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»Ein Mann bekommt Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven.« Wie weiblicher Schmerz unterschätzt, übergangen und abgewertet wird. Eine feministische Erkundung Männer sollen stark sein, Frauen sind es angeblich nicht. Dabei bekommen sie Kinder und schmerzhafte Perioden, sie leiden häufiger an chronischen Schmerzen und sind stärker von häuslicher und sexueller Gewalt betroffen. Gleichzeitig wird ihr Schmerz weniger ernst genommen und schneller ruhiggestellt: Auf einen schmerzmittelabhängigen Mann kommen gut doppelt so viele Frauen. Was müssen Frauen ertragen, und was tun sie sich selbst an? Gibt es eine spezifische Form von weiblichem Schmerz, und wenn ja, wo liegt sein Ursprung? Und wie könnte eine Welt aussehen, in der weiblicher Schmerz Gehör findet? In ihrem ersten Buch »Unabhängig« zeigt Eva Biringer, wie sich vor allem Frauen mit Alkohol betäuben, um in einer gegen sie gerichteten Welt funktionieren zu können. Mit »Unversehrt« legt Eva Biringer den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die den Schmerz der Frauen systematisch abwertet und gleichzeitig fetischisiert. In der Männerkörper in der Medizin noch immer die Norm sind, Schmerz als Währung für erbrachte Leistung und Lustgewinn akzeptiert ist, während seine unfreiwillige Variante betäubt oder disqualifiziert wird. Ein autobiografisches Plädoyer, weiblichen Schmerz ernst zu nehmen und ein Aufruf an alle Frauen, ihn in etwas Machtvolles zu verwandeln.
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Seitenzahl: 324
Eva Biringer
Un-versehrt
Frauen und Schmerz
HarperCollins
Originalausgabe
© 2024 by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg
Coverabbildung von Nora Blum
E-Book Produktion von GGP Media Gmbh, Pößneck
ISBN 9783749907557
www.harpercollins.de
Für meine Großmutter und alle Frauen, die Schmerz empfinden
jede von uns kann eine geschichte davon erzählen was es heißt so wenig raum wie möglich einnehmen zu wollen die augen zu senken (…)GOTT bin ich wütend dass mir das nicht früher ich hätte kein einziges mal sterben müssen
Sirka Elspaß, Ich föhne mir meine Wimpern
Meine Großmutter
Wenn ich an meine Großmutter denke, sehe ich eine Frau vor mir, die mit Bauchschmerzen auf dem Sofa liegt.
Es plagte sie ein Schmerz, gegen den sie ihr Leben lang ankämpfte. Er ließ sie ohne ihr Deifelszeig, wie ihr Hausarzt die von ihm verordneten Schlaf- und Beruhigungsmittel nannte, nicht schlafen, und er hinderte sie an Sonntagsausflügen ebenso wie am genussvollen Essen. Es war ein Schmerz, den meine Großmutter wahrscheinlich immer schon hatte.
Dabei war das Schicksal meiner Großmutter so sehr nichts Besonderes, dass es fast nicht erwähnenswert scheint. Als uneheliches Kind geboren, aber in der Obhut einer liebevollen Oma aufgewachsen. Einfache Verhältnisse, aber keine Armut. Im Winter ein unbeheiztes Schlafzimmer, so kalt, dass der Atem Wolken bildete, aber keine Frostbeulen, und später im Leben ein unaufhörlich bollernder Ölofen – fünfundzwanzig Grad in ihrem Wohnzimmer waren keine Seltenheit. Aufgewachsen im Weltkriegs- und Nazideutschland, aber fernab vom Kriegsgeschehen. Vielleicht keine Liebesheirat, aber sicher keine gewalttätige Ehe und vermutlich eine, in der man sich auf Basis gegenseitigen Respekts arrangierte. Ein früh verstorbenes Kind, aber dafür zwei gesunde. Eine beachtliche Krankenakte, ja, aber hat nicht jeder seine Zipperlein?
Und doch steht meine Großmutter sinnbildhaft für ein Frauenschicksal des letzten Jahrhunderts. Für die gesellschaftliche Erwartung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, andere dafür umso mehr. Dafür, den eigenen Schmerz zu überhören beziehungsweise zu überfühlen, weil es, weil alles ja muss. Um dann, wenn sich der Schmerz doch einen Weg bahnt, ruhiggestellt zu werden.
Wirklich gesund scheint sie nie gewesen zu sein. Schon als sie so alt war wie ich jetzt, Mitte dreißig, ruhte meine Großmutter viel auf dem Sofa, neben sich griffbereit die Flasche Hirschquelle Heilwasser mit extra wenig Kohlensäure, weil die besser war für ihre Verdauung. Kopf- und Bauchschmerzen habe sie schon damals ständig gehabt, erinnert sich meine Mutter, unternehmungslustig sei sie nie gewesen und immer voller Sorgen. Einmal wurde sie auf Kur geschickt. Entsetzlich fand sie es dort, so weit weg von zu Hause, von ihrer Familie getrennt, im Doppelzimmer mit einer Unbekannten. Das Essen bekam ihr nicht, die sogenannten Anwendungen, fremde Hände auf ihrem Körper, waren ihr, die sich weder Kosmetikerinnen- noch Friseurbesuche gönnte, hochgradig suspekt. Zurück zu Hause schwor sie sich: nie wieder Kur. Zusätzlich zum Magen machte einige Jahre später auch noch die Galle Probleme und wurde schließlich durch einen den ganzen Bauch entlang verlaufenden Schnitt entnommen. Statt einer Verbesserung hatte sie anschließend mit noch mehr Verdauungsproblemen zu kämpfen als zuvor. Von nun an saß ihr ständig die Angst im Nacken, es nicht rechtzeitig auf eine Toilette zu schaffen, was sie selbst kurze Autofahrten, wenn möglich, unbedingt vermeiden ließ. Spätestens da war ihr Körper ihr zum Feind geworden. In den folgenden Jahren verbrachte meine Großmutter wie viele ältere Menschen eine Menge Zeit in Arztpraxen, wohin meine Mutter sie oft begleitete. Ihr Hausarzt behandelte sie drei Jahrzehnte lang. Interessanterweise richtete Dr. Stolz das Wort öfter an die Tochter der Patientin als an diese selbst, so als wäre meine Großmutter ein Kind. Seine all die Jahre über unveränderte Haltung: Frau Blickle ist im Grunde kerngesund. Traumhafte Blutwerte, stabiles Herz-Kreislauf-System. Und der Bauch – ja, was soll man machen. Wenn jemand tagein, tagaus hochsensibel in sich hineinhört, findet sich immer was. Magen-Darm-Tee trinken soll sie, bei gutem Wetter öfter mal vom Sofa auf die Terrasse wechseln. Sonnenschutz nicht vergessen! Und wenn beides nicht hilft: ihr Deifelszeig nehmen.
