Unterm Birnbaum - Theodor Fontane - E-Book + Hörbuch

Unterm Birnbaum E-Book

Theodor Fontane

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Beschreibung

Eine kleine Kriminalnovelle von Theodor Fontane. Abel Hradscheck, ein Verlierer durch und durch, ist mit seiner zänkischen Frau Ursel verheiratet, die ihm mehr als einmal täglich sein Versagen auf allen Gebieten vorwirft. Doch sie sind durch ein verschuldetes Geschäft aneinander gekettet. Als Hradscheck unter einem Birnbaum in seinem Garten eine 20 Jahre alte Soldatenleiche findet, schmiedet er mit seiner Frau einen Komplott zu einem Raubmord – aus ausgerechnet die Soldatenleiche soll sein Alibi werden. Null Papier Verlag

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Theodor Fontane

Unterm Birnbaum

Kriminalgeschichte

Theodor Fontane

Unterm Birnbaum

Kriminalgeschichte

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954188-56-7

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Erstes Kapitel

Vor dem in dem großen und rei­chen Oder­bruch­dor­fe Tsche­chin um Mi­chae­li 20 er­öff­ne­ten G­ast­haus und Ma­te­ri­al­wa­ren­ge­schäft von Abel Hrad­scheck (so stand auf ei­nem über der Tür an­ge­brach­ten Schild) wur­den Sä­cke, vom Haus­flur her, auf einen mit zwei ma­gern Schim­meln be­spann­ten Bau­er­wa­gen ge­la­den. Ei­ni­ge von den Sä­cken wa­ren nicht gut ge­bun­den oder hat­ten klei­ne Lö­cher und Rit­zen, und so sah man denn an dem, was her­aus­fiel, daß es Raps­sä­cke wa­ren. Auf der Stra­ße ne­ben dem Wa­gen aber stand Abel Hrad­scheck selbst und sag­te zu dem eben vom Rad her auf die Deich­sel stei­gen­den Knecht: »Und nun vor­wärts, Ja­kob, und grü­ße mir Öl­mül­ler Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Wo­che müßt ich das Öl ha­ben, Leist in Wriet­zen war­te schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so be­stel­le der Frau mei­nen Gruß und sei hübsch ma­nier­lich. Du weißt ja Be­scheid. Und weißt auch, Kätz­chen hält auf Kom­pli­men­te.«

Der als Ja­kob An­ge­re­de­te nick­te nur statt al­ler Ant­wort, setz­te sich auf den vor­ders­ten Raps­sack und trieb bei­de Schim­mel mit ei­nem schläf­ri­gen »Hüh« an, wenn über­haupt von An­trei­ben die Rede sein konn­te. Und nun klap­per­te der Wa­gen nach rechts hin den Fahr­weg hin­un­ter, erst auf das Bau­er Orth­sche Ge­höft samt sei­ner Wind­müh­le (wo­mit das Dorf nach der Frank­fur­ter Sei­te hin ab­schloß) und dann auf die wei­ter drau­ßen am Oder­bruch-Damm ge­le­ge­ne Öl­müh­le zu. Hrad­scheck sah dem Wa­gen nach, bis er ver­schwun­den war, und trat nun erst in den Haus­flur zu­rück. Die­ser war breit und tief und teil­te sich in zwei Hälf­ten, die durch ein paar Holz­säu­len und zwei da­zwi­schen aus­ge­spann­te Hän­ge­mat­ten von­ein­an­der ge­trennt wa­ren. Nur in der Mit­te hat­te man einen Durch­gang ge­las­sen. An dem Vor­flur lag nach rechts hin das Wohn­zim­mer, zu dem eine Stu­fe hin­auf­führ­te, nach links hin aber der La­den, in den man durch ein großes, fast die hal­be Wand ein­neh­men­des Schie­be­fens­ter hin­ein­se­hen konn­te. Frü­her war hier die Ver­kaufs­stel­le ge­we­sen, bis sich die zum Vor­nehm­tun ge­neig­te Frau Hrad­scheck das He­rum­tram­peln auf ih­rem Flur ver­be­ten und auf Durch­bruch ei­ner rich­ti­gen La­den­tür, also von der Stra­ße her, ge­drun­gen hat­te. Seit­dem zeig­te die­ser Vor­flur eine ge­wis­se Herr­schaft­lich­keit, wäh­rend der nach dem Gar­ten hin­aus­füh­ren­de Hin­ter­flur ganz dem Ge­schäft ge­hör­te. Sä­cke, Zitro­nen- und Ap­fel­si­nen­kis­ten stan­den hier an der einen Wand ent­lang, wäh­rend an der an­dern über­ein­an­der­ge­schich­te­te Fäs­ser la­gen, Öl­fäs­ser, de­ren statt­li­che Rei­he nur durch eine zum Kel­ler hin­un­ter­füh­ren­de Fall­tür un­ter­bro­chen war. Ein sorg­lich vor­ge­leg­ter Keil hielt nach rechts und links hin die Fäs­ser in Ord­nung, so daß die un­te­re Rei­he durch den Druck der oben­auf­lie­gen­den nicht ins Rol­len kom­men konn­te.

