das Stück Fußboden befand, auf dem ich geboren wurde. Der Tisch, ein breites Oval, wurde an den Abenden, wenn Freunde und Priester zum Kartenspielen kamen, zu einem langen Oval; wie das geschah, weiß ich nicht, ich war nie dabei, wenn er umgewandelt wurde. Über dem Tisch hing eine große Lampe, unklar, woher sie ihr Licht bekam, bedeckt mit einem undurchsichtigen runden Porzellanschirm, damit das Licht nicht auf die Decke strahlte, wo es gar nicht gebraucht wurde. Kredenz, Eckschrank, Sofa, Konsolen, jede Menge Stühle — all das füllte den Raum nicht aus. An den Wänden Bilder von toten Vögeln, mir war klar, dass sie hierhergehörten, weil sie mit dem Essen zu tun hatten, doch gefiel mir das Durcheinander von zerrupften Federn, hängenden Flügeln, verdrehten Köpfen, erloschenen Augen gar nicht.

Als ich noch nicht die toten Vögel betrachtete, rannte ich mit erhobenen Armen in den großen Raum, schnitt Eugenia den Weg ab, damit sie mich in den Arm nahm. Das tat sie nie, immer hatte sie zu tun, war immer in Eile und wich mir aus, um nicht über mich zu stolpern, während ich ihr im Weg war, mich an ihre Füße schmiegte und unbedingt hochgehoben werden wollte. Manchmal tat sie es auch, aber nur, um mich anderswo abzusetzen: Ein Verkehrshindernis wurde beseitigt. Ich erkannte mich in den Figürchen wieder, den Seelen, die im Fegefeuer die Arme nach uns ausstrecken, um aus dem Feuer gehoben zu werden.

Während Eugenia mich aus dem Weg schob, konnte Scolastica das nicht, denn sie saß die ganze Zeit.

Ich erinnere mich an ihr rotes, rundes, dickes Gesicht, an ihren Schoß und an die Wärme, die davon aufstieg. Brust und Bauch bildeten eine abschüssige Masse, wobei die Knie gerade so weit vorragten, dass ich, auf einem Fußschemel sitzend, die Arme darauf stützen konnte; von ihr erwartete ich nichts anderes, als dass sie mir Märchen erzählte.

Wer war nun Scolastica, die scantafavole, die Märchenerzählerin? Eine alte Dienstmagd, im Begriff, unser Haus zu verlassen? Wenn sie bei uns gestorben war, hatte ich es jedenfalls nicht bemerkt. Oder war sie früher im Dienst der Tante gestanden und kam jetzt »zu Besuch«? Vielleicht war sie eine arme alte Frau, aber bestimmt keine Hungerleiderin, sonst hätte sie im Haus nicht den Platz einnehmen können, auf dem ich sie sehe.

Sie ließ sich bitten. »Erzähl, erzähl, erzähl schon.« Kaum fing sie an, stützte ich gleich die Arme auf ihre Knie. Es war einmal …: ein Haken, der mich in die Höhe hob und in eine Welt voll Zauber und Wunder versetzte.

Ihr großes rotes Gesicht, von fülligen Falten gezeichnet, beugte sich beim Erzählen über mich, und auf den feuchten Lippen tauchte ein Lächeln auf, Angst, Freude, Empörung und Glückseligkeit, und verschwand dann wieder. Sie besaß noch alle Zähne, freilich waren sie etwas dunkel. Ich sehe sie, als wäre sie hier und erzählte; ich sehe das dunkle, in der Mitte zugeknöpfte Oberteil, ich sehe die schwarze Schürze, an die ich mich lehnte; ich sehe sie, und ich weiß nicht, wer sie war. Und doch schenkte sie mir mit diesen Märchen mehr als Glück; wie nennt man dieses Mehr?

Scolastica, in der sich vielleicht mehrere Personen mischen, war eigentlich meine achtzigjährige Kinderfrau.

Ich streifte allein durchs Haus, aufs Geratewohl, schließlich suchte niemand nach mir.

Die Tante saß an ihrem kleinen Arbeitstisch und fuhr fort zu lesen, sie kümmerte sich nicht um mich, vielleicht merkte sie nicht einmal, dass ich da war; sie las unentwegt. Sie wird wohl auch hin und wieder ein paar Stiche gemacht haben, denn in der Schublade lagen Nadeln und Fingerhüte, aber ich überraschte sie im Sitzen, mit einem Buch in der Hand, so konzentriert, als sitze sie einem Maler Modell. Nie legte sie die Ellbogen auf das Tischchen; nicht einmal auf den Esstisch, wenn sie mit dem Onkel plauderte und darauf wartete, dass Eugenia die Teller wechselte; ihre Haltung war immer elegant, streng und lässig zugleich.

Unser Schlafzimmer hatte einen Vorraum, das »Boudoir«, wie die Tante mit wegwerfender Geste sagte; bestimmt bedeutete »Boudoir«, dass man hier unordentlich sein konnte, denn sie warf Kleider und Schuhe dorthin, wenn sie sich auszog. In der Zeit, als ich nachts immer jammerte, schlief ich schon in diesem Zimmer, in einem gewöhnlichen Bett, neben dem großen der Tante; zwischen uns ein Nachttisch.

Diese nächtliche Klage »zu Mama kommen, zu Mama kommen« sollte heißen: »Lass mich neben dir in deinem Bett schlafen.« Angst, Bitte, Notwendigkeit.

Sie hörte nicht oder tat, als höre sie nicht; ich sehe ihren Umriss in dem von einem Nachtlicht schwach erhellten Dunkel. »Zu Mama kommen, zu Mama kommen.«

Die Frau, die mir nicht antwortete, hätte meine Großmutter sein können, aber sie empfand keine Zärtlichkeit für Kinder. Hatte sie ihr eigenes Kind irgendwie verloren, wenn sie je eines gehabt hatte, oder hatte sie nie eines? Ja und nein blieben in einem Schweigen ohne Inschrift begraben. Bestimmt war sie in einer geheimen Leidenschaft verkapselt.

»Zu Mama kommen, zu Mama kommen.« Manchmal hob sie, ohne zu antworten, ihre Decken zu meiner Seite hin an. Ich rutschte von meinem Bett herunter, kletterte auf ihres, schmiegte mich ganz nah an sie, die wie immer auf der rechten Seite liegen geblieben war und sich nicht umgedreht hatte, um mir hochzuhelfen; ich drückte mich eng an ihren Rücken, und dann, dann nichts mehr, ich schlief.

Niemand hat mir die Geschichte dieses »zu Mama kommen« erzählt, ich selbst habe es immer gehört, als würde ich es jetzt in diesem Moment sagen.

Tagsüber sagte ich nie Mama, ich nannte sie auch nicht »Tante«, zwar redete ich mit ihr, sprach sie aber in keiner Weise an. In der nächtlichen Angst und Verwirrung suchte ich mit diesem Namen alles: Schutz und Erlösung.

