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Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag
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Paul Heyse
Unvergessbare Worte
Novelle
Paul Heyse
Unvergessbare Worte
Novelle
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962812-00-3
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1883
Aus dem südöstlichen Tor von Vicenza, Porta Monte genannt, weil der Fuß des Monte Berico hier dicht bis an die Stadt herantritt, rollte an einem sonnigen Aprilnachmittage des Jahres 1849 ein leichter Wagen auf der Landstraße dahin, dem Lauf des hellen Flüsschens Bacchiglione entgegen, das in sanften Krümmungen durch die heiteren Fluren strömt. Ein schönes junges Fräulein saß im Wagen, nachlässig zurückgelehnt, ohne darauf zu achten, dass ihr breiter Sommerhut sich verbog und die dunklen Sammetbänder zerknittert wurden. Desto aufrechter hielt sich ihr gegenüber auf dem Rücksitz eine ältliche Dame mit einem seidenen, blumengeschmückten Hut, einem zierlichen Sonnenschirm und schwarzseidener Mantille, die von Zeit zu Zeit durch eine goldene Lorgnette die Gegend betrachtete. Ob die zwei sich gegenübersaßen, weil für die sehr umfangreiche Person der älteren kein hinlänglicher Platz im Fond übrig blieb, oder weil es einer Kammerfrau nicht ansteht, neben einem Prinzesschen zu sitzen, war nicht zu erraten. Zwar deutete das feine, etwas kühle und stolze Näschen des Fräuleins auf eine vornehme Herkunft. Aber auch die ältere wusste ihrem breiten, gutmütigen Gesicht den Ausdruck einer nicht geringen Wichtigkeit zu geben, und indem sie dann und wann ein Gähnen verbarg, sah sie auf das fruchtbare Land zu ihrer Rechten und die zerstreuten Häuschen und Hütten an den Abhängen des Monte Berico zur Linken mit so herablassender Gleichgültigkeit, als ob es eine besondere Gnade wäre, dass sie einen Blick ihrer kleinen vergissmeinnichtblauen Augen an sie wendete.
So waren sie noch keine halbe Stunde gefahren, als der Wagen rechts in einen Hohlweg einlenkte und nach einem kurzen, mühsameren Anstieg vor einem hohen Gartentore hielt, dessen mächtige Steinpfeiler durch drei eiserne Gitter verschlossen waren. Der Kutscher sprang vom Bock und riss an einem rostigen Glockenzug, der weit ins Innere eines niedrigen Gebäudes hinter dem Eingang führte, sodass der Schall der Klingel draußen nicht vernommen wurde. Auch dauerte es eine Weile, bis aus dem Hause drinnen ein Lebenszeichen zurückkam.
Inzwischen hatten die Damen Zeit, durch das Gitter in den Garten zu spähen. Ein breiter Weg führte zwischen zwei dicht geschorenen Wänden von immergrünem Laube zu einer freien Höhe hinan, auf welcher ein viereckiges Gebäude von mäßigem Umfang mit flachrundem Dache stand. Ein Portikus mit niedrigem Giebel sprang vor, auf sechs schlanken Säulen ruhend, zu denen eine breitstufige Treppe hinaufführte. Dieser zierlich-feierliche Bau lag in der tiefsten Einsamkeit, rings von hohem Grase umwuchert, und die vielen Götterbilder von gelblichem Stuck, die sich auf allen Vorsprüngen des Daches und der Freitreppe, ja schon auf den oberen Rändern der beiden Hecken niedergelassen hatten, schienen als die alleinigen Herren den zauberhaften Frieden dieses verödeten Landsitzes zu genießen.
Maria Joseph! rief die ältere Dame, nachdem sie einen kurzen Blick durch ihre Lorgnette geworfen, ich glaube gar, Nestchen, das ist wieder so ein Heidentempel, wie wir schon mehrere gesehen haben, mit lauter Götzenbildern. Müssen wir hier wirklich aussteigen und all diese antiquités in der Nähe beschauen?
Du kannst sitzen bleiben, Zephyrine, und hier im Wagen deine versäumte Siesta nachholen, erwiderte das Fräulein mit lächelnder Miene. Nur musst du dann dein Lebtag eingestehen, dass du eine der größten Sehenswürdigkeiten von Vicenza verschlafen hast. Dies ist kein Tempel, sondern die berühmteste Villa der ganzen Lombardei, die der große Palladio für einen reichen Marchese gebaut hat, derselb, weißt du, der all die schönen Paläste und das Stadthaus und das seltsame antike Theater, von dem wir eben herkommen, erfunden und ausgeführt. Da ich für deine Kunstbildung verantwortlich bin, hab’ ich dir auch das zeigen wollen. Aber zwingen will ich dich nicht. Da kommt eben der Pförtner, dem kannst du mich ruhig allein anvertrauen.
Was denken Sie nur, Nesschen! rief die andere und machte Anstalten, zuerst auszusteigen. Ich bin wahrhaftig nicht müde und habe nur so geredet, weil ich die ewigen Säulen nicht leiden kann. Aber vielleicht verstehe ich das nicht. Wenn es die letzten sein sollen für heute, will ich auch das noch über mich ergehen lassen. Es ist nur so schwül, und an Schatten scheint in diesem verwunschenen Park kein Überfluss zu sein. Merci, mon ami. Me voilà!