So war der Flur. Hrad­scheck selbst aber, der eben die schma­le, zwi­schen den Kis­ten und Öl­fäs­sern frei ge­las­se­ne Gas­se pas­sier­te, schloß, halb är­ger­lich, halb la­chend, die trotz sei­nes Ver­bo­tes mal wie­der of­fen­ste­hen­de Fall­tür und sag­te: »Die­ser Jun­ge, der Ede. Wann wird er sei­ne fünf Sin­ne bei­sam­men ha­ben!«

Und da­mit trat er vom Flur her in den Gar­ten.

Hier war es schon herbst­lich, nur noch As­tern und Re­se­da blüh­ten zwi­schen den Buchs­baum­ra­bat­ten, und eine Hum­mel um­summ­te den Stamm ei­nes al­ten Birn­baums, der mit­ten im Gar­ten hart ne­ben dem brei­ten Mit­tel­stei­ge stand. Ein paar Möh­ren­bee­te, die sich, samt ei­nem schma­len, mit Kar­tof­feln be­setz­ten Acker­strei­fen, an eben die­ser Stel­le durch eine Spar­gel­an­la­ge hin­zo­gen, wa­ren schon wie­der um­ge­gra­ben, eine fri­sche Luft ging, und eine schwarz­gel­be, der ne­benan­woh­nen­den Wit­we Jesch­ke zu­ge­hö­ri­ge Kat­ze schlich, mut­maß­lich auf der Sper­lings­su­che, durch die schon hoch in Sa­men ste­hen­den Spar­gel­bee­te.

Hrad­scheck aber hat­te des­sen nicht acht. Er ging viel­mehr rech­nend und wä­gend zwi­schen den Ra­bat­ten hin und kam erst zu Be­trach­tung und Be­wußt­sein, als er, am Ende des Gar­tens an­ge­kom­men, sich um­sah und nun die Rück­sei­te sei­nes Hau­ses vor sich hat­te. Da lag es, sau­ber und freund­lich, links die sich von der Stra­ße her bis in den Gar­ten hin­ein­zie­hen­de Ke­gel­bahn, rechts der Hof samt dem Kü­chen­haus, das er erst neu­er­dings an den La­den an­ge­baut hat­te. Der kaum vom Win­de be­weg­te Rauch stieg son­nen­be­schie­nen auf und gab ein Bild von Glück und Frie­den. Und das al­les war sein! Aber wie lan­ge noch? Er sann ängst­lich nach und fuhr aus sei­nem Sin­nen erst auf, als er, ein paar Schrit­te von sich ent­fernt, eine große, durch ihre Schwe­re und Rei­fe sich von selbst ab­lö­sen­de Mal­va­sier­bir­ne mit ei­gen­tüm­lich dump­fem Ton auf­klat­schen hör­te. Denn sie war nicht auf den har­ten Mit­tel­steig, son­dern auf eins der um­ge­gra­be­nen Möh­ren­bee­te ge­fal­len. Hrad­scheck ging dar­auf zu, bück­te sich und hat­te die Bir­ne kaum auf­ge­ho­ben, als er sich von der Sei­te her an­ge­ru­fen hör­te:

»Dag, Hrad­scheck. Joa, et wahrd nu Tied. De Mal­ve­sie­ren küm­men all von sülwst.«

Er wand­te sich bei die­sem An­ruf und sah, daß sei­ne Nach­ba­rin, die Jesch­ke, de­ren klei­nes, et­was zu­rück­ge­bau­tes Haus den Blick auf sei­nen Gar­ten hat­te, von drü­ben her über den Him­beer­zaun kuckte.