Meine Großmutter führte viele Jahre lang Tagebuch. In bewundernswert sauberer Handschrift und mit einer Sorgfalt, die an die fleißige Volksschülerin erinnert, die sie einmal gewesen war, notierte sie darin, was sie gegessen und getrunken hatte, welche Predigten sie gehört, wie viele Körbe Laub gekehrt, mit wem sie telefoniert, wer ihr Endivien gebracht und wann sie den Ölofen angezündet hatte, bisweilen sogar, wie oft sie auf die Toilette gegangen war. »Wochenputz hinten«, »Ofen entrußt«, »Glatteis im Hof gesalzen«, »Geranien eingepflanzt«, »alle Polster gebürstet & entstaubt«, solche Hinweise finden sich zuhauf.
Ab und an notierte sie, gut geschlafen zu haben oder etwas wie »mittags war es erträglich«. Die positivste Formulierung: »Ein arbeitsreicher, erträglicher, gesegneter Tag.« Auch ging es ihr besser, wenn sie mit ihrer Nachbarin telefoniert oder einen Friedhofschwatz gehalten hatte, Besuch von ihren Kindern bekam, einen tröstenden Anruf von meiner Stiefmutter oder einen von mir: »Eva rief aus Berlin an und hat allerhand erzählt, aber ich konnte nur ein paar Worte mit ihr reden.« Bekam sie ein Paket von einer Freundin, notierte sie »so groß, schrecklich«, als glaubte sie, es nicht verdient zu haben.
Hauptsächlich jedoch ist ihr Tagebuch eins über ihre Leiden. Meistens schien es ihr schlecht zu gehen. »Schon wieder Bauchweh, überall Schmerzen. Ein schmerzhafter, trauriger Tag, ein trostloser, ein schrecklich schmerzhafter Tag. Zum Sterben elend. Total nervös«. »Blitze in Knie und Hand«, ein juckender Hautausschlag auf der Brust. Magenkrämpfe fühlten sich an »wie mit einem Messer reingestochen«. »Ein ganz verzweifelter, elender, kranker Sonntag« heißt es da oder »so hundeelend, konnte kaum essen«. Mal ist sie »ganz verrückt nervös«, mal »zittrig-verzagt«. Über einen ersten Advent schreibt sie: »Einen so kranken, elenden Tag hab ich noch nie erlebt, so verzweifelt, ich kann nur beten, liegen u. den Bauch wärmen.« Den Bauchschmerzen begegnete sie mit einem warmen Kirschkernsäckle, Flohsamenkuren und einer Heizdecke, von der wir immer fürchteten, sie könnte in Flammen aufgehen. Darüber hinaus hielt der altmodische Aufklappspiegel im Bad noch ganz andere Optionen bereit, von pflanzlichen Beruhigungstropfen bis hin zu stark abhängig machenden Benzodiazepinen, die als Beruhigungs- und Schlafmittel verordnet werden. Ihr Deifelszeig. Mit Blick auf deren Nebenwirkungen drängt sich mir die Frage auf, ob das, was meine Großmutter quälte, nicht damit zusammenhing. In ihren eigenen Worten: »Nervenschock, ich dachte, es ist aus. Puls verrückt. Ich bin total erledigt & verzweifelt« oder »Nachts eine Herz- oder Nervenattacke, ich dachte zu sterben«.
Auf den ersten Blick gleichen die Tagebücher meiner Großmutter jenen Morgenseiten, die von Mental-Health-Göttinnen als Kreativmethode empfohlen werden. Mit einem Unterschied: Bei meiner Großmutter findet sich kein Stream of Consciousness, kein innerer Monolog, sondern maximal Verweise auf »Denken«. Je detaillierter sie Alltägliches festhielt, desto weniger Raum blieb für das Dazwischen. »Im Kopf und Leib ein Durcheinander«, »geträumt von Sorgen und Krank- und Alleinsein«. Wovon genau? Abgesehen von einzelnen Adjektiven wie »mies«, »durcheinander« oder »schrecklich« nehmen ihre Träume keine Gestalt an. Nur ein einziges Mal wird sie konkret: »Kind geboren, schrecklicher Traum.« Am liebsten schien ihr gedankliche Leere zu sein: »Bis halb sechs ins Kissen geschlüpft und nichts denken.« Ins Kissen schlüpfen: So sprach sie vom Dösen.
All das hat, denke ich, nichts mit mangelndem Reflexionsvermögen zu tun und schon gar nichts mit mangelnder Sorgfalt, das beweisen ihre nachträglichen Korrekturen und unterstrichenen oder mit Fragezeichen versehenen Worte. Wohl eher fehlte ihr für alles nicht den Körper Betreffende schlicht die Sprache. Für eine Frau ihres Jahrgangs war es nicht vorgesehen, die Stimme zu heben und ihrem Innersten Ausdruck zu verleihen. Wer hätte ihr schon zuhören sollen?
Offenbar ging es ihr besser, wenn sie mit jemandem sprechen konnte. Meistens jedoch war sie allein, mit einem gegen die Stille anplärrenden Fernseher, oder in ihren Worten: »Mit keinem Menschen nur 1 Wort geredet.« Auch wenn jenes Dorf, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, voller bekannter Gesichter war, führte das nicht zwangsläufig zu einem regen Sozialleben. In einer anonymen Großstadt wäre es sicher noch viel schlimmer gewesen, aber auch in ihrem Heimatdorf konnte es passieren, dass sie auf dem Friedhof und dem Weg dorthin niemand Bekannten traf. Zwiesprache hielt sie dann nur innerlich, am Grab ihres sechzehn Jahre vor ihr verstorbenen Mannes.
Was wäre wohl aus meiner Großmutter geworden, wenn ihren Nöten mehr Gehör geschenkt worden wäre? Wenn sie ihr Heilwasser nicht mit einem Medikamentencocktail gemischt hätte? Wieso nahm niemand ihre Schmerzen ernst?
Als eine Tochter ihrer Zeit war sie eine des Krieges, der Unterordnung, der Depression und nicht zuletzt der Sprachlosigkeit über alles, was sie selbst betraf. Sie führte ein Leben für andere, deren Wohlergehen, aber auch deren Schmerz. Selbstloses Kümmern, Pflege aus Liebe, prinzipiell kostenlos, dafür mit hohen Kosten für sich selbst verbunden. Gleichzeitig glaubte sie, keinen Raum einnehmen, niemandem eine Last sein zu dürfen. Als ich hörte, dass meine Großmutter ihr Leben lang von der aufgehenden Sonne aus dem Schlaf gerissen wurde, machte mich das traurig und wütend. Warum hatte nie jemand Rollläden oder blickdichte Vorhänge angebracht? Weil sie wohl nie darum gebeten hatte. Bescheidenheit und Bedürfnislosigkeit waren ihr anerzogen worden, jede Form von unnötiger Aufmerksamkeit zuwider. Gleichzeitig sehnte sie sich nach Mitgefühl, ein Wunsch, der seinen Ausdruck in chronischen Schmerzen fand. Der Bauch meiner Großmutter sprach seine eigene Sprache. Warum hörte niemand zu?