Diese Worte richtete sie an einen kleinen mürrischen Alten, der das Seitenpförtchen aufgeschlossen hatte und jetzt ohne ein Wort zu sagen an den Wagen trat, um den Damen behilflich zu sein. Sie setzte, da sie keine Silbe Italienisch wusste, voraus, dass jedermann ihr Französisch verstehen müsse. Dabei schwang sie sich mit so jugendlicher Grazie vom Wagentritt hinab, wie man es ihrer schwerfälligen Figur nicht zugetraut hätte, wandte sich dann nach dem Fräulein um und bot ihr zum Aussteigen die Hand. Hierauf gingen sie langsam den sanft ansteigenden Weg hinan, die ältere nicht ohne einiges Keuchen, obwohl der Schatten der hohen Laubwand die Hitze milderte, das Fräulein mit einem ruhigen, leichten Schritt, den feinen Kopf ein wenig in den Nacken zurückgeworfen und mit den zarten Nasenflügeln und dem halb geöffneten Munde die wolllustigen Düfte dieser grünen Einsamkeit einatmend. Als sie die Höhe erreicht hatte, stand sie still und ließ ihre großen dunklen Augen langsam über die einzelnen Teile des reizenden Gebäudes schweifen, das hier in seiner Gestalt sie noch mehr entzückte, als in den Abbildungen, die sie früher davon gesehen. Das reine Blau des Frühlingshimmels umfloss die edlen Linien der vorspringenden Giebel, wie ein durchsichtig weiches Gewebe sich um schöne ruhende Glieder schmiegt, so nahe schien der unendliche Äther an das Gestein heranzutreten. Dazu die blühende Wildnis ringsum, in der keine Spur einer ordnenden Menschenhand zu entdecken war, die Rosen an den verfallenen Mäuerchen, die bunten Blumen, die aus der verwilderten Wiese sie anlachten, und fern in den Reben- und Maulbeergärten, die das Sommerhaus unabsehlich umringten, ein betäubendes Geschwirr von Grillen, Vogelstimmen und Laubfröschen, während die schwüle Luft mit fast sichtbarem Zittern hin und her wogte.
Indessen war der Alte, dem die Bewachung dieses verlassenen Paradieses anvertraut war, die vordere Treppe hinaufgeeilt und hatte die Tür unter dem schattigen Portikus aufgeschlossen: dann verschwand er ins Innere, während die beiden Damen ihm langsam folgten. Das Fräulein sprach kein Wort. Zephyrine dagegen konnte sich nicht enthalten, über die – wie sie ausdrückte – mythologischen Unschicklichkeiten, die hier überall herumstanden, ihre missbilligenden Bemerkungen zu machen. Wenn sie noch wenigstens der Sünde wert wären? rief sie mit drolliger Entrüstung. Aber sehen Sie nur, Nesschen, diese Nymphe mit der völlig zerflossenen Taille und diesen horreurs von Plattfüßen, und jener junge Mann, – nein, une femme, qui se respecte, sollte mit solchem mauvais genre verschont werden, und wenn es zehnmal darunter stände, dass man es hier mit Göttern und Göttinnen zu tun hat!
Die Junge sah an alle dem vorbei und rümpfte nur leicht die feine Oberlippe zu dem Geschwätz ihrer Begleiterin. Als sie aber jetzt durch den dunklen Eingang in den schauerkühlen mittleren Raum eintrat, jene berühmte Rotunde, die durch eine schlank sich wölbende Kuppel so stolz und anmutig geschlossen wird, entfuhr ihr ein Ah! der kindlichsten Bewunderung. Sie stand eine ganze Weile in diesem Helldunkel mit halbgeschlossenen Augen, die nichts einzelnes sahen, nicht die Stuckornamente in ihren verblichenen Farben, noch die Statuen auf ihren verstaubten Sockeln. Nur ein seltsames Wohlgefühl durchströmte sie, indem sie sich des scharfen Kontrastes bewusst ward zwischen der schwülen, durchsonnten Helle da draußen und der kühlen Heimlichkeit dieses Raumes, dessen Dämmerung sich mehr und mehr lichtete, da nun die vier im Kreuz einander gegenüberstehenden Türen eine nach der andern durch den Alten geöffnet wurden und Wärme und Licht von draußen eindringen ließen.
Der Haushüter war wieder zu ihr getreten und fragte, ob sie nicht die Wohnzimmer sehen wolle. Sie nickte und folgte ihm durch eine Reihe sehr verwahrloster Gemächer, die um den Mittelsaal herum sich aneinanderschlossen. Sie waren dürftig möbliert, und der Staub lag auf den altmodischen Sesseln aus der Napoleonischen Zeit, den dünnbeinigen Tischchen, den Bettgestellen, deren Pfühle und Matratzen seit Jahren nicht gelüftet zu sein schienen. Die Herrschaften hielten hier schon lange nicht mehr ihre Villegiatur. Sie seien nicht gut zu sprechen auf das österreichische Regiment und hätten andere Landhäuser genug, sodass sie die Rotunde verfallen ließen. Auch müsste, um sie wohnlich zu machen, gar zu viel hineingesteckt werden.
