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1,8 Millionen Männer pflegen ihre Frauen, Mütter oder andere Angehörige zu Hause. Das sind 35 Prozent der Pflegenden: Pflege ist längst auch Männersache - obwohl alle Welt nur über die Leistung der Frauen in der Pflege spricht. Eckart Hammer holt die pflegenden Männer aus dem Schattendasein, begleitet und unterstützt sie mit seinem Buch. Er zeigt, wie sie ihre Aufgabe bewältigen können und er macht deutlich, welche Unterstützung sie brauchen.
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Seitenzahl: 267
Eckart Hammer
Unterschätzt: Männer inder Angehörigenpflege
Was sie leistenund welche Unterstützung sie brauchen
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung: www.vogelsangdesign.de
Umschlagmotiv: © michaeljung, fotolia.com
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80103-7
ISBN (Buch) 978-3-451-61265-7
Meiner Mutter,
Maria Schmid,
die mich viel über das Alter(n) lehrt.
Inhalt
Einleitung
1. Pflegen? – Längst schon Männersache!
Der alte(rnde) Mann, das unbekannte Wesen
Die marginalisierten pflegenden Männer
Ehrenamtliche Care-Worker
Die strukturelle Feminisierung des Mannes im Alter
2. Wie Männer Pflege organisieren
Wege in die Pflege
Fünf Grundtypen häuslicher Pflege
Typ I: Der Solist
Typ II: Der überforderte Einzelkämpfer
Typ III: Der Care-Manager
Typ IV: Der Kooperateur
Typ V: Der erschöpfte Kooperateur
3. Wie Männer Pflege bewältigen
Kontinuität, Normalität und Freiräume bewahren
Äußere und innere Distanzierung
Offensives Outing
Pflege als Herausforderung
Produzentenstolz
Organisation und Management
Paternalistische Haltung
Dankbarkeit, Bereicherung und Entwicklung
Religiöse oder spirituelle Sinngebung
Die Identität als Mann bewahren
4. Was Männer in der Pflege belastet
Informationsdefizite
Abbau, Kommunikationsverlust und Isolation
Inkontinenz, Ekel, Scham
Schuldgefühle
Eigene Krankheiten
Materielle Rahmenbedingungen
Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit
5. Wenn Pflege an Grenzen gerät
Kinderpflege ist Natur, Altenpflege ist Kultur
Bis dass der Tod uns scheidet
Gewaltig überfordert
Von der Berufs- zur Selbstaufgabe
Daheim oder ins Heim?
Die finale Grenze
6. Was Männer in der Pflege brauchen
Wenn die Diagnose aus heiterem Himmel kommt
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt
Ein guter Ehemann, ein guter Sohn pflegt nicht alleine!
Pflegende Männer brauchen Öffentlichkeit
Pflegende Männer brauchen pflegende Männer
Gesucht sind Pflegepioniere
Die innere Bereicherung durch die Pflege wahrnehmen
7. Und wer wird uns pflegen?
Die gute Zeit der Alten ist heute!
Das vierfache Altern
Pflege – die Herausforderung des 21. Jahrhunderts
Heute schon an morgen denken
Einsam oder gemeinsam
Mit anderen für andere für mich
Mehr Männer in die Altenpflege
Leben und sterben, wo ich hingehöre
Bewusst angenommene Abhängigkeit
(M)Eine Care-Biografie
Literatur
Anmerkungen
Über 4 Millionen hilfs- und pflegebedürftige Menschen werden derzeit in Deutschland von mindestens ebenso vielen Angehörigen zu Hause betreut und gepflegt1. Um die 36 Prozent dieser sorgenden Angehörigen sind Männer, vor allem Ehemänner und auch Söhne. Das sind rund 1,5 Millionen Männer, die von der Öffentlichkeit und ebenso von der Fachwelt weitgehend übersehen werden, während sie sich ganz selbstverständlich um ihre hilfs- und pflegebedürftigen Angehörigen kümmern und eine tragende Säule unserer Altersversorgung begründen. Angehörigenpflege ist längst schon Männersache!
Dieses Buch will Männer, die ihre Angehörigen pflegen, aus ihrem Schattendasein holen. Denn diese Männer werden hinsichtlich ihrer Pflegetätigkeit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ weit unterschätzt. Mein Anliegen ist, sichtbar zu machen, wie Männer Betreuung und Pflege gestalten, was sie dafür an Unterstützung brauchen, wo ihre Pflege an Grenzen gerät und warum unsere Gesellschaft immer mehr auf pflegende und sorgende Männer angewiesen sein wird. Das Buch basiert auf 25 intensiven Interviews mit Männern in der Angehörigenpflege und den Ergebnissen anderer Studien vor allem aus dem angelsächsischen Raum; im deutschsprachigen Raum ist das Thema weitgehend unerforscht.
Das Buch will pflegende Männer in ihrer Tätigkeit begleiten und unterstützen; es will Männer, die vor einer Pflegeentscheidung stehen, ermutigen und ihnen zu einer förderlichen Pflegehaltung verhelfen; es will Frauen, (Schwieger-)Töchter und andere Angehörige darin bestärken, Männer in die Pflege einzubeziehen; es will Fachkräfte und andere Interessierte über die spezifischen Belange von Männern in der häuslichen Pflege informieren. Pflege und Demenz sind die zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts; schon jeder zweite Erwachsene ist heute in seinem unmittelbaren Umfeld davon betroffen.
