Inhaltsverzeichnis
Zur Erinnerung an Christian
Geleit- und Vorwort Prof. Dr. Franco Rest, Dortmund
Einleitung
An einem Tag wie jeder andere
Copyright
Zur Erinnerung an Christian
für seinen Vater, seine Geschwister, für Lutz und mich - seine Mutter -, für seine gesamte Familie.
Zur Erinnerung an Christian, der als Mensch geboren wurde und als Recyclingware endete. Es ist der Versuch, ihm seine Gestalt und Individualität zurückzugeben, die ihm die Transplantationsmedizin durch die Entnahme seiner Organe genommen hat.
Geleit- und Vorwort Prof. Dr. Franco Rest, Dortmund
Im Zusammenhang mit der Thematik »Organspende« konzentrieren sich alle Überlegungen immer wieder auf die organbedürftigen Menschen. Dabei gerät das Leben der »Organspender«, also der zumeist verunfallten Menschen, fast völlig aus dem Blickfeld. Würde man sterbende Menschen fragen können, wie sie sterben möchten, so träten wohl folgende Merkmale in den Vordergrund: Sterbende Menschen möchten ihr Leben ungestört, unverzögert, unbeschleunigt, persönlich, sozial integriert, spirituell angenommen, schmerzkontrolliert, losgelassen, aber nicht allein, einsam, aber nicht vereinsamt, begleitet, im Frieden mit sich selbst und der Umwelt sowie lebenssatt vollenden können; und für ihre Familie und Freunde würden sie eine gelingende begleitende und nachgehende Trauer wünschen.
Wenn wir uns diese Stichworte anschauen, müssen wir feststellen, dass die Transplantationsmedizin mit dieser »Sterbenssehnsucht« der Menschen nahezu nichts mehr zu tun hat. Das vorliegende Buch von Renate Greinert bestätigt diese Feststellung in jeder Hinsicht. Da sogenannte Hirntote keine Leichen sind, sondern Menschen, die in absehbarer Zeit zwar tot sein werden, sich aber jetzt noch im Sterbeprozess befinden, benötigen sie eine besondere Begleitung. Im Sterben wird noch intensiv gelebt. Wenn sich ein Mensch im Sterben befindet, sollten wir nicht mehr gegen den Tod, auch nicht gegen den Tod eines organbedürftigen Menschen arbeiten, sondern dem Sterbenden ein durchlebtes, also »lebendiges Sterben« ermöglichen. Da das Interesse der Transplantationsmedizin jedoch auf das Leben des Organempfängers festgelegt ist, gerät die Lebensvollendung des Sterbenden und seiner Angehörigen aus dem Blickfeld. Deshalb sind uns die genannten Adjektive eines »Sterbeideals« so wichtig geworden.
Ungestört: Wir mischen uns nicht ein in das Sterben, weil es nur dem Sterbenden gehört. Organentnahmen sind aber meistens Einmischungen brutalster Art. Nicht die Mediziner, sondern der sterbende Mensch sollte seinen Tod gestalten können. Begleitung ist Nicht-Einmischung, Zurückhaltung von sterbensverlängernden Maßnahmen aller Art, wie sie z.B. in der Vorbereitung einer Organentnahme notwendig sind.
Unverzögert: »Begleitung in Beziehungen« kennt keine Verzögerungen des Sterbens, wie sie zur Vorbereitung einer Organentnahme notwendig sind. Bei wirklich sterbenden Menschen haben Bluttransfusionen, Beatmung, Schmerz- und Betäubungsmittel dann einen Sinn, wenn dadurch das Sterben einen »besseren« Verlauf nimmt. Die Hirntoddiagnostik und -protokollierung kann sich über mehrere Tage hinziehen. Bei über 30 % der Fälle dauerte es nach der Hirntodfeststellung noch über 12 Stunden bis zur Organentnahme.