»Ja, Mut­ter Jesch­ke, ’s wird Zeit«, sag­te Hrad­scheck. »Aber wer soll die Bir­nen ab­neh­men? Frei­lich wenn Ihre Line hier wäre, die könn­te hel­fen. Aber man hat ja kei­nen Men­schen und muß al­les selbst ma­chen.«

»Na. Se heb­ben joa doch den Jun­gen, den Ede.«

»Ja, den hab ich. Aber der pflückt bloß für sich.«

»Dat sall woll sien«, lach­te die Alte. »Een in ’t Töpp­ken, een in ’t Kröpp­ken.«

Und da­mit hum­pel­te sie wie­der nach ih­rem Hau­se zu­rück, wäh­rend auch Hrad­scheck wie­der vom Gar­ten her in den Flur trat.

Hier sah er jetzt nach­denk­lich auf die Stel­le, wo vor ei­ner hal­b­en Stun­de noch die Raps­sä­cke ge­stan­den hat­ten, und in sei­nem Auge lag et­was, als wünsch er, sie stün­den noch am sel­ben Fleck oder es wä­ren neue statt ih­rer aus dem Bo­den ge­wach­sen. Er zähl­te dann die Fäs­ser­rei­he, rief, im Vor­über­ge­hen, einen kur­z­en Be­fehl in den La­den hin­ein und trat gleich da­nach in sei­ne ge­gen­über­ge­le­ge­ne Wohn­stu­be.

Die­se mach­te ne­ben ih­rem wohn­li­chen zu­gleich einen ei­gen­tüm­li­chen Ein­druck, und zwar, weil al­les in ihr um vie­les bes­ser und ele­gan­ter war, als sich’s für einen Krä­mer und Dorf­ma­te­ria­lis­ten schick­te. Die zwei klei­nen So­fas wa­ren mit ei­nem hell­blau­en At­lass­toff be­zo­gen, und an dem Spie­gel­pfei­ler stand ein schma­ler Tru­meau, weiß­la­ckiert und mit Gold­leis­te. Ja, das in ei­nem Ma­ha­go­ni­rah­men über dem klei­nen Kla­vier hän­gen­de Bild (al­lem An­schei­ne nach ein Stich nach Clau­de Lor­rain) war ein Son­nen­un­ter­gang mit Tem­pel­trüm­mern und an­ti­ker Staf­fa­ge, so daß man sich füg­lich fra­gen durf­te, wie das al­les hier­her­kom­me. Pas­send war ei­gent­lich nur ein Steh­pult mit ei­nem Git­ter­auf­satz und ei­nem Kuck­loch dar­über, mit Hil­fe des­sen man, über den Flur weg, auf das große Schie­be­fens­ter se­hen konn­te.

Hrad­scheck leg­te die Bir­ne vor sich hin und blät­ter­te das Kon­to­buch durch, das auf­ge­schla­gen auf dem Pul­te lag. Um ihn her war al­les still, und nur aus der halb of­fen­ste­hen­den Hin­ter­stu­be ver­nahm er den Schlag ei­ner Schwarz­wäl­der Uhr.

Es war fast, als ob das Tick­tack ihn stö­re, we­nigs­tens ging er auf die Tür zu, an­schei­nend, um sie zu schlie­ßen; als er in­des hin­einsah, nahm er über­rascht wahr, daß sei­ne Frau in der Hin­ter­stu­be saß, wie ge­wöhn­lich schwarz, aber sorg­lich ge­klei­det, ganz wie je­mand, der sich auf Fi­gur­ma­chen und Toi­let­ten­din­ge ver­steht. Sie flocht eif­rig an ei­nem Kranz, wäh­rend ein zwei­ter, schon fer­ti­ger an ei­ner Stuhl­leh­ne hing.