Dieses Buch befasst sich nicht mit der Frage, was männliche und weibliche Pflege unterscheidet. Aber wo in vielen Pflegestudien Männer nur eine Restkategorie bilden, die nicht selten klischeehaft und durch die Brille der forschenden Frauen gesehen werden, soll hier die Perspektive der pflegenden Männer eingenommen werden. In einer den Männern zugewandten Haltung geht es um Fragen, wie Männer ihre Pflegeerfahrungen beschreiben, was sie dabei erleben, wie sie die vielfältigen Herausforderungen bewältigen und was sie dafür brauchen. Inwieweit dies männerspezifisch ist oder ob sich auch Frauen in den Befunden und Schlussfolgerungen wiederfinden, kann nur in einer vergleichenden Untersuchung erhellt werden.
Nach meiner Beschäftigung mit dem Altern des Mannes im Allgemeinen in »Männer altern anders« (2007) und Wegweisern für das nachberufliche Leben in »Das Beste kommt noch – Männer im Unruhestand« (2010) richtet nun dieses dritte Buch den Scheinwerfer auf eine unterbelichtete »Männersache«. An einigen einschlägigen Zusammenhängen aus den beiden Vorgängerbüchern werde ich, wo sie einem besseren Verständnis dienen, nochmals anknüpfen.
Ich danke sehr herzlich den 25 pflegenden Männern, die so bereitwillig, persönlich und offen über ihre Pflegegeschichte und die Höhen und Tiefen ihrer Pflegesituationen berichtet haben. Verbunden bin ich allen Fachleuten, die die Interviewpartner gewonnen haben. Dankbar bin ich den Teilnehmenden meines Forschungsseminars für ihre fundierten Beiträge und kritischen Reflexionen: Daniel Avser, Sandra Bretschneider, Karoline Gappa-Winkelmann, Katharina Mall, Doreen Kierschke, Anja Steinacher. Dr. Thomas Fliege danke ich für seine großzügige kollegiale Unterstützung. Dankbar bin ich Imke Rötger, meiner Lektorin, für ihren beharrlich ermutigenden Einsatz für dieses Projekt und ihre freundlich kritische Begleitung.
Ich glaube, wir alten Säcke sind wieder sehr gefragt.
(Georg Ringsgwandl)
»Das Alter ist weiblich!«, so lautet der kategorische Satz vieler Publikationen und Verlautbarungen, die sich mit den Geschlechterverhältnissen im Alter befassen. Und in der Tat scheinen die Zahlen dies zu belegen: Während bis zum Alter von 65 die Geschlechterrelation noch annähernd ausgeglichen ist, kommen bei den 80-Jährigen zwei Männer auf drei Frauen und bei den 90-Jährigen beträgt das Verhältnis bereits eins zu drei2. Altenclubs, Altenkreise und andere Angebote für Ältere werden vorwiegend von Frauen besucht. Rund 85 Prozent der in Pflegeheimen Lebenden sind Frauen, die von prozentual ebenso vielen weiblichen Pflegekräften3 und noch mehr hauswirtschaftlichen Mitarbeiterinnen versorgt und von überwiegend weiblichen Ehrenamtlichen betreut werden. Auch in der Pflege von Angehörigen sind es in der Mehrzahl Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, die sich um ihre Partner oder Eltern kümmern.
Weil das Alter weiblich ist, so die häufige Schlussfolgerung, müssen alle Energien auf die benachteiligten alten Frauen und auf die, die sich um sie kümmern, konzentriert werden. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass Frauen mehr als Männer von Altersarmut betroffen sind, dass sie häufiger alleine leben müssen und in Verbindung mit ihrer höheren Lebenserwartung darum auch öfter auf stationäre Pflege angewiesen sind. Aber mit welchem Recht werden die Lebenslagen der männlichen Minderheit bagatellisiert oder – noch schlimmer – gar nicht erst zur Kenntnis genommen? Der alte Mann ist noch immer das unbekannte Wesen der Sozialforschung und der Gerontologie – kaum erforscht, selten besprochen, wenig bekannt. Die Gerontologie, die Wissenschaft vom Alter(n), hat das Wissen über nahezu alle Fragen des Alter(n)s rasant vermehrt und den Kontinent »Alter« fast lückenlos erforscht und vermessen. Doch den älteren Mann hat sie bei ihren vielfältigen Bemühungen weitgehend übersehen und vergessen.
Die wenigen gesicherten wissenschaftlichen Befunde zu Männern und Alter, die ich in meinem Buch »Männer altern anders« zusammengetragen und in vielen Vorträgen auch außerhalb der Fachwelt vorgestellt habe, stoßen auf eine überraschend große Resonanz:
Wie können Männer – und auch ihre Partnerinnen – die Krise der Entberuflichung bewältigen?
Wie kann Partnerschaft unter völlig veränderten äußeren Bedingungen gelingen?
Wie kann man eine nachberufliche Lebensspanne gestalten, die länger als die Berufsphase sein kann?
Wie bewältigen Männer körperliche Einbußen und Gebrechlichkeit?
Warum ist die Suizidquote der alten Männer so unglaublich hoch?
Warum sterben die Männer im Vergleich zu den Frauen so früh und warum wird dies überwiegend achselzuckend als »Naturgesetz« zur Kenntnis genommen?
