Unvollständige Erinnerungen - Inge Jens - E-Book

Unvollständige Erinnerungen E-Book

Inge Jens

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Beschreibung

Sie erntete Ruhm als Editorin von Tage­büchern und Briefwechseln und wurde mit ihren Biographien über Katia Mann und Hedwig Pringsheim zur Bestsellerautorin. Von ihrem eigenen Leben hat Inge Jens bislang wenig Aufhebens gemacht. Jetzt erzählt sie zum ersten Mal ausführlich darüber: von Kindheit und Jugend in Hamburg; von Studium und Familiengründung in Tübingen; dem Leben an der Seite eines berühmten, vielgefragten Mannes; dem schwierigen Spagat zwischen ihrer Rolle als Mutter und den eigenen beruflichen Ambitionen. Sie berichtet über Begegnungen mit Zeitgenossen wie Hans Mayer, Karola und Ernst Bloch, Golo Mann, Richard von Weizsäcker, Loriot und Carola Stern. Sie schildert ihre Erlebnisse bei den Blockaden gegen die Raketenstationierung in Mutlangen und beim Verstecken amerikanischer Deser­teure während des zweiten Golfkriegs. Und sie schreibt mit großer Offenheit über die Demenzerkrankung ihres Mannes: « Ich sehe seinem Entschwinden zu. » Ein mutiges Buch – und eine große Frauenautobiographie.

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Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Inge Jens

Unvollständige Erinnerungen

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

Kapitel 1: Kindheit und Jugend

Kapitel 2: Nach dem Krieg

Kapitel 3: Aufbruch in die Fremde – und ein Hausgenosse aus Hamburg

Kapitel 4: Lebensdinge und die Welt der Manns

Kapitel 5: Arbeit, Freunde und Familie

Kapitel 6: Neue Horizonte

Kapitel 7: Alma Mater Tubingensis

Kapitel 8: Widerstand und Widerstehen

Kapitel 9: Jenseits der Mauer

Kapitel 10: Berlin und die Wende

Kapitel 11: Die neunziger Jahre

Kapitel 12: Noch einmal Katharina Pringsheim

Kapitel 13: In guten und in schlechten Tagen

Namenregister

Für meine Enkelin Paula

Vorwort

Warum schreibe ich dieses Buch? Wie oft im Verlauf meiner gut eineinhalbjährigen Arbeit habe ich mir diese Frage gestellt – spätestens von dem Zeitpunkt an, da klar wurde, dass das, was ich eher aus Zeitvertreib angefangen hatte, wirklich ein Buch zu werden drohte.

Warum schrieb ich trotzdem weiter? Weil ich merkte, dass es mir Spaß machte, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Das war eine unerwartete Erfahrung. Ich bin immerhin 82Jahre alt und habe mich, soweit ich es weiß, noch nie sehr intensiv für mich interessiert. Da überlegt man natürlich, wo denn wohl die Gründe für dieses plötzliche Vergnügen am eigenen Leben zu suchen sind.

Ja, wo? Zunächst spielt sicherlich das Alter eine Rolle. Ich habe unter anderem Literaturwissenschaft studiert und weiß daher, dass – zumindest in der Vergangenheit– Autobiographien im Allgemeinen in Form von Lebensrückblicken geschrieben wurden; von Menschen also, die versuchten, sich am Ende ihres Daseins der Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern, die sie prägten und die es ihnen wert schienen, aufbewahrt und weitergegeben zu werden.

Resümierend zurückzublicken zu einem Zeitpunkt, da das Alter konkret erfahrbar wird: Das war auch für mich ein wichtiger Grund, mich mit mir und meiner Vergangenheit zu konfrontieren. Jenseits der achtzig registriere ich physische Veränderungen, die mich veranlassen, die Strukturen meiner Lebensführung zu überdenken. Ich kann nicht mehr stundenlang spazieren gehen, das Laufen fällt mir zunehmend schwer. Am Schreibtisch aber fühle ich mich wohl. Mit der Hand schreiben kann ich nicht mehr, meine arthrotischen Finger versagen ihren Dienst. Aber ich habe als sehr junges Mädchen das Schreibmaschine-Schreiben gelernt. Später dann machte es die Arbeit an Thomas Manns Tagebüchern nötig, mich mit dem Computer anzufreunden.

Das alles kommt mir jetzt zugute. Ich kann Aufträge annehmen, die es notwendig machen, neue Themen zu durchdenken und meine Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Wenn es Vorträge waren, die ich auf diese Weise niederschrieb, habe ich sie anschließend selbst gehalten – an verschiedenen Orten, zu denen ich gern reiste. Nicht mehr, wie früher, mit dem Auto, sondern mit der Eisenbahn. Und siehe: Mit einem konkreten Ziel vor Augen ging es bisher nicht nur gut, sondern festigte sich gleichzeitig mein Selbstbewusstsein. Die sich an den Vortrag fast immer anschließenden Diskussionen machten mir Spaß. Gelegentliche Rückgriffe auf eigene Erfahrungen stimulierten das Interesse des Publikums und veranlassten mich später, bei mir selbst noch etwas genauer nachzufragen. Auf Eisenbahnfahrten ist so etwas möglich.

Ungefähr zur gleichen Zeit verführte mich meine Freundin Christel Freitag, der ich beim Südwestrundfunk gelegentlich Rede und Antwort gestanden hatte, zu einigen gemeinsamen Veranstaltungen in Bibliotheken oder Volkshochschulen der näheren und weiteren Umgebung. Sie befragte mich variationsreich zu wichtigen Ereignissen in meinem Leben, und ich erzählte ein bisschen. Die Abende hatten eine unerwartet große Resonanz. Sie endeten meistens in auch für uns interessanten Diskussionen, in deren Verlauf ich vielfach gebeten wurde, das, was ich da gesagt hatte, doch aufzuschreiben.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Nach 57Jahren nie abreißender Gespräche bin ich allein – ohne den Menschen, mit dem sich über alles auszutauschen mir so selbstverständlich war wie essen und trinken oder atmen. Mein Mann ist seit langer Zeit schwer krank. Seit gut zwei Jahren kann er weder lesen noch schreiben. Eine Unterhaltung mit ihm ist nicht mehr möglich. Er ist da: als ein der Zuwendung bedürftiger Mensch, der ein Recht darauf hat, dass auch ich «da bin». Aber als Partner, als ein verstehendes, Antwort gebendes oder gar widersprechendes Gegenüber gibt es ihn nicht mehr. Das hat mein Leben von Grund auf verändert und mich auf mich selbst – nein, nicht zurückgeworfen, aber verwiesen. Die unerwartete Gegenwart hat mich – vielleicht, um meine Lage überhaupt begreifen zu können – veranlasst zurückzublicken, und ich habe mit Erstaunen bemerkt, dass dieses Zurückblicken Kräfte freisetzt, die mir auch einen neuen, anderen, freieren Umgang mit dem Hier und Jetzt ermöglichen.

