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"Dann berührten die Urellias sich. Ein kribbelnder Schlag jagte Aghni durch den ganzen Körper. Erschrocken sah sie zu Nephele, die sich wie sie selbst plötzlich in die Luft hob." Als die Feuerfee Aghni mit einem fremden Wassermagier vermählt werden soll, steht ihr Leben Kopf. Plötzlich gerät sie ins Visier der Halbgöttin Caldhra und ihr Leben in Gefahr. Ihr einziger Ausweg: die Ausbildung auf Internat Láthrá. Kaum angekommen, merkt Aghni, dass sie keineswegs so sicher ist wie geglaubt. In ihren Freundinnen und ihr erwachen uralte Kräfte. Als die Übergriffe sich häufen, ist den Mädchen klar: Sie müssen ihre Magie nutzen, um Caldhra aufzuhalten. Dabei kommt ihnen nicht nur Aghnis Herz gewaltig in die Quere ... denn wer sagt eigentlich, dass Feuer und Wasser sich abstoßen?
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Seitenzahl: 610
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Für Lilly, ohne die Erakos
in meiner Schreibtischschublade
geblieben wäre
MORNING MOOD VARIATION - Edvard Grieg
OOGWAY ASCENDS - Kung Fu Panda
BIRD SET FREE - Sia
LEARNING TO FLY - Hills x Hills
CRYSTALS - Of Monsters and Men
BORGIA MAIN TITLES - Eric Neveux
UP IN FLAMES - Ruelle
THE TRAIL - Marcin Przyblowicz
MY SONGS KNOW WHAT YOU DID ... - Fall out Boy
DONT MESS ME AROUND - Clare Maguire
OVER HILL - Howard Shore
ICARUS -Iván Torrent
SPIDER IN THE ROSES - Sonia Leigh
DRINK UP, THERES MORE - Percival Schuttenbach
GIRL ON FIRE - Alicia Keys, Nicki Minaj
IL TROVATORE/ANVIL CHORUS - Verdi
IN DER HALLE DES BERGKOENIGS - Edvard Grieg
RIVERSIDE - Agnes Obel
... STEEL OF HUMANS - Percival Schuttenbach
I SEE FIRE - Ed Sheeran
BURN - Ellie Goulding
Prolog
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Ein Todesschrei ließ die Wälder von Paratyl erzittern. Im Angesicht dessen, was hinter der Frau her war, verharrten selbst die Dryaden starr vor Angst und beobachteten die Jagd hilflos.
Im Schneegestöber lagen zwei Einjährige in den Armen der Toten. Das Rot sickerte unter ihren dünnen Leibchen hervor und tränkte das Weiß wie Wasser die Erde nach langer Trockenheit. Die zahlreichen Blutspritzer bedeckten wie Windpocken ihre kleinen Gesichter.
Das Opfer lag verrenkt, die Beine zersplittert und aus ihrem Rücken ragte eine oxidschwarze Axt. Das Weinen der Kinder zerriss die Totenstille der eisigen Winterluft.
Zwischen den Bäumen erschien eine Gestalt, die Haut bleich wie der Frost und die Dryaden glaubten, der Geist der Mutter sei zurückgekommen, um die Kinder zu holen.
Mit starrem Blick schritt die geisterhafte Erscheinung zur Verstorbenen. Ihr Gewand selbst schien lebendig zu sein, so sehr zerrte der Sturm daran. Die Gestalt nahm die Schützlinge an sich und wisperte ihnen etwas in die Ohren.
Dann verschwand sie mit ihnen in einem unsterblichen Leuchten, dass die Dryaden sich nicht erklären konnten.
Sekunden später lagen die Zwillinge am Quell des Panhagi, vor den Füßen des Göttervaters Zarath.
»Was hat das zu bedeuten? Zwei Halbsterbliche in meinem Palast?«, brauste er auf. Xynthiane, welche die Kinder zu ihm gebracht hatte, trat aus den Schatten.
»Ich hatte eine Vision«, säuselte die Göttin der Weissagung und deutete auf die Kinder. »Wenn wir Götter nichts unternehmen, werden die beiden nun, da ihre Mutter tot ist, eines Tages der Grund für unseren Untergang sein.«
Sie kam näher und flüsterte ihm die Prophezeiung ins Ohr. Die Worte sollten ihm noch Jahrhunderte später im Nacken sitzen.
»Trennt die beiden voneinander! Sie dürfen sich niemals begegnen«, schrie er.
VOM FEUER VERBRANNT.
VOM LICHT GEBLENDET.
VON ERDE ZERDRUCKT. ..
VOM GIFT GETOTET.
VOM WINDE VERWEHT.
SO STEHT ES GESCHRIEBEN, SO WIRD ES GESCHEHN.
IN DER GLUT DES FEUERS
IN DEM LICHT DER SONNE
IN DEN SAMEN DER BLUMEN
IN DER MACHT DES GIFTES
IN DEM HAUCH DER LUFT
DORT LIEGT IHRE MAGIE.
GEBOREN, UM LIEBE ZU SCHENKEN
GEBOREN, UM LEBEN ZU SCHUTZEN
GEBOREN, UM GUTES ZU TUN
GEBOREN, UM ALLE ZU RETTEN
GEBOREN, UM LEID ZU MILDERN.
SO STEHT ES GESCHRIEBEN, SO WIRD ES GESCHEHN.
MIT DER GLUT DES FEUERS
MIT DER HITZE .. DES LICHTES
MIT DER SCHONHEIT ..DER PFLANZEN
MIT DER KALTE DES TODES
MIT DEM HAUCH DES WINDES
WERDEN SIE UNS ALLE RETTEN
UND DIE EINE SCHUTZEN
DIE DEN STEIN WEISS ZU NUTZEN
Aghni
Mitten im Monsun schluchzte sie sich die Seele aus dem Leib und verfluchte ihre Mutter.
Normalerweise störte sie der prasselnde Regen nicht
Nein, Aghni hätte es sogar genossen, dass die Tropfen verdampften wie zischende Küsse, sobald sie ihre Haut berührten. Normalerweise entspannte sie es, ihre Füße im tiefschwarzen Uferschlamm zu vergraben, der vom Guss schon zu Schlacke geworden war. Und normalerweise empfand sie Freude daran, leuchtend wie eine Fackel zwischen den dunkler werdenden Kronen zu stehen. Heute aber wusste sie nicht, wem sie trauen konnte und ob das Wasser Freund oder Feind war. Zum ersten Mal wurde ihr in ihrer gut behüteten Situation bewusst, wie schnell sich das Blatt des Lebens wenden konnte. Auf ihre Stellung am Hof war kein Verlass.
Dabei hatte der Morgen so gut begonnen.
Freudig riss sie die Fenster auf und sog die Luft ein, die nach der Trockenheit des letzten Monats endlich regenschwer wirkte. Sie konnte die Ankunft von Nephele kaum erwarten, die zusammen mit ihrem Vater zu einer Konferenz geladen war. Seit ihrer frühesten Kindheit war Nephele die Person, die ihr trotz der Entfernung ihrer Länder am nächsten stand. Bis dahin hatte sie einen ungestörten Ausflug in die umliegenden Wälder dringend nötig, um der erdrückenden Schwere des Palastes zu entkommen. Trotz großer Vorsicht schaffte sie es bei ihrem unerlaubten Ausflug nach kürzester Zeit, ihr Kleid so sehr einzusauen, dass der Saum vor Dreck triefte.
Bei Ylona! Sie hätte eine Hose anziehen sollen.
Sie hob ihren Rock und drehte einen Knoten in den Stoff. Dabei verteilte sich noch mehr Dreck auf den Stickereien.
»Elegant.«
Sie riss ihren Kopf hoch. Kinan trottete durch den Regen auf sie zu, die Lippen missbilligend gespitzt. Der Regen konnte ihm so wie ihr nichts anhaben, er verdampfte zischend auf seiner Haut. Der Stallbursche musste sie im halben Wald gesucht haben.
Sie schmunzelte. »Stilvoll, nicht wahr?«
Seit sie denken konnte, war er einer ihrer wenigen Vertrauten am Hof. Und vor allem eines der wenigen männlichen Wesen, zu denen sie außerhalb ihrer Familie Kontakt pflegen durfte – weil er sich nicht für Frauen interessierte.
»Prinzessin, König Hiro ist vorhin mit seiner Tochter eingetroffen und …«
Innerlich rollte sie mit den Augen. Obwohl sie sich so lange kannten, bestand er darauf, sie auch im privaten Umfeld mit ihrem Titel anzusprechen. Dann sickerten seine Worte zu ihr durch. Noch bevor er ausreden konnte, rannte sie mit einem freudigen Luftsprung an ihm vorbei und wich geschickt Farnen und tief hängenden Ästen aus.
Sie hörte Kinan noch fluchen, als er versuchte, ihr zu folgen. Wenn sie sich mal wieder in den Wald schlich, merkte er das meist als Erster, weil ihr Callo dann nicht mehr im Verschlag stand. Ihre Eltern hatten ihm daher aufgetragen, sie in solchen Fällen zu suchen und heil zurückzubringen.
Aghni wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen – sie brauchte nur etwas Freiraum und Zeit für sich. Der erste Regen des Monats war ihr da recht gekommen.
Im Nassen fand Aghni auch ihre triefende Kammerzofe. Trotz des Schauers wirkte sie heiter, was vielleicht daran lag, dass der Palastbote sie kokett mit unter seinen Umhang gelassen hatte. In ihren Händen hielt die rothaarige, sommersprossige Frau, die nur drei Winter mehr zählte als sie selbst, die Zügel der Callos, mit denen sie den Palast verlassen hatten.