Es ist müßig, darüber zu streiten, ob Mann oder Frau die größeren Probleme mit dem Alter(n) hat, es sind in jedem Fall andere. Gerade weil Alter und Altenarbeit so weiblich geprägt sind, ist es umso wichtiger, die männliche Minderheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Wo findet der Mann in einer weiblichen Altersgesellschaft seinen Platz? Was sind Ursachen dieser Asymmetrien? Was muss geschehen, damit sich die (Geschlechter-)Verhältnisse verändern? So wie das Postulat »Das Alter ist weiblich« den Blick auf den alten und alternden Mann verstellt, gilt dies auch für den viel gebrauchten Satz »Die Pflege ist weiblich!«. Er stimmt, wenn man sich die professionelle Alten- und Krankenpflege anschaut, wo auf einen Mann vier Frauen kommen. Mit allen Mitteln ist deswegen auf eine Erhöhung des Männeranteils in der professionellen Pflege hinzuwirken4.
Aber dieser Satz stimmt zunehmend weniger, wenn man die Pflege von Angehörigen zu Hause betrachtet. Zwar gibt es bislang nur wenige belastbare statische Zahlen zum Geschlechterverhältnis in der häuslichen Pflege, unter anderem deswegen, weil mit unterschiedlichen Definitionen von »Hilfs- und Pflegebedürftigkeit« und dementsprechend von »Pflegepersonen« operiert wird. Aber auch wenn man sich nur auf die Hauptpflegepersonen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes beschränkt[1], ist der Männeranteil nach den Ergebnissen bundesweit repräsentativer Infratest-Untersuchungen von 1996 bis 2010 von 20 auf 28 Prozent aller Pflegenden angestiegen, der Anteil der pflegenden Söhne hat sich im gleichen Zeitraum von 5 auf 10 Prozent verdoppelt5.
Da an häuslichen Pflegeverhältnissen im Durchschnitt jedoch mindestens zwei Angehörige beteiligt sind6, beschreibt diese amtliche Definition von Pflegepersonen nur die halbe Wirklichkeit. Der Sozioökonomische Panel (SOEP) erfasst über die Hauptpflegepersonen hinaus auch alle anderen Beteiligten, die für pflegebedürftige Personen mindestens eine Stunde pro Tag aufwenden. Nach dieser Repräsentativbefragung belief sich der Männeranteil von 2007 bis 2010 auf 36,3 Prozent, was 2010 insgesamt 1,47 Millionen Männer waren7. 2008 lag bei den 60- bis 86-Jährigen der Anteil der Männer, die nach eigener Aussage pflegen, sogar bei 40 Prozent8.
An dieser Stelle sei im Übrigen auch das allfällige Gerede von der angeblich nachlassenden und zurückgehenden Pflegebereitschaft der Angehörigen entschieden zurückgewiesen: Nach wie vor werden 70 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt. Von 2001 bis 2010 hat die Zahl der Frauen und Männer, die sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, von 3,1 auf insgesamt 4,3 Millionen zugenommen und sich damit um 37 Prozent gesteigert9. Zu keiner Zeit haben so viele Menschen ihre Angehörigen gepflegt wie heute, obwohl die Voraussetzungen hierfür durch abnehmende Kinderzahlen, zunehmende Berufstätigkeit und wachsende berufliche Mobilität immer schwieriger werden!
Männer sind damit deutlich häufiger und aktiver an Pflege beteiligt, als dies vielfach angenommen oder suggeriert wird. Häusliche Pflege ist längst schon zur Männersache geworden. Dies wird allerdings – auch in Fachpublikationen – immer wieder übersehen, verschwiegen oder als angeblich quantitativ irrelevant ausgeklammert. Was wir heute über Männer und Pflege wissen, kommt vorwiegend aus angelsächsischen Untersuchungen. Aber auch dort beklagt der amerikanische Pflegeforscher Richard Russell, dass Männer als Pflegende nur gelegentlich in der Pflegeliteratur der letzten beiden Jahrzehnte erwähnt wurden und dass ihre Erfahrungen fortwährend übersehen oder marginalisiert werden oder lediglich als Kontrastfolie für weiblich Pflegende benutzt werden10. Oder wie sein Kollege Lenard Kaye beklagt, die Männer in der familiären Pflege würden damit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein gelöscht11.
Entgegen ihren erklärten Absichten tragen solch einseitigen Publikationen dazu bei, dass Pflege weiterhin als »weiblich« betrachtet und so der Status quo verfestigt wird. Wie sich solche wissenschaftliche Einäugigkeiten in sozialpolitischen Publikationen und Maßnahmen niederschlagen können, belegt die Veröffentlichung eines Statistischen Landesamtes: Dort wird in einer Statistik unter dem Begriff »informelles Pflegepotenzial« die zurückgehende familiäre Pflegebereitschaft beklagt. In einer Fußnote kann man mit Erstaunen nachlesen, was mit »informellem Pflegepotenzial« gemeint ist, nämlich ausschließlich 45- bis 60-jährige Ehefrauen und (Schwieger-)Töchter mit einer maximalen Berufstätigkeit von 50 Prozent12. Diese Definition geht jedoch vollkommen an der Pflegewirklichkeit vorbei, da die so definierte Gruppe lediglich ein Drittel aller tatsächlich in der Angehörigenpflege Tätigen umfasst. Vor diesem Hintergrund nimmt es auch nicht wunder, dass sich bislang alle Ratgeberliteratur zum Thema »Häusliche Pflege« ausschließlich an Frauen wendet13.