Manchmal frage ich mich, ob mir der Schmerz meiner Großmutter in den Knochen sitzt. Was sich im ersten Moment nach Spukgeschichte anhört, heißt Epigenetik und wird als wissenschaftlich seriös eingestuft. Dass Stress in der Schwangerschaft das werdende Kind beeinflusst, ist schon länger bewiesen. Inzwischen werden auch generationenübergreifende Gesundheitseffekte untersucht. Stark belastende Erfahrungen können zu epigenetischen Veränderungen führen, oder in den Worten der Ärzt*in und Aktivist*in Sabina Schwachenwalde: »Manche Menschen erben Immobilien, andere erben Traumata.«[1]
Selbst wer Zweifel an dadurch herbeigeführten genetischen Veränderungen hat, dürfte den soziologischen Faktor anerkennen, in welcher Umgebung, mit welchen Werten jemand aufwächst. Im Fall meiner Großmutter war das ein puritanischer Moral verpflichtetes Dorf, in dem es um Frömmigkeit, Fleiß, Bescheidenheit und Obrigkeitshörigkeit ging und so gut wie gar nicht um persönliche Entfaltung, schon gar nicht als Frau. Wie viele Kinder sie bekamen, entschieden zumindest offiziell die Natur oder der liebe Gott. Darauf, wie gut sie ihre Rolle als Hausfrau und Mutter erfüllten, hatte die Dorfgemeinschaft ein strenges Auge. Ohne die Erlaubnis ihres Mannes durften Frauen keinen Beruf ausüben, kein Bankkonto eröffnen. Kein Gesetz schützte sie vor sexuellem Missbrauch oder Gewalt in der Ehe.
Die Soziologin Franziska Schutzbach spricht von »in den verborgenen Poren des Körpers abgelagerten Erfahrungen der Missachtung, die von Frauengeneration zu Frauengeneration weitergegeben werden« und die sie als Ursache sieht für das erschreckend geringe Selbstvertrauen vieler Frauen ebenso wie deren permanente Erschöpfung. »Man stelle sich vor, mit welchen Herabsetzungen unsere Großmütter noch konfrontiert waren. Das ist keine hundert Jahre her, und sowohl Traumaforschung wie Epigenetik zeigen, dass Verwundungen, schwere und weniger schwere, weitergegeben werden, sich in der Psyche, aber auch im Körper festsetzen können.«[2]
Von außen waren diese seelischen Verwundungen unsichtbar. Bis ins hohe Alter hielt meine Großmutter das Haus und sich selbst in Schuss. Niemals hätte sie eine Strumpfhose mit Laufmasche getragen, sogar Unterhosen wurden gebügelt. Sie fügte sich in die Dorfgemeinschaft ein und versuchte zu Lebzeiten ihres Mannes, beziehungsweise solange ihre Kinder noch bei ihr lebten, ihren Teil zum Familienleben beizutragen. Stimmte gegen ihren Willen der Anschaffung eines Hundes zu, wohl wissend, dass die ganze Arbeit an ihr hängen bleiben würde. Saß bei jeder Mahlzeit mit am Tisch, obwohl ihr oft der Appetit fehlte. Ließ sich zu Wanderurlauben in Südtirol oder am Königssee hinreißen, obwohl ihr schon nach wenigen Höhenmetern die Knie wehtaten. Sie versuchte ihren Kindern die beruflichen Chancen zu ermöglichen, die ihr selbst verwehrt geblieben waren. Ich weiß, dass meine Großmutter ihr Bestes gab bei der Erziehung. Körperliche Nähe zuzulassen fiel ihr allerdings schwer, so wie sie überhaupt wenig Zugang hatte zu ihren Empfindungen, mit Ausnahme in Form von Schmerz. Wie praktisch da die vom Herrn Doktor verschriebenen Pillen gewesen sein mussten, am Anfang jedenfalls.
In einem Artikel der Pharmazeutischen Zeitung über weiblichen Schmerzmittelmissbrauch heißt es: »Frauen fühlen sich oft in besonderer Weise zuständig für soziale Beziehungen in Beruf und Familie. Eigene Bedürfnisse werden in den Hintergrund gestellt, melden sich jedoch später als Schlafstörungen, Unruhe und Kopfschmerzen. Trägt eine Frau zudem nicht ausreichend bewältigte Lebenskonflikte mit sich oder leidet an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, so kann ein abhängiges Verhalten Teil einer Lebensstrategie werden. Schlucken und Schweigen ist ein Schema, das sich Frauen oft von Generation zu Generation weitergeben.«[3] Auch ich habe jahrelang geschluckt. Keine Analgetika oder Benzodiazepine wie meine Großmutter, sondern Alkohol.
Frauen empfinden Schmerz. Männer auch, allerdings nicht auf die gleiche Art. Während Depressionsraten unter Kindern ausgeglichen sind, verdreifachen sie sich bei Mädchen ab der Pubertät.[4] Und selbst diejenigen, die weniger radikal mit sich umgehen, leiden: Etwa zwei von drei Teenagerinnen geben an, sich »anhaltend traurig oder hoffnungslos« zu fühlen, doppelt so viele wie Gleichaltrige des anderen Geschlechts.[5] Liegt es daran, dass sie auf andere Art leiden oder das Leben andere Arten von Schmerz für sie bereithält?
Vor einigen dieser Schmerzen schützt sie hierzulande eigentlich der Staat. »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«, so steht es im Deutschen Grundgesetz. Unversehrtheit meint sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit und damit das Recht, keiner äußerlichen Gewalteinwirkung ausgesetzt zu sein. Ein Recht, das permanent unterlaufen wird. Zwar werden in den meisten Ländern mehr Männer als Frauen Opfer von Mord, dafür leiden Letztere viel stärker unter sexueller Gewalt, Belästigung, Stalking und Hass im Netz. Ich will wissen: Woher kommt all der Hass? Wie kann es sein, dass unsere vermeintlich aufgeklärte, sich in so vielen Dingen gleichberechtigt gebende Gesellschaft den Schmerz der Frauen systematisch unterschätzt, übergeht, abwertet, willentlich hinnimmt oder sogar befürwortet? Mit Hinblick auf meine eigene Familiengeschichte frage ich mich: Welche Traumata haben wir von unseren Müttern und Großmüttern geerbt? Was müssen wir ertragen und was tun wir uns selbst an? Gibt es das, einen spezifisch weiblichen Schmerz, und wenn ja, wo liegt sein Ursprung? Und schließlich: Was können wir tun, damit das aufhört?