Manchmal geschieht etwas mit Sterbenden, auch mit solchen, die schon alt sind und keinen Umgang mit der Mutter mehr haben: In der Agonie sehen sie sie plötzlich, rufen nach ihr, sterben.

Genauso geschah es mit der Tante, die als über Achtzigjährige starb: Sie fixierte einen Punkt in der Leere, wo ich nichts sah, und sagte: »Mama, ich komme mit dir mit.« Et inclinato capite emisit spiritum. Aber sie neigte nicht den Kopf, sondern der Kopf fiel nach vorn, als wäre die Stütze in ihr zerbrochen.

Ich blickte in die Leere, wo ihr die Mutter erschienen war, vielleicht sind sie gemeinsam fortgegangen.

Es gab noch ein weiteres Zimmer, groß wie der Speisesaal: das Zimmer mit den Schrankkoffern, ein riesiger Raum für die Konferenz der Koffer. Es war so schön, so bequem, in diesem großen Raum und bei dem vielen Licht die Dinge hervorzuholen.

Nie sah ich die Tante vor einem Koffer knien; auch in der Kirche kniete sie nicht. Wenn in der Suffragio-Kirche, wo sie ihren eigenen noblen Stuhl aus Nussbaum mit breiter, mit feinem Strohgeflecht bezogener Sitzfläche besaß, der Moment kam, da man sich hinknien musste, drehte sie mit einer unmerklichen Bewegung den Stuhl um und neigte die Lehne so weit, dass die Sitzfläche ihre Knie berührte; dieser Kontakt genügte, dass sie zu knien meinte, während in Wirklichkeit der Stuhl sich zu ihr neigte. Und da stelle man sich vor, sie hätte je vor einem Koffer gekniet! Allerdings standen die Koffer nicht auf dem Boden, sondern so, wie der Tempel auf dem Sockel steht, standen die Koffer auf Gestellen, deren Holz und Farbe ihnen glichen. War der Deckel angehoben, musste sie sich nur ein Stück weit vorbeugen, um mühelos im Koffer herumzustöbern; im Übrigen setzte sie sich, wenn vorauszusehen war, dass es sich um eine längere Prozedur handeln würde, auf einen niedrigen Stuhl und machte sich gelassen an ihre Wühlarbeit.

Ich wartete auf das, was sie herauszog, wie die Katze auf das Stück Lunge wartet, das man gerade kleinschneidet; die Wunder, die zum Vorschein kamen, waren unerschöpflich.

Alle anderen Leute hatten Truhen, keine Schrankkoffer so wie wir, und hatten sie zwischen den Möbeln aufgestellt. Die Truhe war eine mehr oder weniger große Kiste aus Nussbaumholz mit Füßen und einem Deckel. Manchmal war das Rahmenwerk nicht einfach profiliert, sondern beschnitzt, die Füße gedrechselt oder in Form von Löwenpranken. In seltenen Fällen war die ganze Truhe mit Schnitzereien verziert.

Die armen Leute bewahrten die Bettwäsche darin auf und nannten sie schon »Truhe«, so wie die Mittelschicht, während die Bauern noch »Kasten« dazu sagten.

Wenn sie Rücken- und Armlehnen hatten, wurden sie zur Sitztruhe. Inzwischen führte man sie vor wie edle Stücke aus vergangenen Epochen.

Warum aber gab es bei uns zu Hause nur Koffer und keine Truhen? Dass Onkel und Tante von außerhalb kamen, wusste ich, aber nicht, von wo. Die Casa Gentilizia, auch wenn sie ihnen nicht gehörte, stand zwar in Treja, als sei der Familienname hier verwurzelt, während sie aus einer unbekannten Gegend stammten. Sie waren von außerhalb gekommen, vor langer oder erst vor kurzer Zeit? Nie irgendein Hinweis. Natürlich lässt sich leichter mit Koffern als mit Truhen umziehen. Der Koffer erinnert an einen Umzug, an etwas Provisorisches; und hier war ein ganzes Zimmer voll davon.

Vielleicht verliebte ich mich in die Truhen, weil wir zu Hause keine hatten. Noch als erwachsene Frau wünschte ich mir eine. Doch einmal fehlte das Geld, um eine zu kaufen, dann die Wohnung, um sie unterzubringen, dann wieder der Wunsch, eine zu besitzen. Flieht man vor dem Sturm, pflückt man keine Blümchen mehr. Heute will ich von Kasten und Kisten nichts mehr wissen, nicht einmal die nach dem Tod will ich haben, mir reicht der Ofen im Krematorium.

Wie man in das eisige Zimmer gelangte, weiß ich nicht mehr, aber dass ich dort erfuhr, was Kälte ist, das weiß ich noch gut. Dieses Zimmer war ein Eisblock, den man durchqueren konnte; es hatte keinen Namen, hier wurden die Speckviertel mit viel Salz darauf auf Tischen ausgelegt. Der Speck musste Salz und Kälte absorbieren, um perfekt zu werden. Vom weit geöffneten Fenster in diesem Zimmer her drang die ganze nächtliche Kälte. Hier drin erfuhr ich, was Kälte ist, die, welche verbrennt und abhärtet: Der Speck war aus Stein.

Wenn die Haustür auf war, ging ich ins Freie; es gab zwei Steine, der eine rechts, der andere links, vielleicht Prellsteine; der kleinere, weniger abgewetzte auf der Seite, wo es bergab ging, in Form eines Knies: mein erster Sitzplatz außerhalb der Haustür; der in Richtung bergauf größer, dunkler, rissiger, die obere Rundung nahezu platt: mein zweiter Sitzplatz; ich begriff, aber ohne mich im Geringsten zu wundern, dass ich größer geworden war, als ich diesen Sitz brauchte.

Die beiden Steine befanden sich nicht nur deshalb auf verschiedener Höhe, weil sie ungleich waren, sondern auch, weil die Straße stark abfiel, wo es zu dem Tor hinabging, das zur Stadtmauer hinausführte; stark stieg sie an, wenn man zur Suffragio-Kirche ging. Diese abschüssige Straße, an der die Casa del Beneficio lag, begann an dem weiten Platz der Rotonda und fiel, von der Piazza kommend, nach rechts ab. Ich sage »Straße«, doch es war keine Straße, sondern eher ein breiter Spalt, gebildet von der Laune der Häuser, die so gut wie nie in einer geraden Linie standen; ein Haus schien dem anderen den Rücken zuzuwenden, ein anderes fortgehen zu wollen; eines lehnte sich mit einer spitzen Ecke nach vorn, ein anderes zog sich zurück, und hin und wieder öffnete sich eine Gasse nach unten, eine andere nach oben; die kapriziöse Kreuzung ignorierte das Kreuz; wenn sich noch ein Plätzchen fand, setzte sich dort ein Haus hin, so wie das Rathaus vor dem Himmel der Piazza. An einem dieser zum Platz erweiterten Flächen stand der Brunnen; ein Haus hatte sich zurückgezogen, zusammen mit einem Nachbarhaus entstand dadurch eine steile Gasse mit flachen Stufen abwärts. Zwischen ihr und der Straße der stumpfe Keil eines Hauses; die Abtrennung schuf eine Fassade, gerade breit genug für eine kleine Tür unten und ein Fenster oben. Ein Stückchen oberhalb des Brunnens begannen links die Strade Basse …

Wenn ich auf den Steinen vor der Haustür saß, sah ich den Weinkeller von Gennà mir gegenüber; bei uns nannte man ihn Gennaro; auch er saß oft vor seinem Keller, unter dem vertrockneten Weinlaub, das wie ein halbes Reisigbündel aussah; er war zwei Schritte von mir entfernt, doch er sah mich nie.