Auch der gelegentlich vorgebrachte Einwand, dass man die Quantität der pflegenden Männer ja nicht infrage stellen würde, aber dass die Qualität der männlichen Pflege eine geringere als die der Frauen sei, lässt sich nicht halten. Der zeitliche Umfang für die Pflege unterscheidet sich bei Frauen und Männern nur unwesentlich: Gemäß dem 7. Familienbericht der Bundesregierung verwenden Frauen durchschnittlich drei Stunden für die Pflege und Männer etwas mehr als zweieinhalb Stunden14.
Neben den Männern in der Pflege ihrer Angehörigen gibt es eine wachsende Zahl von Männern, die sich im weiteren Feld von Care ehrenamtlich oder gegen eine geringfügige Aufwandsentschädigung engagieren. Der Begriff Care, für den es im Deutschen keine angemessene Entsprechung gibt, umfasst das weite Spektrum fürsorglicher Tätigkeit für Menschen zwischen erziehen, kümmern, begleiten, betreuen, versorgen und pflegen, die im Lebensverlauf oder in besonderen Lebenssituationen abhängig sind.
Während sich der Anteil ehrenamtlich engagierter Menschen in den letzten Jahren konstant um 36 Prozent bewegt, stieg die Engagementquote der Männer zwischen 55 und 70 Jahren bemerkenswert an und liegt bei rund 40 Prozent und auch bis 75 Jahre noch bei 37 Prozent15. Ein wachsender Teil dieser Männer ist in pflegeflankierenden Projekten wie Nachbarschaftshilfen, häuslichen Besuchsdiensten, Besuchsdiensten im Krankenhaus- und Pflegeheim, Betreuungsgruppen für demenziell Erkrankte, Hospizdiensten oder innovativen Initiativen wie den baden-württembergischen Seniorennetzwerken engagiert. Diese unterstützen das selbstständige Wohnen zu Hause und können so eine Heimunterbringung vermeiden oder hinausschieben durch Wohnberatung, durch Fahrdienste und Bürgerbusse, durch Mitwirkung in Seniorenräten, durch die Initiierung von gemeinschaftlichen Wohnprojekten und anderem mehr16.
Aber warum werden die Männer in der Angehörigenpflege so häufig »vergessen«, übersehen und marginalisiert, warum stehen sie so im Schatten? Vor allem wird dies an unserem tief verinnerlichten, jahrhundertealten Leitbild liegen, wonach Pflege eben durch und durch weiblich ist. So wie man sich noch immer schwer vorstellen kann, dass Frauen auf dem Bau arbeiten, passen Männer nicht zu unserem Bild der Pflege. Man weiß zwar, dass es auch männliche Kranken- und Altenpfleger gibt, aber ein »richtiger« Mann hat dort eigentlich nichts verloren. Mit dieser Brille sind wir geneigt, pflegende Männer weiterhin als Ausnahmephänomene wahrzunehmen, die die Regel bestätigen, dass Pflege Frauensache ist.
Wenn Männer nach dem Berufsleben, das meist eine von Männern geprägte Welt war und noch immer ist, in den Ruhestand beziehungsweise nach Hause kommen und pflegen, dann sind sie von einer »strukturellen Feminisierung«, wie der Alterssoziologe Martin Kohli sagt, in dreifacher Hinsicht betroffen. Das nachberufliche Leben entlässt die heute älteren Männer, deren Partnerschaft meist noch von der klassischen Rollenverteilung geformt war, in die Domäne der Frau. »Papa ante portas«, der bis vor Kurzem noch mit einer klaren beruflichen Rolle identifizierte Mann, sucht – häufig vergeblich – seinen Platz in einer weiblich geprägten Welt. Und auch jenseits der familiären Welt findet er sich, je älter, umso häufiger, unter Frauen wieder, etwa im Gemeindehaus im Stuhlkreis um die liebevoll gestaltete Mitte sitzend, um sich dann womöglich alsbald an den Händen zu fassen und sich meditativen Tänzen hinzugeben.
Die dritte Feminisierung ist dann schließlich die Übernahme des »Frauengeschäfts« Pflege, die den Mann erneut mit einer neuen Rollenzumutung konfrontiert. Er muss, so Kohli, den Rollenwechsel vom sichtbaren Ernährer zum unsichtbaren »Schattenarbeiter« bewältigen17; anerkannte männliche Arbeit ist sichtbar und kreativ, die unsichtbare Pflege gibt den Männern das Gefühl, auch als Männer unsichtbar zu sein18. Alte Männer, die ihre Ehefrauen pflegen, leben oft noch mit einem Selbstbild, das maßgeblich durch Jugendbewegung und Krieg geprägt wurde, das körperliche und emotionale Härte idealisierte und alles Weibliche als die männliche Identität bedrohend abwehren musste. So nimmt es nicht wunder, wenn sich der pflegende Mann mit seiner neuen Aufgabe nicht stolz und selbstbewusst am Stammtisch brüstet (abgesehen davon, dass er hierzu meist gar keine Zeit mehr hat), sondern eher still und verschämt seine Arbeit tut. Denn wo pflegende Männer ein solches Ausnahmephänomen zu sein scheinen, pflegt Mann besser im Verborgenen. Deswegen ist es unter anderem so wichtig, pflegende Männer sichtbar zu machen, ihre Tätigkeit zu normalisieren, und Gruppen für pflegende Männer anzubieten, wo sie sich austauschen und in ihrer Identität gegenseitig bestärken können.