Unbeschleunigt: Das richtet sich zunächst gegen alle Formen der aktiven Sterbehilfe oder Euthanasie. Die Hoffnung, durch eine Organentnahme würde der Sterbeverlauf abgekürzt, ist trügerisch.
Persönlich: Der begleitete Sterbende ist nicht »die Lunge oder das Herz oder die Leber von Zimmer X«. Sein Sterben ist etwas Individuelles, Einzigartiges. Wir wissen nur, dass der Mensch stirbt, niemals aber, wie er sterben wird; das ist allein von seiner Persönlichkeit bestimmt, also nicht von Apparaturen, Ärzteteams, Interessenkonstellationen usw. Bei der Organentnahme wird der Persönlichkeitsverlust des Sterbenden eher hingenommen.
Sozial integriert: Kein Sterbender sollte aus den sozialen Bindungen und Beziehungen (Familie, Freundeskreis) herausgerissen werden. Und die begleitenden Angehörigen sollten bei der Erfüllung dieser Aufgabe ebenfalls nicht alleingelassen werden. Zur Organentnahme aber werden die Sterbenden von den Angehörigen und Freunden getrennt.
Spirituell angenommen: Im Blick auf das Sterben haben die Menschen trotz des sogenannten Hirntods möglicherweise weiter ihre eigenen Bilder, Visionen, Sehnsüchte. Gerade auf dem gemeinsamen Weg von Sterbenden und Angehörigen ereignet sich vieles, was im Transplantationsgeschehen oft verloren geht. Für die Hinterbliebenen zieht sich der Tod auseinander, sodass es plötzlich mehrere Tode und also auch mehrere Abschiede geben muss: der diagnostizierte Tod infolge der Hirntoddiagnose, der tatsächliche Tod infolge der Organentnahme und dann der endgültige Tod. Die damit verbundenen Bilder, Visionen, Sehnsüchte geraten ins Trudeln.
Schmerzkontrolliert: Sterbebegleitung ist auch Schmerzkontrolle durch angemessene Medizin und durch Beziehung; viele Schmerzen sind durch Mangel an Liebe und Zuwendung verstärkt. Die Kontrolle eventuell vorhandener Schmerzzustände entfällt bei der Transplantation für den Sterbenden weitgehend; die Angehörigen werden als Störfaktoren begriffen. Die Verwendung von Betäubungsmitteln zur Vorbereitung von Organentnahmen mildert diese Feststellung keineswegs.
Losgelassen, aber nicht allein: Genau in diesem Spannungsbogen versuchte Renate Greinert zu überleben, als sie ihren Sohn zwar loslassen, aber nicht alleinlassen wollte. Und ihr Sohn starb gerade nicht einsam, sondern vereinsamt; das war das Elend dieses im vorliegenden Buch geschilderten Sterbens.
Begleitet: Begleitung des Sterbenden entfällt bei der Organentnahme nahezu völlig, trotz der vielen Menschen, die um ihn sind. Begleitung ist »Geleit-Gabe« der vertrauten Lebenden für den Gehenden am Scheideweg des Todes.
Im Frieden mit mir selbst und meiner Umwelt: Niemand interessiert sich für den Frieden, welchen der Sterbende sucht. Die Atmosphäre der Transplantation ist eher hektisch als friedvoll. Also wird auch nicht »lebenssatt« gestorben; aber am angenehmsten stirbt, wer »lebenssatt« stirbt. Sterbegeleit sollte ein Beitrag zur Lebenssättigung sein; und lebenssatt kann nur sterben, wer bis zum Schluss hat leben dürfen. Wer noch Hunger hat an Leben, soll erwarten dürfen, dass er Lebensnahrung erhält, jedoch nicht »auf Kosten« eines anderen. Der Lebenshunger eines Organbedürftigen kann nicht durch die Verweigerung von Lebensnahrung für einen Sterbenden gestillt werden.