Die Tiere waren eng verwandt mit Rehen, aber höher gewachsen. Sie hatten staksige, wenn auch muskulöse Beine und große, aufrecht stehende Ohren, die bei jedem Sprung leicht wippten.
Durch das Gras schlitternd kam Aghni vor der Gruppe zum Stehen. Der Bote war mit zwei Wachen eingetroffen, die sie mit Sicherheit zum Palast geleiten sollten. Bei ihrer Ankunft richtete er sich kerzengerade auf.
»Prinzessin, auf Geheiß Eures Vaters soll ich Euch zurück zum Schloss begleiten.«
»Ich eile!«, rief sie.
Während der Mann sich abwandte, flüsterte sie ihrer Zofe Li ein »Danke« zu. Die Ältere bedachte sie zwar mit einem vorwurfsvollen Blick, als sie sich auf ihr Callo schwang, grinste dabei aber breit. Aghni sah an sich herunter. Nephele würde eine Weile warten müssen. Mit Schlamm bespritzt, miefiger Kleidung und triefenden Haaren würde sie ihre Freundin kaum begrüßen dürfen. Sie konnte froh sein, wenn ihre Eltern sie nicht so sahen.
»Hjia!« Sie trieb ihr Callo in den Galopp und preschte über die Wiese davon, ihr Gefolge ignorierend. Sie waren nicht weit vom Palast. Trotz des mittlerweile strömenden Regens konnte sie ihr Zuhause, den ›Königstempel‹, wie ihn das Volk nannte, samt des Ylonaschreins bereits hinter den Hügeln erkennen.
Ihre Familie wohnte hier seit Jahrhunderten.
Aghnis Mutter, Marietta von Ching, war die einzige Tochter ihrer Linie und somit Thronerbin. Sie war eine ruhige, kluge Frau, aber zu besorgt um die Zukunft ihres Landes – weswegen sie sehr streng war. Aghni hatte die pechschwarzen Haare und die leicht rundliche Gesichtsform von ihr geerbt, sowie ihren starken Willen. Ihr Vater, Gergan, stammte aus einer der adligen Familien Chings. Er war ein nachdenklicher, aber gerechter König, der stets bedacht handelte. Von ihm hatte sie ihre braunen Augen und den sturen Charakter.
Sie passierte das mächtige Tor des Palastes, ließ die Wachen zurück und trieb ihr Callo voran. Mit langen Sätzen und durch die Pfützen patschenden Hufen schnellte das braune Tier über die gepflasterten Wege, vorbei an den prächtigen Bibliotheken, Gärten und den Mauerzonen, welche die zahlreichen Wohngebiete der Residenz abgrenzten. Vor einem Seitenflügel des größten Gebäudes, einem mehrstöckigen imposanten Pagodenbau, zügelte Aghni das Tier und sprang aus dem Sattel. Die Calloricke drückte sie einem herbei eilenden Diener in die Hand.
»Bringt sie in den Stall und sorgt dafür, dass sie abgerieben wird«, rief sie ihm zu, dann lief sie die Marmorterrassen hinauf und verschwand im Inneren der Halle.
Endlich saß sie zurechtgemacht in ihrem Pavillon und durfte Nephele empfangen, ihre beste Freundin seit Kindheitstagen. Der Regen hatte nicht nachgelassen und prasselte fordernd auf das Dach nieder.
Die sonst so aufdringlichen Geräusche der Zikaden und Nachtigallen verstummten unter dem alles übertönenden Gurgeln und Schmatzen der sich vollsaugenden Erde.
Die Prinzessin von Aethrún kam allein, ebenfalls hübsch herausgeputzt, in einem hellblauen Kleid aus feinster Seide und über beide Ohren grinsend. Ihre feuerroten Haare bildeten ein geflochtenes Kunstwerk auf ihrem Rücken.
»Du bist so schön geworden!«, empfing Aghni sie und drückte sie fest an sich.
»Was denn? Sah ich das letzte Mal etwa so grauenvoll aus? Bei den Göttern, es ist so lange her!«, entgegnete Nephele lachend und hielt ihre Hände.
»Ich hatte dich gar nicht so früh erwartet.«
Sie bot ihrer Freundin einen Platz an.
»Wir hatten wohl guten Wind«, schmunzelte die Rothaarige. Aghni goss ihnen den Kräutersud ein und unterdrückte ein Lachen.
»Ach komm, du hast doch geschummelt!«, neckte sie.
Nephele zuckte nur mit den Schultern. »Mein Vater verträgt die Schiffsreisen nie, er wird immer ganz seekrank. Und als sich dann noch diese Regenfront ankündigte«, Nephele schlürfte einen Schluck Tee, »konnte ich ihn nicht länger an der Reling stehen lassen. Er bekommt dann immer furchtbar schlechte Laune.« Aghni verkniff sich bei der Vorstellung, dass Nepheles Vater vom Meer übel wurde, das Schmunzeln. Aber wundern tat es sie nicht.
Ihre Freundin stammte aus dem Land der Luftfeen, das über den Wolken lag. Dort nutzte man stets die Kraft des Windes, um sich fortzubewegen, niemals Strömungen des Wassers. König Hiro mied die See, sooft er es vermochte.
»Konntet ihr keinen Drachen nehmen?«, erkundigte sie sich.
»Ach, dazu hatten wir zu viel Gepäck. Mein Vater hat reichlich Geschenke mitgebracht, weiß Daphne, warum!«
Aghni lächelte. »Wo seid ihr von Bord gegangen?«
»Gestern Mittag am Hafen vor Fangao. Das war der kürzeste Weg … Aber genug von mir. Sag, gibt es Neuigkeiten?«
Nephele schaute sie mit ihren stechend blauen Augen forschend an. Aghni überlegte einen Augenblick.
»Nicht, dass ich wüsste. Hier ist alles beim Alten.«
»Ach komm, mir kannst du nichts vormachen!« Nephele stupste sie verspielt an. »Du besuchst ab Ende des Sommers das Internat, stimmt das?«
Aghni schmunzelte nun doch. »Ja, das tue ich. Es wird ja von mir erwartet. Ich kann mein Land wohl kaum im Stich lassen«, sie stockte. »Aber diese Ausbildung … wenn ich ehrlich sein darf, weiß ich nicht, ob ich bereit dafür bin.«
Nephele konnte ihre Freude schon nicht mehr im Zaum halten. »Nun, ich darf dir freudig mitteilen, dass du damit nicht allein bist!«
Aghni runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Mein Vater hat ebenfalls beschlossen, dass es für mich an der Zeit ist, zu einer guten Königin ausgebildet zu werden und mein Wissen über Diplomatie zu vertiefen. Es ist schon alles unterzeichnet. Die nächsten Jahre wird Láthrá mein Zuhause sein, genau wie deines.«
Aghnis Herz machte einen Hüpfer. »Das ist wundervoll!«, lachte sie.
So würde sie sich wenigstens nicht vollkommen fehl am Platz vorkommen. Nephele würde es um einiges erträglicher gestalten, die nächsten drei Jahre weder ihre Heimat noch ihre Familie zu sehen und in dunklen Mauern gezwungen zu sein, die Sitten und Strategien des Hofes auswendig zu lernen.
»Du glaubst gar nicht, wie sehr mich diese Nachricht freut!«
»Ebenso wie mich! Ich dachte schon, es wird unfassbar langweilig dort – all diese öden Fächer!«, meinte Nephele begeistert. »Aber mit dir kann der Unterricht ja nur erheiternd werden! Außerdem hat mein Vater erlaubt, dass ich Ciraia mitnehmen darf, um nicht so einsam zu sein. Wir können gemeinsam die Gegend erkunden, so wie wir es als Kinder taten.«
Aghni schüttelte den Kopf. »Solange Ciraia uns nicht beide trägt, ist das kaum möglich. Ich darf mein Callo nicht mitnehmen. Mutter meint, es würde mich zu sehr ablenken.«
Nephele seufzte enttäuscht und rollte mit den Augen.
»Deine Eltern machen sich zu viele Gedanken um deine Vorbereitung. Mein Vater sollte es sein, der sich darüber den Kopf zerbricht. Immerhin steht er ganz allein da.«
Obwohl Nephele ihre Mutter nie kennengelernt hatte, hörte Aghni die Trauer in ihrer Stimme. Die Königin Aethrúns war im Kindbett verstorben und ihr Vater hatte niemals wieder geheiratet, obwohl viele an seinem Hof das forderten. Ihre Freundin war schon immer locker damit umgegangen, dass sie keine Geschwister hatte, und das half auch Aghni, positiv zu denken. Denn so wie Nephele war sie bisher die einzige Erbin ihres Hauses.
Es war still um sie geworden.
»Lass uns doch etwas spazieren gehen!«, schlug Aghni vor.
Die Luft war schwanger vom herrlichen Duft, den der Regenguss hinterlassen hatte. Zu zweit strichen die Mädchen durch die Gärten. Nur Tropfenakrobatik von buntblättrigen Gehölzen, Bambusbüschen und mimosenhaften Blütensträuchern begleitete sie. Aghni liebte die gepflegte Begrünung innerhalb der Mauern, fühlte sich aber oft beobachtet.