Aus dieser Neugier heraus entstand das vorliegende Buch. Ich wollte verstehen, was der Schmerz mit mir, mit uns und speziell mit den Frauen macht und was er mit meiner Großmutter gemacht hat. Schnell stellte ich fest, dass das sehr vielschichtig werden würde. Erstens sind da so viele verschiedene Formen, von körperlich bis seelisch, von chronisch bis akut, von unwillentlich bis frei gewählt. Wo verläuft die Grenze zwischen Lust und Leid, zwischen Weh und Wow? Zweitens handelt es sich um eine ultra-subjektive Empfindung. Niemand kann den Schmerz eines anderen fühlen, umso wichtiger ist es, den Betroffenen zuzuhören. Empathie, etwas, das meine Großmutter nie wirklich erfahren hat. Auch wie wir mit dem eigenen Schmerz umgehen, sagt viel über uns aus. Werden wir in seiner Gegenwart zu Kriegerinnen oder verlieren wir den Mut? Wollen wir ihn um jeden Preis vermeiden oder suchen wir seine Nähe? Jede von uns schreibt ihre eigene Schmerzgeschichte, ein Leben lang. Je länger ich mich mit jener meiner Großmutter beschäftigte, desto mehr begann ich, weiblichen Schmerz als etwas Systemisches zu sehen. Bald stieß ich auf den Gender-Pain-Gap, der besagt, dass weiblicher Schmerz anders bewertet wird als männlicher. Über Jahrtausende hat sich die Annahme verfestigt, Frauen seien empfindlicher, obwohl sie schon von Natur aus mit gewissen Schmerzen konfrontiert sind und sie aushalten müssen. Gleichzeitig werden sie weniger ernst genommen und schneller ruhiggestellt. Studien zeigen: Ein betroffener Mann bekommt Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven. Ich wollte herausfinden, warum das so ist und gleichzeitig einen Blick werfen auf die verschiedenen Formen körperlichen und seelischen Leids, dem Frauen jeden Tag und überall auf der Welt ausgesetzt sind.
Kaum jemand umkreist das Thema so intensiv und wortgewaltig wie die amerikanische Autorin Leslie Jamison. Sie selbst nennt sich wound dweller, eine Bewohnerin von Wunden, so zahlreich sind ihre Versehrungen von Körper und Seele. Angefangen von jenen Rasierklingenschnitten, die sie sich zeit ihres Lebens selbst zufügte, den beim Klettern gebrochenen Kiefer und die durch einen Raubüberfall ebenfalls gebrochene, chirurgisch rekonstruierte Nase über die von einer komplizierten Herzoperation stammenden Narbe bis hin zu den psychischen wie physischen Spuren einer Abtreibung und jahrelangen Alkoholabhängigkeit. Nicht zu vergessen jene purpurfarbene, halbmondförmige Brandnarbe auf ihrem Oberarm, ein Unfall mit einem heißen Backblech, die ein Mann mit dem spöttischen Satz »Dafür musst du dir aber noch eine bessere Geschichte ausdenken« kommentierte. Wie ambivalent Jamisons Verhältnis zu diesem Thema ist, zeigt schon der mindestens halb -ironisch gemeinte Titel ihres wegweisenden Essays Große Universaltheorie über den weiblichen Schmerz. Einerseits werde dieser kulturell reproduziert und glorifiziert, in Form von Literatur, Theater und bildender Kunst, so sehr, dass er bisweilen zur natürlichen Gegebenheit werde. Andererseits werde er nicht anerkannt, und wenn doch, dann entnervt weggewischt und nicht als etwas Systemisches gesehen, sondern als Einzelschicksal. »Ich habe genug vom weiblichen Schmerz, und ich habe genug von Leuten, die genug davon haben. Ich weiß, die leidende Frau ist ein Klischee, ich weiß aber auch, dass noch immer jede Menge Frauen leiden. Ich mag die Hypothese nicht, dass weibliche Wunden von gestern sind. Ich bin verletzt davon.«[6] So beschreibt Leslie Jamison das Dilemma. Um dem zu entkommen, flüchteten sich viele Frauen in das, was die Essayistin »post-verwundet« nennt, eine distanziert-ironische Haltung den eigenen Verletzungen gegenüber. Wenn Schmerz Sprache werde, dann nur in intellektualisierter Form. Gefühle bitte nur in Anführungszeichen, Sorgen nur als Sekundärquelle, denn: »Wir haben uns zugenäht.«[7]
Nicht nur Jamison, sondern auch mir stellt sich die Frage, wie mit dem eigenen Schmerz umzugehen ist. Sollen wir ihn benennen, wenn ja, nur gegenüber uns selbst oder auch anderen? Es gibt so viele mögliche Formen, im persönlichen Gespräch mit Freundinnen oder dem Partner, gegenüber einem Arzt oder einer Psychologin, in einer Selbsthilfegruppe, bei einer Beratungsstelle oder als anonyme Anruferin eines Hilfetelefons. Sollen wir ihn les- und hörbar machen für die ganze Welt, im Internet, in den sozialen Medien, wo in Form von MeToo der Schmerz von Millionen Frauen Gestalt annahm? Oder macht das die Sache nur schlimmer, führt das »Bewohnen der Wunden« zu Larmoyanz und kultureller Fetischisierung, dazu, dass sich das Bild der schwachen, versehrten Frau fortwährend reproduziert?
Dass meine Neugier und meine Auseinandersetzung in diesem Buch mündeten, ist bereits als eine Antwort auf viele dieser Fragen zu verstehen: Ich möchte, dass unsere Wunden Geschichten erzählen und Zuhörer finden, dass unser Schmerz Sprache wird und Kritik. Ich möchte dem Schmerz meiner Großmutter eine Stimme geben.
