Valea - Das Geheimnis der Deamaar - Carolin A. Steinert - E-Book

Valea - Das Geheimnis der Deamaar E-Book

Carolin A. Steinert

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Beschreibung

Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, in seinen Augen zu versinken. Sie waren wie das Meer, das mich unweigerlich anzog. Ein Ausflug zum Hafen wird für die magiebegabte Heilerin Valea zum Albtraum. Sie gerät in die Fänge einer Piratencrew und findet sich auf einmal an Bord der allseits gefürchteten Deamaar wieder. Doch dort ist nichts, wie es scheint, und plötzlich droht Valea nicht ihr Leben, sondern ihr Herz zu verlieren. Bald schon muss sie entscheiden, ob ein Pirat wie er ein Risiko wert ist, denn die Crew hütet ein gefährliches Geheimnis …

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Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign

Unter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock.com: ivan_kislitsin, Denis Doronin, nevodka, Kichigin, d1sk, Denis---S, Romolo Tavani, motah, ALEXANDER V EVSTAFYEV, Grankin art, Andrey_Kuzmin; Midjourney; freepik.com

ISBN: 978-3-910615-60-1

Alle Rechte vorbehalten

Für alle Reisenden und alle Angekommenen.

Für Glückssucher und Entdecker.

Aufbruch – Halt – Ankunft

Hoffnung.

Inhalt

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Personen

1

Ein Schmerzensschrei entwich dem kleinen Mädchen, das vor mir auf dem staubigen Boden hockte und schluchzte. Tränen bahnten sich einen Weg über ihr herzförmiges Gesichtchen, während ich möglichst behutsam versuchte, etwas vom Zustand ihrer Knochen zu ertasten.

»Sei still, Dima«, herrschte Krizzy ihre Schwester an. »Valea muss sich das doch genau anschauen. Ich weine auch nie.«

»Du warst ja auch noch nie so schwer verletzt wie ich jetzt.«

»Oh, ich hatte schon viel Schlimmeres, das weißt du genau«, erwiderte Krizzy empört und listete sofort ihre zahlreichen Verletzungen der vergangenen Jahre auf. Keine Minute später lagen die beiden Mädchen im Streit darüber, wer die Tapfere von ihnen sei.

Perfekt! Jetzt waren sie abgelenkt. Das war meine Chance.

Ich senkte den Kopf, bis mein langes braunes Haar nach vorn fiel und mein Gesicht verbarg. Ich durfte kein Risiko eingehen. Niemand kannte mein kleines Geheimnis und so sollte es auch unbedingt bleiben. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie die Bewohner meines Shubdorfes auf diese Abnormalität reagieren würden.

Ich schloss die Augen und blendete alles um mich herum aus. Die Geräusche der Welt traten zurück und ein gleichmäßiges Summen erfüllte meinen ganzen Körper. Langsam ließ ich das warme, vertraute Prickeln in mir aufsteigen.

Als ich die Kraft spürte, öffnete ich die Augen wieder. Ich wusste, dass meine Iriden statt im typischen Hellbraun nun verräterisch golden leuchteten.

Sofort fixierte ich Dimas Handgelenk und ließ meinen magischen Blick durch die zarte Haut hindurchgleiten. So konnte ich ihr Inneres eingehend untersuchen, um Blutungen sowie Brüche festzustellen oder im besten Fall auszuschließen.

Schon nach wenigen Sekunden registrierte ich erleichtert, dass die Knochen des Mädchens unversehrt waren. Ich gab Dimas Handgelenk noch einen kleinen magischen Impuls, damit es schneller heilte, – aber nicht so rasch, dass es auffällig wurde – und ließ meine Magie schließlich wieder los.

»Du hast Glück«, unterbrach ich dann das Gespräch der beiden, hob den Kopf und lächelte Dima aufmunternd zu. »Das ist nur eine Prellung.«

»Bist du dir sicher?«, wollte Dima ungläubig wissen.

Ich lachte leise. »Absolut. Ich habe einen Blick für so etwas. Das liegt in der Familie.« Ich zwinkerte verschwörerisch und beglückwünschte mich in Gedanken selbst zu dieser Antwort, die nicht einmal gelogen war. Nicht nur das Heilerwissen, auch die magische Heilkraft existierte schon seit Jahrhunderten in meiner Familie. Nur leider schwächte mich jede größere Anwendung meiner Gabe so sehr, dass ich sie nur unterstützend oder zur Untersuchung einsetzen konnte.

»Gebt mir einen Moment, ich hole dir eine kühlende Salbe und dann mache ich dir einen schicken Verband um die Hand.« Ich erhob mich und steuerte auf mein Zelt zu. Die alte Plane vor dem Eingang raschelte laut, als ich sie zurückschob. Ich huschte in mein trautes Heim und ließ mich kurz von dem intensiven, aber angenehmen Geruch gefangen nehmen.

Das Zelt war, abgesehen von meinem Schlafplatz, eine einzige Kräuterlagerstätte. Getrocknete Filbenblätter hingen an einem einfachen Regal, auf dem sich allerlei Töpfe und Tiegel tummelten. In denen bewahrte ich bereits fertige Salben, zerstoßene Kräuter und ein paar Mixturen auf. In letzter Zeit nahm der Bestand allerdings geradezu drastisch ab. Ich musste unbedingt Nachschub besorgen. Missmutig verzog ich die Lippen, griff nach einem kleinen roten Krug und einer Mullbinde, bevor ich wieder hinausging.

Zu Krizzy und Dima hatte sich in der Zwischenzeit auch ihr Freund Samu gesellt.

»Na?«, fragte ich. »Ist mein Lieblingsrabauke eingetroffen? Heckst du schon wieder etwas aus?« Mit der freien Hand wuschelte ich ihm liebevoll durch das dichte, dunkle Haar.

Samu grinste mich breit an und ich konnte nicht anders, als laut aufzulachen.

»Ich plane Heldentaten«, verkündete er stolz.

»Tatsächlich? So wie die heute Morgen? Was sollte das überhaupt werden?« Ich stemmte gespielt erzürnt die Hand in die Hüfte, bevor ich mich wieder vor die kleine Dima hockte und die Salbe auf ihrem Handgelenk verteilte.

Das Grinsen verschwand aus Samus Gesicht.

»Wir wollten doch nur den gemeinen Riesenskorpion finden«, sagte er leise und sah betreten auf seine schmutzigen Füße.

»Den was?«, hakte ich stirnrunzelnd nach. Was für ein Spiel hatten die drei Knirpse nur dieses Mal wieder gespielt?

»Ja. Wir wollten ihn vertreiben, damit es Incenteria wieder besser geht.«

»Ich glaube, das musst du mir genauer erklären.«

Verstohlen sah Samu nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass wir nicht belauscht wurden, dann räusperte er sich.

»Tash hat gesagt«, flüsterte er, »dass ein böser Zauberer Incenteria verflucht hat. Er erschuf einen riesigen Skorpion, der nun unter unserem Land haust, es vergiftet und alle Pflanzen auffrisst. Man muss den Skorpion also unbedingt finden und verbannen! Wir dachten, wir übernehmen das.«

»Oh, Samu«, seufzte ich. Das war so typisch für ihn: Mysteriöse Erklärungen finden, die Rettung der Welt planen und am Ende sich oder seine Freunde in Gefahr bringen.

»Ich wollte doch nicht, dass Dima sich verletzt. Bist du jetzt böse auf mich, Valea?«, fragte er besorgt.

»Natürlich nicht«, beruhigte ich ihn. Als ob ich ihm böse sein könnte! Samu war für mich fast wie ein kleiner Bruder, auf den ich aufpasste, wenn er bei seinen Eltern wieder einmal nicht willkommen war – was ziemlich häufig der Fall war.

»Glaubst du nicht an den riesigen Skorpion?«, fragte Krizzy und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Nein.«

»Aber warum ist Incenteria dann so, wie es ist?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich zögernd und zog eine Grimasse. Was für eine unbefriedigende Antwort. Das eklige Gefühl von Unruhe überkam mich, wie so oft, wenn ich an die Grenzen meines Wissens stieß.