Bei der Frage nach den übersehenen Männern in der Pflege bleibt schließlich der Verdacht, dass es auch im wissenschaftlichen Diskurs und bei sozialpolitischen Fördermaßnahmen ein Interesse daran geben könnte, dass alles beim Alten bleibt. So wird noch 2008 in einer Fachpublikation behauptet: »Es ist eine bekannte Tatsache, dass ca. 85 Prozent der pflegenden Angehörigen Frauen sind«19; abgedruckt in einem Sammelband, in dem wie häufig unter »Geschlecht« nur Frauen und deren Benachteiligung diskutiert werden und nahezu ausschließlich Frauen zu Wort kommen. Geschlechter- und Pflegeforschung ist überwiegend Forschung von Frauen über Frauen, die mitunter daran interessiert sind, das Klischee einer strukturellen weiblichen Benachteiligung und einer männlichen Privilegierung zu konservieren, um dadurch entsprechende finanzielle Mittel für eine Frauenförderung zu erschließen. Auch hier sei ausdrücklich unterstrichen, dass es nach wie vor strukturelle Ungleichheiten der Geschlechter gibt, aber ein differenzierterer Blick wäre für die Gleichstellung der Geschlechter hilfreicher.
Das Menschenleben ist seltsam eingerichtet:
Nach den Jahren der Last
hat man die Last der Jahre.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Der pflegende Mann ist bislang noch ein weitgehend unbeforschtes und unbekanntes Wesen. Fast alle Studien konzentrieren sich noch immer auf die Pflegeleistungen von Frauen. »Im Unterschied zu Frauen ist jedoch der Kenntnisstand über die Herausforderungen und Erfahrungen von pflegenden Männern gering und bietet wenig gesichertes Wissen, wie informelle Pflegerollen von Männern weiter entwickelt und gefördert werden können«20. Bislang liegen im deutschsprachigen Raum lediglich zwei größere Untersuchungen vor: Eine Studie von Stefanie Klott zu pflegenden Söhnen und eine große qualitative Befragung pflegender Ehemänner von Manfred Langehennig21. Das meiste Wissen kommt aus angelsächsischen oder skandinavischen Untersuchungen.
Je nach Untersuchungsdesign kommen die vorliegenden Studien zu teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Quantitative, breit angelegte und auf Fragebögen gestützte Untersuchungen haben nach Einschätzung des amerikanischen Pflegeforschers Richard Harris nicht selten ein stereotypes »eindimensionales Bild vom effizient und vergleichsweise geringer belasteten pflegenden Mann geliefert, während neuere qualitative Arbeiten das Wissen deutlich expandieren, indem sie unterschiedliche Facetten der Pflegeerfahrung von Männern offen legen.«22Die Beschreibungen der pflegenden Männer pendeln so zwischen inkompetent Pflegenden einerseits oder den fähiger Pflegenden andererseits, die im Vergleich zu Frauen effizienter pflegten und weniger belastet seien23. Vielfach rührt dies auch daher, dass männliche Pflege »am weiblichen Ellenmaß« gemessen wird, mit der Folge, »dass Männer entweder als deviante Pflegende betrachtet werden, wenn sie nach Art und Umfang andere Pflege leisten als Frauen, oder aber als deviante Männer, wenn sie genauso pflegen wie Frauen.«24
So ist Manfred Langehennig zuzustimmen, wenn er die derzeitige Forschungslage kritisch bewertet: »Geht es um die subjektive Wirklichkeitssicht der Männer, um ihr Erleben und um die Ausgestaltung ihrer Pflegerolle, muten dazu gemachte Aussagen hoch spekulativ an.«25Quantitative Erhebungen können die Lebenswirklichkeit nur unzureichend erfassen, Männer – so das verbreitete Selbstbild – sind ihres Glückes Schmied, reden über ihre Probleme nur selten mit anderen Männern (denen es doch scheinbar gut geht), und denken deswegen, es sollte auch ihnen gut gehen. So bedarf es einer längeren Zuwendung, bis sich aus dem anfänglich pauschalen »Mir geht es gut!« ein differenzierteres Bild von Freud und Leid herausschält. Denn »pflegende Männer sind keine schlichten Datenträger, die quasi ›auf Abruf‹ Informationen über ihr subjektives Erleben liefern.«26»Die Eigensinnigkeit der Sichtweisen pflegender Männer und deren Handlungsorientierung in ihrer lebensweltlichen Situation erfordern qualitativ-rekonstruktive Untersuchungsmethoden.«27
Die vorliegende Untersuchung basiert auf den Ergebnissen von 25 intensiven Interviews mit pflegenden Männern, die ihre Ehefrauen (14 Fälle), ihre Mutter (5), ihren Vater (2), ihren Schwiegervater (1), ihre Tante (2) oder ihre Großmutter (1) versorgen. Männer zwischen 27 und 88 Jahren, aus unterschiedlichen sozialen Schichten, zum Teil mit Migrationserfahrung, die mir überwiegend durch Fachkräfte in der Altenhilfe vermittelt wurden. Verantwortlich sorgende Männer in einem breiten Spektrum zwischen intensiver persönlicher Pflege rund um die Uhr und fürsorglichem Care-Management; von der Hauptpflegeperson gemäß der engeren Definition des Sozialgesetzbuches bis zum hauptverantwortlich Betreuenden in einem weiteren Verständnis von Sorgearbeit, das »über rein pflegerische Verrichtungen hinaus Lebensbewältigung und Alltagsbesorgung in jeder gesundheitlichen und sozialen Hinsicht und die Bewirtschaftung der dafür nötigen Kräfte, Mittel und Möglichkeiten« umfasst28.