Wenn man abends zur Suffragio-Kirche hinaufging, hielt man sich unterwegs nirgends auf, doch auf dem Heimweg machte man immer am selben Ort Halt, selten auch noch irgendwo anders. Verließ man die Kirche, kam man am kleinen Palazzo von Sora Elvira vorbei, einem der überwältigenden, vom Licht durchbohrten Gebäude, und gleich daneben, abrupt zurückgesetzt, wie um zu zeigen, dass es nicht zum großen Platz der Rotonda gehörte, sondern der Anfang unserer Straße war, kam das Haus der Bonomi, wo wir immer Halt machten. Sie hießen Bonomi, auch wenn es alles Frauen waren; der einzige Mann, der angeheiratete Schwiegersohn, nannte sich nach wie vor Grasselli. Vom Hauseingang ging es direkt in die Küche, man unterhielt sich ein paar Minuten lang im Stehen, es war immer die Zeit, in der das Abendessen vorbereitet wurde. Eine kleine, schiefe, dunkle Küche mit lauter Frauen. Die Frauen hatten alle möglichen Dimensionen: Die junonische Sora Tuta, die Frau von Grasselli, dem Uhrmacher, der auch für das elektrische Licht zuständig war, deren wunderschöne Gesichtszüge vom Fett verformt wurden; Cesira war schlank und elegant, Peppina, zwergwüchsig, knochig, mit vorspringendem Kinn, war missgünstig und boshaft; schweigsam und dunkel wie die Küche der Signora Marietta, die Mutter der drei Schwestern. All diese Frauen verrichteten gemächlich komplizierte Tätigkeiten zwischen der Brotsuppe auf dem Herd, der Milch in den Tassen, Brotscheiben, Gläsern, Tellern; nicht einmal die Teller schimmerten hell; alles war dunkel und vollzog sich im Zeitlupentempo. Ganz oben, direkt unter den Balken, ein Fenster, so schwarz, als hänge hinter den Scheiben mit ausgespannten Flügeln eine riesige Fledermaus. Ich sah nie hin: Ich vermied es, Angst zu haben.

Aus der Art, wie sich die Tante dort drinnen benahm, bekam ich den Eindruck, dass dieser kurze Besuch, dem inzwischen nicht die geringste Bedeutung, nicht die kleinste Aufmerksamkeit zuteilwurde, eine alte Gewohnheit war; hin und wieder ein Wort, wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ. Die Frauen brockten Kekse in die Milch, ohne mir jemals einen davon anzubieten; das machte mir überhaupt nichts aus, Salziges mochte ich schon immer lieber als Süßes. Wäre die Tante schon seit eh und je so kühl empfangen worden, hätte sie ihre Besuche eingestellt, doch sie ging, mit mir an der Hand, stur nach wie vor hin: Sie wollte eine Zustimmung, eine Anerkennung erzwingen.

Sie erwähnte, wie mager ich sei, erzählte, ich äße nicht, was sie ihr raten würden? Keine streifte mich auch nur mit einem Blick, keine gab eine Antwort.

In dieser Küche, wo alles im Dunkel lag, war sonnenklar, dass sie absichtlich vermieden, mich anzusehen: Indem sie mich nicht zur Kenntnis nahmen, wollten sie etwas demonstrieren. Das merkte ich, aber es machte mir nichts aus.

Hin und wieder kam es vor, dass die Tante zu den Frauen, die nur mit ihren Angelegenheiten beschäftigt waren, etwas sagte, was eine Geste erforderlich machte; da sie die Tasche in der anderen Hand nicht loslassen konnte, gab sie meine Hand frei. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, hielt ich ihr Kleid fest und ließ es erst los, wenn sie mich wieder bei der Hand nahm; manchmal standen wir schon vor unserer Haustür; ich hatte mich an ein wandelndes Kleid geklammert.

So wenig war ich an die Aufmerksamkeit der Leute gewöhnt, dass ich, wenn mich jemand, bemüht, der Konvention Genüge zu tun, dumm fragte: »Wie heißt du?«, mit »Nein« antwortete, was bedeutete: »Ich will nicht antworten.« Ich hasste die Fragen der Erwachsenen; so selten sie auch vorkamen, schafften sie es doch, das ganze Gewebe meiner Kindheit zu durchlöchern.

An besagtem großem, ovalem Tisch saß der Onkel in der Mitte einer der beiden breiten Längsseiten; ihm gegenüber die Tante; an einer der beiden Schmalseiten, zwischen den beiden, aber doch entfernt von ihnen, saß ich. Ich hatte keinen Kinderstuhl, sondern einen gewöhnlichen Stuhl, auf dem eine dicke, mehrfach gefaltete dunkle Wolldecke nicht als Kissenauflage diente, sondern als Basis, wie um eine Säule darauf zu stellen. Stattdessen hob mich jemand hoch, und sofort kam der fatale Augenblick, wenn sich einer der beiden mit Parmesandose und Löffel vorbeugte, um mir Käse auf die Minestra zu streuen, und ich verzweifelt die Hände über den Teller hielt und schrie: »Käse nicht, Käse nicht.« Sie vergaßen dauernd, dass ich keinen Käse mochte, weil sie sich so viele Dinge zu sagen hatten. Ich hörte zu.

Doch eines Tages wandte sich der Onkel an mich und sagte: »Kommt her.« Er duzte alle, auch den Herrn: ad te Domine, nur mich sprach er mit »Ihr« an.

Ich rutschte von meinem Hochsitz und stellte mich neben ihn hin; er schälte einen Pfirsich, halbierte ihn und legte die eine Hälfte auf das Tischtuch vor mir, während er sich weiter mit der Tante unterhielt. Ich horchte so gespannt auf ihr Gespräch, dass ich erst merkte, dass ich den halben Pfirsich gegessen hatte, als er nicht mehr da war.