Die Rückschau auf mein Leben verbietet mir, mit dem Heute zu hadern. Auf die Frage: «Warum muss das sein, warum trifft es gerade uns?», wüsste ich zwar auch jetzt noch keine Antwort zu geben. Aber – und das wurde mir schlagartig bewusst – diese Frage zöge unweigerlich eine zweite nach sich, die ich ebenso wenig wie die erste beantworten könnte. Denn sie müsste lauten: Warum denn ist es gerade mir – uns – so lange so ungeheuer gut ergangen? Warum war es gerade uns vergönnt, ein so interessantes, erfülltes und – trotz mancher Schwierigkeiten – glückliches Leben zu führen?

Und eben die Nichtbeantwortbarkeit dieser beiden Fragen hat mir Lust gemacht, mich genauer mit meinem erfüllten Leben zu beschäftigen. Dabei ging es mir von vornherein nicht darum, es in allen Details wiederzuentdecken. Ich habe mir keinen Zwang auferlegt und bin keinem System gefolgt, sondern habe mir zunächst lediglich das genauer zu vergegenwärtigen versucht, was mir spontan einfiel.

An einem Punkt begann ich dann, das Erinnerte aufzuschreiben. Zunächst ausschließlich für mich selbst. Später erzählte ich Freunden von meiner mich immer noch etwas seltsam anmutenden Tätigkeit. Sie ermunterten mich, zu versuchen, noch ein paar Ereignisse mehr aus dem «Brunnen der Vergangenheit» heraufzuholen und das zutage Geförderte zumindest in ausführlichen Notizen festzuhalten.

Die Zufälligkeit der Episoden, die bei diesen Bemühungen ans Tageslicht kamen, erstaunte mich. Dennoch notierte ich auch weiterhin meine Erinnerungen, wie sie kamen, und versuchte erst später, sie mit Hilfe der Chronologie in eine gewisse Ordnung zu bringen. Ihrem Wesen nach bleiben sie unsortiert, eine Zuordnung zu Themenkreisen wäre meinen Absichten zuwider. Ich hatte niemals den Ehrgeiz, eine Autobiographie zu schreiben. Mir liegt allein daran, Erinnerungen an Ereignisse und Personen festzuhalten, die ich offenbar absichtslos behalten habe, die aber für mich in sehr verschiedener Hinsicht von Bedeutung waren.

Das heißt jedoch nicht, dass ich alles aufgeschrieben habe, was mir wichtig gewesen ist. Es gibt Personen und Ereignisse, die für mein Leben nicht minder bedeutsam waren als die, die ich erwähne, und die dennoch in diesem Buch nicht vorkommen. Vielleicht, weil sie mir in irgendeiner Weise zu nah sind und deshalb nichts vermitteln können, was noch im Persönlichen Überindividuelles spiegelt. Außerdem lag es nicht in meiner Absicht, einen Katalog von Begegnungen mit mehr oder minder bekannten Persönlichkeiten aufzustellen oder gar ein Journal intime zu schreiben.

Dass meine ungeordneten und «mit Fleiß», wie man hierzulande sagt, «unvollständigen» Erinnerungen sich – ihrer Zufälligkeit zum Trotz – zu einem wie immer gearteten Ganzen zusammenfügten, verdanke ich nicht zuletzt der Hilfe von Hildburg Kindt, Hans Thiersch und Uwe Naumann. Sie haben mich in vielen langen und intensiven Gesprächen davon überzeugt, dass es interessant wäre, zu erfahren, wie eine vorwiegend als «Frau an seiner Seite» wahrgenommene Frau dennoch – und manchmal vielleicht sogar dank dieser Rolle – ein eigenständiges und emanzipiertes Leben führen konnte. Alle drei haben mir zudem durch Fragen und Diskussionen geholfen, einigen zunächst eher kargen Kindheits- und Jugenderinnerungen genauer nachzugehen – nicht zuletzt, um Konstellationen zu verdeutlichen, die sonst leicht, zumal für jüngere Leser, unverständlich bleiben. Sie haben mir aber auch Mut gemacht, die Bedeutung nicht zu unterschlagen, die die Krankheit meines Mannes beim Schreiben dieses Buches gespielt hat.

Als mir nun schon seit mindestens zehn Jahren vertrauter und inzwischen gut befreundeter Lektor hat Uwe Naumann zudem geholfen, das Patchwork-Manuskript übersichtlich zu strukturieren, sodass es schließlich, zwischen zwei Buchdeckeln ansprechend «verpackt», in der vorliegenden Fassung das Licht der Öffentlichkeit erblicken konnte. Auch hier kann ich nur dankbar konstatieren, dass die «Unvollständigen Erinnerungen» ohne Freundeshilfe nie in einer «vollständigen» – sprich: lesbaren – Form hätten erscheinen können.

Tübingen, im März 2009

Inge Jens

Kapitel 1

Kindheit und Jugend

Ich wurde 1927 als ältestes von vier Geschwistern in Hamburg geboren. Mein Elternhaus war vonseiten der Mutter her eher großbürgerlich bestimmt – es wird erzählt, dass meine Großmutter «Dienstboten», wie man damals sagte, entließ, weil sie den Namen Bismarck nicht mit «ck» schrieben. Väterlicherseits dominierte die Tradition hamburgischer Überseekaufleute: Zum Geburtstag des Großvaters erschienen die Enkel in original chinesischen Gewändern, um zu gratulieren. Das und der Geburtsort meines Vaters – «geboren in Singapore» buchstabierte bei meiner Heirat der Tübinger Standesbeamte – vermittelte den Kindern gelegentlich die Ahnung von der Existenz anderer Welten.

Im Allgemeinen aber ging es handfest-prosaisch zu; mein Vater, von Beruf Chemiker, sorgte dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, indem er, wenn er uns – zumal am helllichten Tag – mit einem Buch in der Hand sitzen sah, daran erinnerte, dass es in Haus und Garten noch viele nützliche Dinge zu erledigen gäbe.

Meine Kindheit und Jugend fallen zum überwiegenden Teil in die Zeit des Nationalsozialismus, meine Schulzeit ist vom Anfang bis zum Ende identisch mit ihr. Sie begann 1933 und hätte planmäßig 1945 mit dem Abitur enden sollen. Der Krieg sorgte dafür, dass sie es nicht tat, ich, im Gegenteil, nach vielen Unterbrechungen im Winter 1946 noch einmal zu lernen begann, um, wie immer es gehen mochte, jedenfalls formaliter die Studienzulassung zu erlangen.