Schmerz in Worte fassen
Das Vokabular der Liebe kennt scheinbar keine Grenzen. Egal, wie viele Popsongs vertont, wie viele Sonette rezitiert, wie viele Drehbücher verfilmt, wie viele Romane geschrieben werden, auserzählt scheint sie nie. Alle Menschen suchen Liebe, und sehr viele erzählen davon. Wer erzählt vom Schmerz? Und zwar nicht von jenem, dessen Ursprung die Liebe ist, denn auch der füllt bekanntlich analoge und digitale Bibliotheken, wie jenes Lied von The Tears, das ich als Teenagerin in Dauerschleife hörte: You’re as dark as the ocean, as cold as the rain. You got me weak with emotion, you’re such a beautiful pain. Geht es um andere Formen von Schmerz, macht sich auffallend oft Sprachlosigkeit breit. Wo sind die Songs, die keine gebrochenen Herzen, sondern Handgelenke zum Thema haben? Was reimt sich auf Kreuzbandriss, was auf Hexenschuss? Gibt es Haikus zum Thema Endometriose? Was ist Endometriose überhaupt?1 Wo sind die Dammriss-Trilogien und Knochenmarksödem-Sagen? Wer hört dem Klagelied der Migränepatientinnen zu? Eine von ihnen stellte 1926 fest: »Das kleinste Schulmädchen, wenn es sich verliebt, hat Shakespeare oder Keats, die ihm aus der Seele sprechen; aber ein Leidender versuche, den Schmerz in seinem Kopf dem Doktor zu beschreiben, und sogleich versiegt die Sprache. Es gibt für ihn nichts Vorgefertigtes. Er ist gezwungen, selbst Worte für sich zu prägen, und seinen Schmerz in die eine Hand nehmend und einen Klumpen schieren Klangs in die andere (wie es vielleicht die Menschen von Babel am Anfang taten), muss er sie so zusammenpressen, dass am Ende ein nagelneues Wort herausfällt.«[1] Auch rund hundert Jahre später fehlt von diesem nagelneuen Wort jede Spur. Wenn selbst eine Ausnahmedichterin wie Virginia Woolf beim Thema Schmerz um Worte ringt, wie ergeht es dann erst all jenen, die spätestens im Sprechzimmer verstummen?
Abgeleitet ist der Begriff vom mittelhochdeutschen smerze, althochdeutsch smerzo, womit ursprünglich etwas Aufreibendes gemeint ist.[2] Schon das Grimm’sche Wörterbuch macht auf dessen dualen Charakter aufmerksam: Er kann sich sowohl auf Körperliches als auch Mentales beziehen.[3] Synonyme sind Weh und Pein, schöne, aber etwas veraltete Begriffe. Letzteres ist auf das lateinische poena zurückzuführen, was Sühne, Strafe, Rache bedeutet, dieses wiederum auf das altgriechische poinˉe, zu Deutsch Vergeltung oder Strafe. Wir denken an das englische pain. Überraschenderweise listet das Oxford English Dictionary als häufigste Verwendung von pain »Strafe: Leiden oder Verlust, verhängt als Bestrafung für ein Verbrechen oder eine Beleidigung; Bußgeld«.[4] Erst an zweiter Stelle steht »Pein, Qual«, noch später »Schmerz«.[5] Im englischen Schmerz und der deutschen Pein steckt also schon in seinem sprachlichen Ursprung immer auch die Strafe. Virginia Woolfs Muttersprache hält noch mehr Überraschungen bereit. Interessant ist das zu pain gehörige Verb. Man hat keine Schmerzen, sondern befindet sich mitten darin: She was clearly in a lot of pain. Für eine mit großer Anstrengung verbundene Leistung gibt es den Ausdruck no pain, no gain2, frei übersetzt »ohne Fleiß kein Preis«, wobei Tüchtigkeit und Schmerz schon zwei sehr verschiedene Dinge sind. Das veraltete woe entstand aus dem Ausruf wa! – Ach! – und entspricht dem deutschen weh. Ganz und gar unglaublich fand ich die Behauptung meiner Nachbarin, woman sei die Kurzform von woe man, Frauen also die Pein des Mannes. Zum Glück stellte sich das als falsch heraus.
Was sich aus wissenschaftlicher Sicht sagen lässt: Schmerz ist kein Gefühl, sondern eine Empfindung beziehungsweise eine Sinneswahrnehmung. Die Deutsche Schmerzgesellschaft definiert ihn als »ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird«. Eine freiere Definition liefert die französische Philosophin Isabelle Azoulay: »Der Schmerz dezentriert das Sein. Er drängt die gesamte Person zum Rückzug. Er kolonisiert die Ereignisse des Tages, sodass der Mensch mit Mühe das Wesentliche aufnimmt. Der Schmerz geht einher mit Unruhe, Unordnung, Weigerung. Er zwingt zur Passivität und generiert somit Auflehnung. Er verletzt die Integrität unserer Ganzheit. Im Schmerz geraten die Fundamente des Individuums ins Wanken, er ist eine Falschmeldung, eine Verdrehung, eine Provokation.«[6]
Oft meinen wir, wenn wir Schmerz sagen, eigentlich Nozizeption. Die Haut, unser größtes Sinnesorgan, ist genau wie Muskeln und Organe mit Nozizeptoren ausgestattet. Werden diese Sinneszellen gereizt, etwa durch den Griff auf eine heiße Herdplatte, geben sie elektrische Signale ab. Nervenfasern feuern diese mit rasender Geschwindigkeit zunächst ins Rückenmark, wo ein Reflex erfolgt (die Hand von der Herdplatte wegziehen, aber flott!). Von da werden die Signale über eine weitere Schaltstelle an verschiedene Stellen des Gehirns weitergeleitet. Erst dort formiert sich der eigentliche Schmerz, mitsamt seiner Einschätzung (uff, das tut weh!), Bewertung (warum war ich so unachtsam?) und dem weiteren Vorgehen (die Hand unter kaltes Wasser halten, anschließend einen Verband anlegen). Außerdem kommt es zur Ausschüttung körpereigener Opioide. [7] Genau wie der akute hat auch der entzündliche Schmerz eine Funktion, nämlich auf einen physischen Missstand aufmerksam zu machen. Beide sind überlebenswichtig. Eine seltene angeborene Schmerzunfähigkeit führt häufig zum frühen Tod, weil Betroffene nicht merken, dass sie sich Kniegelenke brechen, Bänder reißen oder Verbrennungen erleiden.