»Kannst du nicht in deinen Büchern nachlesen?«, wollte Samu wissen.

»Das sind doch alles Bücher über Heilung, Samu. Darin geht es um Kräuter und die Herstellung von Salben.«

»Oh.«

Ich ließ es mir nicht anmerken, aber ich teilte seine Enttäuschung. Wie gerne hätte ich wenigstens noch ein oder zwei weitere Bücher besessen. Aber die waren hier in Incenteria absolute Mangelware. Die meisten Einwohner konnten ohnehin nicht lesen. Mir wäre es wohl auch so gegangen, wenn mein Vater nicht aus einer wohlhabenderen Familie Barydens gekommen wäre. Er hatte mir so einiges beigebracht, was hier als sonderbar und überflüssig galt.

Mein Blick glitt über die Umgebung. Mein Shubdorf bestand hauptsächlich aus kleineren und größeren Zelten, die dicht an dicht standen und alle schmuddelig waren. Die typische Staubschicht hatte sich überall auf die Stoffe gelegt und niemand dachte daran, die Planen zu säubern. Es wäre auch sinnlos gewesen, binnen weniger Stunden hätte der Staub sich wieder seinen Platz zurückerobert.

Vielleicht war Incenteria ja tatsächlich auf irgendeine Art verflucht, überlegte ich, während ich routiniert einen kleinen Verband um Dimas Hand wickelte. Ich kannte Geschichten, in denen meine Heimat noch Vivicita hieß. Doch heute nannte es niemand mehr so. Incenteria, das verbrannte Reich, passte leider auch viel besser. Fast im ganzen Land war der Boden trocken und unfruchtbar. Landwirtschaft war nur am Fluss möglich, der unter anderem durch unser Dorf floss. Doch selbst hier wuchsen fast nur hartgesottene Pflanzen. Es wunderte mich deshalb nicht, dass immer wieder jemand versuchte, in die grünen Nachbarländer Baryden und Mulfur auszuwandern. Ich selbst hatte schon einige Male mit dem Gedanken gespielt, es ebenfalls auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass es im Leben noch mehr geben musste als das hier.

Vielleicht war es auch nur eine irre Hoffnung. Ich wusste nicht, was ich von einem Leben in den Nachbarländern zu erwarten hatte. Ich kannte Baryden nur aus den Geschichten meines Vaters und stellte es mir einfach herrlich vor.

Eine braune Locke fiel mir ins Gesicht und ich strich sie gedankenverloren zurück hinters Ohr.

Leider war es von hier aus gar nicht so einfach, die Nachbarländer zu erreichen. Ich konnte schlecht die ganze Wüste durchqueren, das würde ich nicht überleben. Die Überfahrt mit einem Schiff war zwar möglich, aber mittlerweile unglaublich teuer. Es würde noch Jahre dauern, bis ich genug Edelsteinsplitter verdient hatte, um mir das leisten zu können. Vorausgesetzt, ich fing endlich mal an, mir meine Arbeit überhaupt angemessen bezahlen zu lassen.

Ich starrte vor mich hin und überlegte, wie es wohl wäre, wenn ich eines Tages ein großes Schiff betreten würde. Ich hörte regelrecht das Flattern der Segel und das Knarzen der Dielen unter meinen Füßen. Es musste wundervoll sein.

Ein warmer Windzug wehte mir um die Nase und ich bildete mir ein, dass ich Meersalz und nicht Sand riechen konnte. Eine leichte Sehnsucht überkam mich und drückte eigentümlich schwer auf meinen Brustkorb.

Plötzlich erschien eine Hand vor meinen Augen und fuchtelte wie wild. Ich erschrak derart heftig, dass ich aus der Hocke rückwärts auf meinen Hintern fiel.

»Bist du noch da?«, fragte Samu mich.

»Klar, klar«, entgegnete ich zerstreut und konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Hatte er noch etwas gefragt?

»Also? Irgendeine Idee musst du doch haben.«

»Ähm«, versuchte ich Zeit zu gewinnen. »Vielleicht ist das Land nach einem verheerenden Brand, einer Art Feuersturm, so unfruchtbar geworden.«

Hinter mir erklang ein verächtliches Schnalzen. Ich fuhr herum und entdeckte meine engste Freundin Kira.

»Bitte sage mir, dass du nicht auch verletzt bist«, stöhnte ich und musterte sie wachsam.

Sie grinste breit und stützte sich auf eine lange Schaufel, die sie für ihren Dienst in den Dünen benötigte, wo sie um diese Zeit eigentlich in der Erde nach kleinen funkelnden Edelsteinen suchen sollte – Incenterias einzige Handelsware.

»Ich bin höchstens von deiner mangelnden Kreativität verletzt. Ein simpler Feuersturm, dass ich nicht lache«, sagte sie, warf ihre Schaufel zur Seite und ließ sich neben mir auf den Boden fallen. Sofort stob schwarzer Staub auf.

»Ich nehme an, du wirst uns umgehend erzählen, wo der Fehler in meiner Vermutung liegt.«

»Vollkommen korrekt«, stimmte Kira zu, zog an ihren kurzen roten Korkenzieherlocken, sah in den Himmel und schien angestrengt nachzudenken. Dann, urplötzlich schossen ihre Arme vor und mit einer hochdramatischen Geste beugte sie sich zu den Kindern. Dima kreischte erschrocken auf, während Krizzy und Samu laut zu lachen begannen. Ich konnte nicht anders, ich musste mit einstimmen.

»Psst«, zischte Kira. »Lasst euch erzählen, was einst wirklich geschah.«

Na, das konnte ja was werden. Wenn Kira erst einmal in ihrem Element war und Geschichten erzählte, sollte man es sich besser bequem machen. Ich zog meine Beine an, bettete meinen Kopf auf die Arme und wartete auf das Schauermärchen, die romantische Komödie oder was auch immer jetzt kommen würde.

»Jeder weiß es«, flüsterte Kira mit tiefer, geheimnisvoller Stimme, »aber keiner redet gern darüber.« Sie machte ein paar Handbewegungen, die aussahen, als wollte sie Geister beschwören.

Ich musste ein Kichern unterdrücken. Kira, die das sofort bemerkte, warf mir einen kurzen bösen Blick zu, der mir eindeutig sagen sollte: »Hey, du versaust die Stimmung!« Das brachte mich erst recht zum Lachen und rasch hielt ich mir die Hand vor den Mund. Missbilligend verzog sie die Lippen und fuhr mit ihrer Erzählung fort.

»Damals, als Incenteria noch grün und voller Leben war, gab es einen Mann, der nach Macht gierte. Einen Mann, mit einer Seele so schwarz wie sein Blut, dessen Gedanken verdorben und dessen Bosheit über alle Ländergrenzen hinweg bekannt war. Einen Mann, der sein Schwert nur zu gerne in die Einge…«

Ich streckte eilig die Hand aus, um Kira davon abzuhalten, etwas zu erzählen, was den Kindern, die mit großen Augen vor uns saßen und gebannt lauschten, Albträume bescherte. Sie räusperte sich kurz.

»Dieser Mann«, erklärte sie dann und ihre Augen funkelten, »war ein allseits bekannter und überall gefürchteter Käpt’n!«

»Oh nein, der Pirat Noc Kanum!«, krähte Krizzy dazwischen.

Ihre kleine Schwester erschauderte allein bei dem Klang des Namens und ich stöhnte.

Nicht die Piratenstory! Kira liebte diese Legende und schmückte sie nach Herzenslust mit den absurdesten Details aus. Meine Freundin ließ sich von dem Laut, den ich von mir gegeben hatte, allerdings nicht irritieren.