So kurz nach dem Wolkenbruch hatten sie die Schönheit jedoch fast für sich. Die Mädchen versuchten, kichernd und tratschend die wenigen Bediensteten zu ignorieren, die schon wieder mit Heckenscheren und Rechen bewaffnet die Trampelpfade entlang huschten. So konnten sie die verschlungenen Wege und die Teiche, die von tausenden Seerosen und Fischen bevölkert waren, in aller Fülle bewundern.
»Wie lange wirst du bleiben?«, fragte Aghni, an ihrem Lieblingsplatz im Palast angekommen.
Eine Brücke, die sich hoch über den Weiher bog und von der man einen fantastischen Ausblick genoss. Und das nicht nur am Tag. Sie hatte sich schon des Öfteren nachts hierher geschlichen, um den Sternenhimmel zu bewundern und die Fische zu füttern, deren silberne Rücken atemberaubende Spiegel des Mondes bildeten.
»Ein paar Tage. Genaueres weiß ich nicht, mein Vater ist für irgendwelche Verhandlungen hier«, antwortete Nephele.
»Wir müssen unbedingt zusammen nach Letta fahren, um alle Bücher und Utensilien fürs Internat zu besorgen«, schlug Aghni vor.
»Eine gute Idee! Lass uns das gleich morgen erledigen. Dann haben wir die restlichen Tage mehr Zeit und können gemeinsam in die Wälder.«
»Ich werde alles regeln. Es ist eine Reise von ein paar Stunden, und man wird uns kaum alleine in die Stadt lassen«, bemerkte Aghni bedauernd.
»Wir können aber nicht mit Wachen dort auftauchen. Das ist viel zu auffällig und wird uns letztendlich nur behindern.«
»Du hast Recht.« Aghni überlegte einen Moment. »Weißt du, lass das meine Sorge sein. Warte einfach morgen früh auf meine Zofe.«
»Das wird so aufregend! Oh, ist das nicht deine Mutter?«
»Was?« Panisch fuhr Aghni herum.
Tatsächlich steuerte die Königin von Ching auf die Mitte des Holzsteges zu, begleitet von ihren Hofdamen. Während das Gefolge am Fuße der Brücke verweilte, trat ihre Mutter zu ihnen.
»Hast du etwas angestellt?«, flüsterte Nephele.
»Ich war außerhalb des Palastes, aber deshalb hat sie noch nie etwas gesagt«, wisperte sie zurück.
Schließlich blieb ihr nur, zu lächeln und vor ihrer Mutter eine Verbeugung anzudeuten.
»Prinzessin Nephele, ich bin sehr erfreut, Euch an unserem Hof begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise?«
»Sie war sehr angenehm, Eure Hoheit«, bestätigte die Angesprochene.
Marietta von Ching wirkte zufrieden. »Ihr seid sicher dennoch erschöpft. Ruht Euch etwas aus, ich möchte ein paar Worte mit meiner Tochter wechseln. Ihr könnt sie morgen wieder sehen.«
Trotz der freundlichen Ansprache war das eindeutig ein Befehl. Sie steckte in Schwierigkeiten. Nephele, der das ebenfalls nicht entgangen war, warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, bevor sie sich verneigte, ihre Röcke raffte und sich eilig entfernte. Ihre Mutter wartete, bis die Luftfee die Brücke hinter sich gelassen hatte, dann wandte sie sich ihr zu.
»Aghni, sicherlich ist dir aufgefallen, dass uns seit dem Frühjahr oft Botschafter besuchen.«
Wie sollte ihr das entgangen sein? Es wurde immer ein Essen veranstaltet, um die Gäste zu begrüßen.
»Ist mir aufgefallen«, bestätigte sie und kaute auf ihrer Unterlippe.
Ihre Mutter lächelte. »Wir haben lange darüber nachgedacht. Und am Ende hatte eine meiner Hofdamen den besten Vorschlag. Sie ist eine gute Freundin von mir und stammt aus dem Königshaus der Nidalis.« Sie sah sich kurz um.
»Über was habt ihr nachgedacht?«, fragte Aghni. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihres Gewandes. Das Ganze konnte nichts Gutes bedeuten, doch wusste sie es nicht einzuordnen.
»Ich wollte es dir zu einem angemesseneren Zeitpunkt sagen, aber dann trafen die Aethrúns schon ein, und alles ging drunter und drüber.« Die Königin seufzte.
»Mir was sagen, Mutter?«, fragte sie und warf einen irritierten Blick in Richtung der Hofdamen.
»Du bist nun alt genug, dass dein Vater und ich die ersten Bewerbungen um deine Hand erhalten. Bisher zumeist von kleineren Häusern, deren Söhne wir bei einer genaueren Prüfung als nicht geeignet eingestuft haben.«
Aghni war froh, dass sich das Geländer der Brücke in Reichweite ihrer Finger befand.
Das konnte nicht sein … das durfte nicht …
»Wir haben Kontakt zum Königshaus von Nidalis aufbauen können. Meine Hofdame empfahl ein Bündnis unserer Länder, durch eine Heirat zwischen dir und dem ältesten Sohn der …«
»Oh nein!«, keuchte Aghni. »Das könnt Ihr mir nicht antun!«
»Lass mich ausreden!«, befahl die Königin. »Ich will, dass du diesen Mann heiratest! Er hat einen edlen Charakter und ist ansehnlich. Außerdem ist der Vertrag schon unterzeichnet, ich dulde also keine Widerrede!«
»Nein …« Sie wich zurück.
Ihre Augen schnellten zwischen den Hofdamen und ihrer Mutter hin und her. Bei Ylona, hatte sie richtig verstanden?
»Wie könnt Ihr nur?« Ihre Stimme bebte, es war ihr egal. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. Panik drohte, in ihr aufzusteigen, und sie rang mit der Fassung.
»Der Junge ist eine äußerst gute Partie. Er verzichtet für dich sogar auf seinen Thronanspruch, um mit dir zu herrschen«, versuchte ihre Mutter einzuwenden, aber das sorgte nur für mehr Unverständnis bei ihr.
»Nachdem Ihr zu einer Heirat mit Vater gezwungen wurdet, wollt Ihr dasselbe nun Eurer Tochter antun?«
Aghnis Stimme schnellte in die Höhe, sie kämpfte mit den Tränen. Niemals hätte sie ihren Eltern zugetraut, dass sie sie einfach so verscherbelten.
»Dein Vater und ich haben uns sehr schnell miteinander angefreundet. Der Junge hat das Herz am rechten Fleck. Er wird dir ein guter Ehemann sein, ebenso wie Gergan es für mich ist. Es ist vereinbart, dass ihr nach euren traditionellen Internatsausbildungen miteinander verlobt werdet.«
Nun weinte sie doch. Alles brach in ihr zusammen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Wie konnten sie so über ihren Kopf hinweg entscheiden?
»Ich werde niemanden heiraten, den ich nicht kenne, Mutter!«, ereiferte sich Aghni und spürte, wie die Tränen zischend auf ihren Wangen verbrannten.
»Du wirst ihn kennenlernen. Er ist schon auf dem Weg nach Ching. Zum Jahrestag meiner Krönung wird er hier sein und ihr könnt euch miteinander bekannt machen. Ich erwarte, dass du dich mit deinem Schicksal abfindest! Es ist das Beste für Ching.«
Aghni schluckte. Deshalb also.
»Ihr denkt, ich bin keine würdige Thronfolgerin! Ihr denkt, das Land braucht einen starken König? Und natürlich wollen die Minister einen männlichen Erben! Ist es nicht so?«
Ihre Stimme zitterte, war aber gefährlich leise geworden. Marietta antwortete nicht, sah sie nur zerknirscht an, und das bestätigte ihren Verdacht.
»Ich hätte von Euch mehr erwartet, Mutter!« Sie wandte sich von ihr ab. »Ihr unterschätzt mich! Gerade Ihr müsstet doch wissen, wozu eine Frau mit meinem Geburtsrecht in der Lage ist. Ich werde Euch früher oder später beweisen, dass ich geeigneter dafür bin, mein Land zu regieren, als jeder Mann es je sein könnte! Wenn ich Königin werde, dann werde ich das ohne Ehemann, in dessen Schatten ich versauern muss!« Aghnis Stimme überschlug sich, und sie rannte davon, die Einwände ihrer Mutter ignorierend.
Und hier, im Regen, wünschte sie sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Zurück in ihre unbeschwerte Kindheit, zurück in die Freiheit. Wütend schoss sie eine Flamme in den Bach. Das Wasser zischte, Dampf stob auf. Aghni stellte sich vor, dass es der Prinz von Nidalis war. Natürlich war das ungerecht ihm gegenüber.
Aber ihre ungebändigte Wut musste raus. Kurz erhellten ihre Flammen den schwarzen Himmel. Aghni atmete tief durch und strich sich die Haare von der Stirn. Der Monsun war unnachgiebig.
Sie hatte es immer gemocht, im Fall der Tropfen zu stehen und ihr inneres Feuer zu nutzen, um sie zu Wasserdampf zu verbrennen. Nun kam ihr der Regen wie ein Fremdkörper vor, der auf ihrer Haut gar nichts zu suchen hatte. Ihr war, als müsste sie plötzlich gegen jegliches Wasser ankämpfen. Einen Groll hegen, der eigentlich für ihre Eltern bestimmt sein sollte. Aber nach dem Gespräch und dem Blick ihrer Mutter – sie konnte sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Idee zu dieser Verbindung nicht von ihren Eltern kam.
Vielleicht projizierte sie deshalb ihre Wut gegen das Wasser.