Ich brach in verzweifeltes Weinen aus: Jetzt ging es nicht mehr um die Furcht, vor die Tür gesetzt zu werden, diesmal war es aus und vorbei. Es gab kein Wort dafür, nur das Gefühl, ohne Hoffnung auf Wiederkehr zu versinken. Der Onkel fragte: »Was habt Ihr? Warum weint Ihr?«

Und ich, von Verzweiflung überwältigt, wie hätte ich antworten können?

»Was habt Ihr? Warum weint Ihr?«

Es gab damals Kissenbezüge, auf die mit rotem Garn gestickt war: »Ruhe sanft.« So ähnlich war es mit meinem Weinen: Es zog sich noch ein wenig hin, zog sich in die Länge wie der Faden, wurde länger, bis es die Worte mit der Stimme schreiben konnte: »Ich habe deinen Pfirsich gegessen.«

»Das musstet Ihr: Er gehörte Euch, ich habe ihn Euch gegeben.« Und er legte den Arm um mich und zog mich näher an sich.

Luzifer war vom Paradies in die Hölle gestürzt, und ich wurde von der Hölle ins Paradies geschleudert.

»Der Pfirsich gehörte Euch, ich habe ihn Euch gegeben, Ihr musstet ihn essen!«

Er hatte den Arm immer noch um mich gelegt, ich stand steif an ihn gelehnt, wie eine Säule ohne Sockel; eine winzige Bewegung hätte diese halbe Umarmung lösen können, zu der es kein zweites Mal kam.

Das Dach meiner Höhle war der Tisch der Versöhnung. An jenem Tag betrat ich, ohne es wahrzunehmen, die wunderbare Welt meines Zizì.

Ich magerte ab und aß nicht. Vielleicht trug der Wunsch, auf dem Schoß gehalten, in den Arm genommen zu werden, zum Prozess meines Verderbens bei. Niemand hob mich hoch; ich wusste nicht, was ein Kuss ist; niemand im Ort sah mich richtig, doch ich hatte bei mir den Heiligen Geist.

Jedes Kind hatte irgendein Ding um den Hals hängen, ein Herz Jesu, eine Madonna, den Kopf eines Cherubs, der sich auf seine Arme stützte, als schaue er aus dem Fenster; jede Menge Schutzengel, helfende, führende, bewahrende; ich aber hatte nichts dergleichen. Dann kümmerte sich der Onkel darum, der freilich kein Priester von der Sorte war, die etwas auf Medaillons gab; kein einziges Mal sah ich ihn eines tragen; er war kein Priester, der etwas von Heiligenbildchen hielt, er hatte nicht einmal welche in seinem Brevier und benutzte als Lesezeichen verschiedenfarbige Bändchen, die oben am Buchrücken befestigt waren. Mein Zizì war nicht nur Priester, er war ein vitales Genie, Herr über alle Wissenschaften und alle Künste; für ihn keine Madonnen, Kruzifixe, Engel zum Um-den-Hals-Hängen, für ihn bedurfte es des Heiligen Geistes: Liebe und Idee, Licht und Wärme.

Auf meinem Medaillon triumphierte, ohne weiteren Halt als den Schwanz, mit ausgebreiteten Flügeln eine Taube mit vorgereckter Brust, so als wolle sie eine Hemdbrust vorzeigen; sie schwebte auf einer Scheibe von reinem Licht, umgeben von einer Myriade von Strahlen und mit einer umlaufenden Inschrift, die die größte Bitte enthielt, die ein menschliches Geschöpf an den Schöpfer richten kann: »Veni Sancte Spiritus.«

Et emitte caelitus lucis tuae radium, geht der Spruch weiter, doch mein Medaillon wusste nichts mit einem Strahl anzufangen, sein Heiliger Geist sandte mehr Strahlen aus als die Sonne, mein Medaillon war eine Lichtstrahlen-Epiphanie.

Dem Onkel genügte der Heilige Geist; die Tante hängte ihn mir, als habe sie in diesen Heiligen Geist wenig Vertrauen, mit einem roten Bändchen um den Hals — rot war nötig, um den Bösen Blick zu bannen. Zu jener Zeit waren Kettchen in Mode; die Tante, eine Hohepriesterin der Mode, besaß alle möglichen Kettchen; es wäre ihr ein Leichtes gewesen, eines für den Heiligen Geist aufzutreiben, doch mit Silber und Gold hatte der Böse Blick leichtes Spiel. Das Bändchen aus glatter roter Seide war made in domo. Wenn das, das ich um den Hals trug, nicht mehr so seidig glänzte, sicheres Zeichen, dass es schmutzig war, warf man es weg und besorgte ein neues.

Vorn ganz einfach, war die Rückseite meines Medaillons komplexer. Ein Schild, gekrönt vom Kardinalshut, der ihn mit der Doppelkaskade seiner Quasten umwand; darüber die gekreuzten Schlüssel; über allem die halb offen stehende Basilika und der Schirm, Symbol für die Apostolische Kammer. Umlaufend die Inschrift »Sede vacante MDCCLXIX«.

Was ich am Hals trug, war kein Medaillon, sondern eine Münze, ausgegeben während des Konklaves, das zur Wahl von Papst Ganganelli führte, dem Feind der Jesuiten.

Der Onkel, der goldene Hände besaß und alle Entdeckungen und alle Erfindungen im Kopf hatte, hatte direkt über dem Heiligen Geist ein tadelloses Loch angebracht; dafür hatte er irgendein Lösungsmittel oder einen Schweißbrenner benutzt, denn um den Rand war, wie eine Aureole, ein kleiner geschmolzener Halbkreis.

Er war kein Priester, der die Dinge entweihte, im Gegenteil, das, was ihm in den Sinn kam, wurde geweiht, denn alles brachte er mit dem Universum und dessen Anfang in Zusammenhang. Auch, was durch seine Hände ging und in sein Herz, wurde dadurch geweiht. Ohne dem irgendeine Bedeutung zuzumessen, hängte er um den Hals seines fragilen fremden Schützlings eine Münze, weil darauf der Heilige Geist war. Die Münze gab es nicht mehr, es blieb das »Veni Sancte Spiritus«. Eine bedeutsamere Fürbitte konnte er mir nicht umhängen.

Ich kannte diese alte Casa del Beneficio, Onkel und Tante, Eugenia, die anderen Frauen, die Menschen, die uns dort besuchten, auf selbstverständliche und ewige Weise, so wie die Erde ihren Himmel kennt. Ich befand mich dort ohne ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft, wusste nicht, ob ich seit zwei Jahren oder seit einer Ewigkeit dort lebte. Ich fühlte mich als Mittelpunkt. Mittelpunkt kann es nur einen geben: Darum war ich allein. Ich war die Projektion von niemandem; niemand fühlte sich in mich ein; niemand nahm mich in den Arm; niemand nahm mich je auf den Schoß.