Die ausführlichen, teilweise bis zu zwei Stunden dauernden Interviews, die meist bei den Gesprächspartnern zu Hause stattfanden, waren biografisch-narrativ und problemzentriert nach Andreas Witzel angelegt. Das problemzentrierte Interview zielt »auf eine möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität«29. Der Befragte gilt als Experte seiner Wirklichkeit und wird ermuntert, möglichst frei über die Geschichte und den Alltag seiner Pflege zu erzählen und dabei biografisch weit auszuholen. Die Gespräche wurden aufgenommen, transkribiert, kategorisiert und in Expertengesprächen und Gruppendiskussionen in einem Methodenmix, angelehnt an die Methodologie der Grounded Theory (Glaser/Strauss), ausgewertet. Die Grounded Theory ist ein sozialwissenschaftlicher Ansatz, der empirische Forschung und Theoriebildung eng verschränkt, um eine realitätsnahe und praxisrelevante Theorie zu entwickeln30. Diese Studie gibt keine Antwort auf die Frage, wie Männer im Unterschied zu Frauen pflegen, sondern interessiert sich für die »Eigensinnigkeit der Sichtweisen pflegender Männer« (Langehennig). Sie will der subjektiven Perspektive der Männer Raum geben und sichtbar machen, wie sie ihre Pflege erleben, wie sie davon sprechen, wie sie die Herausforderungen bewältigen und wie sie als Pflegende mit ihrer Rolle als Mann zurechtkommen. Einige Auszüge aus den Interviews werden im Folgenden wiederholt wiedergegeben; dies ist dann der Fall, wenn sie verschiedene Aspekte der Pflegetätigkeit beleuchten.
Die Pflege ihrer Angehörigen ist, insbesondere für die pflegenden Ehemänner, eine fraglose Selbstverständlichkeit. Die Frage nach ihren Motiven scheint ein Relikt aus einer weiblich geprägten Pflegekultur, wo ein pflegender Mann als Normabweichung noch immer erklärungsbedürftig scheint. Für die pflegenden Ehemänner ist die Pflege ihrer Ehefrau ein selbstverständlicher Teil ihres gemeinsamen Lebens, das auch in früheren Zeiten ja nicht nur aus Hoch-Zeiten, sondern ebenso aus Belastungen und Krisen bestand. Die Krankheit schleicht sich, oft unbemerkt und allmählich, in die Partnerschaft oder Familienbeziehung ein, sodass es, insbesondere bei Demenz, keine klare Schwelle gibt, die eine bewusste Entscheidung nahelegen oder ermöglichen würde. Nicht immer, aber häufig kommt eine große Dankbarkeit der Männer gegenüber den pflegebedürftigen Angehörigen zum Ausdruck:
»Ich mach eigentlich nichts Außergewöhnliches. Ich guck, dass ich die Aufgabe, die mir im Leben gestellt wurde, zurzeit so gut wie möglich löse und erledige«, kommentiert der 81-jährige Jochen J. die intensive Pflege seiner Frau. »Irgendwann hab ich mal in der Kirche auch ja gesagt, als es hieß, ihr bleibt zusammen in guten wie in schlechten Zeiten. Und ich hab mir gesagt, jetzt sind halt gerade in der Beziehung schlechte Zeiten.« Damit tröstet sich Bruno B. über die Mühen mit seiner schwer dementen Ehefrau hinweg.
»Das sind jetzt schon 64 Jahre, wo ich mit ihr lebe, und wie soll ich sagen, wir hatten ein schweres Leben … ich kann sie nicht ins Heim tun.« So pflegt der 83-jährige russlanddeutsche Franz F. nach einem Leben mit Armut, Vertreibung und Not seine schwer pflegebedürftige Ehefrau auch über seine Kräfte hinaus weiter.
Der Kaufmann Kurt K. denkt nicht nur an sein Geschäft, wenn er bilanziert: »Wir sind dieses Jahr 50 Jahre verheiratet und sie hat mit mir zusammen das Geschäft aufgebaut. Wir haben zusammen die Kinder gehabt und sie war immer für mich da und jetzt bin ich für sie da. Das ist der Hintergrund. Und das wird wohl auch so bleiben, solange ich das machen kann. Weil ich einfach der Meinung bin, wir gehören zusammen, und da ist jeder für den anderen einfach verantwortlich.«
Für Ludwig L. ist es »Dankbarkeit für die Aufgabe … ich möchte meinem Partner das zurückgeben, was sie mir früher gegeben hat«, was ihn in der Sorge um seine demente Frau stützt.