»Ylona!«, rief sie zornig in die Dunkelheit. »Ist das wirklich dein Wunsch, Göttin?«
Aghni spürte, wie die Tränen wiederkamen. Sie ließ sich auf den modrigen Waldboden sinken und kleine Flammen zwischen ihren Fingern tanzen. So saß sie da, bis in die schwärzeste Stunde der Nacht. Fühlte sich verraten.
Wie – ja, wie sollte sie mit einem fremden Mann an ihrer Seite ihren Aufgaben gerecht werden? Wie sollte sie das Erbe ihrer Großmutter, ihrer Mutter, verteidigen?
Sie musste diese Hochzeit verhindern ... nur wie?
Aghni
Aghni achtete nicht auf ihre Umgebung. Die Hufe ihres Callos klapperten unter ihr und die Landschaft strich an ihr vorbei. Nephele, die in einen rauen Umhang gehüllt vor ihr ritt, kannte zum Glück den Weg.
Sie war sich sicher, dass ihre Eltern ihr Verschwinden schnell bemerken und es Ärger geben würde. Das war ihr egal. Nichts war schlimmer, als jemandem versprochen zu werden, den man nicht einmal kannte!
»Willst du darüber reden?«, kam es von vorne. Wie sollte sie das ihrer Freundin nur erklären?
»Alles gut«, antwortete sie halbherzig und lenkte neben Nephele’s Callo. Die Stadt war nicht mehr weit. Es war sicherer, wenn sie dicht zusammenblieben. Der Pfad wurde nur selten benutzt. Von Osten führte lediglich der Königsweg und von Nordosten eine Straße von Fango nach Letta.
Sie überholten nur die von dort kommenden Händler, die mit schwerem Gepäck beladen den matschigen Weg überquerten. Letta war eine kleine Stadt, doch dank ihrer Nähe zur Gelehrtenstadt Fangao fand man hier Buchhändler, Schneider und Kräuterfrauen. Alles, was sie brauchten.
Aghni atmete erleichtert auf, als sie die ersten gebogenen Dächer zwischen dem Dickicht entdeckte. Sie war zwar froh, keine Wachen dabeizuhaben, dennoch hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. Die Mauern ragten vor ihnen auf und sie passierten das östliche Stadttor. Reihen von gedrungenen, bemalten Holzhäusern zwängten sich aneinander. Türen und Stützbalken waren mit aufwendigen Schnitzereien verziert, einige hölzerne Fensterläden standen bei der Wärme des Sommers offen. Schon drei kleine Straßen weiter lichteten sich die Häuser zu einem Marktplatz. In der Mitte standen ein paar Tische, mit weißen Tüchern überspannt, und eine Tribüne. Es war so eng, dass sie absteigen und die Callos an einen Pfahl gebunden stehen lassen mussten. Ungern ließ sie Kára zurück. Die Calloricke war ihr immer treu. Sie zupfte den Ärmel ihrer Verkleidung zurecht. Die schlichten Gewänder hatte ihre Zofe Li ihr besorgt. Das raue Gewebe störte sie kaum, nur die Farben kamen ihr zu trist vor. Auf dem Platz drängten sich Dutzende Feen, handelten, trugen Waren und tratschend. Auf der Tribüne zeigten zwei ausländische Feen ihre Magiekünste, immer wieder von Applaus unterbrochen.
»Komm, hier entlang. Ich weiß, wo wir die Kräuterfrau finden«, meinte sie zu Nephele und zog sie durch die Gassen zwischen den Ständen hinter sich her.
Die alte Frau hatte ihr Lädchen in einem Haus direkt am Marktplatz und verkaufte ihnen nicht nur Heilkräuter, sondern auch hochwertige Ölauszüge, die förderlich für die Konzentration sein sollten. Der nächste Anlaufpunkt war der Buchhändler. Als sie eintraten, klingelte ein Glöckchen, und ein Mann in den Fünfzigern schaute hinter der Theke auf. Er warf ihnen einen prüfenden Blick zu, vermutlich aufgrund ihrer schlichten Kleidung.
»Was kann ich für Euch tun, werte Damen?«, fragte er etwas misstrauisch.
Nephele schlug ihre Kapuze zurück und gab ihm lächelnd die Liste, die sie vom Internat erhalten hatten. Der hagere Mann überflog die Zeilen, dann nickte er und schenkte ihnen ein verschmitztes Lächeln.
»Ich verstehe. Das habe ich alles im Lagerraum. Die Bücher werden selten benötigt. Einen Augenblick, bitte.«
»Ich wage zu hoffen, dass Ihr Stillschweigen wahren könnt?«, fragte Aghni und hob ebenfalls kurz ihre Kapuze.
Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Natürlich, es ist mir eine Ehre, Prinzessin«, nickte er und verschwand sich mit hastigen Verbeugungen im Hinterraum.
»Was wollte deine Mutter eigentlich von dir?«, fragte Nephele leise.
Aghni seufzte. Sie hatte gehofft, dieses Thema bis zur Rückreise zu verdrängen.
»War nicht so wichtig«, setzte sie an, bekam aber einen Stoß von Nepheles Ellenbogen in die Seite.
»Glaube nicht, dass du etwas vor mir verheimlichen kannst. Denkst du, ich merke nicht, wie nachdenklich du die ganze Zeit bist?«
»Schön. Anscheinend bin ich meinen Eltern nicht gut genug. Sie wollen mich verscherbeln«, erklärte sie.
Ehe Nephele nachhaken konnte, kam der Händler mit den Büchern zurück, und so konnte sie ihr noch eine Weile ausweichen.
Davius
Konnte das wahr sein? Bei Andavor!
Davius starrte hinter die Theke.
Fassungslos blieb er ungesehen im Hinterraum stehen und lauschte dem Gespräch im Laden. Der Liste, die sein Vater ihm in die Hand gedrückt hatte, hatte er entnommen, dass es sich um adlige Kundschaft handelte. Aber er hätte niemals erwartet, dass die Prinzessin der Feuerfeen hier einfach so hereinspazierte. Getarnt als Bäuerin, und auch noch ohne Begleitung. Vermutlich fiel niemandem die Verkleidung auf, sie war durchaus glaubhaft. Aber er hatte die junge Frau schon vor ein paar Jahren, als er und sein Vater gerade nach Letta gekommen waren, näher betrachten können als es dem Volk sonst gestattet war. Sie hatte mit König und Königin für eine große Zeremonie die Kathedrale der Ylona, der Feuergöttin besucht. Ihr Callo war aufgrund der vielen Feen auf der Straße durchgegangen. Obwohl sie sich gehalten hatte, wäre das Tier mit ihr vermutlich im Wald verschwunden, hätte er es nicht aufgehalten. Sie hatte sich lächelnd bei ihm bedankt und war in den Tross zurückgekehrt. Er war gerade einmal fünfzehn Winter alt gewesen, sie vielleicht acht.
Und dennoch erkannte er sie wieder.
Sein Vater ging mit ihnen die Liste durch, als die rothaarige Dame feststellte, dass etwas fehlte. Davius schaute an sich herab und bemerkte, dass er das fehlende Buch in den Händen hielt. Er trat zu seinem Alten und reichte ihm das Schriftstück. Die Prinzessin warf ihm einen prüfenden Blick zu und er wandte sich schnell wieder ab. Dank der Informationen, die sie ihm zugespielt hatte, wäre es ein Leichtes, bei seiner Königin zu punkten. Er lächelte, bevor er in den Schatten des Lagers verschwand.
Aghni
»Findest du düster blickende Kerle seit neuestem attraktiv?«, fragte Nephele, sobald sie den Laden verlassen hatten.
»Quatsch … ich weiß nicht, ich glaube, ich kannte den Mann irgendwoher.«
Nepheles Worte erinnerten sie schmerzhaft daran, dass sie in Kürze keinen Mann außer ihren Gatten überhaupt als Mann wahrnehmen durfte.
»Vielleicht hat er mal im Palast gedient?«
Aghni dachte nach, schüttelte aber den Kopf.
»Lass uns lieber noch zur Schneiderin, bevor es spät wird.«
Nephele hatte Recht, sie hatten schon Zeit vertrödelt. Die Näherin wohnte in einer Seitengasse und war eine entfernte Cousine von ihr. Weil sie aus unehelichen Verhältnissen stammte, hatte der Clan ihres Vaters sie verstoßen.
Bis auf Aghnis Vater, der Mitleid mit der Tochter seines Halbbruders hatte, dachten ihre noblen Verwandten, allen voran ihr eigener Vater, nicht daran, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. König Gergan hatte Kore vor einigen Jahren nach Letta geholt und es ihr ermöglicht, in die Lehre bei einer Schneiderin zu gehen, um unabhängig zu werden.
Ihre Cousine hatte sich so schlau angestellt, dass sie vor zwei Wintern die Werkstatt ihrer alten Meisterin übernahm.
»Diese Umhänge werden doch nur dazu dienen, uns das Laufen zu erschweren«, beschwerte Aghni sich bei ihrer Freundin.
Sie kamen an Straßenhändlern vorbei, die Obst und frische Blumen anboten.
»Glaub ja nicht, dass ich unser Gespräch vergessen habe. Also, was meinst du mit verscherbeln?« Nephele stützte ihre Hände in die Hüften.
Aghni nagte an ihrer Unterlippe. Wie sollte sie ihrer Freundin das erklären? Dann seufzte sie. Es hatte keinen Sinn, Nephele etwas verheimlichen zu wollen. Sie war viel zu gut darin, nachzubohren.
»Sie wollen mich verheiraten«, erklärte sie schlicht.
Sie passierten einen Getreidehändler.
»Wie bitte? Mit wem denn?« Nephele schnappte nach Luft.