Dennoch: Wenn ich zurückdenke, überwiegen die freundlichen Erinnerungen. Zumindest die ersten zwölf, vierzehn Jahre meines Lebens waren unbeschwert und glücklich, geborgen im Kreis einer großen Familie. Meine Schwester Renate war eineinhalb, mein Bruder Carsten fünf Jahre jünger als ich. Die Kleinste, Gesa, 1936 geboren, galt als «Nachkömmling», der sich im Laufe der Jahre allerdings eine zentrale Stellung in der Familie zu erobern wusste. Aber so unterschiedlich wir vier Geschwister auch waren und so verschieden unsere Erinnerungen ans Elternhaus auch sein mögen: Im Urteil über unsere Kindheit sind wir uns einig.

Warum es so ist? Ich denke, wir kamen uns gegenseitig nicht ins Gehege. Es gab genug Platz für alle, und das «Vertragt euch!» meiner Mutter habe ich als absolut zu respektierendes Gebot noch heute im Ohr. Ihr pädagogisches Talent war beachtlich, ihr unreflektiertes «Augenmaß» bemerkenswert. Ich kann mich nicht erinnern, je «nachhaltig» ungerecht behandelt worden zu sein. Natürlich gab es Fehlurteile, aber sie wurden korrigiert oder, wenn erforderlich, durch Erklärungen begründet und damit aufgehoben.

Als ich etwas älter war, faszinierte mich der Bildungsgang meiner Mutter: Sie hatte auf Betreiben meines Großvaters, eines Frauenarztes in Köln, das Humanistische Gymnasium besucht – besuchen müssen, denn der Vater bestand auf einer gleichwertigen und das hieß zunächst offenbar auch «gleichartigen» Ausbildung für seine vier Kinder. Die zwei Mädchen sollten dereinst keine geringeren Chancen als die zwei Buben haben: kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine immerhin bemerkenswerte Einstellung, die meine Großmutter teilte. Auch sie war eine hochgebildete, sprachgewandte und belesene Frau. Ich habe sie noch gut gekannt und gern zugehört, wenn sie von ihrer Jugend erzählte, in der sie in einem kleinen Kreis ähnlich Privilegierter von den Dozenten der Bonner Universität unterrichtet und sogar einmal nach Berlin geführt wurde, um den gerade aufgestellten Pergamon-Altar zu sehen. Etwas später ging sie dann in die Schweiz, um sich mit Hilfe exklusiver Internate in die französische und italienische Sprach- und Kulturwelt einführen zu lassen. Englisch zu sprechen hatte sie bereits bei ihrem eigens aus Großbritannien ins Bonner Haus geholten Kindermädchen gelernt.

Meiner Mutter imponierte diese Welt nur bedingt. Sie hatte nach dem Abitur auf Wunsch ihres Vaters zwei oder drei Semester Volkswirtschaft studiert, ehe sie endlich ihren Traum verwirklichen und eine der Reiffensteiner Frauenfachschulen besuchen durfte. Hätte sie nicht mit zweiundzwanzig Jahren den Mann geheiratet, den sie bereits seit zwei Jahren von einem Stiftungsfest der Tübinger Studentenverbindung meines Großvaters her kannte, wäre sie Lehrerin an einer solchen (oder einer ähnlich ausgerichteten) Schule geworden.

Für mich indessen stand bald fest, dass ich die Begeisterung für ein solches Lebensziel niemals teilen würde. Auch wenn meine Interessen einstweilen noch wenig zielgerichtet waren und ich mich ziemlich lange eher tastend als entschlossen bewegte, wusste ich: das mit Sicherheit nicht.

Aber was dann? Ich las gern – vermutlich unter Vernachlässigung aller «Pflichten», denn ich erinnere, dass sich meine Eltern gelegentlich bemühten, mich ein bisschen von meinen Büchern wegzubringen und «lebenstauglich» zu machen, was für meine Mutter – im Gegensatz zu meinem pragmatisch-naturwissenschaftlich orientierten Vater – allerdings, wenn auch in Maßen, Zeit fürs Lesen einschloss.

So bekam ich ganz selbstverständlich zu Weihnachten und zum Geburtstag «meine», das heißt die von mir gewünschten Bücher – aber eben auch fast immer nur die. «Weiterführendes» erinnere ich nicht. Dafür gab es den elterlichen Bücherschrank, der aber außer mit Volksausgaben der gängigen Klassiker und einigen nordischen Buchgemeinschaftsromanen nicht eben üppig ausgestattet war. Doch für den Anfang genügte er vollauf, zumal ich in der Auswahl meiner Bücher keinerlei Restriktionen unterworfen war. Irgendwann entdeckte ich die sophokleischen Dramen. Und ich sehe mich auch noch mit angehaltenem Atem die «Orestie» lesen. Mehr «aus Versehen» denn vorsätzlich. Ich wusste nicht, was mir da in die Hand gefallen war. Ich weiß nur noch, dass mein Tagesplan in Unordnung geriet, weil ich erst viel zu spät merkte, dass ich ja eigentlich hätte Schularbeiten machen sollen, vielleicht sogar wollen. Wenn es nicht gerade ums Vokabellernen ging, hatte ich im Allgemeinen nichts gegen Schularbeiten.

Ich saß – auch das weiß ich noch–, den Kopf zwischen meinen auf die herausklappbare Platte gestützten Armen, an meinem eigenen verschließbaren Schreibtisch, den ich 1937 zu Weihnachten bekommen hatte. Es war wie ein Ritterschlag gewesen. Er besaß oben zwei Bücherborde hinter Schiebescheiben, dann den verschließbaren Schreibbereich und unten zwei oder drei Borde für Schulsachen, Atlanten, vielleicht auch weitere Bücher. Ich habe diesen Schreibtisch später in unsere erste gemeinsame «Wohnung» in Tübingen auf dem Schlossberg mitgenommen und unter anderem meine Doktorarbeit an ihm geschrieben. Er hatte eine Innenbeleuchtung und konnte so in der etwas dunkleren Ecke des Zimmers stehen. Wenn ich mich recht erinnere, hat er sogar den Umzug in unsere erste richtige Wohnung mitgemacht.

Den Schreibtisch bekam ich, weil «die Großen» – also Renate und ich – im neuen Haus in der Wandsbeker Marienstraße, das meine Eltern kurz zuvor gekauft hatten, jede ein eigenes Zimmer bekamen. In der alten Wohnung – gleichfalls in Wandsbek–, in der wir zur Miete gewohnt hatten, teilten wir ein mittelgroßes Schlafzimmer unterm Dach. Das Leben am Tage spielte sich einen Stock tiefer im Kinderzimmer ab, wo wir auch unsere Schularbeiten erledigten, Ostereier färbten oder mit viel Hingabe die obligatorischen Weihnachtsgeschenke bastelten. Das Wohnzimmer war tabu. Dort empfing meine Mutter «Besuch». (was auch für die Kinder meistens aufregend, da etwas nicht Alltägliches war). Dort stand aber auch der Weihnachtsbaum. Diese Lebensraum-Einteilung blieb im eigenen Haus erhalten. Aber dort gab es zwei Etagen und ein Dachzimmer, das Renate bewohnte. Ich lebte einen Stock tiefer, direkt unter ihr, im einzigen Zimmer, das einen kleinen Balkon hatte. Ich war sehr stolz. Die beiden «Kleinen», Carsten und Gesa, wohnten und schliefen in dem sehr großen, hellen Zimmer neben mir, das tagsüber für uns alle – bei Bedarf also auch für Renate und mich – als Kinderzimmer diente.