Eindeutig losgelöst von ihrer ursprünglichen Warnfunktion sind chronische Schmerzen. Entgegen der Annahme kommt es dabei nicht wie bei anderen Sinnesreizen zur Gewöhnung, sondern im Gegenteil einer Sensibilisierung. In manchen Fällen liegt ein nozizeptiver oder entzündlicher Schmerz zugrunde, in manchen nicht, dann spricht man von pathologischem Schmerz. Dieser wiederum kann in zwei Formen auftreten, dem das Nervensystem betreffenden neuropathischen Schmerz und dem dysfunktionalen Schmerz ohne erkennbaren Ursprung. Oft gehen damit diverse andere Symptome einher, Appetitverlust, Schlafstörungen, anhaltende Erschöpfung, depressive Verstimmungen. Von chronischen Schmerzen spricht man ab einer Dauer von drei bis sechs Monaten. 2022 betraf diese Diagnose in Deutschland zu zwei Drittel Frauen.[8]
Schmerzen sind eine komplexe, noch lange nicht ausreichend erforschte Angelegenheit. Die Medizin spricht von einem bio-psycho-sozialen Phänomen, einem Zusammenspiel körperlicher, psychischer und sozialer Komponenten.[9] Dessen Erleben ist abhängig von zahlreichen Faktoren. Von der aktuellen Stimmung und vergangenen Erfahrungen, kultureller Prägung und Erziehung – Stichwort »ein Indianer kennt keinen Schmerz«3 – ebenso wie der Einschätzung, ob etwas gegen ihn auszurichten ist. Verschiedene Kulturen bewerten Schmerz sehr unterschiedlich, ersichtlich bereits an der Sprache. Lediglich ein Wort kennt das Chinesische, das höchstens noch durch »mäßig« oder »stark« ergänzt werden kann. Auch im Hebräischen, Arabischen und Japanischen sind die Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt.[10] Anders im Deutschen. Weh und Pein wirken eher unzeitgemäß, anders als Leid, Kummer, Elend, Qual und Plage. Auch Drangsal, Harm, Gram, Geißel, Mühsal und Joch stehen im Duden, obwohl sie wohl kaum den Weg in ein Sprechzimmer finden. Umgangssprachliche Synonyme wie Wehwehchen und Zipperlein enthalten bereits eine Bewertung. Aufgrund des subjektiven Charakters von Schmerz verbietet sich diese eigentlich von selbst. Niemand kann wissen, wie sich der Schmerz eines anderen anfühlt, ebenso wenig wie Glück und Erleichterung, Entsetzen oder Verzweiflung.
Im Fall von körperlichem Schmerz dienen verschiedene Klassifikationssysteme als Hilfestellung. Das bekannteste dürfte eine Skala mit Werten von eins bis zehn sein, mit der Zehn als »stärkster vorstellbarer Schmerz«. Mir kommt das komisch vor. Des einen Sieben mag der anderen Vier sein und eine permanente Zwei ist wahrscheinlich belastender als eine gelegentlich auftretende Fünf. Vor allem der Abgleich ist ein Problem. Wenn die Schmerzen stärker sind als je zuvor, woher kann ich dann wissen, dass keine Steigerung mehr möglich ist? Ist die Zehn nicht dem Todesschmerz vorbehalten? Ein gutes Beispiel ist die Geburt. Anschließend bewerten viele Frauen körperlichen Schmerz anders als zuvor, verwundert darüber, wie viel ein Mensch, wie viel sie aushalten können.
Schmerz ist nicht dasselbe wie Leid. Viele Religionen sind der Auffassung, dass Ersterer zum Leben gehört. Hautnah erlebte ich das in Form eines Vipassana-Seminars im österreichischen Waldviertel. Damals, mit Mitte zwanzig, war diese buddhistische Meditationspraxis ein Mikrotrend in meinem Freundeskreis. Dass es hart werden würde, war mir schon vorher klar. Aber so hart? Zehn Tage lang unterwarf ich mich gemeinsam mit rund hundert anderen Teilnehmenden einem militärisch-strengen Regiment. Aufstehen um vier, zwei Stunden Meditation, Hirsebreifrühstück, dann Meditation bis zum Hirseauflaufmittagessen, eine Stunde Freigang auf dem eingezäunten Basketballfeld, anschließend Meditation bis zum aus Tee und Obst bestehenden Abendessen und schließlich, man ahnt es bereits, Meditation, bis um neun Uhr die Lichter ausgingen. Bei alldem durfte kein Wort gesprochen werden, auch Lesen, Schreiben und sportliche Aktivitäten waren verboten. Wie gerne hätte ich meine geschundenen Glieder mit ein wenig Yoga gedehnt! Zehn Stunden Sitzen an zehn Tagen hintereinander, das ist die Hölle auf Erden. Egal, wie viele Kissen, Polster und Decken ich unter mir türmte: Alles tat weh. Dabei ist das Aushalten von Schmerz genauso Teil dieser Prozedur wie das Einfangen umherschwirrender Gedanken. Der Schmerz kommt und geht, wir sollen ihn beobachten, ohne zu bewerten. Gegen Ende des Seminars gelangte ich in einen weltentrückten Zustand, empfand die über dem Basketballfeld untergehende Sonne ebenso wie den Geschmack des Beutelkamillentees als bedrückend intensiv, mich selbst als im Zentrum der Welt stehend und zugleich von ihr losgelöst. Ein Zustand, der erwartungsgemäß nicht besonders lange anhielt, wohl aber das Gefühl, meinen Widerstand überwunden zu haben. Durch Vipassana erfuhr ich Schmerz, ohne dass sich dieser in Leid verwandelt hätte. Ich deutete eine unangenehme körperliche Empfindung bewusst zu etwas Sinnvollem um: Hier bin ich nun und warte, bis der Schmerz vorübergeht.
Leid hingegen betrifft fast nur oder ausschließlich die Psyche und kann auch dann entstehen, wenn Schmerz nicht zugelassen oder verdrängt wird. Das Gegenteil wäre Akzeptanz, eine Strategie, die im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten empfohlen wird. Gleichzeitig kann seelisches Leid wie Enttäuschung, Angst, Liebeskummer oder Wut körperliche Schmerzen erzeugen. Letztlich geht es darum, wie wir eine unangenehme Situation bewerten. Wie sehr erlauben wir ihr, unser Bewusstsein zu durchdringen?
Eine berührende Form für die Beschreibung ihrer Schmerzen findet die deutsche Lyrikerin Sirka Elspaß:
ein alter zahn stößt mir durchs fleisch
der schmerz reicht bis zu meinen augenhöhlen
macht die rechte wange warm
solange der schmerz nicht auf der
linken seite des körpers stattfindet
muss ich mich nicht sorgen
links liegt das herz dort findet statt
was wichtig ist[11]
Wie fast alles unterliegt auch Schmerz einer Bewertung. Hier einer mit dem Recht auf Aufmerksamkeit, dort einer, der warten muss, erst mal oder für immer. Je nachdem, wo im Körper er sich befindet, ändert sich dessen Wert. Mithilfe einer kurios wirkenden Klassifizierung – links liegt das herz – beruhigt sich die Sprecherin des Gedichts selbst. Sie beschließt, dem Hilferuf ihres Körpers kein Gehör zu schenken, nicht hinzusehen, obwohl die Empfindung bereits bis zu den augenhöhlen reicht. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass nicht jeder Schmerz es wert zu sein scheint, gehört und gesehen zu werden.