Die nach einem Unfall nun Sterbenden würden außerdem ihrer Familie und den Freunden eine gelingende begleitende und nachgehende Trauer wünschen. Die begleitende Trauer, begleitend zum Sterben und Tod des vertrauten Menschen, ist durch die Bedingungen der Transplantationszentren weitgehend verhindert: keine wirkliche Offenheit in der Verlustverarbeitung; ein erdrückendes Zeitmanagement durch die Regelabläufe; Unterwerfung unter die Erfordernisse der Transplantation; die Trennung des Sterbenden von den Zurückbleibenden; fehlende Teilnahme am abschließenden Sterben und am Tod. Und an dem seiner Organe verlustig gegangenen Leichnam zu trauern, ist ein beraubtes, grausames, letztlich unzumutbares Trauern.
Dies aus persönlicher Betroffenheit dargelegt zu haben, ist ein besonderes Verdienst des vorliegenden Buches.
Einleitung
Am 4. Februar 1985 verunglückt mein Sohn Christian bei einem Verkehrsunfall so schwer, dass er schon an der Unfallstelle versucht zu sterben. Er wird nicht in unser hiesiges Krankenhaus transportiert, sondern mit dem Rettungshubschrauber in die Universitätsklinik geflogen. Schon am Hubschrauberlandeplatz erscheinen die ersten Transplantationsmediziner und werfen einen Blick auf ihn. Während wir Eltern und meine Familie glauben, dass alles zu seiner Rettung unternommen wird, verfolgt die Transplantationsmedizin ein ganz anderes Ziel. Sie versucht sein verlöschendes Leben zu erhalten, während sein Hirn durch eine Schwellung und Blutung immer mehr versagt, um mit seinen lebendigen Organen andere Menschenleben zu retten.
Nur mit vordergründigen Informationen versorgt, unwissend, welche Vorraussetzung eine Organentnahme hat, haben wir im tiefsten Schock, ohne überhaupt entscheidungsfähig zu sein, einer Organentnahme zugestimmt, als Mediziner uns seinen Tod mitteilten.
In der Hoffnung, dass sich alles als schlechter Traum erweist, dass im Sarg nicht Christian liegt, habe ich darauf bestanden, meinen Sohn vor seiner Beerdigung noch einmal zu sehen. Ich war in keiner Weise darauf vorbereitet, welcher Anblick sich mir bot. Mein Sohn sah aus wie eine ausgenommene Gans, als Mensch so würdelos, so verletzt.
In diesem Augenblick bin ich aufgewacht, mit einem entsetzlichen Gefühl des Versagens als Mutter, einem Schmerz, der mich sprachlos machte, einer Schuld, die mir den Atem nahm, mit dem Wunsch, das Geschehen zu begreifen und wieder gutzumachen, mit dem Wunsch, dass nie wieder so etwas passiert, wenn ich es verhindern kann.
Es sind zwei Jahrzehnte seit dem Tod meines Sohnes vergangen. Ich brauchte eine lange Zeit, um das Unaussprechliche in Worte zu fassen, um zu begreifen - gegen den Trend der Zeit -, dass Organtransplantationen etwas Unmenschliches sind. Aber mein eigenes Begreifen allein reichte nicht aus. Durch meine Arbeit in der Initiative Kritische Aufklärung über Organtransplantation treffe ich bis zum heutigen Tag immer wieder Menschen, denen es so ergangen ist wie mir, die unaufgeklärt zu einer Organspende manipuliert wurden. Die Gier nach Organen wächst, das Spiel um Leben und Tod wird immer erbitterter geführt, ohne dass die Gesellschaft eine Chance hat zu begreifen, was es für sie tatsächlich heißt, Organe zu spenden. Mit meinen Erfahrungen möchte ich ein Gegengewicht setzen zu der seit vierzig Jahren einseitig werbenden Aufklärung der Transplantationsmedizin, damit sich andere anhand unserer Erlebnisse und Erfahrungen eine Meinung bilden, vorausschauend auf Folgen, die durch eine Zustimmung zur Organentnahme entstehen können.