»Genau! Noc Kanum folgte auf der Suche nach Macht und Reichtum einer alten Legende über das Elixier des Lebens, das im Herzen Incenterias verborgen sein sollte. Er fand es und stahl es. Und in diesem Moment verblühten alle Pflanzen, der Boden trocknete aus und unser Land starb. Noc Kanum verschwand mit dem Elixier, …«, Kira setzte sich gerader auf, um größer zu wirken und machte eine lange Kunstpause, »… aber er bezahlte einen hohen Preis für seinen Schatz. Er bezahlte mit dem Leben! Er starb, ohne zu sterben.«

Ich verdrehte die Augen. Ah ja, heute gab es wieder einmal das skurrile Gruselende.

»Er wurde verflucht und wandelt seitdem als lebender Toter durch die Welt und macht die Meere unsicher. Waaaah!« Kira schnellte empor und stürzte sich auf die Kinder. Die schrien, sprangen auf, lachten und rannten davon. Kira tat so, als folgte sie ihnen, dann blieb sie stehen, drehte sich um und zwinkerte mir zu.

»Habe ich dir jetzt Freizeit verschafft?«, fragte sie grinsend. Irgendwo hinter den Zelten hörte ich ein Giggeln.

»Durch einen lebenden toten Piraten?«

»Die Kleinen sollten wissen, dass man einem Mann wie ihm aus dem Weg gehen muss. Auf welche Weise sie das lernen, ist doch egal.«

»Weil man Piraten ja auch in der Wüste trifft. Davon abgesehen sollte man jedem Seeräuber aus dem Weg gehen, nicht nur einem Kanum«, sagte ich und nahm die Hand, die mir Kira entgegenstreckte. Sie zog mich hoch und ich klopfte mir den Sand von meinem beigen, schlichten Kleid.

»Das heißt aber nicht, dass du etwas von einem lebenden Toten erzählen musst. Du weißt sehr wohl, dass der aktuelle Käpt’n Kal Kanum heißt.« Bei den Worten brach meine Stimme kurz und Kälte kroch meinen Rücken hinauf. Ich gab mir Mühe, das Unwohlsein zu verdrängen und fuhr rasch fort: »Er wird nicht seinen Namen geändert haben und in Wahrheit dreihundert Jahre oder älter sein.«

»Wer weiß?«

»Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht mehr. Es wurde seit Ewigkeiten nichts mehr von ihm und seiner verdammten Crew gesehen und gehört«, ergänzte ich unbeirrt.

»Möglicherweise versteckt er sich und wartet darauf, eine neue Teufelei anzetteln zu können, um noch mehr Unglück über uns alle zu bringen.«

»Von dem normalen Unglück abgesehen, das diese vermaledeiten Piraten über jeden bringen, den sie treffen?« Ich spuckte aus. Für diese barbarischen Seemänner trug ich nur tiefe Abscheu in meinem Herzen – gepaart mit jeder Menge Furcht.

»Oh, ich mag das«, rief Kira, lachte und boxte mir in die Seite. »Wenn du das zarte, heilige Heilerdasein ablegst und auch mal ehrlichen Hass empfindest.«

Ich verzog das Gesicht und streckte ihr die Zunge raus.

»Kanum, Kanum, Kanuuuum«, machte sie daraufhin.

Das war einmal zu viel. Bis eben hatte ich es verdrängen können, nun aber durchzuckte mich ein heftiger Stich und ich schluckte schwer.

Kira schien das zu merken, denn sie sah mich plötzlich erschrocken an. »Oh, tut mir leid, ich hätte es nicht übertreiben sollen. Ich …«

Ich winkte bemüht lässig ab. »Schon gut.«

Mit einer fahrigen Bewegung griff ich nach der Salbe, mit der ich Dima versorgt hatte, und dem Rest der Mullbinde. Dann flüchtete ich in mein Zelt und versuchte krampfhaft, das beengende Gefühl in meiner Brust zu ignorieren.

Trotzdem zitterten meine Finger leicht, als ich die Utensilien wieder im klapprigen Regal verstaute.

»Was machst du um diese Zeit eigentlich hier?«, rief ich, um mich abzulenken.

»Päuschen.«

»Ich glaube nicht, dass Mirro das gefällt«, erwiderte ich. Da ich darauf aber gar nicht erst eine Antwort erwartete, ergänzte ich: »Lange Pause oder kurze?«

Ich hörte Schritte, kurz darauf wurde die Plane zur Seite geschoben und Kira steckte den Kopf in mein Zelt.

»Warum fragst du?« Ihre Augen blitzten vor Abenteuerlust.

Ich inspizierte noch einmal mein Regal, doch mein Vorrat war in den letzten Minuten natürlich nicht mehr geworden. Also fasste ich einen Entschluss.

»Ich muss zum Hafen.«

»Um Tash ein paar Pärkäfer ins Bett zu legen? Oder um sein dummes Gesicht zu sehen, wenn er wieder nicht weiß, was er eigentlich tun soll?«

»Ich möchte Tash gerne überhaupt nicht sehen. Leider bezweifle ich, dass das möglich ist.« Ich verzog angesäuert das Gesicht. »Meine Vorräte gehen zur Neige. Ich muss schauen, ob einige Waren, die ich benötige, noch im Lager sind und ansonsten meine Bestellliste für das nächste Handelsschiff hinterlegen. In den nächsten Tagen müsste doch wieder eines anlegen.«

Kira nickte langsam. »Ich würde dich gern begleiten, falls das die Frage war. Schon allein, weil ich Tash definitiv ein paar Pärkäfer ins Bett legen würde. Aber leider habe ich nur Pause, weil ich eine neue Schaufel holen musste. Und ich glaube, wenn ich heute gar nicht mehr wiederkomme, gibt es wirklich Ärger.«

»Vermutlich. Schade. Es wäre weitaus unterhaltsamer gewesen, mit dir durch die Ödnis zu wandern.«

Kira musterte mich mit ihren katzenartigen Augen.

Ich holte meine letzten Edelsteinbruchstücke aus dem Versteck und stellte frustriert fest, dass das kaum reichen würde. Dennoch steckte ich sie in meine alte Umhängetasche. Ich zögerte kurz, dann packte ich ein paar Salben, Kräuter und meine Nadeln hinzu. Auch wenn Tash stets alles dafür tat, mein Ansehen als Heilerin zu ruinieren, waren die meisten der Hafenbewohner dankbar, wenn ich mir ihre Verletzungen ansah und sie behandelte. Vielleicht konnte ich so noch ein paar Edelsteinsplitter verdienen, die ich direkt wieder in neue Waren investieren konnte.

Als ich alles zusammen hatte, schob ich Kira sachte aus meinem Zelt und trat selbst hinaus in das helle Sonnenlicht. Ich blinzelte. Es war schon nach Mittag und es wurde Zeit, dass ich aufbrach.

»Es gefällt mir nicht, wenn du da allein hingehst«, stellte Kira fest und stützte sich wieder auf ihre Schaufel.

»Ich bin schon hundert Mal allein zum Hafen gelaufen.«

»Deswegen muss es mir ja noch lange nicht gefallen. Außerdem ist es schon spät. Du wirst kaum vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein. Selbst dann nicht, wenn du die Pause auf deinem geheimen Felsen kurz hältst und nur ein paar Minuten tagträumend das Meer beobachtest.«

Ich grinste. Sie hatte mich ertappt.

Mir war durchaus bewusst, dass es gefährlich war, den Rückweg im Dunkeln anzutreten, doch es wäre nicht das erste Mal, dass ich am Hafen die Zeit vergaß.

»Lass uns übermorgen zusammen hingehen«, schlug Kira vor.

»Nein, ich denke, ich sollte heute gehen. Ich will mich ein bisschen bewegen und den Kopf freikriegen. Außerdem muss ich vor dem nächsten Schiff da sein. Wenn ich nicht bald Kräuter nachbestellen kann …«

»Immer mit dem Kopf beim Wohlergehen der anderen. Was sollen die hier im Dorf nur machen, wenn wir mal in die weite Welt aufbrechen?«

Ich lächelte verhalten. Wenn der Tag gekommen war, würde Kira nicht eine Sekunde zögern und unserem Dorf den Rücken kehren. Ich vielleicht schon.

»Sie haben ja noch Tash«, witzelte ich.