»Ich kenne ihn nicht.«
Das Geschrei der Händler, das die Straße einnahm, kam ihr gerade recht. So bemerkte die Luftfee das Beben ihrer Stimme nicht.
»Das können sie doch nicht machen!«, schnaufte Nephele.
»Ich soll ihn bald kennenlernen. Aber bitte, ich will jetzt wirklich nicht darüber sprechen.«
Sie bog in die Gasse von Kores Haus ein. Nephele murrte zwar, fragte aber nicht weiter. Dafür schätzte Aghni ihre Freundin. Sie hörten die kaum ältere Kore schon von draußen schimpfen und traten neugierig ein.
»Nein, nein und nochmals nein! So geht das nicht! Ihr könnt das auf keinen Fall so tragen! Es gehört sich nicht, die Professoren würden Euch den Stock über die Rübe ziehen!«, ereiferte sich die Schneiderin lautstark aus dem Hinterstübchen. Sie wagten einen vorsichtigen Blick hinein.
Ein junger Mann kam rückwärts auf sie zu, als würde er vor Kore flüchten. Unsanft stieß der Fremde gegen Aghni und fuhr erschrocken herum.
»Entschuldige, ich habe dich nicht kommen hören«, nuschelte er verschämt.
Sie hockte sich hin, um die Bücher einzusammeln, die aus ihrer Tasche gefallen waren. Er half ihr.
»Du Tölpel! Es gehört sich nicht, junge Frauen über den Haufen zu rennen«, meckerte Nephele hinter ihr.
»Ist schon gut. Ist ja nichts passiert«, wehrte Aghni ab, obwohl ihr Oberarm an der Stelle pochte, gegen die er gestoßen war.
Sie musterte ihn stattdessen. Er hatte auffallend goldenes Haar, das man auf Ching nicht oft sah. Sein Körper war schlank, aber muskulös, und er hatte eine Stupsnase, ein paar Sommersprossen und freundliche blaue Augen. Ein Reisender … anders konnte sie sich sein fremdartiges Aussehen nicht erklären. Er musterte das Buch mit zusammengezogenen Brauen. Ihr Bauch kribbelte.
»Unsere Herrin hat uns geschickt, die Bücher zu kaufen«, rutschte es ihr heraus. Sie wusste nicht, wieso, aber sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zu erklären, damit dieser Fremde sie nicht für eine Diebin hielt.
»Hübscher Einband«, stotterte er. Er sah ihr direkt ins Gesicht. Dann erhob er sich hastig und hielt ihr die Hand hin. »Tut mir wirklich leid. Ich war so in Gedanken, ich habe dich gar nicht gesehen.«
Sie schlug seine Hand aus, denn seine blauen Augen machten sie nervös. »Geht schon, danke.«
Sie erhob sich. Während sie sich Staub von ihrem Rock klopfte, spürte sie seinen Blick auf ihr ruhen. Als sie ihm begegnete, senkte er ihn und reichte ihr schnell das Buch.
»Selbstverständlich werde ich die Regeln befolgen, verehrte Kore. Gestaltet den Umhang nur nach dem Muster. Ich werde ihn in ein paar Tagen abholen«, sagte er rasch, bevor er sich an Nephele vorbei drückte und schnell aus dem Laden verschwand. Stirnrunzelnd sah Aghni ihm hinterher. Seltsamer Kerl.
»Bei Ylona, was ein Tollpatsch. Bist du verletzt, Cousine?«
Die Empörung war deutlich aus Kores Stimme herauszuhören. Nephele kicherte.
»Nein, es ist alles heil, danke Kore.«
Die Brauen der Schneiderin waren noch immer dicht zusammengezogen. »Der hat Nerven. Zu seinem Glück bist du unbegleitet, sonst wäre er wohl schon einen Kopf kürzer«, ereiferte sich die Ältere und lief geschäftig vor ihnen umher.
Ihr grünes, traditionell chingesisches Gewand war mit häuslichen Blumenstickereien verziert und von schweren Borten gesäumt. Um die Hüfte hatte sich ihre Base ein schwarzes Tuch gewickelt, das von geknoteten Bändern am Platz gehalten wurde.
»Nun, er sollte ja nicht einmal ahnen, wen er vor sich hat«, versuchte Aghni den Unbekannten in Schutz zu nehmen und rieb sich unauffällig den Oberarm. Das würde eine Prellung geben.
»Ihr seid sicher wegen des Umhanges hier, nicht wahr?« Ihre Cousine hatte sich schon mit einem Kissen voll Stecknadeln und einem Maßband bewaffnet, ehe Aghni nickte
»Wartet kurz hier.«
Kore verschwand hinter einigen gefärbten Rollen Tuch, die für die einfache Bevölkerung gedacht waren. Bald kehrte sie mit einem dunkelgrünen Stoff über den Ellen zurück.
»Ich habe ihn genau nach Angabe gefertigt. Hier, er ist aus Wollsamt, geradezu perfekt! Während des phylenischen Sommers wird er wohl nicht zu warm sein, und während der kälteren Tage wird er dich warmhalten. Zwar nicht so erfolgreich wie Yakinafell, aber es wird reichen. Und hier seht ihr das Wappen Láthrás aufgestickt, mit feinster Seide.«
Sie breitete den Umhang vor Aghni aus und legte ihn ihr um die Schultern.
»Wie ist es? Liegt er zu schwer auf?«
Aghni begutachtete den Stoff und ging ein paar Schritte. Die Länge war perfekt. Der Umhang wog gut, aber er engte nicht ein. Sie würde damit nicht rennen können, aber zumindest hastig schreiten.
»Nein, er ist sehr schön. Und die Stickerei ist auch bezaubernd geworden«, bestätigte sie und drehte sich lachend im Kreis.
»Die Kapuze kannst du tief ins Gesicht ziehen, sodass du dich auch vor Blicken schützen kannst«, ergänzte Kore und ein stolzes Lächeln huschte über ihren Mund.
»Vor welchen Blicken sollte er mich schützen? Denen der jungen Frauen?«, lachte Aghni, zog aber die Kapuze auf und freute sich dennoch über den abschirmenden Stoff.
»Man weiß nie, vielleicht gibt es Küchenjungen, die dir schöne Augen machen«, grinste Nephele.
Schlagartig war Aghnis gute Laune verflogen. Nur die Erwähnung von Männern, von Liebe, ließ sie schmerzhaft an die Anordnung ihrer Eltern denken.
»Wir sollten zurück. Es wird spät!«, sagte sie und schälte sich aus dem Umhang.
Dieser fand in ihrer Tasche neben den anderen Utensilien Platz. Sie reichte Kore einen Sack Silbermünzen – weit mehr als eine Schneiderin üblicherweise für solch eine Arbeit bekommen würde, aber sie war ihre Cousine. Aghni wollte sie unterstützen, so gut sie konnte.
Zum Glück fanden Aghni und Nephele die Callos dort vor, wo sie die Tiere zurückgelassen hatten. Vor der Heimreise führten sie sie noch zu einer Tränke. Ihnen standen ein paar Stunden Ritt bevor, die Aghni so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Sie dachte immer wieder an den düsteren Mann im Buchladen. Sie war sich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Und konnte das mulmige Gefühl dabei einfach nicht verdrängen.
Aghni
Seit Stunden stand Aghni am Fenster und beobachtete das Gewusel im Palasthof. Inzwischen klebte ihre Haut von der erdrückenden Schwüle. Bedienstete huschten hin und her, trugen Stühle und Tische herum, hängten Lampions in den Bäumen auf und platzierten Teller.
Doch wenig später bauten sie alles wieder um, da erneut Regenwolken heraufzogen. Ihre Mutter gab sich allergrößte Mühe, das Königshaus strahlen zu lassen. Nicht mehr lange, dann würde die erwartete Eskorte eintreffen. Es klopfte.
Scheinbar hatte der erste Bote Alarm geschlagen.
»Kommt rein«, bat sie mit mulmigem Gefühl im Bauch.
Yia und Lif liefen sofort zu ihr. Sie zählten keine fünfzehn Winter und wirkten genauso aufgeregt wie sie. Kichernd schnatterten sie über ihre Zukunft, während sie um sie herumwuselten. Aghni nahm das Gespräch der beiden kaum wahr, zu unbedeutend waren deren Worte und zu sehr war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Sie konnte diese Fügung nicht zulassen. Sie wollte diesen Mann nicht einmal kennenlernen.
Wie sollte sie sich als würdige Königin erweisen, wenn sie ihre Entscheidungen denen eines Mannes unterordnen musste? Wie sollte sie für ihr Volk sorgen, wenn der König ein Fremder war, der es nicht verstand? Ihr Entschluss stand fest. Sie würde alles daransetzen, diese Hochzeit zu verhindern!
Ihre Hofdamen kleideten sie in teure Seide. Sie hatte die Mädchen gern. Lif war sogar mit ihr verwandt. Dennoch wünschte sie sich im Moment Nephele an ihre Seite. Zu oft hatte sie das Strahlen in den Augen der Jüngeren gesehen, wenn sie über das Heiraten eines Edelmannes sprachen. Sie würden sie nicht verstehen. Und ihre Zofe? Sie konnte zwar ihre Sorgen begreifen, hatte ihr jedoch geraten, nichts Unbedachtes zu unternehmen. Sie wusste selbst, welch großen Ärger ihr das einbringen konnte, aber sie würde das Risiko eingehen.
»Ich bin so gespannt, wie er aussieht!«, jauchzte Yia.