Mit der Transplantationsmedizin sind wir am Ende eines Weges angelangt, den wir vor Jahrhunderten schon begannen zu gehen, auf dem sich die heutige Medizin entwickelte. Die einzelnen Stationen, das Anatomische Theater, die Menschenund Tierversuche zu allen Zeiten und besonders im »Dritten Reich«, haben wir vergessen, sind uns nicht bewusst oder haben wir verdrängt.
Ich habe gelernt, dass durch den Verlust unserer Sterbekultur, bedingt durch Umweltkatastrophen, Pest und andere Seuchen, beginnend schon im Mittelalter, sich eine Kultur entwickeln konnte, die Randgruppen von Menschen als Objekte betrachtet, die erforscht werden müssen, können und dürfen, damit sich medizinische Möglichkeiten weiterentwickeln, von denen dann die Gesellschaft profitiert.
Unserer Gesellschaft als Nutznießer dieser Forschung ist es nicht bewusst, worauf die Errungenschaften unserer Medizin beruhen. Wir haben den Kontakt zu unserer Geschichte verloren. Unsere Maßstäbe zur Beurteilung der Transplantationsmedizin können das Geschehen einer Organentnahme nicht mehr einordnen. Mögliche Orientierungspunkte werden durch Wortspielereien verändert: Eine Organentnahme wird zur Organspende, der Akt des Tötens und der Tod durch eine neue Definition, den Hirntod, ersetzt.
Als Geheimwissen praktiziert, mit Bruchstücken von Informationen versehen, folgen wir den Argumenten der Transplantationsmedizin, dass »Leben um jeden Preis« richtig ist, ein menschlicher, akzeptabler Weg, dem man folgen muss. Wir wollen auf keine Errungenschaft der Medizin verzichten, solange wir nicht Opfer sind.
Der Kernpfeiler unserer christlichen Kultur - »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und Gott über alles« - wird verstümmelt zu »Liebe deinen Nächsten« und verliert seine Stabilität. Er wird überlagert vom Wunsch der Transplantationsmedizin, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und das Recht des Einzelnen durchzusetzen, auf Kosten anderer zu überleben.
Die Transplantationsmedizin zwingt uns zu Tabubrüchen, die wir als solche nicht mehr erkennen. Sie greift ins Sterbegeschehen ein, sieht den Menschen als Summe von verwertbaren Einzelteilen, mit denen sie Organe von Dritten austauschen kann. Die Transplantationsmedizin degradiert den »Spender« zum Recyclingobjekt, den Empfänger zum »Legomännchen«, umbau- und einbaufähig.
C.G. Jung sagte einmal: »Trennt man den Menschen von seiner Kultur und Tradition, muss er an den Anfang seiner Menschwerdung zurück.« Ich bin dankbar, dass ich auf meiner Suche nach Maßstäben auf schamanistisches Wissen gestoßen bin, das lange vor unserer Kultur existierte und das mir half, die Transplantationsmedizin einzuordnen als Schwarze Magie, aus der sich die modernste Form des Kannibalismus entwickeln konnte. Der Mensch reißt nicht mehr seinem Gegenüber die Organe zur eigenen Kraftgewinnung aus dem Körper und frisst sie auf, nein, er legt sich auf einen Operationstisch, schließt die Augen und lässt einverleiben.
Unsere empirische Wissenschaft hat sich über Jahrhunderte entwickeln können, aber die Beurteilung dessen, was wir tun, welche Folgen es für uns hat, wenn wir nicht mehr »glauben« können, nur noch »wissen«, ist auf der Strecke geblieben. Ethische Einwände werden belächelt, zurückgewiesen, gelten als rückständig und dem Fortschritt hinderlich.
Christians Tod liegt jetzt mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Man könnte meinen, die Aktualität unserer Problematik ist längst nicht mehr gegeben. Aber solange die Gesellschaft den »Hirntod« weiter als Tod begreift und nicht als einen Moment im Sterben eines Menschen, ist der erste Schritt zum Begreifen nicht getan. Die Diskussion hat noch gar nicht begonnen.