»Als ob ein Kranker zwei Stunden durch die Wüste zum Hafen läuft, um den Heiler aufzusuchen. Außerdem kann Tash ja wohl nicht annähernd das, was du kannst.«

Nun grinste ich. Das war allerdings wahr.

»Ich habe überlegt, Samu auszubilden. Er ist fürsorglich und wissbegierig. Ich denke, er wäre ein guter Heiler.«

»Wenn er sich nicht gerade selbst verletzt, vielleicht. Aber lass uns später darüber reden. Ich sollte langsam wieder zur Arbeit, sonst macht mich Mirro wirklich einen Kopf kürzer.«

»Dann los, los«, forderte ich sie auf.

Sie schulterte ihre Schaufel und musterte mich noch einmal wachsam.

»Keine Sorge. Ich werde spätestens mit der Dämmerung zurück sein, in Ordnung?«

Sie nickte und wandte sich in Richtung Düne. Statt zu laufen, setzte sie sich aber nur gemächlich in Bewegung. Unweigerlich musste ich lachen und fragte mich, welche Geschichte sie Mirro wohl auftischen würde, um ihr langes Fortbleiben zu erklären.

Einen Moment noch sah ich ihr nach, dann schulterte ich meine Tasche und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Meine nackten Füße wirbelten den dunklen Sand auf. Ich quetschte mich zwischen zwei Zelten hindurch, weil ich keine Lust hatte, bis zum eigentlichen Weg zu gehen.

Plötzlich erklang ein verhaltenes Kichern hinter mir.

»Wagt es ja nicht, mir zu folgen«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. Das Kichern wurde lauter.

»Ich werde euch dann nie mehr behandeln«, drohte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich einen Schatten, der um eines der Zelte huschte. »Und ich werde mit euren Eltern reden und ihnen erzählen, was ihr dauernd so treibt.« Ich fühlte mich ein wenig schlecht, weil ich wusste, dass ich vor allem Samu eine Heidenangst mit diesem Satz einjagte.

Der Schatten kroch zwischen den Zelten hervor und der kleine Junge stellte sich vor mich. Er war ungewohnt bleich.

»Das machst du nicht wirklich, oder Valea?«, fragte er und sah mich panisch an.

»Nicht, wenn ihr hierbleibt.«

»Versprochen«, sagte er und hob feierlich die Hand. Dann schlang er kurz seine viel zu dünnen Arme um mich.

»Hey, ich komme ja zurück.« Lachend drückte ich ihn an mich.

Er nickte, ließ mich los und ich setzte mich wieder in Bewegung.

Schnell ließ ich die letzten Zeltreihen und auch die Talsenke, in der sich das Shubdorf befand, hinter mir. Zielstrebig ging ich über das öde Land in Richtung Südwesten. Wer den Weg selten ging, konnte sich in den Dünen, die nun auf mich warteten, verlaufen. Aber ich kannte die Markierungen, die mir den richtigen Weg wiesen.

Leise summte ich vor mich hin, während die Sonne auf mich niederbrannte. Ich fühlte mich gut und das Gefühl verstärkte sich, je näher ich dem Hafen kam. Kira hatte recht. Ich liebte das Meer. Liebte das tiefe, geheimnisvolle Blau, die wilden Wellen und den salzigen Geschmack, der sich stets auf meine Lippen legte, wenn ich dort war.

Als ich die Dünen endlich hinter mir ließ und an den steilen Klippen stand, die wie Zähne eines gigantischen, steinernen Haifischs ins Meer ragten, jubelte ich innerlich. Es war so schön! Ich hob die Hand und hielt sie schützend über die Augen, um besser sehen zu können, und stutzte. War das ein Schiff am Horizont?

Ja, tatsächlich! Ich war also gerade noch rechtzeitig aufgebrochen. Was für ein Glück ich doch hatte.

Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus. In diesem Moment fühlte ich mich einfach nur frei, schwerelos, als würden alle Sorgen plötzlich weit hinter mir liegen. Ich genoss kurz den Augenblick, dann machte ich mich rasch an den Abstieg zum Hafen. Ich wollte schließlich vor dem Schiff ankommen. Also folgte ich dem schmalen, steinigen Pfad und hielt dabei Ausschau nach den zähen Pflanzen, die sich hier ausbreiteten. Davon würde ich auf meinem Rückweg noch einige mitnehmen.

2

Das ist nicht dein verdammter Ernst, Tash!« Es fiel mir äußerst schwer, halbwegs ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte ich den blonden jungen Mann, der lässig auf der anderen Seite des dunklen Tisches lehnte, angebrüllt.

Tash lächelte, doch in seinen Augen blitzte es boshaft. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum sich meine Mutter damals ausgerechnet ihn als Schwiegersohn gewünscht und ihn sogar in die Heilkunst eingeweiht hatte. Nur weil seine Familie ein dämliches Haus hier am Hafen besaß?

Mit Mühe unterdrückte ich ein abfälliges Schnauben. Sie würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, dass er sein Heilerwissen nutzte, um die Hafenbewohner auszunehmen. Ich konnte nur dankbar sein, dass sie meinen Willen, diesen Mistkerl nicht zu heiraten, letztendlich akzeptiert hatte – zwar mit Tränen in den Augen, aber immerhin.

Ein leises Seufzen entwich meinen Lippen, bevor ich es verhindern konnte. Eigentlich ein Laut der Erleichterung, aber Tash schien das fehlzuinterpretieren.

»Ach, Valea«, sagte er übertrieben sanft und beugte sich zu mir herüber. Der Geruch von Sandelholz stieg mir in die Nase. Ein Duft, den ich früher geliebt hatte, heute aber dank Tash verabscheute.

»Ganz ehrlich, du hast nicht wirklich geglaubt, dass du damit«, er deutete mit einem kurzen Kopfrucken auf meine Edelsteinsplitter, die zwischen uns auf dem Tisch lagen, »allen Ernstes deine ganze Bestellung ordern kannst.«

»Nein«, sagte ich gezwungen ruhig und ignorierte den tadelnden Tonfall in seiner Stimme. Er versuchte, mich wie ein kleines Mädchen zu behandeln, das dumm und einfältig war, damit er sich mächtiger fühlte. Ich würde mich auf dieses Spiel nicht einlassen. Ich würde nicht bockig werden.

»Das ist mir klar. Dennoch ist der genannte Preis eine Zumutung. Ich bestelle fast immer das Gleiche und du verlangst heute beinahe das Doppelte.«

»Selbst beim üblichen Preis hättest du schlechte Karten.« Er warf einem abschätzigen Blick auf die roten und blauen Kristallsplitter.

Ich presste wütend die Zähne aufeinander. Musste Tash sich denn ausgerechnet jetzt in dem dunklen Lager am Ende der Markthalle aufhalten, um irgendwelche Überprüfungen durchzuführen? Wo war William, der eigentliche Warenverwalter?

»Deswegen habe ich dich gefragt, ob noch irgendetwas auf Lager ist, was ich günstig abkaufen kann«, sagte ich und wischte mit dem Finger den Staub von der kleinen Öllampe, die unsere beiden Gesichter nur dürftig erhellte.

»Warum sollte ich dir Waren billiger verkaufen?«

»Weil sie alt sind, Tash. Also?«

»Nein. Es ist absolut nichts mehr von deinem gewünschten Grünzeug oder von deinen Glibbertränken da. Wir müssten alles neu ordern«, gab er zurück, ohne sich die Mühe zu machen, auf einer der zahlreichen Listen nachzuschauen. Vermutlich, weil er nicht wusste, wo er die relevanten Informationen überhaupt finden würde. Ich konnte ein Augenrollen nur mit allergrößter Mühe unterdrücken. Das konnte eine anstrengende Diskussion werden.

Ich wollte gerade noch einmal versuchen, mit meinem schlaksigen Gegenüber zu verhandeln, als ich draußen gedämpfte Rufe hörte. Ich spitzte die Ohren. Doch das Lager war von dicken, massiven Steinwänden umgeben, die fast alle Geräusche von außen abfingen.

Tash schien sich an den Rufen nicht zu stören, sondern konzentrierte sich ganz auf mich.