Die amerikanische Schmerzforscherin Margo McCaffery stellt fest: »Schmerz ist das, was immer ein Mensch darunter versteht, und Schmerz ist vorhanden, wann immer ein Mensch ihn wahrnimmt.«[12] Einem Betroffenen zuzuhören ist eine Möglichkeit, ihm zu vermitteln: Ich sehe dich. Allein dieses Gesehenwerden hat einen nachweislich positiven Effekt. Umgekehrt beraubt man einen Menschen, dem seine Schmerzen aberkannt werden, seiner Würde. So war es bei meiner Großmutter. So geschieht es mit dem Schmerz unzähliger anderer Frauen, überall auf der Welt, jeden Tag.
Eine Frage, die nicht nur mich umtreibt: Unterscheidet sich das Schmerzempfinden bei Männern und Frauen, und wenn ja, wie? Dem Klischee nach sind Erstere viel wehleidiger. Das Oxford English Dictionary erklärt den Begriff man flu, zu Deutsch Männergrippe, als »a cold or similar minor illness that somebody, usually a man, catches and treats as if it were flu or something more serious«[13] [dt.: »jemand, in der Regel ein Mann, der unter leichten Erkältungssymptomen oder Ähnlichem leidet und diese gleich für eine Grippe oder Schlimmeres hält«]. Ein ähnlich beliebter Running Gag sind auf dem Kinderzimmerboden herumliegende Legosteine, in die Väter nachts versehentlich treten und die sie ans gefühlte Ende der Schmerzskala bringen4, ebenso wie die Behauptung, die Menschheit wäre bereits ausgestorben, wenn Kinderkriegen Männersache wäre. Bei YouTube stieß ich auf das Video eines Menstruationsschmerzen simulierenden Geräts, das US-Cowboys beinahe den Verstand kostet.[14] Sie japsen, sie keuchen, fucking fuck! Kaum einer schafft es über Stufe fünf hinaus, die der Versuchsleiterin zufolge dem Schmerz einer durchschnittlichen Periode entspricht. Die einzige Frau in der Testreihe hingegen lässt auch noch Stufe zehn über sich ergehen, und zwar mit der Haltung einer, die Schlimmeres gewohnt ist: Yeah, it hurts, but like … Ja, weh tut es schon, aber was soll’s?
Sind Cowgirls also besser im Aushalten? Schluss mit den Vorurteilen, jetzt ist die Wissenschaft gefragt. Vereinfacht gesagt lässt sich Schmerz auf zweierlei Art messen, in Form von Schwelle und Toleranz. Erstere meint den Moment, ab dem eine Nozizeption wahrnehmbar ist, diese scheint bei Frauen etwas niedriger zu sein als bei Männern, sie haben also schneller eine Empfindung. Toleranz hingegen bezeichnet die subjektive Bereitschaft, diese auszuhalten. Während der eine Cowboy schon bei Stufe drei kapituliert, bleibt der andere noch ein wenig länger im Sattel. Liegt das daran, dass sie mit dem falschen Stiefel aufgestanden sind? Oder etwa daran, dass die Studienleiterin nicht heiß genug ist? Eine ziemlich kuriose Studie kommt nämlich zum Ergebnis, dass bei Männern die Schmerztoleranz in Anwesenheit einer attraktiven Frau steigt. Bei Frauen tritt der umgekehrte Effekt ein, sie zeigen sich im Fall eines anziehenden Mannes eher hilfsbedürftig.[15] Eine mögliche Erklärung ist, dass sie verinnerlicht haben, dass Versehrtheit anziehend ist. Ein Vorurteil, das leider beständig reproduziert wird in Form der Frau, die gerettet werden will.
Vergleicht man verschiedene Schmerzstudien miteinander, wird klar, dass von Eindeutigkeit keine Rede sein kann. In manchen berichten Frauen beim gleichen Reiz, dem auch Männer ausgesetzt werden, über intensivere und länger anhaltende Schmerzen. Auf einer Skala bewerten sie denselben Reiz höher und halten ihn weniger lang aus, ihre Nervenfasern scheinen also empfindlicher zu sein und die Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem sensibler. Ein möglicher Grund ist, dass Frauen von Haus aus durch Periode, Schwangerschaft und Geburt mit einem gewissen Maß an Schmerz konfrontiert sind und sie deswegen in der Lage sein müssen, diese natürlichen von pathologischen zu unterscheiden.[16] Auch stehen weibliche Hormone wie Östrogen und Progesteron im Verdacht, zu einer erhöhten Sensibilität zu führen, während das androgene Testosteron eher unempfindlich macht.[17] So ist auch die Theorie zu erklären, dass Frauen in ihrer reproduktiven Lebensspanne, also der Zeit von der ersten bis zur letzten Periode, stärker als Männer von Schmerzen betroffen sind, während sich das Verhältnis mit Beginn der Menopause angleicht beziehungsweise sogar umkehrt.[18] Auch innerhalb des Zyklus schwankt das weibliche Schmerzempfinden, am Tag des Eisprungs ist es beispielsweise um 70 Prozent gesenkt.[19] Während einer Schwangerschaft mischt sich der Hormoncocktail noch mal ganz neu, womit zumindest teilweise zu erklären ist, wie das angeblich schmerzempfindliche Geschlecht die Geburt übersteht, wobei allerdings auch Endorphin-Ausschüttung eine Rolle spielt.5 Die These, Hormone seien für Schmerzempfindlichkeit verantwortlich, stützt auch, dass zu Frauen gewordene Personen nach einer Geschlechtsumwandlung über mehr Schmerzsituationen und ein erhöhtes Empfinden berichten, bei transistierten Männern ist es umgekehrt.[20]6
Es gibt Studien, die Frauen eine höhere Hitzetoleranz zuschreiben, aber auch solche, die auf die raschere Entwicklung einer entsprechenden Überempfindlichkeit hindeuten. Manche stellen fest, dass sich chronische Schmerzen anders im Gehirn bemerkbar machen,[21] andere kommen zu dem Schluss, Frauen könnten besser mit organischen, Männer mit durch äußerliche Wunden herbeigeführten Schmerzen umgehen.[22] Außerdem scheint bei ihnen die endogene Schmerzhemmung besser zu funktionieren, also die Fähigkeit des Körpers, in einer Extremsituation den Schmerz kurzzeitig zu unterdrücken.[23] Einer 2013 in den USA durchgeführten Studie zufolge bewerten Frauen hohen Druck und elektrische Stimulation als unangenehmer als die männlichen Teilnehmer.