Sie werkelte an ihren Haaren herum, um diese zu Strähnen aufzuteilen. Ein paar flocht sie zu schmalen Zöpfen, die sie um die Knoten wickelte. Auf die setzte sie mit Gold und Edelsteinen überzogene Schmuckkämme und befestigte Perlenschnüre an diesen, die Aghnis Gesicht umrahmten und ihr bis zu den Schultern ihr reichten. Sie versuchte, nicht mehr nachzudenken. Sie musste sich jetzt auf ihr Vorhaben konzentrieren. Und dazu alles genau wahrnehmen.
»Die Nidalis’ sollen seit jeher goldene Haare haben«, erwiderte sie daher und probierte zu lächeln.
Zumindest vor ihren Hofdamen musste sie stark wirken. Sie sah an sich herab. Die beiden hatten sie in ein edles Kleid gehüllt, welches mit zahlreichen Stickereien verziert war. Um die Hüfte hatten sie ihr eine blaue Schärpe geschlungen.
Sie rümpfte die Nase. »Yia, sei doch so gut und suche mir ein anderes Tuch!«, bat sie.
»Aber … aber mit diesem drückt Ihr aus, dass Ihr die Familie Nidalis ehrt und Zuneigung empfindet«, versuchte die Jüngere es.
Aghni lächelte. »Das stimmt, aber wie kann ich dies zeigen, wenn ich den Prinzen noch nicht einmal kenne?«, fragte sie. Yia wollte etwas sagen, doch Aghni deutete schnell auf die schwarze Schärpe. »Nehmt doch die, die steht mir ohnehin viel besser«, ordnete sie an und bedankte sich mit einem Nicken bei Lif, als diese ihr das Band um die Hüfte knotete.
Yia war verstummt und machte sich mit einem verkniffenen Blick an ihrer Schminke zu schaffen. Wie immer dauerte das Zurechtmachen bei hohen Anlässen eine halbe Äone. Als ihre Hofdamen zurücktraten, erkannte sie sich selbst kaum im Spiegel wieder. Aufwändig waren ihre Haarknoten verziert, und sie war nach chingesischer Tradition geschminkt – blass, mit roten Lippen und feiner Farbe auf ihren Lidern und den Wangenknochen.
»Ich danke euch, das sieht zauberhaft aus.« Sie lächelte ihnen zu. »Yia, würdest du bitte Li auf ein Wort holen?«, bat sie dann und das zierliche Mädchen verschwand mit eiligen Schritten. In Ruhe suchte sie sich selbst einen Fächer aus, bevor sie lautes Hufgeklapper auf dem Hof vernahm. Ihr Herz blieb fast stehen … das war der letzte Bote. Sie wurde nun unten erwartet!
»Prinzessin?«, hauchte Lif neben ihr.
»Ich weiß.«
In diesem Augenblick kam Yia mit Li ins Gemach.
»Ihr wolltet mich sprechen, Prinzessin?«, fragte Li und verneigte sich leicht.
»Begleite mich bitte nach unten. Dann können Yia und Lif ihre Plätze bei ihren Familien einnehmen«, bat sie.
Li nickte schmunzelnd. Sie kannte ihren Plan. Zu Aghnis Glück war ihre Zofe keck genug, um ihr zu helfen, trotz der Bedenken.
»Ihr dürft gehen«, erlaubte sie den Hofdamen. Die beiden liefen kichernd davon, kaum hatte sie die Worte ausgesprochen.
»Es ist die Wache an der obersten Treppe«, raunte Li ihr zu. »Ich weiß, dass er ein Auge auf mich geworfen hat. Niemand anderes ist weit und breit positioniert. Ich werde ihn ablenken, und Ihr könnt verschwinden«, flüsterte Li ihr zu.
Aghni nickte bedächtig, doch innerlich bebte sie. Es gab nur diese eine Chance, dem Anwärter auf ihre Hand auszuweichen.
»Geh ein Stück hinter mir, aber nur fünf Schritte. Dann hast du genug Zeit, um seine Aufmerksamkeit auf dich zu lenken«, befahl Aghni ihr.
Zusammen verließen sie ihr Gemach. Das Fest hätte eigentlich in den Gärten stattfinden sollen. Nun musste sie zum kleineren Ballsaal, doch zum Glück war der erste Teil des Weges gleich. Ihre Räumlichkeiten lagen in einer seitlichen Pagode des Palastes, über den Dächern der niedrigeren Gebäude. Der Königstempel war zwar im chingesischen Baustil errichtet, hatte aber einen älteren Kern, der kaum mehr von jemandem beachtet wurde. Der Legende nach war dies der Teil des Palastes, der schon zu Zeiten von Ylona als Schloss diente. Aghni hatte ihn einst beim Versteckspiel entdeckt und seitdem gerne genutzt, um sich aus dem Blickfeld der Gefolgschaft zu stehlen. Es dauerte nicht lange, bis sie auf den Wachmann trafen. Sie schritt an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, doch ihr Herz raste. Sie hörte, wie Li mit ihm kokettierte und sah sich um. Seine Augen hingen gebannt an den Lippen ihrer Zofe.
Niemand war derzeit auf dem Flur unterwegs. Aghni wagte einen letzten Blick, dann flüchtete sie ein paar Meter weiter in den Schutz der Vorhänge. Ihre Hand tastete nach dem kleinen Drachenmosaik, bis sie ein Klicken hörte. Der Eingang öffnete sich direkt hinter ihr. Nur noch ein Schritt trennte sie von dem gehüteten Geheimnis. Sie trat zurück und verschwand lautlos in der Dunkelheit.
»Prinzessin?«, hörte sie Li Sekunden später trotz der Wand zwischen ihnen rufen. »Ihr Schuft, ihr habt mich ganz abgelenkt!«
»Wo ist sie?«, erklang es aufgebracht.
Aghni lächelte. Dieser Teil wäre schon mal geschafft. Sie ging ein paar Schritte, dann entzündete sie ein Feuer in ihrer Hand und verschwand in den Schatten.
Marietta
»Wo bleibt sie nur?« Marietta wedelte sich gereizt Luft mit dem Fächer zu.
Gergan seufzte. »Du kennst sie doch … entweder sie taucht im letzten Moment auf, oder sie wird nicht erscheinen«, versuchte er es, mehr schlecht als recht.
»Das würde sie nicht wagen!«, ereiferte Marietta sich erbost. So viel hatte sie in diese Verbindung investiert. Das ließ sie sich nicht von der Sturheit ihrer eigenen Thronfolgerin verderben! »Tochter der Kin, Tochter der Su!« Sie deutete auf Aghnis Hofdamen, die schon artig bei ihren Familienmitgliedern standen. »Wo ist die Prinzessin?«
Die beiden Mädchen wirkten verängstigt.
»Sie … sie wollte gleich kommen, Eure Majestät. Ihre Zofe sollte sie hierher geleiten«, stotterte Lif.
Marietta verkniff sich ein genervtes Augenrollen. Diese junge Dame schien das Verhalten von Aghni nicht zu verbessern. Sie winkte ein paar Wachen heran.
»Sucht meine Tochter! Irgendwo muss sie ja stecken …«, befahl sie.
»Marietta, es ist zu spät«, sagte Gergan und legte ihr die Hand auf den Arm.
Nun vernahm auch sie das Hufgeklapper, welches über den gesamten Hof schallte. Der Tross traf ein. Die ersten Fahnenträger traten in ihr Blickfeld, die Wappen von Nidalis schwingend – aufgeschäumte Wellen, in denen ein Schriftstück versank.
»Es sieht ihm gar nicht ähnlich, nicht vorauszureiten«, sagte Mariettas Hofdame, die neben ihr stand.
»Es war eine lange Reise«, versuchte Gergan sie zu beruhigen.
Nach einem Dutzend Wachen rollte endlich eine Kutsche auf den Hof, die vier Callos zogen. Der Kutscher ließ die Tiere vor dem Hauptportal des königlichen Wohnpalastes halten, wo sie und Gergan mit ihrem Gefolge warteten. Ein Reiter sprang ab und stellte sich neben den Tritt.
»Prinz Treás von Nidalis«, verkündete er erhaben.
Erwartungsvolle Stille legte sich über den Hof. Nichts geschah. Marietta seufzte innerlich. Bei Ylona, das konnte doch nicht wahr sein!
Der Reiter räusperte und wiederholte sich. Als immer noch keine Reaktion kam, öffnete er die Tür des Gefährts.
Aber vom Prinzen fehlte jede Spur.
Aghni
Die Schatten umarmten sie wie Freunde. Aghni kannte die Gänge so gut, dass sie hier nichts fürchtete. Gemächlich bahnte sie sich einen Weg durch die alten Gemäuer, ihre Hand mit einer kleinen Flamme leicht vor sich gestreckt.
Die Tunnel bestanden aus dickem Gestein, der inzwischen nur noch selten auf Ching verwendet wurde. Zu früheren Zeiten war dies eine starke Festung. Heute tropfte es an einigen Stellen von der Decke, die sich weniger als zwei Handbreit über ihr wölbte. Es roch vermodert, doch Aghni hatte sich so an den Geruch gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr wahrnahm.
Sie wusste, an welchen Stellen sie kaum jemand erwarten würde und wo sie verharren konnte, ohne dass die Seide des Kleides ruiniert wurde. Ab und an lehnten die neuen und alten Wände direkt aneinander. Hin und wieder vernahm sie hastige Schritte und das Klappern von Rüstungen. Sie atmete tief durch und schlug ohne Eile den ihr bekannten Weg zum Schrein der Ylona ein, der als einzelnes Gebäude am östlichen Rand des Palastes auf einem Hügel thronte und über alles wachte. Das Heiligtum war uralt, einer der Tunnel führte direkt in die kleinere Kammer.