Sonne, Mond, Tag und Nacht kamen und gingen, ich, ohne Anfang, war da, als sei ich immer am Leben gewesen. Das Mysterium meines Aufwachsens beindruckte mich nicht im Geringsten. Es langweilte mich zu hören, dass ich gewachsen sei; die Zeichen an der Wand, an die man mich lehnte, »Halt dich gerade«, mit einem Buch auf dem Kopf, um anzuzeigen, wo das Schädeldach war, wobei das ungebärdige Haar nach unten gedrückt wurde, diese Zeichen stiegen von Zeit zu Zeit auf wie eine Leiter ohne Holmen, eine Sprosse über der anderen. Das interessierte mich überhaupt nicht. Fast gar nicht interessierte mich Mignon, die Puppe, die meine Mutter mir geschickt hatte und die beim Gehen den Kopf nach rechts und nach links drehte, wie eine Königin; sie ging nicht, weil man sie aufgezogen hatte, nein, man musste abwechselnd leicht auf ihre Schultern drücken und sie so halten wie ein Kind, das seine ersten Schritte tut.

Die Samen, die in den Samenhandlungen in kleinen Papiertüten verkauft werden, sind kleine vitale Sprengkörper, die erst vergraben werden müssen, bevor sie explodieren. Wir sind wie sie, sie sind wie wir. Ich wurde im erdbebengeschädigten Bauch meiner Mutter begraben, von dort auf den Ager romanus verpflanzt, dann angesiedelt in Treja in der Casa del Benificio, wo ich weiterwuchs, ohne dass es mir bewusst war.

Hätte mir jemand gesagt, dass es mich vor ganz wenigen Jahren noch gar nicht gegeben hatte, nicht einmal als Gedanke, wäre das nicht von Bedeutung gewesen. Nicht einmal der Satz, mit dem die Tante eine indiskrete Frage beantwortete — »Sie war noch nicht einmal geboren, als ihr Vater starb« —, stellte meine Ewigkeit in Frage; es gab kein Vorher oder Nachher, Vergangenheit und Zukunft existierten nicht; sie kamen in den Gesprächen der Erwachsenen vor, die ebendeshalb Gespräche von Erwachsenen waren, weil sie nicht von Interesse waren. Später, als ich begriff, dass es mich, nun ja, früher nicht gegeben hatte, mir das aber nichts ausmachte, fiel mir hingegen auf, wie geschickt die Tante die Wahrheit mit einer kleinen Lüge verschleierte. Ich lebte und wusste nicht, dass ich lebte, ich lebte mit der vergesslichen Schlichtheit von etwas Ewigem. Ich wunderte mich nicht über den Sternenhimmel, nicht über die glühenden Sonnenuntergänge, die blühenden Bäume, wunderte mich nicht, dass ich mit Menschen lebte, die viel größer waren als ich, als wäre ich von Ewigkeit an in all dem Neuen gewesen. Ich fürchtete mich nur vor Gewitter.

»Sie hat nicht gegessen, sie ist abgemagert, wenn der Hund auch nur mit dem Schwanz gewedelt hat, ist sie hingefallen; sie starb und starb doch nicht, ich hielt es nicht mehr aus, ich habe sie genommen und nach Loreto gebracht, ich habe sie auf die Stufe vor den Altar gelegt und zur Madonna gesagt: Heilige Jungfrau, hier ist sie, entweder du heilst sie, oder du nimmt sie wieder zu dir. Beim Verlassen der Kirche höre ich, wie sie sagt: Ich habe Hunger. Wann hätte sie je vorher Hunger gehabt?«

Die Madonna hatte mich geheilt. So erzählte es die Tante.

»Hör nicht auf sie, ich habe dich geheilt, man musste nur ein Mittel finden, damit du isst, und ich habe es gefunden: ein Eigelb mit einem Löffel Marsala, das hat dir geschmeckt — einen Mundvoll, und fertig! Das kann jeder.« So sprach Doktor Guerra.

Doktor Guerra mit dem Kneifer und der Goldkette über der Weste war der Arzt der Stadtbewohner; er brauchte keinen Einspänner wie Doktor Cangini, der Landarzt, der auch, wer weiß, warum, für die Klöster zuständig war. Er war großgewachsen und rüstig und strahlte eine natürliche Würde aus. So wie ein anderer blond ist, so war er würdevoll. Der Graf Grimaldi hingegen, groß, bärtig, majestätisch, thronte in seiner Kutsche, er war selbstredend Jupiter, und wenn er zu seinem angestammten Platz im Dom schritt, ging er wie jemand, der weiß, dass er würdevoll sein muss, als wäre es ein Beruf.

Bevor er das Eigelb mit dem Löffel Marsala ausprobierte, musste der Doktor der Tante nahegelegt haben, sie solle sich irgendeinen Trick ausdenken, damit ich aß; denn in einem Lichtstrahl inmitten des dichten Nebels sitzt die Tante an ihrem Nähtischchen, mir zugewandt, die ich auf einem Hocker sitze, hält in der Hand einen Teller mit verschiedenen Brotstückchen, jedes mit ein bisschen Wurst belegt, und sagt: »Schau mal die Schäfchen, all die vielen Schäfchen! Schicken wir sie fort.« Sie nimmt ein Stück Brot und schiebt es mir in den Mund. »So ist’s brav, schluck es runter, das Schäfchen, weg ist es; und jetzt noch eins.« Ich machte mit bei dem Spiel, die Schäfchen verschwanden alle. Aber das Spiel wurde nicht wiederholt. Die Tante hatte keine Geduld mit Kindern, entweder mussten sie eine blühende Gesundheit besitzen oder sterben. Das hatte sie auch der Madonna gesagt. Nichts zu machen, nicht einmal das so erfolgreiche Spiel mit den Schäfchen hatte ihr zu ein bisschen Geduld und Ausdauer verholfen.

Das erkannte Doktor Guerra, der sich das Eigelb mit dem Löffel Marsala ausdachte.

Eine einzige Geschichte erzählte die Tante über mich: eine Übernachtung in Ancona bei ihrer Cousine Casilde, die uns beide, nachdem der Ehemann anderswo einquartiert worden war, im großen Ehebett beherbergt hatte, mich zwischen den Tanten. »Du lieber Gott, und wenn sie mir ins Bett machte? Ab und zu wachte ich auf, streckte die Hand aus: trocken; und am nächsten Morgen alles trocken, so eine Erleichterung!«

Das war das einzige von anderen überlieferte Kapitel aus meiner Kindheitsgeschichte.

Abgesehen von dieser wundersamen Episode wurde meine Kindheit weder direkt überliefert: »Das hast du gesagt, das hast du getan, du warst ein Schatz« noch indirekt: »Das hat sie gesagt, das hat sie getan, sie war ein Schatz.« Meine ganze Kindheit stammt aus erster Hand, ist eine Direktaufnahme.

Ein dichter Nebel ohne Echo verbirgt alles, hin und wieder ein Sonnenstrahl. Von diesen plötzlichen Momenten rührt das ganze bisschen her, das überlebt hat, doch gehört dieses bisschen mir, mir allein, und mir gehört auch die Abwesenheit von Zeit. Eine Uhr habe ich nie gebraucht.