»Du hier, Ur­sel! Und Krän­ze! Wer hat denn Ge­burts­tag?«

»Nie­mand. Es ist nicht Ge­burts­tag. Es ist bloß Ster­be­tag, Ster­be­tag dei­ner Kin­der. Aber du ver­gißt al­les. Bloß dich nicht.«

»Ach, Ur­sel, laß doch. Ich habe mei­nen Kopf voll Wun­der. Du mußt mir nicht Vor­wür­fe ma­chen. Und dann die Kin­der. Nun ja, sie sind tot, aber ich kann nicht trau­ern und kla­gen, daß sie’s sind. Um­ge­kehrt, es ist ein Glück.«

»Ich ver­ste­he dich nicht.«

»Und ist nur zu gut zu ver­stehn. Ich weiß nicht aus noch ein und habe Sor­gen über Sor­gen.«

»Wor­über? Weil du nichts Rech­tes zu tun hast und nicht weißt, wie du den Tag hin­brin­gen sollst. Hin­brin­gen, sag ich, denn ich will dich nicht krän­ken und von Zeit tot­schla­gen spre­chen. Aber sage selbst, wenn drü­ben die Wein­stu­be voll ist, dann fehlt dir nichts. Ach, das ver­damm­te Spiel, das ewi­ge Knö­cheln und Tem­peln. Und wenn du noch glück­lich spiel­test! Ja, Hrad­scheck, das muß ich dir sa­gen, wenn du spie­len willst, so spie­le we­nigs­tens glück­lich. Aber ein Wirt, der nicht glück­lich spielt, muß da­von­blei­ben, sonst spielt er sich von Haus und Hof. Und dazu das Trin­ken, im­mer der schwe­re Un­gar, bis in die Nacht hin­ein.«

Er ant­wor­te­te nicht, und erst nach ei­ner Wei­le nahm er den Kranz, der über der Stuhl­leh­ne hing, und sag­te: »Hübsch. Al­les, was du machst, hat Schick. Ach, Ur­sel, ich woll­te, du hät­test bes­se­re Tage.«

Da­bei trat er freund­lich an sie her­an und strei­chel­te sie mit sei­ner wei­ßen, flei­schi­gen Hand.

Sie ließ ihn auch ge­wäh­ren, und als sie, wie be­schwich­tigt durch sei­ne Lieb­ko­sun­gen, von ih­rer Ar­beit auf­sah, sah man, daß es ih­rer­zeit eine sehr schö­ne Frau ge­we­sen sein muß­te, ja, sie war es bei­nah noch. Aber man sah auch, daß sie viel er­lebt hat­te, Glück und Un­glück, Lieb und Leid, und durch al­ler­lei schwe­re Schu­len ge­gan­gen war. Er und sie mach­ten ein hüb­sches Paar und wa­ren gleich­alt­rig, An­fang vier­zig, und ihre Sprech- und Ver­kehrs­wei­se ließ er­ken­nen, daß es eine Nei­gung ge­we­sen sein muß­te, was sie vor län­ger oder kür­zer zu­sam­men­ge­führt hat­te.

Der her­be Zug, den sie bei Be­ginn des Ge­sprächs ge­zeigt, wich denn auch mehr und mehr, und end­lich frag­te sie: »Wo drückt es wie­der? Eben hast du den Raps weg­ge­schickt, und wenn Leist das Öl hat, hast du das Geld. Er ist prompt auf die Mi­nu­te.«

»Ja, das ist er. Aber ich habe nichts da­von, al­les ist bloß Ab­schlag und Zins. Ich ste­cke tief drin und lei­der am tiefs­ten bei Leist selbst. Und dann kommt die Kra­kau­er Ge­schich­te, der Rei­sen­de von Ols­zew­ski-Gold­schmidt und Sohn. Er kann je­den Tag da­sein.«

Hrad­scheck zähl­te noch an­de­res auf, aber ohne daß es einen tiefe­ren Ein­druck auf sei­ne Frau ge­macht hät­te. Viel­mehr sag­te sie lang­sam und mit ge­dehn­ter Stim­me: »Ja, Wür­fel­spiel und Vo­gel­stel­len …«

»Ach, im­mer Spiel und wie­der Spiel! Glau­be mir, Ur­sel, es ist nicht so schlimm da­mit, und je­den­falls mach ich mir nichts draus. Und am we­nigs­ten aus dem Lot­to; ’s ist al­les Tor­heit und weg­ge­wor­fen Geld, ich weiß es, und doch hab ich wie­der ein Los ge­nom­men. Und warum? Weil ich her­aus will, weil ich her­aus muß, weil ich uns ret­ten möch­te.«

»So, so«, sag­te sie, wäh­rend sie me­cha­nisch an dem Kran­ze wei­ter­flocht und vor sich hin sah, als über­le­ge sie, was wohl zu tun sei.