Beide Wandsbeker Wohnungen, die Villenetage in der Claudiusstraße und das eigene Haus zwischen Marienanlage und dem Bahnhof an der Strecke nach Lübeck, verfügten über einen großen Garten, dem sich mein Vater mit Leidenschaft widmete. Die Weitläufigkeit der Areale hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass immer für alle Platz war und die Interessen niemals kollidieren mussten. Zudem boten die zentralen Rasenflächen eine wunderbare Plattform für Kreis- und Schulspiele oder gar schauspielerische Darbietungen, von der Möglichkeit, von hier aus auch «Kriegen». (schwäbisch: «Fangeles») oder «Versteck» zu spielen, mal ganz zu schweigen. In beiden Gärten gab es viele Bäume, aber auch Nischen, in die man sich allein oder zu mehreren – Nachbarskinder oder Schulfreunde waren stets willkommen – zurückziehen konnte.

Von heute aus gesehen habe ich den Eindruck, dass die Verschiedenartigkeit von uns vieren für meine Eltern kein Problem gewesen ist. Es fiel ihnen offensichtlich nicht besonders schwer, jedem von uns seine eigene «Rolle» zuzugestehen und die Unterschiedlichkeit der Begabungen als etwas Natürliches und Nützliches zu akzentuieren: Inge ist so, Renate so, Carsten nochmal anders, und jeder hat seine Stärken und Schwächen. Es gab allerdings auch klar formulierte moralische Gebote und Standards, die wir – als Voraussetzungen für diese Großzügigkeiten und Freiheiten – lernen mussten zu respektieren. Aber dann konnte jedes Kind innerhalb der Familienhierarchie seine eigene, von den anderen ganz selbstverständlich akzeptierte und in das Ganze integrierte «Rolle» leben.

Ich war für meinen Vater offenbar von Anfang an ein Junge gewesen – «Ersatz» für den sehnlich gewünschten Stammhalter. Ebenso offensichtlich bin ich auch von früh an mit einer Form sozialer Verantwortung betraut worden, von der meine Geschwister vermittelt bekamen, dass sie durchaus nicht immer Privileg, sondern auch lästig sein konnte. Ich kann nicht erinnern, dass ich die «Jungen»-Rolle je als belastend empfunden hätte. Und auch die mir zwar maßvoll, aber doch relativ früh auferlegten Verpflichtungen «drückten» mich nicht. Ich war zufrieden mit meiner Stellung, ja, empfand sie als durchaus angemessen und fühlte mich ihr in jeder Weise gewachsen. Ich tat lieber selbst etwas, als dass ich mir helfen ließ, und hatte genügend Ehrgeiz, um mir gelegentliche Angstgefühle nicht anmerken zu lassen.

Demgegenüber beherrschte meine Schwester Renate eine Rolle, der ich niemals hätte gerecht werden können: Sie war stolz auf ihre Identität als Mädchen und stellte gelegentlich mühelos entsprechende Forderungen. Die Familie kolportiert bis heute ihre offenbar gern benutzte Aufforderung an die Umwelt: «Helft mir, ich bin ein Mädchen!» Sie sammelte Bilder von Filmstars und hatte eine Zeitlang den großen Wunsch, Schauspielerin zu werden. Ihr Vorbild war der amerikanische Kinderstar Shirley Temple, ihr Traum, mit dieser Tätigkeit viel Geld zu verdienen und «die Familie hochzubringen». Hätte man sie damals gefragt, was das heißen sollte, hätte sie vermutlich etwas mehr häuslichen Luxus eingeklagt.

Wenn es erlaubt ist, von Aggressionen, auch wenn sie – zumindest in der Erinnerung – recht harmlos waren, auf Rivalitäten zu schließen, hatte ich eher Schwierigkeiten mit meinem um fünf Jahre jüngeren Bruder Carsten. Doch auch hier zögere ich, einem einzigen Gedächtnisbild tiefer reichende Bedeutung zuzuerkennen. Aber immerhin: Ich sehe uns recht konkret auf dem Teppich unseres Wohnungsflurs in einer Mischung aus Wut und Lust aufeinander einhauen. Warum? Ich weiß es nicht. Machte er mir beim Vater meine Jungenrolle streitig? Das halte ich für nahezu unmöglich. Außer den sich offenbar von Zeit zu Zeit wiederholenden Ringkämpfen sind mir auch keinerlei «feindliche» Handlungen oder gar Rivalitätsgefühle in Erinnerung geblieben. Im Gegenteil, eigentlich vertrug ich mich recht gut mit meinem Bruder. Später, nach dem Krieg, schliefen wir überdies jahrelang gemeinsam in einem sehr kleinen Raum. Wir nannten ihn D-Zug, weil er gerade zwei übereinander angeordnete Betten, einen sehr engen Spind und einen Miniatur-Waschtisch fasste. Dort hörten wir unter unseren ziegelsteingewärmten Decken mit Hilfe von auf Zigarrenkästen montierten Detektoren Radio: Hörspiele, Musik etc. – so lange, wie jeder wollte. Mit Detektorradios kann man sich nicht stören.

Bei Gesa lagen die Dinge von vornherein anders. Sie war noch zu klein. Niemand missgönnte ihr die Rolle des Nesthäkchens. Als sie geboren wurde, war ich neun Jahre alt. Ich erinnere mich noch genau. Meine Mutter hatte uns rechtzeitig über den zu erwartenden Familienzuwachs aufgeklärt. Da sie während ihrer Schwangerschaften immer mit großer Morgenübelkeit zu kämpfen hatte, war unser Tagesablauf in dieser Zeit manchmal anders gewesen. Das «Mädchen» – vermutlich eine der Haustöchter aus Dithmarschen – hatte uns geweckt und beim Frühstück Gesellschaft geleistet. Meine Mutter hatte uns auch Bescheid gesagt, als sie zur Entbindung in die Klinik fuhr, und sobald sie heimkam, warteten wir entsprechend aufgeregt auf den Familienzuwachs, den wir im Krankenhaus bereits durch eine Glasscheibe hindurch hatten bewundern dürfen.