In der Verlassenheit gab es die Ruhe und die Autonomie des Schauens. Erst als ich groß war, sollte diese Verlassenheit schmerzen, damals setzte sie mir nur zu, verursachte aber keinerlei Schmerzen; vielleicht machte sie mich zu dem, wie ich nicht war, doch ich spürte es nicht.

So wenig wurde ich vergöttert, dass man nicht einmal wusste, wann ich geboren war. »Im April, ich glaube, am dreißigsten.« »Nein, am zwölften.« »Ach was, am dreißigsten.«

Ich hörte zu und wusste nicht, wofür ich mich entscheiden sollte. Als sich die Wahrheit herausstellte, weil es nämlich auf einem Stück Papier stand, das knisterte, wenn man es in die Hand nahm, und mit vielen Stempelmarken beglaubigt war als der zehnte April, akzeptierte ich diese schöne Zahl, während die Tante sagte: »Das muss ein Irrtum sein.«

Wenn man sie zu der barmherzigen Tat beglückwünschte, dass sie mich zu sich genommen hatten, betonte sie es noch, indem sie erklärte: »Mit sechzehn Monaten haben wir sie zu uns genommen. Sie war sechzehn Monate alt, als wir sie zu uns genommen haben.« Meine ganze Vergangenheit war ein Figürchen von sechzehn Monaten. Wie es zuging, dass ich sechzehn Monate alt war, wenn ich ausgerechnet in der Nacht des Erscheinens angekommen war, wenn sich die ganze Gegend mit Flämmchen bedeckt, begriff ich, kaum dass ich rechnen konnte, nicht mehr. In jener Nacht muss ich genau zwanzig Monate alt gewesen sein. Oder es wurde von jener Nacht, von der jemand nur ein einziges Mal berichtete, erzählt wie von einem Märchen.

Meine einzige Gewissheit ist nur das Bruchstück zwischen einer Nebelbank und der nächsten, eingefangen von meiner Einfühlungsgabe, nicht von meinem Gedächtnis, das nicht existiert.

So wenig vergöttert wurde ich, dass ich schon als kleines Mädchen ein archäologisches Fundstück aus ungewisser Epoche und mit ungewisser Geschichte war.

Dass man mich nicht angehimmelt hatte, rettete mich vor Langeweile. Weil ich verlassen worden war, gewöhnte ich mich daran, allein zurechtzukommen; die erstaunliche Erfindungsgabe, dank deren ich für jedes praktische Problem, es sei denn ökonomischer Art, eine Lösung finde, rührt daher. Kommt es davon, dass ich nie nach dem Warum frage?

Die Fragen danach waren Legion, doch sie waren stumm, ich klärte sie allein; in schwierigen Fällen suchte ich Unterstützung beim Dietrich »vielleicht«, der immer mehr als nur eine Lösung aufschloss; viele erinnerten an die Märchen von Scolastica.

Jede Frage ist ein Warum, ich fragte nicht einmal, wenn ich Fieber zu haben schien und es gern gewusst hätte. Die Tante legte mir die Hand auf die Stirn, doch der Geste folgte nie das Wort. Ich fragte nicht, blieb eingeschlossen in das feine Gespinst eines fließenden Schleiers, hab ich Fieber, hab ich keins?

Nur ein einziges Mal stellte ich die Frage nach dem Warum, und zwar Eugenia, doch ich war schon ziemlich groß, der Onkel war nach Amerika ausgewandert, und wir waren von der Casa del Beneficio in das Haus der Krebskranken umgezogen. In der Küche fegte Eugenia, niemand war hier oder in der Nähe, ich rang die Hände, während ich mein schamloses Warum rief, und faltete sie dann, um zuzuhören. Eugenia sagte: »Das Buch Warum ist ins Meer gefallen und verlorengegangen, wenn’s wiedergefunden wird, werden Sie, Signorina, es bekommen.«

Es war mein einziges Warum, denn es scheiterte, weil ich mich schämte, es ausgesprochen zu haben, und die Antwort bestärkte noch die Tendenz, Fragen, wenn sie lösbar waren, selbst zu lösen, wenn nicht, die Antwort zu geben: »Und dann? Und dann nichts.«

Dieses in wer weiß welch tiefem Meer versunkene Buch sollte sich nie mehr finden lassen; geschlossen, stumm für immer. Besser so.

Mutter ist diejenige, die zu lesen aufhört und auf die Fragen nach dem Warum antwortet, Mutter ist Einzigartigkeit, Sicherheit und physiologische Stütze.

Wir waren Mutter und Tochter, miteinander verbunden durch ihren letzten Schrei und mein erstes Weinen, denn damals gab man uns einen Klaps, damit wir weinten; wir waren nicht am Leben, wenn wir nicht weinten. Bei ihr hätte ich bleiben sollen. Stattdessen verbrachte man mich rasch zu den verstoßenen Neugeborenen, ein Fläschchen wurde zu meinem mütterlichen Element. Reue und Kalkül stellten sich bei meiner Erzeugerin ein, denn sie nahm mich zurück, doch dann, enttäuscht, weil sie sich verkalkuliert hatte, schickte sie mich in die Monti Lepini in der Nähe des Tempels des Saturno Profugo; die Abschiebung auf unbestimmte Zeit in eine Familie von Bauern aus der Ciociaria nannte man »zu einer Amme geben«. Zu der volskischen Amme sagte ich ganz bestimmt »Mama«; ich war sicher mit ihnen auf dem Feld, mit ihnen habe ich wohl Polenta gegessen.

Als die leibliche Mutter mich wieder zu sich nahm, sagte ich »Mama« zu ihr. Doch sie hatte mich nicht wieder zu sich genommen, um mich zu behalten, sondern um mich gründlich zu säubern und nach Treja zu bringen, wo sie mich, so war es beschlossen, Onkel und Tante aufhalsen würde.

Hier blieb sie länger, als es die Übergabe erforderte; ein coup-de-foudre hatte sie entflammt; sie kehrte zurück in Begleitung ihrer neuen Flamme. Anscheinend rief ich in der Frühe nach Mama, um mich bemerkbar zu machen, und dann kam eines Morgens die Tante, weil die Mama abgereist war, und sagte: »Hier ist deine Mama.« Und ich antwortete »nein« und drehte mich auf die andere Seite.

Nur in der nächtlichen Angst nannte ich noch eine Weile den Namen Mama, wenn ich »zu Mama kommen« bettelte; doch später ging ich dem Wort aus dem Weg wie einem Prellstein.

Mutter, das bedeutet körperliche und emotionale Wirklichkeit; für mich der Missklang einer Tastatur von mütterlichen Elementen, die sich alle widersprachen. Das Wort triumphierte über die Schullektüren, ein süßlicher literarischer Begriff. Besser die Punischen Kriege und die Garibaldi-Hymne.