Ich schreibe Christians Geschichte zur abschließenden Klärung für mich und meine Familie, so genau wie möglich, mit allen Gefühlen des Schmerzes, der Trauer und der Wut. Es ist unsere Geschichte, aber es könnte auch Ihre werden, wenn Sie sich nicht rechtzeitig und umfassend informieren.
Die Möglichkeiten der Transplantationsmedizin zwingen uns, rechtzeitig Antworten zu finden, bevor die Frage nach der Organentnahme gestellt wird, zu unserem eigenen Wohl, um nicht überrollt zu werden von Ereignissen, die uns unsere normale Sicherheit, unseren Halt im Leben rauben können.
An einem Tag wie jeder andere
Heute ist Montag, der 4. Februar 1985. Es ist der erste Schultag nach den Halbjahreszeugnissen. Christian, mein 15½-jähriger Sohn, poltert die Treppen hinunter. Schick sieht er aus in seiner roten Hose und der grauen Cordjacke und ich freue mich, dass ich mich überwunden habe, die Hose im Eilverfahren doch noch zu kürzen. Wie immer musste es jetzt und sofort sein, zu einem Zeitpunkt, als ich etwas ganz anderes zu tun gedachte. Aber sein Blick war so drängend, es schien ihm so wichtig zu sein. Die herzliche Umarmung, die mich überraschend berührte, ließ mein Gesicht strahlen und ein letzter, schon schwächer werdender Protest erstickt in seiner Freude.
Mein Sohn steht nun vorm Spiegel, auf einem Bein, das andere an den Körper gezogen, die Arme in Schulterhöhe, ein bisschen angewinkelt, die Finger geöffnet, in totaler Konzentration auf den Kranichsprung. Die Kräfte versammelt, springt er plötzlich in die Luft, winkelt das Standbein an, das andere Bein wird im selben Moment blitzschnell gestreckt und wieder angezogen. Na, und nun müsste er wieder auf dem Standbein landen und fest stehen. So ganz hat es nicht geklappt, aber es wird schon besser. Es rührt mich an, wie er sich seit Wochen um Perfektion bemüht. Ich verkneife mir ein liebevolles Lächeln.
Der Weg zur Individualität ist verschlungen und voller Möglichkeiten. Eine davon leuchtet mir nun mit seinem dichten Haarschopf entgegen. Gestutzt auf zwei Zentimeter Länge, sind die Spitzen der eigentlich schwarzen Haare hellblond gefärbt. Steil in die Höhe gegelt, sieht er aus, als ob er sich das Fell eines Bären über den Kopf gestülpt hätte. »Ob seine heimliche Flamme ihn wohl cool findet?« Auch wir sind in unserem Urteil gefragt und ziehen uns vorsichtig distanziert mit einem: »Sieht interessant aus!« aus der Klemme. Unsere Antwort wird zufrieden aufgenommen! War wohl genau richtig!
Mitten in der Pubertät, wird Christian hin- und hergerissen von seinen Gefühlen, mal ist er cool wie sein Vater, mal weich und verletzlich, verschließt sich, wenn der für ihn richtige Ton nicht getroffen wird. Seine Stimmungslage kippt in alle Richtungen. Seine Welt ist voller Widersprüche, er probiert aus, testet unsere Reaktionen. Wenn ich ihn gerade aus tiefstem Herzen abscheulich finde, er mich reizt bis zur Schmerzgrenze, lebt er »coole Distanziertheit«, meint er jedenfalls. Aber auch unser Verhalten, unsere Spielregeln reizen ihn, fordern zu Protest auf. Kritisch uns gegenüber, lässt ihn unsere Kritik einschnappen und für Stunden sich abschotten in seiner Welt. Nur noch Matti, sein kleiner Bruder, hat immer, und besonders in Krisen, direkten Zugang zu ihm, egal, wie verquer er gerade ist. Manchmal ertappe ich mich dabei, Matti vorzuschicken, wenn ich überhaupt keinen Weg zu ihm finde.