Dennoch dominiert in meinen Erinnerungen an diese Zeit der Alltag, und der war für mich zu großen Teilen bestimmt durch die Welt meiner Schule: zunächst die der «Volksschule Rennbahnstraße», dann, ab Ostern 1937, der «Oberschule für Mädchen Hamburg-Wandsbek». Das «Wandsbeker Gymnasium», das nach dem neben unserer Kirche beerdigten Dichter «Matthias-Claudius-Gymnasium» hieß und auf dem man, wenn ich nicht irre, auch 1937 noch Latein und Griechisch lernen konnte, war den Jungen vorbehalten.

Die Erinnerung an meine ersten Schuljahre ist vage. Es war eine eher undramatische Zeit. Ich lernte leicht und gern und hatte auch in der Klasse keine nennenswerten Schwierigkeiten. Der Nationalsozialismus wird für mich nur in der Erinnerung an eine weitgehend uniformierte Umwelt fassbar. Er bildete sozusagen die unproblematisierte Realität meines Alltags – eine Erfahrung, die, wie ich heute weiß, natürlich durch die Einstellung des Elternhauses mitbedingt gewesen ist. Man war – das erinnere ich deutlich, weil es mich erschreckte – in nicht wenigen Einzelfällen durchaus kritisch (die individuelle Moral war rigide, Worte wie «Anstand» und «Verantwortung» hatten im elitär geprägten Normenkanon einen hohen Stellenwert), generell jedoch ohne grundsätzliche Ablehnung; vielleicht könnte man «zurückhaltend angepasst» sagen.

Mein Vater war um 1930 nachts, aus der Fabrik heimradelnd, von Kommunisten überfallen und niedergestochen worden. Er lag lange im Krankenhaus. Ob – nach solchen Erfahrungen – die versprochene Sicherheit der Straßen für die grundsätzliche Akzeptanz des NS-Regimes eine Rolle spielte, weiß ich nicht, bezweifle es jedoch. Eher würde ich ein Konglomerat ungeprüfter und undiskutiert tradierter, vager Wertvorstellungen für diese Haltung verantwortlich machen, die sich leicht unter die Leitbegriffe «national» und «sozial» subsumieren ließen.

Nach dem Kriege – als mein Vater von den Amerikanern interniert und in ein Gefangenenlager abtransportiert worden war – erfuhr ich von mir fremden Menschen, die sich als Regimegegner, meist aus dem Kreis der Jugendbewegung, erwiesen, dass er mit großer Courage und nicht selten sogar mit Erfolg bei den Prozessen für sie ausgesagt habe, denen sie in den dreißiger Jahren wegen ihrer von der herrschenden Doktrin abweichenden Haltung ausgesetzt gewesen waren. Auch später, während ihrer Haft, habe er sich noch für sie eingesetzt. Das zwingt mich im Nachhinein zu der Erkenntnis, dass meine Eltern die wahren Zustände gekannt und von der Existenz sicherlich nicht von Vernichtungslagern, aber doch von Internierungscamps und politisch motivierter Haft gewusst haben müssen. Aber wir Kinder erfuhren nichts. Uns gegenüber galt – und zwar sehr lange und erfolgreich – das abgewandelte attention les servants.

Ich muss also bekennen, dass das Jahr 1933 – sieht man von der Tatsache des Schulbeginns ab – in meiner Biographie keinen Einschnitt markiert; auch das Jahr 1937 nicht, als ich – wie alle Zehnjährigen – in die unterste der Hitlerjugendorganisationen, zu den Jungmädeln (JM), kam. Auch hier habe ich nur noch dunkle und sehr allgemeine, im Ganzen aber eher positiv als negativ akzentuierte Erinnerungen. Meine Gruppe bestand fast ausschließlich aus Klassenkameradinnen, die wenigen anderen – meistens Mädchen, die nicht auf die höhere Schule gewechselt hatten – wurden ohne mir erinnerliche Probleme integriert. Ich weiß noch, dass – obwohl wir zu Hause bei Gott nicht «standesbewusst», sondern eher im Sinne der Jugendbewegung erzogen wurden – ich mich wunderte, wie «normal» und kooperabel diese «anderen» waren, obwohl sie doch nicht auf «unsere» Schule gingen. Natürlich lernten wir an unseren «Heimabenden» auch alles für wichtig Gehaltene über das Leben des «Führers» und die seine Persönlichkeit prägenden Erlebnisse im Weltkrieg. Das zu wissen gehörte damals sozusagen zur Allgemeinbildung. Aber dennoch habe ich bis heute nicht das Gefühl, nachhaltig «indoktriniert» worden zu sein.

Auch zu Hause waren wir keiner Belehrung über die Segnungen des Regimes ausgesetzt. In meiner Erinnerung will es mir eher scheinen, als wäre über «Politik» überhaupt nicht gesprochen worden. Doch das kann nicht angehen in einer Zeit, da auch unser privates Leben jedenfalls gelegentlich durch Pflichten innerhalb der politischen Organisationen tangiert wurde. Zumindest «Dienstpläne» mussten koordiniert und mit häuslichen Aufgaben, auf deren Erfüllung meine Mutter recht energisch bestand, in Einklang gebracht werden. Sie gehörte keiner NS-Organisation an, und die «Verleihung» des «Mutterkreuzes in Bronze», um die sie wegen ihrer vier Kinder nicht herumgekommen war, blieb ihr peinlich. Sie trug diesen «Orden der Nacht». (wie die «Auszeichnung» in der damaligen Männergesellschaft eher zur Demonstration maskuliner Potenz denn in regimekritischer Absicht genannt wurde) in meiner Erinnerung auch nur, wenn wir zur Weihnachtsfeier in die großen und schönen Räume der SS-Zentrale Feldbrunnenstraße gingen. Aber auch dieses sich jährlich wiederholende Ereignis gehörte für uns Kinder zur unreflektiert gelebten Realität. Ich jedenfalls habe es niemals als problematisch oder gar unangemessen empfunden – auch später nicht, als ich bereits Konfirmandenunterricht hatte.

Eine derartige Behauptung mag heute als Ausflucht, Beschönigung oder gar Unwahrheit gelten. Und sie erscheint noch unglaubwürdiger, wenn ich hinzufüge, dass mein Vater Sturmführer der SS war: Mitglied einer Nachrichtenabteilung – nicht der Waffen-SS oder der Totenkopfverbände, aber dennoch… kenntlich gemacht durch den in einer Pfeil- oder Speerspitze endenden SS-förmigen Blitz auf dem Kragenspiegel. Wenn er «zum Dienst» ging, trug er die schwarze Uniform. Soweit ich es zu beurteilen vermag und sofern mich meine Erinnerung nicht trügt, ohne demonstrativen Gestus, aber auch, ohne darunter zu leiden.