Ich lag ausgestreckt auf einem Sitzplatz im Zug; Onkel und Tante brachten mich nach Rom, um mich meiner Mutter zu zeigen; ich schlief; hin und wieder öffnete ich die Augen, immer sah ich das Gepäck auf der Ablage.

Meine Mutter, so hieß es, umgab sich gern mit Tieren; Hunden, Katzen, Vögeln, auch Schildkröten. Es war also ihr Haus, wo ich angeblich auf dem Rücken einer kriechenden Schildkröte gestanden hatte.

In einem hellen, lichtdurchfluteten Krankenhauszimmer lehnte eine Verwandte in die Kissen eines ganz und gar weißen Betts und sprach mit den Erwachsenen, es waren drei oder vier. Mich interessierte nur ein fast bis obenhin mit Erdbeeren gefülltes Kristallglas, das auf dem Nachttisch stand. Ich hatte nie Lust, irgendwelche Sachen zu essen, auch wenn man mir die Erdbeeren angeboten hätte, hätte ich sie verschmäht, ich betrachtete sie nur wie verzaubert, noch nie hatte ich so viele Erdbeeren in einem durchsichtigen Glas gesehen, eine auf der anderen; ein Glas und innen drin ein Wunder aus roten Korallen in Form von Erdbeeren.

In diesem Zimmer hatte ich mich, die Hände auf dem Rücken, gegen das Fußteil des Betts gelehnt, die Handflächen auf dem kühlen Metall; Ida kam hinzu und nahm die gleiche Haltung ein; unsere Schultern berührten sich. »Sie ist älter als ich und kleiner«, dachte ich und versuchte, mich so lang wie möglich zu strecken.

Unter Wasser fuhr ich den Fluss entlang in einem kleinen Schiff ganz aus Glas; ich stand nah beim Glas; die Fische schnellten hinauf und hinab, glitten hin und her, tanzten Ringelreihen; Land sah man keines.

Zwei Frauen waren bei mir: keine Gesichtszüge, nur ein bestimmter Ausdruck. Eine lächelte; sie schaute, sah aber nicht das Wasser, das über die Glasfenster strömte, nicht die Fische, die in nächster Nähe vorbeischwammen, sie war mit sich selbst beschäftigt und lächelte über das, was sie dachte, also war das die Tante. Die andere, teilnahmslose, musste meine Mutter sein oder wer immer sie vertrat: Päpste und Bischöfe haben ihre Stellvertreter, sie hatte ihre Stellvertreterinnen.

Als ich später die in glänzendes Gold gefasste Kamee bemerkte, die sich die Tante aus Rom mitgebracht hatte, und als ich noch später bemerkte, dass es ihr Porträt war, da war ich mir sicher, dass sie es war, die in dem Unterwasserschiff irgendwohin geschaut und gelächelt hatte, ohne zu sehen: die gleiche Haltung des vorgestreckten Kinns über dem langen Hals; es war die Kamee. Vielleicht lächelte sie unter Wasser, inmitten der hin und her flitzenden Fische, sich selbst auf der Kamee zu; vielleicht hatte eine Pose nicht genügt, sie musste sie wiederholen, sie hatte sich die Haltung angewöhnt. Morgen wird der Künstler, über den großen, kostbaren Onyx gebeugt und die kleine Lupe in die Augenhöhle gedrückt, seine feinen Instrumente auf das strohgelbe Substrat des Steins richten, damit die Figur, die aus der darüber gelagerten weißen Schicht geschnitten wird, noch deutlicher zum Vorschein kommt. In leuchtendes, kompliziert graviertes Gold gefasst, wird die Kamee in ein granatfarbenes Etui gesteckt, außen Samt, innen weicher Satin. So wie Rom für mich die Schildkröte, das Glas mit Erdbeeren, der Ausflug unter Wasser war, so war es für die Tante die Kamee.

Als ich groß war, erkundigte ich mich hier in Rom nach diesem Gefährt, das unter Wasser fuhr, nichts, niemand hatte es je gesehen, niemand hatte je davon gehört; ich habe die Bücher durchgeblättert, die mir vielleicht etwas dazu sagen konnten, nichts. Und doch bin ich dort gewesen.

Vielleicht brach ein besonders heißer Sommer aus, denn meine Mutter kam nach Treja in die Sommerfrische; sie mietete die Villa Bell’Amore. War sie allein gekommen oder mit den vier Kindern, die ihr ein Ehemann hinterlassen hatte, der auf dem Gipfel einer glänzenden, ungewöhnlichen Karriere gestorben war? Auch später gelangte davon kein Echo zu mir. Fest steht aber, dass sie in Begleitung des Ingenieurs Cervigni gekommen war, des Mannes, mit dem sie wieder fortgegangen war, nachdem sie mich bei den Verwandten abgeliefert hatte.

Er stammte von hier, der Ingenieur Cervigni, ein riesenhafter junger Mann, der Wasserleitungen durch ganz Italien verlegte und sich hin und wieder zu Hause blicken ließ. Ein dreistöckiges Haus mit einem Bruder, der Priester war, Eltern und drei Schwestern; von einem weiteren, spindeldürren Bruder erfuhr ich erst, als er, ganz jung noch, starb.

Seine drei Schwestern, echte Kriegsmaschinen, spuckten noch immer Gift und Galle wegen dieser Geschichte, als ich schon alle Wörter verstand. Von Zeit zu Zeit ebbte die Flut der Beleidigungen ab, bis eine Stimme halblaut »dieses schamlose Frauenzimmer« skandierte und erneut Gift und Galle gespuckt wurde. »Schamloses Frauenzimmer« war noch eines von den harmloseren Schimpfwörtern.

Onkel und Tante oder auch meine Mutter hatten eine Kinderfrau angeheuert, die mich ins Bell’Amore brachte, wenn nach mir verlangt wurde. Natürlich hatte sich Eugenia geweigert, mich hinzubringen. Die Frau war nicht viel jünger als Scolastica, doch sie war noch gut zu Fuß, ja sie konnte mich sogar auf den Arm nehmen. Deshalb war ich so groß auf der Straße und so klein, wenn sie mich, kaum waren wir durch das Tor, auf dem Boden absetzte; gleich sah ich viele kleine himmelblaue Blumen, mit etwas Hellem in der Mitte, das musste ihr Leben sein. Sie standen ganz dicht in einem Beet linker Hand nebeneinander, vor der Fassade der Villa, und sahen mich an; ich kniete mich hin und war bei ihnen. Ich sah alles: das Herz, die kleinen Äderchen, einen rosafarbenen Schimmer, die flaumigen Blätter. Könnte man im Geist die Dinge fotografieren, die nicht gelöscht worden sind, könnte ich die Blümchen fotografieren, die mich aus jenem Fleckchen Erde ansahen.