»Soll ich dich auf den Kirch­hof be­glei­ten?« frug er, als ihn ihr Schwei­gen zu be­drücken an­fing. »Ich tu’s gern, Ur­sel.«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Wa­rum nicht?«

»Weil, wer den To­ten einen Kranz brin­gen will, we­nigs­tens an sie ge­dacht ha­ben muß.«

Und da­mit er­hob sie sich und ver­ließ das Haus, um nach dem Kirch­hof zu ge­hen.

Hrad­scheck sah ihr nach, die Dorf­stra­ße hin­auf, auf de­ren ro­ten Dä­chern die Herbst­son­ne flim­mer­te. Dann trat er wie­der an sein Pult und blät­ter­te.

Zweites Kapitel

Eine Wo­che war seit je­nem Tage ver­gan­gen, aber das Spiel­glück, das sich bei Hrad­scheck ein­stel­len soll­te, blieb aus und das Lot­to­glück auch. Trotz al­le­dem gab er das War­ten nicht auf, und da ge­ra­de Lot­te­rie-Zieh­zeit war, kam das Vier­tel­los gar nicht mehr von sei­nem Pult. Es stand hier auf ei­nem Stän­der­chen, ganz nach Art ei­nes Fe­tisch, zu dem er nicht müde wur­de re­spekt­voll und bei­nah mit An­dacht auf­zu­bli­cken. Alle Mor­gen sah er in der Zei­tung die Ge­winn-Num­mern durch, aber die sei­ne fand er nicht, trotz­dem sie un­ter ih­ren fünf Zah­len drei Sie­ben hat­te und mit sie­ben di­vi­diert glatt auf­ging. Sei­ne Frau, die wohl wahr­nahm, daß er litt, sprach ihm nach ih­rer Art zu, nüch­tern, aber nicht un­freund­lich, und drang in ihn, »daß er den Lot­te­rie­zet­tel we­nigs­tens vom Stän­der her­un­ter­neh­men möge, das ver­drös­se den Him­mel nur, und wer der­glei­chen täte, krie­ge statt Ret­tung und Hil­fe den Teu­fel und sei­ne Sipp­schaft ins Haus. Das Los müs­se weg. Wenn er wirk­lich be­ten wol­le, so habe sie was Bes­se­res für ihn, ein Ma­ri­en­bild, das der Bi­schof von Hil­des­heim ge­weiht und ihr bei der Fir­me­lung ge­schenkt habe.«

Da­von woll­te nun aber der be­stän­dig zwi­schen Aber- und Un­glau­ben hin und her schwan­ken­de Hrad­scheck nichts wis­sen. »Geh mir doch mit dem Bild, Ur­sel. Und wenn ich auch woll­te, den­ke nur, wel­che Be­sche­rung ich hät­te, wenn’s ei­ner merk­te. Die Bau­ern wür­den la­chen von ei­nem Dor­fen­de bis ans an­de­re, selbst Orth und Igel, die sonst kei­ne Mie­ne ver­zie­hen. Und mit der Pas­tor-Freund­schaft wär’s auch vor­bei. Daß er zu dir hält, ist doch bloß, weil er dir den ka­tho­li­schen Un­sinn aus­ge­trie­ben und einen Platz im Him­mel, ja viel­leicht an sei­ner Sei­te, ge­won­nen hat. Denn mit mei­nem An­spruch auf Him­mel ist’s nicht weit her.«

Und so blieb denn das Los auf dem Stän­der, und erst als die Zie­hung vor­über war, zer­riß es Hrad­scheck und streu­te die Schnit­zel in den Wind. Er war aber auch jetzt noch, all sei­nem spöt­tisch-über­le­ge­nen Ge­re­de zum Trotz, so schwach und aber­gläu­bisch, daß er den Schnit­zeln in ih­rem Flu­ge nachsah, und als er wahr­nahm, daß ei­ni­ge die Stra­ße hin­auf bis an die Kir­che ge­weht wur­den und dort erst nie­der­fie­len, war er in sei­nem Ge­mü­te be­ru­higt und sag­te: »Das bringt Glück.«

Zu­gleich hing er wie­der al­ler­lei Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen nach, wie sie sei­ner Phan­ta­sie jetzt häu­fi­ger ka­men. Aber er hat­te noch Kraft ge­nug, das Netz, das ihm die­se Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen über­wer­fen woll­ten, wie­der zu zer­rei­ßen.