Aber jetzt läuft es offenbar zu seiner Zufriedenheit. Dieser Kranichsprung war wohl gelungener als der letzte. Er verschwindet im Bad und erscheint, gut nach »Borsalino« duftend und mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Die Gelegenheit war zu günstig! Mein Mann ist schon im Werk, Christian hat sich üppig an seinem Duftwasser bedient.
Ganz kurz spiegeln wir uns in der Eingangstür. Ich gehe ihm nur noch bis zum Kinn. Wann hat er denn diesen Schuss getan?
Es ist jetzt 7.30 Uhr. Christian muss los, die Schule beginnt um 7.50 Uhr. Seine Freunde werden irgendwo auf dem Schulweg warten. Er freut sich auf sie. Es gibt so viel zu erzählen.
Sie haben alle ein einwöchiges Berufsfindungspraktikum hinter sich gebracht. Christian lernte sieben Tage bei einem Fahrradhändler in der Werkstatt, Fahrräder zu reparieren. Nicht ohne Grund hat er sich diesen Praktikumsplatz ausgewählt. Sein eigentliches Interesse gilt seinem eigenen Mofa, das er von einem Vetter aus Bayern geschenkt bekommen hat und in den letzten Ferien nach Wolfsburg mitbrachte. Das Mofa ist sein ganzer Stolz. Seine Freunde beneiden ihn glühend um diesen fahrbaren Untersatz. Alle durften schon mal ein Weilchen darauf sitzen, richtig fahren konnte man bis jetzt noch nicht. Das Praktikum beim Fahrradhändler kam wie gerufen. In jeder Mittagspause wird das Mofa nun auseinandergenommen, unter fachkundiger Anleitung repariert und auf Hochglanz gebracht. Jetzt steht es in der Garage und wartet auf die ersten Probefahrten. Ich wette, heute Nachmittag wird bei uns großer Andrang herrschen.
Ich war hocherfreut, dass Christian diesen Praktikumsplatz gewählt hatte, und hatte darauf spekuliert, dass er in Zukunft sein Fahrrad selber reparieren würde. Im Stillen hatte ich die Taten der Zukunft schon in der Gegenwart erwartet und gehofft, er würde sich mal sein Fahrrad vornehmen und endlich die Beleuchtung in Ordnung bringen, die schon seit dem Sommer, als er mit seinem Vater nach Bayern geradelt war, defekt war. Bis das Mofa auftauchte, gab es zum Fahrrad keine Alternative. Die Kinder flitzten mit ihren Rädern durchs Dorf, mal zum Teich, zur Riede oder in den Wald. Seit Neuestem auch wieder zum Spielplatz, wo sie von Mädchen erwartet werden.
Christian besucht die 10. Klasse im Gymnasium. Schule interessiert ihn nur am Rande. Lars, Ralf, Frank und die anderen Freunde sind ihm wichtig. Die Lehrer beklagen regelmä ßig sein Desinteresse im Unterricht, aber seine Leistungen sind trotzdem gut. Er lernt den Stoff am Nachmittag in Windeseile allein zu Hause und macht trotz unserer Ermahnungen weiter seine Witzchen und Dönekens. Der richtige Respekt vor den Lehrern fehlt ihm. Vielleicht kein Wunder, ich bin ja auch Lehrerin, und Kollegen, die ihn unterrichten, sind Freunde von uns. Solange seine Schulkarriere anders verläuft als meine, will ich zufrieden sein. Ich habe auch selten im Unterricht aufgepasst, habe aber anders als er nicht zu Hause nachgeholt, sondern bis zur nächsten Arbeit gewartet und dann meine Kräfte in »Spickzettel« gesteckt.