»Ach, kleine Valea«, sagte er fast mitleidig. »Das muss hart sein.«

»Was?«, fragte ich ärgerlich.

»Na, …«, begann er, doch er wurde von einem Schrei unterbrochen, der so laut war, dass nicht einmal die dicken Wände ihn davon abhalten konnten, zu uns durchzudringen.

Unruhe machte sich in mir breit. Was war da draußen los?

Offensichtlich war Tash nun auch abgelenkt. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, kam er hinter dem Tresen hervor, durchmaß den Raum bis zur Tür mit wenigen Schritten und riss das schwere Holzportal schwungvoll auf.

Augenblicklich wurden die Geräusche lauter. Ich hörte Rufe, ein sonderbares Klingen und Knallen, konnte es aber nicht zuordnen.

Rasch sammelte ich meine Edelsteinsplitter zusammen und ließ sie wieder in meine Umhängetasche gleiten, bevor ich Tash folgte. Als ich durch die Markthalle rannte, klatschten meine nackten Füße auf den kalten Stein und das Geräusch hallte unangenehm von den hohen Wänden wider.

Die Rufe wurden lauter und ich konnte die Panik draußen ganz deutlich wahrnehmen. Irgendetwas war passiert. Ein Unfall. Ein Brand? Zum Glück waren wir direkt am Wasser. Brände bei uns im Shubdorf wären weitaus schlimmer. Aber vielleicht war es auch etwas anderes? Nicht, dass wieder eines der maroden Gebäude zusammengestürzt war!

Während ich meine Schritte beschleunigte, ging ich im Kopf durch, wie viele und vor allem welche Salben und Kräuter ich mitgenommen hatte. Welche Verletzungen ich damit würde heilen können. Ich riss das Portal auf, das hinter Tash schon längst wieder zugefallen war und sprintete hinaus auf den Kai. Für einen winzigen Moment war ich vollkommen verwirrt. Es herrschte ein solches Durcheinander, dass es mir schwerfiel, mich zu orientieren.

»Piraten«, brüllte eine angsterfüllte Stimme hinter mir. Ich erstarrte. Das konnte nicht sein, oder? Langsam drehte ich mich um. Das große Segelschiff am hinteren Ende des Kais sprang mir förmlich ins Auge. Mein Atem und mein Herzschlag beschleunigten sich. Ich begann zu zittern und versuchte mich in dem irren Gewusel, das um mich herum herrschte, zurechtzufinden.

Piraten!

Panik stieg in mir auf und lähmte mich, während Menschen an mir vorbeirannten, mich anrempelten und sich von dem Schiff entfernten. Von diesem großen Schiff mit der unheilverkündenden schwarzen Flagge, die soeben gehisst wurde.

Ich schnappte nach Luft. Mir wurde schwindelig. Ich sah die fremden Männer mit ihren schwarzen, schäbigen Stiefeln, mit ihren dunklen Westen, ihren roten Tüchern, mit Metallringen in Nase und Ohr, mit den dicken Totenkopfketten und den rostigen Säbeln. Sie kamen direkt auf mich zu, brüllten, johlten, lachten. Und immer noch konnte ich mich nicht bewegen, konnte nichts denken, als …

Valea. Lauf! Lauf, mein Mädchen, und dreh dich nicht um. Die Worte meines Vaters hallten durch meinen Kopf und endlich kam Bewegung in meine erstarrten Glieder, ich fuhr herum und stürmte davon. Spitze Steinchen bohrten sich in meine Füße, doch ich ignorierte den Schmerz. Der Stoff meines Kleides schlug um meine Beine. Mit einer gekonnten Bewegung raffte ich ihn hoch und rannte noch schneller. Ich musste weg von der Markthalle und dem Lager. Sicherlich würde das ihr Anlaufpunkt sein. Was sollten sie sonst plündern? Also einfach weg, am besten auch vom Wasser.

Ich bog nach links ab, um zwischen zwei Häusern zu verschwinden.

»Oh, hallo, Hübsche«, sagte der breitschultrige Mann, der sich mir in den Weg stellte, und funkelte mich an.

Ich schrie auf, wirbelte herum und rannte wieder Richtung Kai. Nicht die beste Wahl, denn ich landete direkt im Pulk der schreienden und flüchtenden Hafenbewohner.

Ich nahm die nächste Querstraße und verschwand darin. Hier war es bedeutend leerer. Ich machte noch zwei Sätze vor und presste mich schließlich in einen geschlossenen Hauseingang.

Mein Herz hämmerte wild. Ich schnaufte. Schweiß lief mir über das Gesicht und ich verfluchte diese enorme Hitze.

Ein hoher Pfiff ließ mich zusammenfahren und ich presste mich noch fester an die Tür. Ob ich klopfen sollte, damit mich jemand einließ und ich mich verstecken konnte? Aber wer würde jetzt schon öffnen? Egal, ich musste es versuchen.

Erst vorsichtig, dann immer heftiger trommelte ich von Verzweiflung getrieben mit den Fäusten gegen das Holz. »Hallo? Aufmachen. Bitte!«

Doch wie ich erwartet hatte, reagierte niemand.

Vorsichtig beugte ich mich vor und linste um die Ecke. Hatte ich durch mein Rufen jemanden angelockt? Die kleine Straße, in die ich abgebogen war, war immer noch verlassen, und auch der Kai selbst schien jetzt leer. Natürlich, die meisten versteckten sich nicht einfach irgendwo, sondern rannten direkt zu ihren Häusern, um sich hinter den schützenden Türen zu verbarrikadieren.

Ein Schrei gellte durch die Straßen und die Panik in mir kehrte umgehend zurück. Ich lehnte mich wieder gegen die Tür, schloss kurz die Augen und versuchte, mich zu beruhigen.

Lange konnte ich mir meine Verschnaufpause nicht mehr leisten. Was, wenn diese Barbaren doch durch die Nebenstraßen tigerten und mich fanden? Ich atmete noch einmal tief ein und aus, trat wieder aus dem Hauseingang und wandte mich in die dem Kai entgegengesetzte Richtung. Während sich meine Füße automatisch in Bewegung setzten, ging mein Kopf in rasender Geschwindigkeit sämtliche Wege durch.

Irgendwo klirrte es. Da, noch einmal!

Ich hatte kaum Möglichkeiten, wurde mir bewusst, während ich nach rechts abbog. Die Häuser am Kai zogen sich in mehreren Reihen am Wasser entlang, dahinter kamen direkt die Klippen und es gab nur wenige Pfade hinauf – keiner davon bot Sichtschutz. Aber was hatte ich für eine Wahl?

Ich rannte. An der nächsten Kreuzung hielt ich mich links, um zu den steilen Felsen zu gelangen. Jemand kreischte und das Geräusch hallte in meinen Ohren nach. Ich fuhr herum und erstarrte.

Am Ende des Weges saß eine Frau auf dem Boden, ihre Augen angstvoll auf einen der Piraten gerichtet, der sich ihr grinsend näherte.

Er musste etwa fünfzig sein. Sein von grauen Strähnen durchzogenes, fettiges Haar fiel ihm auf die breiten Schultern. Sein dreckiges Hemd steckte im Bund einer zerrissenen beigen Hose und an seinem schwarzen Gürtel baumelten allerlei silberne Ketten. Was meinen Blick aber vor allem anzog, war das kurze Schwert, das er in der Hand hielt.

Die Frau auf dem Boden kroch zurück und prallte mit dem Rücken gegen die Hauswand. Der Pirat folgte ihr – langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Sacht drehte er das Schwert in der Hand, prüfte das Gewicht und fuhr mit dem Daumen über die Klinge. Sein raues Lachen hörte ich selbst auf die Entfernung.

Ich zögerte, sah nach links zu den Klippen. Nur wenige Meter trennten mich von dem Stein. Ich könnte jetzt einfach hinter dem angrenzenden Haus verschwinden und mit Glück ungesehen den nächsten Pfad hinaufhuschen. Ich wandte mich um.