[24] Wobei auch hier zur Diskussion steht, ob Letztere wirklich weniger empfinden oder ihrem Unwohlsein nicht eher aufgrund von Konventionen weniger Ausdruck verleihen. All diese Studien sehen sich nämlich mit denselben zwei Problemen konfrontiert. Erstens: Schmerz ist nicht objektiv messbar. Zweitens: Niemals handelt es sich um ein rein körperliches Empfinden, sondern immer um ein psycho-soziales. Ziemlich viele Widersprüche, würde ich sagen. Von sehr »eindeutigen Ergebnissen« hinsichtlich der unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung spricht die Schmerzforscherin und Anästhesistin Esther Pogatzki-Zahn, gibt aber gleichzeitig zu, dass es sich um ein sehr junges Forschungsfeld handelt.[25] Anders sieht es jene kanadische Überblicksstudie aus dem Jahr 2012, in welcher die Schmerzforscherin Mélanie Racine die Forschungsergebnisse der vorangegangenen zehn Jahre bewertet.[26] Als gesichert gilt demnach, dass Frauen früher auf Druck und durch hohe oder niedrige Temperaturen ausgelöste Schmerzen reagieren. Abgesehen davon seien die geschlechtsspezifischen Unterschiede längst nicht so gravierend wie angenommen. Auch die Neuropsychologin Karen J. Berkley bemerkt Unterschiede im Empfinden, die allerdings stark von der Reizart und -dauer abhängig sind, der Umgebung der betroffenen Person und sogar davon, was sie gegessen hat. Berkleys Fazit: »Es spielen so viele Variablen eine Rolle, dass das auffälligste Merkmal der geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Schmerzerfahrung darin besteht, dass sie offensichtlich insgesamt nicht vorhanden sind.«[27]
Noch schwerer messbar als körperlicher Schmerz ist dessen psychische Variante. Im Prinzip unmöglich. Und doch wird auch dieser notdürftig in ein Schema gepresst. 1980 gestand die American Psychiatric Association langfristig Trauernden in ihrem Diagnosekatalog ein Jahr Verarbeitungszeit zu. Im Jahr 2000 reduzierte sich diese Zeitspanne auf zwei Monate, und in der fünften, 2014 erschienenen Auflage des sogenannten DSM-Katalogs7 waren es gerade mal zwei Wochen.[28] Sichtbare Trauer passt nicht in unsere auf Effizienz und Positivität ausgerichtete Gesellschaft, ebenso wenig wie Tod. Bereits 1965 bemerkte der britische Sozialanthropologe Geoffrey Gorer eine »ethische Pflicht, Spaß zu haben« beziehungsweise einen »Imperativ, nichts zu tun, was den Spaß anderer verringern könnte«[29]. Dabei kann seelisches Leid nicht nur genauso belastend sein wie körperliches, sondern dieses sogar bedingen. Einer US-Studie zufolge sind bei Liebeskummer dieselben Gehirnareale aktiv wie bei körperlichen Schmerzen.[30] Im Extremfall kommt es zum Broken-Heart-Syndrom, einer plötzlich auftretenden Funktionsstörung des Herzmuskels, mit herzinfarktähnlichen Symptomen. Auslöser sind emotionale Ausnahmezustände wie eine Trennung oder der Verlust eines nahestehenden Menschen. Betroffen sind in 90 Prozent der Fälle Frauen in den Wechseljahren, weil diese das vor Stress schützende Hormon Östrogen nicht mehr bilden.[31] In früheren Zeiten fand ein solcher emotionaler Ausnahmezustand seinen Ausdruck in Kleidung. Dass Witwen mindestens ein Jahr lang auf diese Art ihren Verlust bekundeten, scheint heute undenkbar. Einer von der Universität Zürich durchgeführten Onlineumfrage zufolge empfinden 40 Prozent »zu lange« trauernde Familienmitglieder oder Freunde als Belastung.[32] Was heißt zu lange, eine Woche, ein Monat, ein Jahr? Fest steht: Wir wollen den Schmerz der anderen nicht sehen. Möglicherweise aus Bequemlichkeit, aber wohl auch aus Angst, ihn selbst empfinden zu müssen.
Dass seelischer Schmerz aller Verdrängung zum Trotz seinen Weg findet, beweist die Volkskrankheit Nummer eins. Dreieinhalbtausend Jahre alte Papyrusrollen deuten darauf hin, dass sich schon die alten Ägypter mit Depressionen herumschlagen mussten.[33] In Deutschland ist heute jeder Fünfte bis Sechste mindestens einmal im Leben depressiv, Frauen doppelt so häufig wie Männer[34] – so jedenfalls die gängige Annahme. Dabei können sich die Symptome ganz unterschiedlich äußern. Während Frauen tendenziell eher von Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, übermäßigen Schuldgefühlen oder exzessivem Grübeln betroffen sind, kommt es bei Männern zu Reizbarkeit, Wut, Aggression, erhöhtem Risikoverhalten, Kopf- oder Magenschmerzen. Häufig begegnen sie dem mit Substanzmissbrauch, von Alkohol über Drogen bis hin zu Glücksspiel.[35] Einen Arzt ziehen sie meistens erst zurate, wenn die Arbeitsleistung leidet. Tatsächlich sind Depressionen ein seltenes Beispiel für eine geschlechtsmedizinische Ungerechtigkeit, unter der Männer mehr zu leiden haben. Aufgrund von Symptomen, die den weiblich-standardisierten widersprechen, und der Tatsache, dass sie weniger bereit sind, über seelisches Leid zu sprechen, bleibt die Krankheit bei ihnen häufig unentdeckt. Mit gravierenden Folgen: Bei Suiziden liegt das Verhältnis von Männern und Frauen bei drei zu eins.8 Wenn man weiß, dass 70 Prozent im Zusammenhang mit einer Depression verübt werden, liegt der Verdacht nahe, dass das tatsächliche geschlechtliche Ungleichgewicht viel geringer ist als angenommen oder es möglicherweise sogar entgegen der Annahme mehr depressive Männer als Frauen gibt. Andererseits wird 30 bis 50 Prozent der Frauen fälschlicherweise eine Depression attestiert, obwohl Atemnot, Erschöpfung und Schlaflosigkeit auch Hinweise auf andere Erkrankungen sein können.[36] Überraschenderweise zeigen wenige Monate alte männliche Säuglinge mehr emotionale Regungen als weibliche, erst ab dem Grundschulalter kehrt sich das Verhältnis um.[37] Der Verdacht liegt nahe, dass ihnen Gefühle regelrecht aberzogen werden, zum Beispiel dadurch, dass sie bei Alltagsverletzungen weniger Zuwendung erfahren als Mädchen, was bei diesen wiederum zu gesteigerter Empfindlichkeit führt, weil sie lernen, dass auf Schmerzbekundung Zuwendung folgt.[38]
1973 stellte der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter fest: »Wer männlich sein will, darf – jedenfalls nach der herkömmlichen Norm – nicht ›wehleidig‹ sein. Dieses anerzogene und von Kindheit auf allmählich verinnerlichte Leitbild erlegt den Männern einen spezifischen Zwang zur Verdrängung und Verleugnung ihrer Schwierigkeiten und Leiden auf.«[39]