»Es geht nicht.«

Und als im sel­ben Au­gen­blick das Bild des Rei­sen­den, des­sen An­mel­dung er jetzt täg­lich er­war­ten muß­te, vor sei­ne See­le trat, trat er er­schreckt zu­rück und wie­der­hol­te nur so vor sich hin: »Es geht nicht.«

*

So war Mit­te Ok­to­ber her­an­ge­kom­men.

Im La­den gab’s viel zu tun, aber mit­un­ter war doch ru­hi­ge Zeit, und dann ging Hrad­scheck ab­wech­selnd in den Hof, um Holz zu spel­len, oder in den Gar­ten, um eine gute Sor­te Tisch­kar­tof­feln aus der Erde zu neh­men. Denn er war ein Fein­schme­cker. Als aber die Kar­tof­feln her­aus wa­ren, fing er an, den schma­len Strei­fen Land, dar­auf sie ge­stan­den, um­zu­gra­ben. Über­haupt wur­de Gra­ben und Gar­ten­ar­beit mehr und mehr sei­ne Lust, und die mit dem Spa­ten in der Hand ver­brach­ten Stun­den wa­ren ei­gent­lich sei­ne glück­lichs­ten.

Und so beim Gra­ben war er auch heu­te wie­der, als die Jesch­ke, wie ge­wöhn­lich, an die die bei­den Gär­ten ver­bin­den­de Heck­en­tür kam und ihm zu­sah, trotz­dem es noch früh am Tage war.

»De Tüf­feln sinn joa nu rut, Hrad­scheck.«

»Ja, Mut­ter Jesch­ke, seit vor­ges­tern. Und war dies­mal ’ne wah­re Freu­de; mit­un­ter zwan­zig an ei­nem Busch und alle groß und ge­sund.«

»Joa, joa, wenn een’s Glück heb­ben sall. Na, Se heb­ben’t, Hrad­scheck. Se heb­ben Glück bi de Tüf­feln un bi de Mal­ve­sie­ren ook. I, Se mö­ten joa woll ’n Schef­fel run­ner­pflückt heb­b’n.«

»O mehr, Mut­ter Jesch­ke, viel mehr.«

»Na, be­re­den Se’t nich, Hrad­scheck. Nei, nei. Man sall nix be­re­den. Ook sien Glück nich.«

Und da­mit ließ sie den Nach­bar stehn und hum­pel­te wie­der auf ihr Haus zu.

Hrad­scheck aber sah ihr är­ger­lich und ver­le­gen nach. Und er hat­te wohl Grund dazu. War doch die Jesch­ke, so freund­lich und zu­tu­lich sie tat, eine schlim­me Nach­bar­schaft und quack­sal­ber­te nicht bloß, son­dern mach­te auch sym­pa­the­ti­sche Ku­ren, be­sprach Blut und wuß­te, wer ster­ben wür­de. Sie sah dann die Nacht vor­her einen Sarg vor dem Ster­be­hau­se stehn. Und es hieß auch, »sie wis­se, wie man sich un­sicht­bar ma­chen kön­ne«, was, als Hrad­scheck sie sei­ner­zeit da­nach ge­fragt hat­te, halb von ihr be­strit­ten und dann halb auch wie­der zu­ge­stan­den war. »Sie wis­se es nicht; aber das wis­se sie, daß frisch aus­ge­las­se­nes Lamm­talg gut sei, ver­steht sich, von ei­nem un­ge­bo­re­nen Lamm und als Licht über einen ro­ten Woll­fa­den ge­zo­gen; am bes­ten aber sei Farn­kraut­sa­men in die Schu­he oder Stie­fel ge­schüt­tet.« Und dann hat­te sie herz­lich ge­lacht, worin Hrad­scheck na­tür­lich ein­stimm­te. Trotz die­ses La­chens aber war ihm je­des Wort, als ob es ein Evan­ge­li­um wär, in Erin­ne­rung ge­blie­ben, vor al­lem das »un­ge­bor­ne Lamm« und der »Farn­kraut­sa­men«. Er glaub­te nichts da­von und auch wie­der al­les, und wenn er, sei­ner sons­ti­gen Ent­schlos­sen­heit un­er­ach­tet, schon vor­her eine Furcht vor der al­ten Hexe ge­habt hat­te, so nach dem Ge­spräch über das Sich-un­sicht­bar-Ma­chen noch viel mehr.