Die Frau am anderen Ende des Weges stieß einen weiteren Schrei aus, gefolgt von einem Wimmern. Mein Inneres schien zu Eis zu gefrieren, als ich mich einen weiteren Schritt von ihr entfernte, um mich selbst in Sicherheit zu bringen. Trotz der Hitze wurde mir kalt. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so viel Angst verspürt hatte. Ich musste hier endlich weg.

Aber ich konnte nicht.

Mein Verstand schrie, wollte, dass ich mich versteckte, doch mein Herz hielt dagegen. Ich musste helfen. Nie würde ich es mit meinem Gewissen vereinbaren können, wenn ich jetzt einfach verschwand.

Ich gestattete mir keine weiteren Gedanken, sondern drehte mich um und rannte so schnell ich konnte den Weg zurück, auf den großen Mann zu, der sich langsam über die weinende Frau beugte. Was hatte er mit ihr vor? Wollte er sie töten? Einfach so?

Ich machte einen großen Satz vor und stieß mit den Händen so kraftvoll wie möglich gegen die Schulter des Mannes.

Zu meiner eigenen Überraschung taumelte er tatsächlich, suchte nach Halt, knickte auf dem holprigen Boden um und fiel.

Ich wollte einen rettenden Schritt machen, merkte aber sofort, dass ich es nicht schaffen würde, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Ich stürzte ebenfalls nach vorn.

»Lauf«, rief ich der Frau noch zu, dann landete ich mit der Schulter auf dem harten Boden. Schmerz durchzuckte meinen Arm. Keuchend rollte ich mich auf den Rücken. Eine Sekunde lang starrte ich schwer atmend in den wolkenlosen Himmel und versuchte zu begreifen, was ich gerade getan hatte. Dann schenkte ich endlich meinem Verstand Gehör, der immer noch so schnell wie möglich von hier verschwinden wollte. Ich rappelte mich auf, doch in diesem Moment legte sich eine Hand schwer auf meinen Brustkorb und presste mich grob zurück auf den Boden. Ich stieß ein erschrockenes Krächzen aus, wand mich unter dem Griff und langte nach dem Arm des Piraten. Mit allen Mitteln versuchte ich, mich zu befreien. Ich trat nach ihm. Doch er kniete sich auf meine Oberschenkel. Sein Gewicht verursachte mir Schmerzen und ließ meine Beine sofort kribbeln, als die Blutzufuhr unterbunden wurde. Ich stöhnte.

Er lachte kurz und kam mit seinem Gesicht meinem ganz nah. Ruckartig drehte ich den Kopf weg. Sein warmer, übelriechender Atem streifte mich und seine strähnigen Haare kitzelten meine Wange.

Ich presste meine Hände gegen seine Schultern, um ihn von mir wegzudrücken.

»Man mischt sich nie, niemals in die Pläne von Obscir ein«, zischte er und sah mich mit einer Mischung aus Wut und Vorfreude an.

»Lass mich los«, keuchte ich. Das Sprechen fiel mir schwer, sein Gewicht auf meinem Brustkorb war beinahe unerträglich.

»Hm«, machte er und schien kurz zu überlegen. »Nein.« Als er grinste, entblößte er seine gelblichen Zähne. Ich verstärkte meinen Druck gegen seine Schultern, bohrte meine Fingernägel in seine Haut, doch selbst das störte ihn nicht. Unbeirrt hielt er mich weiter fest und betrachtete mich eingehend.

»Ist heute nicht ein schöner …«, begann er.

»Gesichert. Zurück an Bord«, brüllte eine Stimme in unserer Nähe und Obscir knurrte ärgerlich.

Urplötzlich wallte Hoffnung in mir auf. Er würde gehen. Er würde jetzt gehen. Obwohl ich nicht mehr an die alten Götter glaubte, begann ich zu beten.

Er schien zu überlegen und ließ tatsächlich von mir ab.

Erleichterung durchfuhr mich, ich krabbelte so schnell ich konnte von ihm weg und rappelte mich auf. Meine Finger gruben sich Halt suchend in den Gurt meiner Umhängetasche und ich setzte zum Spurt an.

In diesem Moment packte er mich und riss mich an sich heran. Ein erschrockener Laut entfuhr mir.

»Zu schade zum Liegenlassen.« Der bösartige Unterton in seiner Stimme jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

»Nein«, hauchte ich bestürzt. Mit aller Kraft warf ich mich zur Seite, um mich aus seinem Griff zu befreien. Er hielt mich fest und drehte mir die Arme auf den Rücken. Ich schrie vor Schmerz auf.

»Halt den Mund«, fuhr er mich an und zog ein dünnes, geflochtenes Band aus seiner Tasche. In Sekundenschnelle hatte er mir die Hände gefesselt.

Trotzdem dachte ich nicht daran, aufzugeben. Ich brüllte und warf mich nach vorn. Erfolglos. Plötzlich packte er mit der freien Hand mein Gesicht, presste mit den Fingern gegen meine Wangen und stopfte ein Stück Stoff in meinen Mund. Entsetzen breitete sich in mir aus.

»Mmmh, mmmh«, machte ich so laut ich konnte und versuchte, das Zeug aus meinem Mund zu bekommen. Ein säuerlicher Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus.

»Du bist zwar hübsch, aber zu laut«, sagte er genervt.

»Obscir!«, brüllte jemand.

»Ja, ja. Komme.«

Als wäre ich nicht mehr als ein nasser Sack, hob der Pirat mich hoch und warf mich über seine Schulter. Verzweifelt und mit letzter Kraft versuchte ich, ihm meine Knie in den Brustkorb zu rammen, doch seine Hände hielten meine Waden fest und machten jede Bewegung meinerseits zunichte.

Gemächlichen Schrittes ging er am Hafen entlang. Ich sah die Pflastersteine unter mir, die sich schief und krumm über den Kai zogen. Mir war vollkommen klar, auf welches Ziel wir gerade zusteuerten. Tränen stiegen mir in die Augen und die Angst ließ mich fast ohnmächtig werden. Ich wollte endlich aus diesem furchtbaren Albtraum aufwachen. Mein ganzer Körper zitterte so heftig wie die Zeltplanen bei einem Sandsturm. Dem Mann namens Obscir schien das nicht aufzufallen. Oder er ignorierte es ebenso wie das Baumeln meiner Umhängetasche, die ihm regelmäßig gegen die Beine schlug.

Wir näherten uns dem Ende des Kais. Vielleicht würde mir ja noch jemand zur Hilfe eilen. Vielleicht hatte die fremde Frau, die ich gerettet habe, jemanden benachrichtigt. Vorsichtig drehte ich den Kopf, doch der Hafen war mittlerweile wie ausgestorben und ich wusste, dass auch niemand mehr kommen würde.

Gleich mussten wir das Schiff erreichen. Das Schiff, das ich so sehr fürchtete, mit Menschen, die ich zutiefst verabscheute. Nun mehr denn je.

Ich sah, wie sich die schäbigen Stiefel von Obscir am Rand der kleinen Kaimauer entlang bewegten. Durch meine langen Haare erhaschte ich immer wieder einen Blick auf das glitzernde blaue Nass, das gegen den grauen Stein schwappte.

Plötzlich hielt er an einem der mächtigen Poller inne und ließ mich zu Boden gleiten. Bevor meine Füße den harten Untergrund berührten, wurde sein Griff an meinem Arm wieder so fest, dass ich keine Chance hatte, wegzulaufen. Trotzdem versuchte ich es. Auch dieses Mal blieb Obscir davon vollkommen unberührt. Er zückte sein Schwert und sofort verharrte ich regungslos. Mein Herz klopfte noch schneller und irgendwo, ganz weit hinten in meinen Gedanken, wunderte ich mich darüber, dass das überhaupt möglich war. Ich fixierte die Klinge. Obscir lachte unangenehm.