Auch für die pflegenden Söhne oder die Männer, die andere Verwandte pflegen, hat es sich meist einfach ergeben, dass sie die Betreuungs- oder Pflegerolle übernommen haben, weil sie der äußerlich und innerlich Nächste waren:
Für Helmut H. war die Übernahme der Betreuung seiner Mutter nie eine Frage: »Ich bin das einzige Kind meiner Mutter, sodass es klar ist, dass es auf mich zugeht, zukommt. Für mich auch kein Problem, weil ich zu meiner Mutter von unten rauf, von ganz unten rauf ein gutes Verhältnis hab, ohne jede Belastung. Sie hat in jeder Situation meines Lebens zu mir gestanden, meine Mutter, in jeder Situation.«
»Sie hat quasi so mich mit ihrer Liebe überschüttet und sie sagt auch immer noch, ich bin fast wie ein Sohn zu ihr … Sie hat, wenn ich dann da war, immer auch ihre Zeit total geopfert, das war so im Grunde wirklich ihre ganz mir zugewandte Zeit und ich denke, daraus entsteht auch diese besondere Beziehung, die ich zu ihr hab.« Aus dieser herzlichen Kindheitsbeziehung begründet Manfred M. die heutige Betreuung seiner 83-jährigen Tante.
»Und dann habe ich mich auch irgendwie in der Pflicht gesehen, sie pflegen zu müssen, weil sie mich auch aufgenommen hat, wo ich mit 16 daheim rausgeflogen bin … Ich habe immer zu ihr kommen können. Ja, und dann habe ich halt gedacht, ich muss das wieder ein bisschen wettmachen.« So begründet der 26-jährige Qirin Q. die Betreuung seiner Großmutter.
Für Walter W. ist die Betreuung seines 90-jährigen Schwiegervaters eine Art Mitgift. »Er hat uns unterstützt, wo wir es gebraucht haben, und wir haben bei ihm immer mitgeholfen und von daher ist alles langsam zusammengewachsen. Ja letztendlich hat man ihn halt mitgeheiratet und so, nach 30 Jahren hat man das festgestellt.«
Manchem Mann kommt bei der Pflegeübernahme zugute, dass er auch schon früher mit Krankheit und Leiden in Berührung kam, und damit besser ermessen kann, was an Belastungen auf ihn zukommt:
Bruno B. kommt das väterliche Vorbild zugute: »Mein Vater war Arzt und man hat von der Seite her dann schon frühzeitig mitgekriegt, Schicksale von Menschen und wenn jemand krank wird und wie das eventuell in einer Familie dann zu Konflikten führen kann. Also, ein bisschen vorbereitet innerlich war ich, nachdem ich erfahren habe vom Arzt, vom Neurologen, was da läuft, da konnte ich mir vorstellen, dass das halt kein Vergnügen sein wird in den folgenden Jahren.«
In seiner überaus harten Jugend hat Franz F. bereits alles nötige Rüstzeug für die Pflege seiner schwer kranken Frau erworben. »Und pflegen tu ich meine Frau aus Kinderlernen. Was ich gelernt habe in meiner Kindheit, … das war wie, als würde das speziell von Gott aus so sein … Bei den elf Familien, wo ich gearbeitet habe, immer mit den Kindern war ich beschäftigt … Nu hab ich immer alles selbst gemacht. Ich hab selber gewaschen, hab selbst gekocht … Wie schaff ich’s? … Wahrscheinst, weil ich ohne Eltern groß geworden und so viel Unrechtes gesehen habe …«
Kurt K. sieht sich durch sein Berufsleben in einer Frauenwelt für seine Betreuungsaufgabe vorbereitet: »Ich hab schon immer mit vielen Frauen zusammen geschafft. Da brauchen sie gute Nerven. Entschuldigung, wenn ich das so sag, aber es stimmt. Mit Frauen zusammen schaffen ist sehr schwer. Vor allem Frauen untereinander. … Und das hab ich ja fast 50 Jahre gemacht.«
Dass Männer Pflege nur aus Liebe übernehmen, während Frauen dies als eine Pflichtaufgabe sehen, wie dies andere Studien nahelegen31, konnte nicht bestätigt werden. Dass man diesbezügliche verbale Äußerungen von Männern und Frauen immer kritisch reflektieren sollte, darauf hat Sarah H. Matthews hingewiesen: Romantische Liebe sei im 19. Jahrhundert feminisiert worden, was dazu führe, dass männliche Ausdrucksweisen nicht anerkannt beziehungsweise erkannt würden, weil männliches Verhalten mit weiblichen Regeln gemessen würde. Ein Mann, der in einer Untersuchung dazu aufgefordert wurde, mehr Zuneigung zu zeigen, wusch vermehrt ihr Auto, was weder von der Frau noch von den Forschern als Zuneigung gedeutet wurde. Männer würden Zuneigung nicht mit Gefühlen ausdrücken, sondern durch Übernahme von Verantwortung, gegenseitigen Respekt und freiwillige Zusatzdienste32.
Die Geschichte von Andreas A. ist zwar kein typischer Fall, steht aber auch für andere Pflegebeziehungen, die eher von Pflichterfüllung denn von Liebe geprägt scheinen.
Andreas A.