Christian rast noch einmal die Treppen rauf, ein vergessenes Heft zu holen, um im nächsten Atemzug durch die Haustür zu flitzen.
Dachte ich es mir doch, jetzt will er mein Fahrrad nehmen. »Aber das brauche ich doch selber.« Mein energischer Protest lässt ihn das eigene Fahrrad schnappen. Mit einem letzten Indianerabschiedsgebrüll für seinen kleinen Bruder Mathias verschwindet er um die Ecke.
Ich schaue ihm nach, gucke, welchen Weg er nimmt. Aha, er nimmt die längere Strecke an der Straße entlang. Christian weiß, dass die Polizei regelmäßig auf der Strecke seines Schulwegs durch die Felder die Beleuchtung kontrolliert und dieser Begegnung will er aus dem Wege gehen, weil seine Fahrradlampe kaputt ist. Manchmal ist er eine tüchtige Bangebüxe, wie ich. Ich z.B. trete sofort auf die Bremse, sobald im Rückspiegel oder vor mir ein Polizeiauto auftaucht.
Mathias bleibt an der Haustür stehen. Gleich kann er seinen Bruder noch einmal sehen. Richtig, da rast er und vergisst nicht, noch einmal zu winken und das beliebte Gebrüll auszustoßen. Der kleine Bruder ist glücklich, reißt die Arme hoch, sein ganzer Körper winkt mit.
Ein Blick auf die Uhr. 7.40 Uhr. Um Himmels willen!I
Ich muss mich ranhalten, gleich wird Tims Mutter vor der Tür stehen und Mathias zum Kindergarten abholen. Der saust noch im Schlafanzug herum. Ein kurzer Griff, ich habe meinen Jüngsten im Arm und wir ziehen ab ins Kinderzimmer, zum Anziehen. Ich hebe ihn auf die Fensterbank, für mich ist das die richtige Höhe und für ihn ist es interessanter, weil er gleichzeitig die Straße beobachten kann.
Ihr Auto hält vor unserem Haus, sie winkt zu uns herauf. Nur noch eine Schleife binden, Anorak anziehen, dann ist auch Mathias für die nächsten drei Stunden verschwunden.
Meine letzte Begegnung mit Tims Mutter fällt mir ein. Vor zwei Wochen etwa besuchte sie mich abends und plauderte mit mir am Küchentisch. Ich hatte Zeit, mein Mann war auf Dienstreise. Ich höre gerne zu, ich finde auch an jedem Menschen etwas Interessantes. Wir wohnen noch nicht lange in diesem kleinen Dorf, in unserer Umgebung sind lauter neue Häuser gebaut. Ich freue mich über Kontakt.
Tims Mutter geht es nicht gut. Sie erzählt mir, dass sie das »Dritte Gesicht« hat. Mein Gesichtsausdruck ist fragend. Um zu erklären, was das ist, holt sie weiter aus. Ihr Großvater hatte das schon. Er und sie sehen Dinge, die erst in der Zukunft passieren, schreckliche Dinge oft. In meinem Innersten denke ich: so ein Quatsch! Ich mag nicht lauthals lachen, weil ich das für unmöglich halte und es nicht in mein Weltbild passt, sie sieht so bekümmert aus und angestrengt. Es kostet sie auch ganz viel Kraft, mit diesen »Realitäten« umzugehen, gerade jetzt plagt es sie wieder vehement und sie hofft auf das Ende. Sie steht abrupt auf und drückt meine Hand ganz fest: »Ich wünsche Ihnen viel Kraft.« Mir ist bei so viel Intensität nicht wohl, ihr Blick ist so drängend. Ich bin froh, als sie ihren Sohn schnappt und sich verabschiedet. »Hätte ich ihr doch kein Glas Wein anbieten sollen?«
Ich wische die verwirrenden Gedanken besser zur Seite und konzentriere mich auf meine Hausarbeit.