Und sol­che Furcht be­schlich ihn auch heu­te wie­der. als er sie, nach dem Mor­gen­ge­plau­der über die »Tüf­feln« und die »Mal­ve­sie­ren«, in ih­rem Hau­se ver­schwin­den sah. Er wie­der­hol­te sich je­des ih­rer Wor­te: »Wenn een’s Glück heb­ben sall. Na, Se heb­ben’t joa, Hrad­scheck. Awers be­re­den Se’t nich.« Ja, so wa­ren ihre Wor­te ge­we­sen. Und was war mit dem al­lem ge­meint? Was soll­te dies ewi­ge Re­den von Glück und wie­der Glück? War es Neid, oder wuß­te sie’s bes­ser? Hat­te sie doch viel­leicht mit ih­rem Ho­kus­po­kus ihm in die Kar­ten ge­kuckt?

Wäh­rend er noch so sann, nahm er den Spa­ten wie­der zur Hand und be­gann rüs­tig wei­ter­zu­gra­ben. Er warf da­bei ziem­lich viel Erde her­aus und war kei­ne fünf Schritt mehr von dem al­ten Birn­baum, auf den der Acker­strei­fen zu­lief, ent­fernt, als er auf et­was stieß, das un­ter dem Schnitt des Ei­sens zer­brach und au­gen­schein­lich we­der Wur­zel noch Stein war. Er grub also vor­sich­tig wei­ter und sah als­bald, daß er auf Arm und Schul­ter ei­nes hier ver­scharr­ten To­ten ge­sto­ßen war. Auch Zeu­gres­te ka­men zu­ta­ge, zer­schlis­sen und ge­bräunt, aber im­mer noch far­big und wohl­er­hal­ten ge­nug, um er­ken­nen zu las­sen, daß es ein Sol­dat ge­we­sen sein müs­se.

Wie kam der hier­her?

Hrad­scheck stütz­te sich auf die Krücke sei­nes Grab­scheits und über­leg­te. »Soll ich es zur An­zei­ge brin­gen? Nein. Es macht bloß Ge­klätsch. Und kei­ner mag ein­keh­ren, wo man einen To­ten un­term Birn­baum ge­fun­den hat. Also bes­ser nicht. Er kann hier wei­ter lie­gen.«

Und da­mit warf er den Arm­kno­chen, den er aus­ge­gra­ben, in die Gru­be zu­rück und schüt­te­te die­se wie­der zu. Wäh­rend die­ses Zu­schüt­tens aber hing er all je­nen Ge­dan­ken und Vor­stel­lun­gen nach, wie sie seit Wo­chen ihm im­mer häu­fi­ger ka­men. Ka­men und gin­gen. Heut aber gin­gen sie nicht, son­dern wur­den Plä­ne, die Be­sitz von ihm nah­men und ihn, ihm selbst zum Trotz, an die Stel­le bann­ten, auf der er stand. Was er hier zu tun hat­te, war ge­tan, es gab nichts mehr zu gra­ben und zu schüt­ten, aber im­mer noch hielt er das Grab­scheit in der Hand und sah sich um, als ob er bei bö­ser Tat er­tappt wor­den wäre. Und fast war es so. Denn un­heim­lich ver­zerr­te Ge­stal­ten (und eine da­von er selbst) um­dräng­ten ihn so faß­bar und leib­haf­tig, daß er sich wohl fra­gen durf­te, ob nicht an­de­re da wä­ren, die die­se Ge­stal­ten auch sä­hen. Und er lug­te wirk­lich nach der Zaun­stel­le hin­über. Gott sei Dank, die Jesch­ke war nicht da. Aber frei­lich, wenn sie sich un­sicht­bar ma­chen und so­gar Tote se­hen konn­te, Tote, die noch nicht tot wa­ren, warum soll­te sie nicht die Ge­stal­ten sehn, die jetzt vor sei­ner See­le stan­den? Ein Grau­en über­lief ihn, nicht vor der Tat, nein, aber bei dem Ge­dan­ken, daß das, was erst Tat wer­den soll­te, viel­leicht in die­sem Au­gen­bli­cke schon er­kannt und ver­ra­ten war. Er zit­ter­te, bis er, sich plötz­lich auf­raf­fend, den Spa­ten wie­der in den Bo­den stieß.