Niemand würde um diese Tageszeit dort sein. Und noch viel wichtiger: Niemand würde sie dort vermuten. Die Wut ihrer Eltern würde sie früh genug über sich ergehen lassen müssen, das war ihr bewusst. Aber sie hatte keinen anderen Weg gefunden, um dem Treffen und all den Höflichkeiten zu entgehen. Ihr Verhalten zog bestimmt weitreichende Konsequenzen für sie und den Umgang mit dem Königshaus von Nidalis nach sich, sie glaubte aber nicht, dass dies zu Streitigkeiten zwischen den Ländern führen würde.
Dafür war eine geplante Verbindung nicht ausschlaggebend genug, zumal sie noch in einem so frühen Zustand war.
Ihre Mutter zauberte vermutlich eine Ersatzlösung aus der Tasche. Und wenn nicht sie, dann würde die Hofdame ihrer Mutter einen Weg finden, mit ihrer Familie zu verhandeln.
Aghni seufzte, denn trotz des Theaters und ihres Widerwillens verzögerte sie das Ganze wahrscheinlich nur.
Sie schob die Tür zum Andenken der Ylona zurück und ließ die Flamme in ihren Fingern verglühen. Das Fundament und die alten Statuen waren aus schwerem Stein gehauen. In den Schalen, die ihre Göttin in den Händen hielt, brannten magische Feuer, die niemals erloschen. Vor dem größten Abbild stand ein kleiner Altar, auf dem eine große, kupferne Wanne eine Glut beherbergte, die alle Opfergaben zu Asche werden ließ. Der neuere Teil des Tempels, die Wände und das Dach, die den Schrein vor Verwitterung schützten, waren mit bestickter Seide überzogen. Sie sah sich kurz um.
Dann wagte sie sich aus dem Schatten des Hinterraums, um sich schnell wieder hinter einer der Statuen zu verstecken. Plötzlich spürte sie eine Schwertspitze in ihrem Rücken.
Sie taumelte einen Satz nach vorne, nur um dann herumzuwirbeln und ein paar weitere Schritte zurück zu stolpern.
»Was wollt ihr hier?«, fragte ihr Gegenüber und bedachte sie mit einem kritischen Blick.
Sie atmete schwer und sah ihren Angreifer mit aufgerissenen Augen an. Sie ahnte bereits, wen sie da vor sich hatte.
»Schickt Euch meine Mutter? Woher wusste sie, dass ich hier bin?« Ohne auf seinen erstaunten Blick zu achten, schoss Aghni wütend eine Flamme in die Altarschale und raufte sich die ohnehin schon halb zerstörte Frisur. Die Königin hatte wohl mit ihrer Sturheit gerechnet.
Sie wandte sich an das Abbild ihrer Göttin. »Ist das dein Ernst, Ylona? Denkst du wirklich, das ist das Beste für mein Volk? Dass ich einen Fremden König werden lasse?«, rief sie der Statue entgegen.
Er sah nun noch verwirrter aus, hatte aber zumindest sein Schwert gesenkt. »Ihr … Ihr seid die, die ich heiraten soll?«, stotterte er.
Ungläubig sah sie ihn an. Er wusste es nicht? Das ergab keinen Sinn. Und machte sie gleichzeitig unheimlich wütend auf sich selbst. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sieht leider so aus«, entgegnete sie etwas schnippisch. »Und dass wir das gleich mal klarstellen, ich werde Euch nicht heiraten, Prinz Treás!«, fauchte sie.
Wie war es möglich, dass er hier auftauchte, ohne von ihrer Mutter hergeschickt worden zu sein? Ein lautes Lachen weckte sie aus ihrem gedanklichen Chaos. Der Prinz lachte sie aus!
»Was ist so lustig?«, fragte sie mit zusammengezogenen Brauen.
Er schüttelte feixend den blonden Kopf und brauchte einen Moment, bis er sich wieder beruhigt hatte. »Ich bin … ich bin froh, dass Ihr das so deutlich macht, Prinzessin«, prustete er. »Ich ... ich werde Euch nämlich auch nicht heiraten.«
»Was?« Sie vergaß ihre Wut und sah ihn mit geweiteten Augen an.
»Ich glaube wir sind aus demselben Grund hier.« Er grinste und wischte sich eine Lachträne weg.
»Ich verstehe nicht. Ihr habt doch dem Anliegen zugestimmt. Ihr habt eingewilligt, für dieses Bündnis auf Euren Thronanspruch zu verzichten«, brachte sie hervor.
»Und Ihr denkt, dass ich da größeres Mitspracherecht hatte als Ihr?« Er sah sie ernst an.
»Ich ...« Schlagartig verstummte sie. Der Gedanke war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen.
»Ich stimmte zu, das ist wahr. Aber nur dazu, Euch kennenzulernen. Niemals dazu, Euch gleich zu heiraten. Glaubt Ihr denn, nur weil ich ein Mann bin, ist es mir egal, ob und wen ich heirate?«
»Nun, ich ...«
»Ihr habt darüber nicht einmal nachgedacht, oder?«, unterbrach er sie.
Aufgebracht sah sie ihn an. »Selbstverständlich habe ich das in Betracht gezogen. Auch wenn die Ausführungen meiner Mutter anders ausfielen«, erklärte sie etwas anklagend und erkannte unter seinen Sommersprossen eine leichte Röte.
»Ich wäre froh darüber, meinen Titel als Kronprinz abzulegen und ihn an meinen jüngeren Bruder abzutreten, und daraus mache ich am Hof kein Geheimnis. Ich fühle mich zwar gut vorbereitet, doch ich glaube nicht, dass ich geeignet dafür bin, ein ganzes Volk zu regieren … und warum sollte sich ein Einzelner dies überhaupt anmaßen?« Er sprach bedacht und tippte mit der Schwertspitze auf den Boden.
»Wie bitte?«, hauchte sie.
»Seht es doch einmal so: An meinem Status würde sich nichts ändern, wenn ich Euch heirate. Nur das Land. Und Eures kenne ich noch nicht einmal. Warum sollte ich mich dem mehr gewachsen fühlen?«
»Was glaubt Ihr denn, warum ich Euch nicht heiraten werde?« Seine blauen Augen musterten sie.
»Weil Ihr Liebe sucht.« Er grinste.
»Nicht einmal annähernd richtig«, erwiderte sie und lehnte sich gegen eine der Säulen, »Damit das chingesische Volk keinen König bekommt, der unser Land, unsere Traditionen, unseren Glauben und alles, wofür wir stehen, nicht kennt.«
»Also wollt Ihr einen chingesischen Adligen heiraten?«, fragte er und spiegelte sie, indem er sich lässig an den Pfeiler gegenüber lehnte.
»Pfff, macht Euch nicht lächerlich! Ich zähle gerade einmal sechzehn Winter! Ich heirate so schnell nicht.«
»Ihr wollt Ching also alleine regieren? Als Frau?«
»Darauf wollte ich zwar nicht hinaus, aber ja, wenn es nötig sein sollte, würde ich das.«
»Verzeiht mir den Einwand, Prinzessin, aber ich zweifle daran, dass Ihr den Umfang und die Schwierigkeit dieser Aufgabe richtig einschätzt.«
»Und ich frage mich, ob Ihr während der Reise auf den Kopf gefallen seid, um so etwas ohne Kenntnis über mich zu behaupten!« Genervt wandte sie sich ab und versuchte, ihre Frisur wieder zu richten.
»Ich meinte doch nur, dass ein König nicht nur gerecht und klug sein muss, sondern auch weiß, wie er sein Land verteidigt ...«
»Ach?« Aghni grinste. »Wenn das Euer Problem ist.«
Sie hob ihren Fächer, und ehe ihr muskulöses Gegenüber reagieren konnte, warf sie ihn. Mit einem weiten Bogen fand er sein Ziel. Es gab ein stumpfes Geräusch, als das Holz auf seinen Hinterkopf traf. Er sah sie überaus überrascht an und tastete vorsichtig nach der Stelle, an der ihn der Fächer getroffen hatte.
»Alles weitere lerne ich demnächst«, sagte sie schnippisch und eilte zum Ausgang.
»Ich hatte mir Euch ganz anders vorgestellt!«, rief er ihr hinterher.
Sie hielt inne und drehte sich abwartend um.
»Na ja, viel … weniger impulsiv«, stotterte Prinz Treás.
»Ich nehme das als Kompliment. Und nun entschuldigt mich, die Begegnung mit einer wütenden Königin darf ich wohl kaum weiter hinauszögern«, erklärte sie. »Aber ich bezweifle nicht, dass wir uns bald wiedersehen.«
»Nein, das wohl kaum. Ich hoffe, Eure Familie ist nicht zu streng mit Euch.«
»Ich hoffe das Gleiche für Euch!«
»Wie kannst du es wagen? Was hast du dir dabei gedacht?«
Aghnis Mutter lief vor ihr auf und ab, warf die Hände in die Luft und deutete anklagend auf sie. Aghni hatte sie nie so außer sich gesehen.
»Ich will noch nicht heiraten«, erklärte sie nüchtern.