Das Fräulein hatte dem alten Murrkopf geduldig zugehört, während er die früheren Zeiten pries, wo es hier zuweilen hoch hergegangen sei und Sänger und Geiger den Kuppelsaal von der schönsten Opernmusik hatten widerhallen lassen. Er schleuderte die Worte mit einer wunderlichen Heftigkeit hinaus, als mache er auch sie, die er mit Recht für eine Österreicherin nahm, für die traurige Veränderung der Dinge verantwortlich. Sie betrachtete dabei aufmerksam die Deckengemälde, die Marmorgesimse der Kamine und was irgend an die entschwundenen festlichen Zeiten erinnerte. Dazwischen warf sie die Frage ob er wohl glaube, dass die Familie, wenn sich ein Käufer fände, die Villa hergeben würde.
Der Alte sah sie groß an. Ein solcher Gedanke war ihm offenbar nie durch den Kopf gegangen, während er mit einer achselzuckenden Gebärde die Fragerin anstarrte, wandte sie sich nach ihrer Begleiterin um, die ihr unlustig gefolgt war. Was meinst Du, Zephyrine? sage sie. Müsste es sich hier nicht herrlich hausen lassen, natürlich nicht in der heißesten Zeit, aber so im Herbst, wenn es auf Hainstetten schon rau und unwirtlich zu werden anfängt? Man könnte den Garten hier ganz so lassen, wie er ist, nur die Zimmer müssten sauber werden und – ist eine Küche da? fragte sie den Alten. Nun, die ließe sich in den Kellerräumen zur Not einrichten. Ist es nicht drollig, Zephyrine, dass von einer Küche hier gar keine Rede ist? Als ob die Besitzer, wie die Statuen draußen, immer nur von der Luft gelebt hätten, oder gar wie die olympischen Götter von Nektar und Ambrosia.
Zephyrine war nicht gelaunt, auf diese Scherze einzugehen. Sie behauptete, die Moderluft in diesen Räumen falle ihr auf die Brust, und als sie in einem Eckzimmer, wo jetzt die Sonne breit hereindrang, ein mit verschossenem Seidenstoff überzogenes Sofa erblickte, lief sie darauf zu und ließ sich auf das harte Polster sinken mit der Miene eines gehetzten Wildes, das endlich auf einer gesicherten Stelle zusammenbricht.
Das Fräulein nickte ihr mit einem zerstreuten Lächeln zu und ging weiter. Auch den Alten verabschiedete sie. Er brauche ihr nicht immer auf den Fersen zu bleiben. Er werde es ohnehin müde sein, immer dieselben Zimmer zu durchmustern und vor jedem Fremden die Persianen aufzumachen. Ob er oft Besuch erhalte? Es sei verschieden, je nach der Jahreszeit. Im Frühjahr und Herbst kämen die meisten. Auch heute Vormittag sei schon jemand da gewesen, ein junger Herr, der zu Fuß von der Stadt herausgekommen und alles sehr genau besichtigt, ihn dann aber fortgeschickt habe, weil er eine Zeichnung habe machen wollen. Hernach sei er plötzlich verschwunden gewesen, ohne etwas mitzunehmen, wie er sich genau überzeugt, doch freilich auch ohne etwas zurückzulassen.
Das Fräulein griff in die Tasche, zog ein Geldbeutelchen heraus und gab ihm ein großes Silberstück. Das Geschenk, das weit über seine Erwartung war, machte ihn aber nicht freundlicher. Er nickte finster mit dem Kopf, indem er sich zum Gehen wandte; die Damen möchten nur bleiben, so lange sie wollten, er müsse in sein Haus, nach seinem bisschen Essen zu sehen, das auf dem Herde stehe. Seine Enkelin sei ein dummes Ding von sieben Jahren und lasse die Polenta gern anbrennen.
Als sie nun allein war, ging sie wieder in den Kuppelsaal und setzte sich auf den Sockel einer Jupiterstatue. Da überließ sie sich einer schwermütigen Träumerei, indem auf einmal ihr ganzes junges Leben, wie in ein großes Tableau zusammengedrängt, vor sie hin trat und trotz der bunten Farben sie mit einem unheimlichen Gefühl von Leere und Kälte durchschauerte. Sie konnte es endlich nicht länger aushalten, stand mit einer stolzen Bewegung, wie jemand, der einer feindlichen Macht die Stirne bietet, auf und warf die Locken zurück. Der Hut fiel ihr in den Nacken, sie fuhr leicht zusammen, als habe sie ein Fremder an der Schulter berührt. Dann ging sie, da die Götterbilder mit ihren leeren Augen und erstarrten Lippen ihr plötzlich abscheulich vorkamen, langsam quer durch den Saal und trat durch den gegenüberliegenden Portikus ins Freie.