»Wenn du keine Bekanntschaft mit Blair machen willst, hältst du jetzt mal still«, sagte er grinsend. Er beugte sich vor, löste das dicke Tau vom Poller und warf es Richtung Schiff. Starr beobachtete ich, wie das Ende auf der Wasseroberfläche aufschlug und ganz langsam sank. Ich war nicht sicher, ob eine Bekanntschaft mit der Klinge nicht besser war als alles, was mich jetzt noch erwarten würde, und trotzdem wagte ich es nicht mehr, mich zu rühren.

Mein entsetzter Blick glitt an der Leine entlang, hoch zu dem Schiff. Den Geräuschen nach zu urteilen, herrschte oben reger Betrieb, doch von hier unten konnte ich keine weiteren Personen sehen. Zwei Masten streckten sich in den Himmel und auf einem thronte die schwarze Flagge. Mein Magen zog sich unangenehm zusammen.

Unweit der Stelle, an der ich stand, führte eine lange Holzplanke zu dem sanft schaukelnden Schiff, und weiter vorn am Bug prangte der unheilverkündende Name. Ich konnte ihn von hier aus nicht sehen, aber ich hatte genügend Geschichten gehört, um ihn zu kennen: Deamaar.

Plötzlich packte Obscir mich wieder, hob mich hoch und ging zu der Planke. Ich sah das schmale Holzstück unter mir und hörte es leise ächzen, als Obscir mit mir das Schiff erklomm.

3

Kaum, dass wir das Deck erreichten, warf er mich zwischen einigen Kisten zu Boden. Ich prallte auf das Holz und erneut schoss ein scharfer Schmerz durch meine Schulter. Ich stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus.

»Schön hierbleiben«, sagte Obscir davon völlig unbeeindruckt. Er hob einen Leinensack auf und warf ihn mir auf den Bauch. Was auch immer in dem Bündel war, es reichte, um mich zu Boden zu drücken. Verzweifelt drehte ich mich, aber es gelang mir nicht, das Gewicht von mir herunterzubekommen.

»Mmmh!«, machte ich wieder, doch ein Schaben übertönte den Laut. Obscir holte die Planke ein.

»Na endlich.« Die fremde Stimme klang verärgert.

»Kanum, Käpt’n, es sind alle an Bord«, rief eine weitere.

»Segel setzen! Dichtholen. Ablegen.«

Eine unerträgliche Enge legte sich um meinen Brustkorb. Ganz langsam begann ich zu realisieren, dass es keinen Ausweg für mich gab. Ich war gefangen. Auf einem Piratenschiff und niemand würde mich finden, um mich zu retten.

Die Mannschaft schien gut vorbereitet. Die Segel füllten sich rasch mit Wind und das Schiff nahm Fahrt auf. Panik raubte mir den Atem und kleine Sterne blitzten vor meinen Augen auf. Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden.

Ein Knacken lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Planke.

Die hatte sich offensichtlich auf den letzten Zentimetern verhakt, denn Obscir versuchte immer noch, sie gänzlich einzuziehen.

Schritte erklangen. Verborgen von den Kisten konnte ich niemanden sehen, doch ich hörte die verärgerte Stimme, die eben schon gerufen hatte.

»Wo warst du?«

Obscir antwortete nicht. Die Schritte kamen näher und eine Person bewegte sich in mein Sichtfeld. Mit dem Rücken zu mir stand nun ein weiterer Mann. Er war groß und hager und sein blondes Haar stand in alle Richtungen ab. Die rote Hose war ihm eindeutig zu weit und wurde von gleich zwei Gürtel gehalten. Auch er trug ein schmuddeliges Leinenhemd, allerdings mit kurzen Ärmeln, sodass ich sein Tattoo am rechten Oberarm sehen konnte. Es zeigte einen Aliett, den Todesvogel.

Der Mann trat auf Obscir zu und half, die Planke endgültig auf das Deck zu schieben.

»Räum die ran, wir werden eine Weile unterwegs sein. Und dann sieh zu, dass du auf die Rah kommst.«

Obscir schnaubte nur. Ohne den Mann zu beachten, stieg er über das nun flach auf dem Boden liegende Brett, kam zu mir, nahm den Sack von meinem Bauch und zog mich unsanft hoch.

Erneut rannen mir Tränen über die Wangen, als ich jetzt sah, wie alles, was ich kannte, sich in einem immer schneller werdenden Tempo entfernte. Die kleinen Häuser am Hafen, die Klippen, meine Heimat.

»Was?« Der Mann, der geholfen hatte, die Planke einzuziehen, starrte mich fassungslos an. Alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht.

Ich zog die Nase hoch, denn durch den Stofffetzen im Mund und das Weinen konnte ich immer schlechter atmen. Außerdem wollte ich nicht schluchzend und wimmernd vor einer Horde gewaltbereiter Männer stehen. Fast schon trotzig reckte ich mein Kinn etwas in die Höhe.

Auf dem Deck herrschte geschäftiges Treiben. Selbst hoch oben zwischen den Segeln balancierten Männer. Bisher schien mich aber nur der Blonde bemerkt zu haben – und er wirkte mit jeder Sekunde entsetzter.

»Was hast du getan, Obscir?«, stieß er hervor. »Wer ist das?«

»Meine Beute. Du hast eben selbst gesagt, wir werden eine Weile unterwegs sein.«

»Du hast … Du bist … Du wirst …« Dem Blonden schienen die Worte zu fehlen. Ich musterte ihn etwas genauer. Er hatte ein spitzes Gesicht, auf seiner Nase tummelten sich einige Sommersprossen und er konnte kaum älter sein als ich. Er grub die Hände in sein Haar, fuhr sich über das Gesicht und holte tief Luft.

»Sag mal, bist du bescheuert?«, brüllte er so laut, dass ich unweigerlich zusammenzuckte.

»Halt die Klappe, Banja«, entgegnete Obscir kalt.

»Du kannst … Ich fasse es nicht! Ich könnte dich …«

»Du kannst mir gar nichts, Banja. Außer mir auf den Geist gehen. Du bist nicht mein Käpt’n und ich kann machen, was ich will.«

»Aber nicht auf meinem Schiff«, sagte eine tiefe Stimme, die mir eine Gänsehaut am ganzen Körper bescherte. Ruckartig wandte ich den Kopf.

Offenbar hatte mich dank Banjas lauten Worten nun jeder hier bemerkt. Alle starrten uns an, alles stand still, selbst der Wind wirkte plötzlich schwächer, als wollte er interessiert das Schauspiel beobachten. Doch das war in diesem Moment nicht meine Aufmerksamkeit wert. Die richtete sich nur auf eine Person. Ich schluckte.

Ganz langsam trat ein junger Mann auf uns zu. Ärger zeichnete sein kantiges Gesicht. Er hatte die Stirn gefurcht und in seinen kristallblauen Augen funkelte Wut. Schwarze Haarsträhnen und ein blaues Tuch schauten unter einem alten Piratenhut hervor, den er sich schräg auf den Kopf gesetzt hatte. Er trug ein Wams aus rotem, altem Leder, an dem unzählige silberne Totenkopfknöpfe befestigt waren. Darunter ein helles Leinenhemd, das er etwas geöffnet hatte. So konnte ich die ersten Striche einer offenbar recht großen Tätowierung erhaschen, die sich über seine muskulöse Brust zog. An seinem Hals baumelte eine sonderbare Kette.

Der Mann hatte uns erreicht, warf mir aber nur einen kurzen Blick zu. Ich schauderte. Ihn umgab eine sonderbare Aura. Er wirkte selbstbewusst und mir war sofort klar, wer er war. Kanum. Käpt’n der Deamaar.

Doch irgendetwas stimmte an dem Bild nicht. Der junge Mann konnte nicht älter als dreiundzwanzig sein. Er konnte unmöglich Kal Kanum sein, der Mann, der damals … Meine Gedanken stockten. Ich wollte nicht daran denken, wollte die Erinnerungen nicht wieder hervorholen. Ich schüttelte sacht den Kopf, um die furchtbaren Bilder zu vertreiben und starrte den Piratenkäpt’n weiter an. Ein schrecklicher Gedanke kämpfte sich an die Oberfläche. Wenn Kanum nicht alterte, war es dann möglich, dass … Übelkeit stieg in mir empor. Konnte es wirklich sein, dass Kira recht hatte? Dass es nicht Kal Kanum war, dem ich nun gegenüberstand, sondern … sondern Noc Kanum? Ein verfluchter Pirat, der als lebender Toter die Meere unsicher machte?