Ihre Mutter baute sich drohend vor ihr auf. »Auch ich musste mich meinem Schicksal ergeben! Sei mir lieber dankbar! Die Möglichkeit zu so einer Verbindung gab meine Mutter mir nicht! Kannst du dir nur annähernd vorstellen, wie viel dein Vater und ich in diese Partie für dich investiert haben? Und du erscheinst nicht einmal zum Empfang! Das war unausgesprochen unhöflich! Und es lässt nicht nur dich im schlechten Licht dastehen. Was für eine Blamage! Du zählst schon sechzehn Winter. Wir sind sehr gnädig zu dir, weißt du das eigentlich? Viele Mädchen werden mit vierzehn verheiratet – an alte Männer! Ich wollte dir wenigstens einen jungen Mann aussuchen!«
Ihre Mutter knirschte mit den Zähnen. Auch das hatte sie noch nie bei ihr beobachtet. »Es ist mir egal, ob du willst oder nicht. Es geht hier nicht um dich, sondern um die Zukunft unseres Landes. Willst du dein eigenes Wohl über das des Volkes stellen?«
Sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren, verschränkte ihre Mutter die Arme vor der Brust. Als Aghni eingeschüchtert schwieg, seufzte die Königin.
»Wie dem auch sei, es wird eine weitere Gelegenheit für ein Treffen geben. Dein Vater hat vielleicht Recht. Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen. Ich möchte, dass du den Jungen kennenlernst. Ihm unser Land zeigst, die Kultur und die Feen. Der Botschafter hat nach diesem ganzen Theater schon mit ihm gesprochen und er hat der Idee zugestimmt.«
Ihre Mutter sah sie wieder streng an. »Ihr seid vertraglich schon aneinander gebunden. In Form eines Versprechens, dass ihr nach euren Internatsbesuchen verlobt werdet. Du hast also viel Zeit, dich mit ihm anzufreunden. Das ist alles, was ich tun kann, um weitere Heiratsanträge auszubremsen«, fügte sie hinzu.
Aghni sah sie stirnrunzelnd an.
»Auszubremsen? Heißt das … du willst gar nicht, dass ich schon heirate?«, wagte sie, zu fragen.
Ihre Mutter starrte aus dem Fenster. »Glaubst du, es macht mir Spaß, meine Tochter einem Fremden zu überlassen? Dabei zuzusehen, wie die Adligen sich um deine Hand reißen, gerade so, wie es bei mir war?«
Mit einem Mal wirkte ihre Mutter zerbrechlich. Aghni blickte sie überrascht an.
»Ich habe diesen Plänen nur zugestimmt, weil man mir versicherte, dass der Sohn der Nidalis’ eine ausgesprochen gute Wahl ist. Er wird dich mit der schweren Last unterstützen, die auf deinen Schultern liegt, ohne dich zu bevormunden.« Ihre Mutter nahm ihre Hände. »Lerne ihn kennen. Alles weitere … über alles weitere kannst du dich später aufregen.«
Aghni brachte es nicht über sich, noch etwas zu sagen. Sie starrte verwundert auf ihre Hände. Es war Jahre her, dass ihre Mutter eine so zärtliche Geste gezeigt hatte.
Ihre Mutter, die starke, stets kühle Königin. Sie schluckte und merkte, dass sie ein Nicken zustande brachte.
Davius
Davius lehnte an der Mauer des Turms und starrte auf die östlichen Vorläufer der Sinephberge, über denen ein tiefer Nebel hing, der das Moor vor den Bergen dampfen ließ.
Er fuhr mit der Hand den kurzgeschorenen Schädel entlang und sinnierte darüber, was die Königin ihm vor wenigen Stunden anvertraut hatte. Obwohl sich seine Nackenhaare in ihrer Gegenwart sträubten, zog sie ihn gleichzeitig an. Er mochte es, wie sie sich auf ihrem schlicht gehaltenen Thron rekelte. In ihrem blendend weißen Thronsaal, einem Überbleibsel eines alten Tempels mit hohen Säulen und Fresken, wirkte sie trotz ihrer majestätischen Erscheinung etwas verloren.
Zu seinem Glück hatte sie Rumor am heutigen Tag zuerst sprechen lassen, denn in letzter Zeit war sie aus irgendeinem Grund viel zu erfreut, ihn zu sehen, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie hatte Rumors Bericht erstaunlich gut aufgenommen, viel zu ruhig, für seinen Geschmack.
Dass die Königshäuser von Ching und Nidalis ein Bündnis planten, konnte sie nicht kaltlassen, das wusste er. Aber sie hielt ihre Wut gut versteckt, dafür, dass es hieß, sie würde auf allem und jedem herumtrampeln. Einzig die Dauer bis zur Vermählung schien sie amüsiert zu haben. Sie gaben ihr drei Jahre. Zeit, die Caldhra gebrauchen konnte.
Zeit, die sie gut nutzen würde, bei so einer Provokation.
Davius ahnte, dass die Königshäuser Angst vor Caldhra hatten und ihre Streitmacht misstrauisch beobachteten. Doch die Furcht hatte sie töricht werden lassen. Nicht nur, dass sie Caldhras Pläne gefährdeten und ihr damit eine Zielscheibe für ihre Wut baten – nein, die Hochzeit wäre nur sinnvoll, hätte sie sofort stattgefunden.
So aber hatte ihr Königreich Altmyr genug Möglichkeiten, sich auf die stolze Armee der beiden Länder vorzubereiten.
Caldhra sprach zwar nur davon, dass das ihre Pläne vorziehen würde, doch Davius wusste, welch weitreichende Konsequenzen diese mit sich brachten. Konsequenzen, mit denen keines der anderen Häuser rechnete.
Ihre Schwachstellen zu finden, war das Leichteste an der Sache, und Davius hatte ihr sofort eine geliefert.
Dass die Prinzessin der Feuerfeen die nächsten Jahre im Internat Láthrá verbringen würde, machte es viel einfacher, an sie heranzukommen. Caldhra fand diese Mitteilung scheinbar so gewinnbringend, dass sie in diesen Stunden über eine Belohnung für ihn nachdachte.
Was ihm wiederum gar nicht gefiel.
Er hatte schon genug andere Sorgen am Hof Altmyrs – die Soldaten, die ihn wegen seiner angeblich guten Beziehung zur Königin beneideten, waren davon die Kleinste. Dabei war er damals nicht einmal freiwillig ins Schloss gekommen. Er hatte schon lange auf Ching gelebt, als dieser Schatten, Caldhras Sohn, ihn aufspürte.
Nur weil der Schatten ihn als Kämpfer und Diener auserwählt hatte, sah die Königin etwas Besonderes in ihm, was er sich nie erklären konnte.
Davius warf einen letzten Blick auf die Berge, die nun in dunkle Regenwolken gehüllt waren, dann machte er sich auf den Weg in seine Kammer. Er musste seinem Vater schreiben.
Aghni
Immerhin durfte Aghni selbst reiten und musste es nicht mit der Hofdame ihrer Mutter, die für das alles verantwortlich war, ihrer Tochter, Lif und Yia und Zeremonienmeister Kahr in der ruckelnden Kutsche aushalten. Der Mann der Hofdame, General Ator, ein Cousin ihrer Mutter, war zu ihrem Glück zu beschäftigt, um die Reise durch Ching mit anzutreten. So musste sie keine Familienszenerie während der langen Tage erleben. Stattdessen ritt an der Spitze ihres Trosses General Chan, einer der wenigen höheren Posten, die nicht von einer der adligen Familien ausgefüllt wurden.
Ihm folgten bestimmt zwei bis drei Dutzend Soldaten, die ihre Callos und die Kutschen hinter ihnen deckten, und nochmal mindestens so viele, die in ihrem Rücken ritten.
Aghni seufzte still. Was würde sie dafür geben, Nephele auf dieser Reise bei sich zu wissen. Sie hätte sie von all den Förmlichkeiten und Erwartungen abgelenkt, die auf ihr ruhten. Doch ihre Freundin war am Tag zuvor mit ihrem Vater abgereist. Sie würde sie erst auf Láthrá wieder sehen.
Keine zwei Tage hatte es gedauert, bis ihre Mutter die Rundreise so weit organisiert hatte, dass sie aufbrechen konnten. Aghnis Blick wanderte immer wieder verstohlen zum Prinzen, der in, für ihre Verhältnisse, schlichte Reisekleidung gehüllt war – so wie sie.
Schnell nahm aber die Natur ihre Aufmerksamkeit ein, die auf dem Weg zu ihrer ersten Station, der Gelehrtenstadt Fangao, mit jeder Stunde majestätischer wurde. Noch reihten sich die sanften Hügel aneinander, die die östliche Landzunge Chings prägten und die Aghni so liebte. Doch im Nordwesten, Richtung Meer, waren schon kurz hinter Letta die Ausläufer des Tamirgebirges auszumachen.
Es war Ewigkeiten her, dass Aghni ihre Heimat in diesem Umfang bereist hatte, und sie genoss jeden Augenblick in vollen Zügen. Und da man offenbar von ihr erwartete, dass sie sich mit dem Prinzen unterhielt, konnte sie in aller Ruhe den ländlichen Charme genießen. Vermutlich dachte der Sohn der Nidalis dasselbe, denn er sprach kein Wort. Er schien jeden kleinen Eindruck, jeden Vogelruf und jede ihm unbekannte Pflanze in sich aufzusaugen.
Heimlich warf sie ihm noch einen Blick zu. Immer wieder sah er mit großen Augen zu den Yakinas, die ab und an auf den Weiden der einzelnen Höfe grasten und deren schwere Köpfe ihre Callos interessiert verfolgten. Aghni überwand sich doch, ihm etwas zu erklären.