Heute bin ich der Meinung, dass er weder Mitglied der SA noch Gefolgsmann irgendeiner anderen Parteiorganisation geworden wäre. Aber «SS-Mann»: Das war etwas anderes. Die SS galt offenbar auch in seinen Augen als Elite-Einheit, deren Maximen– Disziplin, Kameradschaft, Einsatzbereitschaft und Treue zum Vaterland – seinen in der Jugendbewegung erlebten Idealen entsprachen und deren Anspruch auf «Vorbildlichkeit» mit den Anforderungen übereinstimmte, die er nicht nur «im Dienst», sondern auch im Privatleben an sich selbst stellte. Er musste nichts «ablegen», wenn er heimkam. Es gab – wenn meine Erinnerung mich nicht trügt – keinen Bruch zwischen «innen» und «außen», zwischen Familienleben und «Dienst». Die sittlich-moralischen Normen, denen er nachlebte, galten für ihn unterschiedslos in beiden Bereichen, die folglich auch für uns Kinder Varianten der gleichen Realität bildeten.

Ja, wir hatten eine unbeschwerte, durch keine uns in Konflikte stürzenden Anforderungen getrübte Kindheit, in der Erlebnisse wie eine persönliche Begegnung mit Hitler und höchst bürgerliche Kindergeburtstagsfeiern, HJ-Dienst und häusliche Pflichten, Familienreisen an die Ostsee und JM-«Fahrten», später dann «Heimabende» und Konfirmandenunterricht problemlos nebeneinanderher liefen – und zwar ohne dass wir das Gefühl hatten, uns jeweils «anders» verhalten zu müssen.

Ich weiß, von heute aus gesehen wirkt eine solche Einschätzung bestenfalls subjektiv ehrlich. Und auch ich kann die Frage, wie denn so etwas überhaupt möglich war, immer noch nicht schlüssig beantworten. Gab es denn wirklich keine Hinweise darauf, wie brüchig diese uniformierte «Normalität» auch damals schon war? Gab es – in der Zeit, da meine Schwester und ich uns mit Wissen und Billigung meiner Eltern aufmachten, um Hitler anlässlich eines Hamburg-Besuchs persönlich zu begrüßen – keine Nachbarn, die plötzlich «verreisen», keine Klassenkameradinnen, die unversehens «umziehen» mussten, weil ihre Väter vorgeblich in einer weit entfernten Stadt eine offenbar interessantere Arbeit gefunden hatten? Und standen in der Marienanlage, wo wir winters rodelten, auch nach 1938 keine Bänke, deren auf die Rückenlehnen montierte kleine Schilder es Juden verboten, sich auf ihnen auszuruhen?

Es muss sie gegeben haben! Zumindest die Schilder. Und vielleicht haben wir sie sogar gelesen. Aber wir verstanden sie nicht. Das Geschriebene war durch keine reale Erfahrung gedeckt. Wer waren die, die sich nicht auf diese Bänke setzen durften? Es interessierte uns nicht. Der Ausdruck «Jude», den ich doch mit Sicherheit gehört haben muss, bleibt in den Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendjahre ein bloßes Wort, eine Vokabel ohne Kontext. Ich suche immer noch nach Konstellationen, die mir das eigentlich Unmögliche plausibel machen könnten, denn heute weiß ich, dass Wandsbek eine eigene, wenn auch seit dem Ende des 19.Jahrhunderts zunehmend bedeutungslose jüdische Gemeinde und zwei jüdische Friedhöfe hatte, von denen der in der Jenfelder Straße bis 1942 belegt wurde. Jenfelder Straße… die war sehr nah. Warum habe ich das Areal mit seinen zum Teil doch sehr anderen Grabsteinen niemals wahrgenommen?

Als ich Hitler die Hand gab

Ich schlafe schon. So halb im Schlaf höre ich noch wie Mami zu mir sagt: «Inge, wenn du morgen früh aufwachst, so komme gleich runter. Sag es bitte Renate auch. Ihr sollt zu Papi kommen, der hat in der Empfangshalle zu tun. Da könnt ihr Hitler sehen.» Ja, sagte ich, aber du mußt mit, alleine hab ich Angst. Ich kann nicht mit, sagte Mami, sonst kommt ihr überhaupt nicht durch. Ist gut sagte ich, und schlief wieder. Am Morgen wachten wir um 7Uhr auf. Renate steh schnell auf, sagte ich. Wir müssen zum Dammtorbahnhof, und in die Empfangshalle. Da kommt Hitler an. Husch waren wir aus den Betten, und ebenso schnell angezogen. Jetzt wurde schnell gefrühstückt, und dann ging’s los. Wir fuhren mit der Vorortbahn bis Dammtor und dann gingen wir der SS nach. Das war aber falsch, denn die sperrten ab. So kamen wir immer weiter zurück. Schließlich fragten wir einen SS-Mann. Den fragten wir wo der Leiter der Fernsprech-Dienststelle wäre. Der ist drüben in der Empfangshalle, sagte er. «Ja, aber wie kommt [man] denn da rüber?» fragte ich. Das weiß ich auch nicht, aber wie heißt ihr denn. «Puttfarcken» sagten wir. Ach, ihr seid die Puttfarckens! Seid ihr aber gewachsen. Als ich euch zuletzt gesehen habe, ward ihr noch ganz klein. Aber wartet ich werde den Papi anrufen, dass ein SS Mann kommt und euch holt. Nach einer Weile kam er wieder. Papi meint die Absperrung ist zu scharf. Aber ich werde meine Frau bitten, dass sie mit auf euch aufpasst. Er brachte uns hin. Wir konnten aber da nicht sehen. Darum gingen wir mit Wolfgang, dem Sohn von Herrn Knoll auf die Treppe der Esplanade. Nach einer halben Stunde kam ein SS Mann, der uns und Wolfgang in die Empfangshalle holte. Da war alles festlich geschmückt. Die Tochter vom Standartenführer, Renate Stohp war auch da. Nun warteten wir da, ¾ Stunde. Die Zeit verging uns wie im Flug, soviel gab es da zu sehen. Jetzt lief der Zug des Führers ein. Ein Heilrufen von der Straße umringte ihn. Wir standen erwartungsvoll und guckten die Treppe hinauf. Endlich kam er die Treppe hinunter. Wir zitterten vor Aufregung. Er sah uns nicht, aber wir sahen ihn. Er ging ganz nah an uns vorbei. Dann ging er in ein Zimmer. Ley, Himmler und Brückner, Raeder u. Kaufmann haben wir auch gesehen. Als Hitler aus dem Zimmer ging, und ein bißchen auf dem Flur spazieren ging, sah er uns. Brückner winkte uns, und wir gingen strahlend hin. Er gab uns allen die Hand und fragte uns: Wie alt wir wären, wo wir wohnten, u. ob Renate und ich Geschwister wären, und wie wir in die Empfangshalle kämen. Dies beantworteten wir ihm. Dann mußten wir wieder weg. Wir strahlten alle. Hinterher haben wir ihn noch rausgehen sehen. Wir durften auch mit im Zug gehen, der Hitler hinausbrachte. Nachher fuhren wir seelig nach Hause, und waren sehr, sehr stolz.