Ich bin nicht der Typ der begeisterten Hausfrau. Putzen und Aufräumen schiebe ich so lang wie möglich auf, um Wäscheberge gehe ich eine Weile herum. Gartenarbeit, mit den Kindern durch den Wald stromern, Pflanzen und Tiere beobachten, das hingegen begeistert mich.
Ich habe meine ersten Lebensjahre in Krefeld verbracht, in einer alten, mit Glyzinien und Efeu bewachsenen Villa, die mitten in einem Park stand. Von der Straße waren wir durch ein hohes schmiedeeisernes Tor abgeschirmt. In meiner Erinnerung habe ich die Grenzen nie ausgelotet, für mich war der Park riesig, grenzenlos. Wir stromerten frei, ohne Erwachsene durch die Natur und fanden hier unsere Spielideen. Ich habe wunderschöne Erinnerungen an meine Kindheit, an Indianerspiele unter Hängeweiden, deren zusammengeflochtene Zweige mal Tipi, mal Schaukel sein konnten; an Laubburgen, in die man sich warf, ohne je den harten Untergrund zu spüren.
Unser Paradies mussten wir, als sich unsere familiären Verhältnisse änderten, abrupt verlassen. Wir zogen in die Großstadt, in eine zerbombte Straße, und fanden da ganz andere Abenteuer.
Meine Sehnsucht nach diesem frühen Paradies habe ich mir immer bewahrt. Von dem Moment an, als ich meine eigene Wohnung hatte, habe ich darauf geachtet, in der unmittelbaren Nähe eines Waldes zu sein. Zurzeit genießen wir es noch mehr: Hinter unserem Haus fließt ein Bächlein. Die Kinder ziehen Schuhe und Strümpfe aus, fischen sich Froschund Krötenlaich, fangen mit bloßen Händen Moderlieschen und Stichlinge. Im Wald, in kleinen Tümpeln, entdecken wir Molche und sogar Feuersalamander. Wir haben Familiengeheimstellen, ein paar Feuchtwiesen, auf denen Orchideen - Knabenkraut - und Himmelsschlüsselchen wachsen, selbst Schneeglöckchen und Krokusse haben wir schon entdeckt.
Unsere Kinder laufen nur über die Straße, an ein paar Weiden mit Hochlandrindern vorbei, und schon finden sie ihre Paradiese.
Seit Mattis Geburt arbeite ich nicht mehr im Schuldienst. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die alles unter einen Hut kriegen, die tolle Mütter sind, selbstverständlich tüchtig im Beruf, interessant als Ehefrau und die gleichzeitig selber rundherum glücklich sind. Seitdem mir mein Körper gezeigt hat, dass ich bei einem solchen Leben auf der Strecke bleibe, habe ich den Schuldienst quittiert. Ich unterrichte stattdessen stundenweise in der Volkshochschule im Fachbereich Pädagogik. Ich arbeite mit Müttern und Kindern im Vorschulalter, im kreativen Bereich. Ich erzähle Märchen, während Mütter und Kinder mit einem Klumpen Ton spielen und ihre beim Zuhören empfundenen Gefühle in Ton ausdrücken, eindrücken.
Für mich ist faszinierend, was Kinder wie Erwachsene nonverbal durch ihr Werk erzählen, wie sie gleichzeitig dabei ihre Probleme bearbeiten, ohne sie je sprachlich ausdrücken zu müssen. Ein kleiner Junge zum Beispiel zerriss einen großen Klumpen Ton in lauter kleine Fetzen, die er dann zu Inseln platt klopfte, immer wieder, über viele Wochen. Im Laufe des Semesters ergänzte er eine Insel um eine Palme und ein Gefängnis. In dieses Gefängnis setzte er einen kleinen Menschen hinter einem unüberwindbaren Gitter. Vom Vater erfuhr ich, dass die Eltern getrennt lebten. Die Mutter war mit der Schwester im alten Zuhause geblieben, und er war mit seinem Vater in unseren Ort gezogen. Nicht immer kann man die Sorgen
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