»Manchmal staune ich selber über mich.«
»Mensch Maier, er hat's mir im Leben nie leicht gemacht. Bist du eigentlich verrückt, dass du das machst?«, fragt sich Andreas A., der seinen dementen Vater bis zu dessen Tod gepflegt hat und den man dem Typus des »überforderten Einzelkämpfers« zuordnen könnte. Aber wie es so oft geschieht, ist der freundliche, sympathische 45-Jährige nach dem Tod seiner Mutter ganz allmählich in die Betreuung und Pflege des Vaters reingerutscht. Über sieben Jahre waren es regelmäßige Hausbesuche beim Vater, bis es irgendwann eine zeitökonomische Abwägung wurde, den 75-Jährigen zu sich zu holen. Die berufliche Selbstständigkeit war für den überwiegend zu Hause arbeitenden Voraussetzung für sein Pflegeengagement: »Sie müssen sich vorstellen, ich habe mit einem Kunden telefoniert, hab irgendein Problem von ihm gehabt, das konnte ich ja dann lösen und der Kunde sieht ja nicht, dass ich fünf Minuten später Windeln wechsle.«
Allerdings blieb diese Familienerweiterung nicht ohne Belastungen für seine Partnerschaft. »Er konnte zu ihr [der Partnerin] sagen »Du blöde Tante«. Solche Sprüche kamen da und das war für mich schon echt übel, das zu erleben, aber ich konnte ihn trotzdem nicht ins Heim stecken.« Denn wenn auch der Vater kein »Respektpolster« bei seinem Sohn hatte, gab es für den keine wirkliche Alternative. »Es ist so, wenn ich sehe, wie die Menschen dahinleben in so einem Heim, und wenn das Heim noch so gut geführt ist, habe ich so den Eindruck, das will ich für mich mal nicht. Und da kann ich es schlecht meinem Vater auch antun, nicht?«
Seine tägliche ruhige Stunde verschafft er sich durch ein konsequentes Orientierungstraining mit dem Vater: »… dann habe ich den losgeschickt. Also, ich bin mit ihm am Anfang die Strecke runter ins Dorf gelaufen, drei vier Mal, hat immer geklappt, er hat sich nie verlaufen, obwohl er dement war. Aber ich habe ihm einfach diesen Weg durch das mehrmalige Mitgehen so eingetrichtert, dass es ging.« Zur weiteren Entlastung werden gelegentliche Urlaubspflege und vormittägliche Tagespflege in Anspruch genommen. Doch dann erfordert der geistige und körperliche Abbau des Vaters immer mehr Zeit und Zuwendung, bis er schließlich bettlägerig wird. »Das heißt, ich hab mir einen Wecker gestellt und bin nach zwölf alle drei Stunden aufgestanden undhab ihn von links nach rechts gedreht.« Diese außergewöhnliche Belastung nimmt Andreas A. jedoch, wie etwa auch den Umgang mit Inkontinenz, eher sportlich: »Ich war überrascht, dass ich das eigentlich recht locker konnte, nachts aufstehen, das machen, also ich hab das immer als eine Art Meditation betrachtet.«
Diese und andere Schwerstpflegebelastungen schultert Herr A. weitgehend als Einzelkämpfer. Auf die Frage, warum er keinen Pflegedienst geholt habe, meint er nicht ohne einen gewissen Stolz: »Weiß ich nicht, ich lass zum Beispiel auch keinen Handwerker an mein Haus, weil nachher habe ich mehr Ärger wie vorher. Nehmen wir mal das Beispiel mit der Versorgung der Wunde. Mein Gott, die kamen zehn Minuten. Was hat das jetzt an meiner Pflegerei große Erleichterung gebracht? Und wenn die eine halbe Stunde da gewesen wären … Sagen wir mal so beim Baden, das wäre schon manchmal gut gewesen, wenn jemand geholfen hätte, aber da oben in dem engen Bad zwei Personen einen in die Wanne hieven, ja, mein Gott, da mache ich es lieber allein.«
Er ist im Übrigen überhaupt nicht gut zu sprechen auf Ärzte, Kliniken, Kirche, staatliche Unterstützung und vor allem den Medizinischen Dienst der Pflegekassen und fühlt sich von diesen alleingelassen. »Am Schluss war er ja ein Baby und dieser Medizinische Dienst hat ihn dann in die Stufe 1 eingestuft … Und ja, es ist so verrückt, er hat dann, nachdem ich also Einspruch erhoben habe, dass 2 nicht stimmen kann, hatte er dann, nachdem er tot war, 3 bekommen. Das ist so … also da gibt es schlimme Ausdrücke, die ich lieber nicht sage.« Nachvollziehbar ist sein empörtes Resümee: »Wenn ich dann überlege, dass man mit ’nem Appel und ’nem Ei als Pflegender abgespeist wird!«
Bis an seine Grenzen oder gar darüber hinaus ging Andreas A., doch erst als sein Vater gestorben war, »da habe ich dann gemerkt, was ich eigentlich so mit mir getragen hab. Also, es ist schon schlimm, wenn der Vater stirbt, es trifft einen auch ganz arg, auch wenn es einer ist, den man jetzt nicht gerade geliebt hat. Aber ich muss sagen, ich hatte den Eindruck, ich hätte einen Rucksack mit vielen Steinen abgelegt. Also, ich habe mich gefühlt, als ob ich schwebe. Es war ganz urig, obwohl mein Vater da frisch gestorben ist.« Und er schämt sich seiner Tränen nicht, wenn er auf seine drei Pflegejahre zurückblickt: »Das ist echt heftig. Also wenn man mitkriegt, dass ein Mensch rückwärts läuft. So wie ein Mensch als Kind das Laufen lernt, so geht es im Alter dann wirklich zurück und das Sprechen wird verlernt und man ist dann irgendwann nur noch da und will essen und gewindelt werden.«