(Ley– Führer der Arbeitsfront

Himmler– Führer der SS

Brückner– Hitlers Adjudant

Raeder– Admiral)

Diesen Aufsatz schrieb ich auf Vorschlag meiner Mutter am 5.Mai 1937.Auch die Erläuterungen der Namen stammen von der damals Zehnjährigen.

Inzwischen weiß ich auch, dass man aus unserem 1937 nach Hamburg eingemeindeten Stadtteil von 1941 bis 1943 – in einer Zeit also, da ich zwischen vierzehn und sechzehn Jahre alt war – rund fünfzig Juden deportierte. Zwei von ihnen wohnten, wie wir, in Marienthal. Warum bemerkten wir es nicht? Auch in der Schule wurde kein Wort darüber verloren. Hatte es unter den Deportierten keine schulpflichtigen Kinder gegeben? Waren die um diese Zeit einsetzenden Bombenangriffe auf unsere Stadt schuld, die viele zum Ortswechsel zwangen? Oder hatten sich meine Eltern entschlossen, uns so lang wie irgend möglich in Unkenntnis über Vorkommnisse zu halten, die sie vielleicht sogar selbst nicht wahrhaben wollten? Ich weiß es nicht, und ich muss mich fragen lassen, warum ich auch nach dem Krieg nie mit ihnen über das Thema gesprochen habe.

Später, das erinnere ich wiederum recht genau, sah ich dann den Veit-Harlan-Film «Jud Süß» – nicht aus freien Stücken und auch nicht auf Veranlassung meiner Eltern, die den Streifen nicht mochten, sondern als Teil meines JM-«Dienstes». Es gab von Zeit zu Zeit die Verpflichtung zum kollektiven Besuch von Filmen, die von «denen da oben». (was immer das heißen mochte) offensichtlich zur Festigung des «richtigen» Bewusstseins ausgewählt wurden. Ich habe ihn damals, das weiß ich noch genau, als «schrecklichen Historienfilm» gesehen – eine Ansicht, der meine Eltern nicht widersprachen. In diesem einen Fall erinnere ich mich sogar an Gespräche über das Gesehene, das meine Mutter auf den einmaligen historischen Vorfall zu reduzieren trachtete. Juden als «Zeitgenossen» oder gar der gegenwärtige Umgang mit ihnen kamen nicht zur Sprache.

Und dennoch: «Prägend» oder gar «indoktrinierend» hat weder «Jud Süß» noch die schwarze Uniform meines Vaters auf mich gewirkt. Das jedenfalls weiß ich so sicher, wie ich weiß, dass diese Feststellung nichts entschuldigt oder auch nur erklärt.

Das erste wirklich einschneidende – also nachhaltig wirksame – Datum in meinem Leben war der 1.September 1939. «Von heute an wird zurückgeschossen»: Das tödliche Entsetzen, das diese Hitlerworte hinterließen, habe ich bis heute nicht vergessen. Vielleicht waren die – äußerst kargen – Erzählungen meines Vaters schuld, der im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war und zeitlebens an einer nie endgültig heilenden Beinverletzung litt, die jeden Morgen neu verbunden werden musste, vielleicht auch die Erzählungen meiner Mutter, die in ihrer Heimatstadt Köln als Kind im Ersten Weltkrieg Fliegerangriffe erlebt hatte und uns nun – seit der entscheidenden Rede waren noch keine zwei Stunden vergangen – anwies, den Keller als Luftschutzraum herzurichten, vor die Fenster Holzscheite als Splitterschutz zu stapeln und das Innere so auszustatten, dass die Familie dort nächtigen konnte.

Dennoch, vermutlich vor allem dank der Tatsache, dass mein Vater als Chemiker eines «kriegswichtigen Betriebs» nicht eingezogen wurde, vollzog sich das tägliche Leben zunächst in den hergebrachten Formen. Auch die äußeren Veränderungen– Verdunkelung, Lebensmittelkarten, Lehrer in grauer Uniform und eifrig geprobte Spielscharkonzerte vor den ersten Verwundeten – wirkten zunächst mehr interessant und aufregend, als dass sie Ängste provozierten; und selbst die zunehmenden nächtlichen Fliegeralarme nebst Verlagerung der Schlafstätten in den Keller waren für die Zwölfjährige relativ leicht zu verkraften. Gelegentliche Bomben in angemessener Entfernung verursachten noch keine Todesangst, sondern kreierten den «Sport» des Granatsplittersammelns. Zudem überwog die naive Freude, durch alarmbedingten Ausfall der für Klassenarbeiten vorgesehenen Schulstunden eine eventuelle 5 in Mathe oder Latein vermeiden zu können, die Schrecken des nächtlichen Sirenengeheuls bei weitem. Kurzum: Wir führten ein Leben während der ersten beiden Kriegsjahre, dessen Perversion gerade darin bestand, dass – im Großen und im Kleinen – die Anormalität zur Selbstverständlichkeit geworden war.

Das nahm ein Ende, als 1942/​43 die wirklich vernichtenden Luftangriffe auf Hamburg begannen. Ich war fünfzehn, später sechzehn Jahre alt und wurde, wie die meisten Jugendlichen in unserer Region, nach schweren Angriffen zu Hilfsdiensten herangezogen: Wir schaufelten Kellereingänge frei, besorgten Verpflegung und machten Bahnhofsdienst, wenn die Züge für Flüchtlinge aus den am härtesten betroffenen Distrikten zusammengestellt wurden, um die Überlebenden – manchmal auch die Toten – aus der Stadt zu bringen. Noch heute verfolgt mich das Bild jener Frau, der ich helfen wollte, ein schweres Bündel zum Zug zu tragen. Sie fuhr mich an: «Lass mein Kind!» Sie trug es, in ein Leintuch gehüllt, wie einen Sack über der Schulter. Es war tot.

Das war im Sommer 1943.Ich war mit meiner Spielschar auf einer «Einsatzfahrt» in Lothringen gewesen, wo wir vierzehn Tage lang in Lazaretten musiziert hatten. Ein freundliches Erlebnis, wenngleich nicht ohne Strapazen. Oft mussten wir zwischen 3 und 5Uhr nachts aufbrechen, um unser nächstes Ziel zu erreichen. Ich weiß noch, dass ich mir als Cellospielerin immer besonders bedauernswert vorkam. Geigenkästen sind um so vieles kleiner und besser zu tragen. Dennoch habe ich die vierzehn Tage in guter Erinnerung: Die Soldaten freuten sich über die Abwechslung, und wir hatten das erhebende Gefühl, das eine als sinnvoll empfundene Betätigung nun einmal mit sich bringt.