Die alte Kinderfrau, die mich auf dem Arm trug, sehe ich nicht vor mir, aber ich weiß noch, dass sie mir zuwider war, etwas, dem ich ausweichen musste; ich stemmte die Hände gegen ihre Schulter, um mich nach hinten zu lehnen und sie so wenig wie möglich zu berühren. Endlich hatte mich jemand auf den Arm genommen, aber es war eine Unbekannte voller Warzen, eine Gepäckträgerin, keine Kinderfrau. »Bring sie in die Villa Bell’Amore«, wird man zu der alten Frau gesagt haben, doch diesen Namen hörte ich erst später, als die Schwestern Cervigni das Bündel der Missetaten meiner Mutter vor mir auspackten.

Ich war für sie Angeklagte und zugleich Richterin. Der Name der Villa der Grafen Teloni, auch sie, die Vermieter, schamlose Leute, wurde ab und zu erwähnt: Er wurde mit der gleichen Wut, dem gleichen Groll ausgesprochen wie all die anderen Beleidigungen; trotzdem verzauberte mich dieses prächtige Bell’Amore, ohne dass ich dabei an etwas Bestimmtes dachte. Rings um die kleinen hellblauen Blümchen eine ausgebleichte Umgebung, das schmiedeeiserne schwarze Tor ebenso wie die hellgrünen Fensterläden der Villa stets geschlossen. Niemand stand je am Fenster, niemand kam je heraus, nie habe ich die Villa betreten. Ich muss aber dort gewesen sein, sie bezahlten ja die alte Frau eigens, damit sie mich hinbrachte, aber ich bin nie hineingegangen, nie habe ich jemanden gesehen.

Auch weiterhin betrachteten mich die winzigen blauen Blumen, die an einem Namen zu tragen hatten, so lang wie eine Rede: »Vergissmeinnicht.« Ich muss es ihnen so fest versprochen haben, dass ich meine Mutter vergaß, als hätte ich sie nie dort gesehen, die Blumen hingegen nicht. »Bell’Amore, vergiss mein nicht«, ein Märchen von Scolastica.

Auf mich wartete im großen Speisezimmer eine Dame hinter einem geöffneten, am Boden liegenden Koffer; grauer Rock, weiße Bluse; die schwarzen Haare bauschten sich auf dem Kopf und fielen in Locken in den Nacken. Die Schwestern Cervigni werden später auch diese originelle Frisur kritisieren; die Tante wird darüber lächeln: Die Tricks, die der Eleganz dienlich sind, ließ sie alle gelten. Meine Mutter war nicht so groß und schlank wie sie, von ihrer Figur hätte man sagen können: nur zwei Fingerbreit mehr, und sie wäre vollkommen gewesen. Diese zwei Fingerbreit verlieh ihr der Haarschopf auf dem Kopf.

Alles ist verschwommen, nur die Haare ein bisschen weniger; wenn sie sich bückte, fielen die Locken nach vorn, wenn sie sich aufrichtete, schüttelte sie sie mit einer Kopfbewegung nach hinten. Das Gesicht nicht vorhanden. Man sagte, es sei wunderschön.

Sie zog die Spielsachen heraus, die sie mir mitgebracht hatte, und verkündete ihre Namen; ich stand aufrecht da, vor dem Koffer. Sie gab mir die Spielsachen nicht, und ich erwartete es auch gar nicht, wartete nur darauf, sie zu sehen und ihren Namen zu erfahren. Heraus kam ein Pulcinella; die Arme ausgestreckt, auf die Hände zwei Blechscheiben genagelt; wenn man das Ding, das ihm unter dem Kittel auf der Brust hervorragte, drückte und wieder losließ, schloss und öffnete er die Arme und schlug dabei zwei Becken gegeneinander wie die Musikanten einer Kapelle. Hinter mir musste die Tante sein, denn während die Dame präsentierte, was sie aus dem Koffer zog, richtete sie sich an jemanden hinter mir, der viel größer war.

Sie zog etwas heraus, was keinem anderen Spielzeug glich: auf einer langen, schmalen Schatulle ein Vierergespann, jedes Pferd mit einem Reiter auf der Kruppe; drehte man eine Kurbel, so erhoben sich die Pferde auf die Hinterhand und kamen dann wieder auf der Vorderhand zu stehen. Ich wollte wissen, wie das Ding hieß. Sie stand mit dem Spielzeug in der Hand da, verwundert, sah diejenige an, die hinter mir stand, vielleicht flüsterte sie: Wie heißt es? Wie heißt es?, aber ich bin mir nicht sicher. Sie bückte sich, gab es mir und sagte scherzhaft: »Cavalleria Rusticana.«

Das ganze Leben lang nur diese beiden Wörter.

Die Spielsachen machte ich nicht kaputt, ich ließ sie nicht links liegen, ich hütete sie; je länger sie bei mir waren, desto mehr liebte ich sie. Auch von der Cavalleria Rusticana musste ich mich trennen, als ich ins Internat kam; ich fand sie nicht wieder. Die Tante hat sie sicher weggeworfen oder verschenkt, bestimmt dachte sie, als sie sich ihrer entledigte, dass Kinder auch lästig sind wegen des Krimskrams, den sie hinterlassen.

Ich kam nach Rom. Dass ich Treja mit mir genommen hatte, wusste ich an dem Tag, als ich auf die Piazza dell’Olmo di Treja stieß, der Name hatte Rom gelöscht. Dass ich auch die Cavalleria Rusticana mitgenommen hatte, begriff ich, als die beiden Schwestern mich mit ins Theater einluden: Man gab die Cavalleria Rusticana.

Diese zwei Wörter hatten einen Taumel ausgelöst, die Erwartung wurde immer heftiger, immer banger, bis sie mich ganz in Beschlag nahm und in das Theater versetzte, wo ich die Cavalleria Rusticana sah, eine Glückseligkeit, von der kein Mensch etwas ahnte.

Im Theater vergaß ich die Schwestern; ich schaute gebannt auf die Bühne und erwartete, gleich paarweise die acht Pferde ankommen zu sehen. Alles war schön und gut, doch die Pferde kamen nicht. Es gab »O Lola ch’ai di latti la cammisa«; Zizì sang das Lied für mich, wenn er die Lampen putzte; Santuzza warf sich verzweifelt der Schwiegermutter zu Füßen, doch von Pferden keine Spur. Jemand schrie, man habe Compare Turiddu umgebracht; vielleicht würden sie jetzt kommen. Nichts. Es fiel der Vorhang.

Ich fand die beiden Schwestern wieder, sah sie verwirrt an.

»Hat es dir gefallen?«

»Ja, aber die Pferde sind nicht gekommen.«

Sie sahen mich schweigend an. Stumm sprachen sie miteinander, ihr Gesichtsausdruck sagte: »Wir haben es ja gewusst, sie ist verrückt.« Ich begriff, dass sie mich nie mehr einladen würden, als sie sagten: »Gehen wir.«