Auf der Rückreise wurden wir in Harburg – dem südlich der Elbe gelegenen Stadtteil Hamburgs – angehalten. Die Brücken waren gesperrt: Weiterfahrt verboten. In der Nacht hatten englische Luftangriffe ganze Distrikte der Stadt mittels Phosphorbomben in Schutt und Asche gelegt. Jetzt brachte man die Überlebenden aus den zerstörten Wohnvierteln heraus. Wir erhielten Weisung, ihnen zu helfen. Dabei traf ich auf jene Frau, deren Namen ich niemals erfahren werde, deren Anblick mich indes unumkehrbar lehrte, was Krieg heißt.

Als es Abend wurde, schickte man mich nach Hause. Die Brücken waren für den Regionalverkehr wieder freigegeben. Wandsbek sei, so hieß es, unzerstört. Ich könne darauf rechnen, meine Angehörigen in der gewohnten Umgebung wiederzufinden.

Nun, zunächst stellte ich fest, dass die Verkehrsmittel dorthin nicht mehr fuhren. Aber die U-Bahn-Verbindung Richtung Walddörfer war noch intakt. Der Zug hielt in Wandsbek-Gartenstadt, 5 bis 6Kilometer von unserem Haus entfernt. Ich holte Cello und Tornister und machte mich auf den Weg. In einer durch Staub grauen Atmosphäre und unter einem rauchverhangenen Himmel, den die untergehende Sonne in gespenstisches Rot getaucht hatte, marschierte ich heimwärts. Der Geruch verkohlter Balken und ätzender, undefinierbarer Ingredienzien begleitete mich. Nach gut zwei Stunden hatte ich mein Ziel fast erreicht. Der Bahnhof, circa 300Meter von meinem Elternhaus entfernt, in dem die Züge nach und aus Lübeck hielten, stand und machte sogar einen fast unversehrten Eindruck. Nur noch durch die Unterführung, rechts den Hügel rauf, dann ein Blick nach links – und ich würde sehen, ob es unser Haus noch gab. Ich hatte Angst. Die letzte halbe Stunde war ich nur noch durch kaum passierbare Straßen und rauchende Trümmer gelaufen. Einmal hatte ich einer einstürzenden Fassade gerade noch ausweichen können.

Auf der Höhe der Treppe, die zum Bahnsteig führte, verstellte mir ein verstörter Mann den Weg und redete wild gestikulierend auf mich ein: Das sei die Rache Gottes für die frevelhafte Missachtung Seiner Gebote; die gerechte Strafe für die schrecklichen Sünden, die dieses Volk auf sich geladen habe. «Es steht alles schon da! Die Apokalypse: Da ist alles vorausgesagt. Es ist genau so geworden, wie’s da steht! Lies es!!»

Ich weiß nicht mehr, wie ich von dem ganz offensichtlich unter Schock stehenden Mann wegkam. Aber seine Rede hatte mich betroffen gemacht. Die Deutung des Schreckens mit Hilfe des Hinweises auf eine durch «unser» frevelhaftes Verhalten gestörte göttliche Weltordnung gab mir zu denken. Auch meine Angst war geringer geworden. Die letzten Meter vor der Ecke, von der aus ich sehen konnte, ob mein Elternhaus noch stand, dachte ich darüber nach, wo ich denn wohl möglichst schnell eine Bibel finden könnte. Erst als ich unser Dach entdeckte, das zumindest nicht ausgebrannt aussah, war ich wieder ganz in der Gegenwart angekommen.

Aber die präsentierte sich anders, als ich es mir gedacht hatte. Das Haus war leer. Ich hatte keine Mühe, durch eines der geborstenen Fenster hineinzugelangen, schnitt mich dann allerdings doch und musste die heftig blutende Wunde zunächst einmal mittels des Handtuchs vom Garderoben-Waschtisch versorgen. Dann ging ich langsam durch die Räume. Überall dicker grau-weißer Staub. Der Stuck rieselte immer noch von den Decken, und auch die Wände schienen Risse zu haben. Doch die Treppen waren begehbar. Ich stieg in den ersten Stock. Auch hier: niemand. Ich rief, aber keiner antwortete. Alles hatte ich erwartet, nur nicht dies: mutterseelenallein zu sein in einem ziemlich lädierten Haus.

Was jetzt? Ich ging in den Garten. Auch hier die gleiche lähmende graue Stille. Kein Blumenduft, nur Rauch und Brandgeruch, aber immerhin keine Bombenkrater, wie ich sie auf meinem Marsch wahrzunehmen reichlich Gelegenheit hatte. Ich ging in den Vordergarten und dann auf die Straße. Die Nachbarhäuser rechts und links standen, die zwei Villen gegenüber waren ausgebrannt. Aus den Fensterhöhlen der Erdgeschosse ragten schwarzverkohlte Balken. Die zerstörten Mauern strahlten noch Wärme ab, und über allem lag jener typische Geruch von glimmendem Holz, gebranntem Mörtel und heißen Steinen, der mich begleitete, seit ich die U-Bahn verlassen hatte. Ansonsten auch hier: kein Mensch, kein Tier, einfach nichts und niemand.

Doch! Aus einer der arg lädierten großen Villen auf der anderen Straßenseite kam ein Mann auf mich zu: «Ja, mein Gott, Inge, was machst du denn hier? Komm!» Herr Weser, der «Nachbar von gegenüber», ging voran. Auch in seinem Haus das mir nun schon vertraute Bild. Dennoch: Ich fühlte mich geborgen. Herr Weser führte mich über seine Terrasse in den Garten, wo in der Sitzecke drei Frauen saßen: Frau Weser, Lene Krafft, die dritte weiß ich nicht mehr. «Komm, setz dich.» Nach und nach erfuhr ich, was in der letzten Nacht geschehen war. Das Krafft’sche Haus gegenüber dem unseren war ausgebrannt. Das hatte ich bereits gesehen. Die Eltern waren irgendwohin zu Verwandten gereist. Lene, die dreißigjährige Tochter, war bei Nachbar Weser untergekommen. Mein Vater, auch das erfuhr ich nun endlich, sei gegen Mittag aufgebrochen, um meine Mutter und die Geschwister zu den Eltern ihrer engsten Freunde zu bringen, die ein großes Gut in Mecklenburg besaßen und sich bereit erklärt hatten, die Familie aufzunehmen. Er würde abends noch heimkommen, schon wegen der Fabrik. Und wenn nicht, dann schliefe ich eben bei Lene im Weser’schen Haus.