»Was soll das, Obscir?«, fragte Kanum wütend.

»Unterhaltung, Käpt’n.«

Die Antwort schien die falsche zu sein. Kanums Blick verfinsterte sich weiter.

»Wir haben eine Mission«, knurrte er. »Und dein Unterhaltungsprogramm findet nicht auf meinem Schiff statt, ist das klar?!« Er wartete keine Erwiderung ab, sondern wandte sich zu mir, sah an mir herab und dann zurück zum Land, das sich nun ein ganzes Stück entfernt von uns befand.

»Sollen wir umkehren?« Ein alter Mann trat heran. Seine Anwesenheit wunderte mich allein schon aufgrund seiner Zerbrechlichkeit.

Kanum schüttelte den Kopf. »Nein. Wir nehmen sie mit.«

»Aber Käpt’n, eine Frau an Bord bringt Unglück.«

Kanum lachte freudlos. »Wirklich, Bitty? Da hat uns jetzt aber ein hartes Schicksal ereilt, nicht wahr?«

»Außerdem gilt das nicht für Gefangene«, schaltete sich Banja nun ein.

Angstvoll lauschte ich, wie die fremden Männer über mein Schicksal beratschlagten.

»Wir können sie mitnehmen und an den Skyden opfern, um die Cetus zu besänftigen«, sagte der Alte plötzlich fast eifrig.

»Hm.« Kanum kam auf mich zu und hob seine Hand. Mein Atem beschleunigte sich. Seine Finger glitten zu meinem Gesicht und er zog mir das Stück Stoff aus dem Mund.

»Was hältst du davon?«, fragte er, und seine Stimme klang fast sanft.

Fassungslosigkeit machte sich in mir breit und verschlug mir die Sprache. Einen Moment zögerte ich, doch was hatte ich jetzt noch zu verlieren?

Ich atmete einmal tief ein, tief aus, dann spukte ich ihm ins Gesicht.

Ein Raunen lief über das Deck.

Ich wartete darauf, dass Kanums Hand nun auf mich niedersausen würde. Doch er sah mich einfach nur an.

»Ich glaube«, sagte er schließlich, »sie ist einverstanden.«

Ohne Hast wischte er sich meine Spucke mit dem Stück Stoff aus dem Gesicht und stopfte es mir dann wieder in den Mund. Da fand ich plötzlich meine Stimme wieder. »Mmh, mmh«, schrie ich in das Knäuel und schüttelte mich wie wild. »Lmh mh lm!«

Loslassen, dachte ich dabei voller Verzweiflung. Bringt mich zurück. Meine Augen begannen schon wieder verräterisch zu brennen.

»Bindet sie fest und dann alle wieder an die Arbeit«, wies Kanum an, gab Banja ein Zeichen und wandte sich ab. »Bringt mir nachher ihre Tasche nach unten. Wollen wir doch mal schauen, ob da etwas Brauchbares drin ist.« Er hielt kurz inne, drehte sich noch einmal um und sagte mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme: »Ach, und sorgt mir ja dafür, dass Obscir seine Finger bei sich behält.« Mit diesen Worten verschwand er im Inneren des Schiffes.

Obscir murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte, doch es klang nicht besonders freundlich. Grob schubste er mich vorwärts.

»Du hast Arvid gehört«, mahnte Banja und trat heran.

Ich merkte auf. Arvid?

Eine Erleichterung, die meiner aktuellen Situation definitiv nicht angemessen war, stieg in mir auf. Arvid Kanum und nicht Noc Kanum. Also hatte ich es nicht mit einem verfluchten Piraten zu tun. Ob das meine Situation besser machen würde, wagte ich allerdings zu bezweifeln.

Obscir stieß ein wütendes Knurren aus und schubste mich heftiger. Der Stoß kam so unerwartet, dass ich über meine eigenen Füße stolperte und auf Banja zu taumelte. Der junge Mann fing mich auf und packte mich am Oberarm. Sein Griff war dabei so sacht, dass ich unerwartet eine Chance witterte. Mit einer schnellen Bewegung fuhr ich herum, riss meinen Arm nach vorn und befreite mich. Mein Puls schoss in die Höhe. Hektisch ließ ich meinen Blick über das Deck schweifen, auf der Suche nach einem Fluchtweg.

Und schlagartig resignierte ich, Bitterkeit stieg in mir auf. Dieser Reflex hatte mir überhaupt nicht geholfen! Ich war gefangen auf einem Schiff, meine Hände waren immer noch auf meinen Rücken gebunden. Wo sollte ich hinlaufen?

Banja betrachtete mich wissend, legte mir behutsam eine Hand auf den Rücken und signalisierte mir so, dass ich mitkommen sollte. Mit hängenden Schultern folgte ich der stummen Aufforderung.

Als wir uns vom Rest der Crew ein Stück entfernt hatten, beugte er sich zu mir. »Geht es dir gut?«

Überrascht riss ich die Augen auf.

»Dumme Frage«, murmelte er mehr zu sich und fuhr sich frustriert mit der Hand durch das Haar.

Diese kleine Geste reichte, um in mir eine immense Hoffnung aufflammen zu lassen, an die ich mich eigentlich nicht zu klammern traute. Der Kerl war offenbar nicht ganz so brutal, aber würde das etwas ändern?

Wir erreichten den vorderen Mast.

»Bring mir ein Tau, Yivi«, wies Banja dort einen weiteren Piraten an. Ich erkannte ihn sofort wieder. Es war der, der mich am Hafen in der Seitenstraße erschreckt hatte. Seine wolkengrauen Augen blitzten, als würde er sich einen Kommentar verkneifen müssen, bevor er verschwand, um der Anweisung Folge zu leisten.

»Rick?«

Ein stämmiger Mann, den ich auf Ende zwanzig schätzte, erschien kurz nach Banjas Ruf neben mir. Er war groß, hatte ein rundliches Gesicht, das halb hinter einem buschigen, rotbraunen Bart verschwand und in seinen Ohren blitzten mehrere Ringe. Er und Banja tauschten einen bedeutungsvollen Blick, den ich nicht richtig einordnen konnte, dann kam Rick auf mich zu und nahm mir die Fesseln ab. Ein heftiges Ziehen fuhr durch meine Arme, als ich sie schwerfällig aus der ungewohnten Position an die Seite sinken ließ. Doch als Banja mir meine Tasche abnehmen wollte, ignorierte ich den Schmerz augenblicklich. Ich riss meine Hände hoch und krallte sie in den Gurt, um ihn dicht an mich zu ziehen.

»MMHHH!«, protestierte ich währenddessen, denn ich wagte nicht, eine Hand zu lösen, um mir das lästige Stück Stoff aus dem Mund zu nehmen. Ich würde meine Tasche nicht loslassen. Auf keinen Fall. Es war alles, was ich hatte und die Tasche herzugeben, machte mir aus irgendeinem Grund wahnsinnige Angst. Als würde er mir damit das Einzige nehmen, an dem ich mich festhalten konnte.

Aber Banja war in dieser Hinsicht unerbittlich. Sein Käpt’n hatte befohlen, ihm die Tasche zu bringen und er war entsprechend gewillt, genau das zu tun. Er entriss den Riemen meinen geschwollenen Fingern und zog ihn über meinen Kopf. Kaum dass er seine neue Beute in den Händen hielt, begannen Rick und dieser Yivi, mich stehend an das untere Ende des Masts zu binden.

Nicht so fest, dass meine Glieder taub werden würden, aber so, dass ich definitiv nicht darunter hervorkriechen konnte. Raue Fasern scheuerten über die nackte Haut meiner Arme. Ich schluckte schwer, was durch das Knäuel in meinem Mund ziemlich wehtat. Meine Schultern und mein Hals verkrampften sich unangenehm.

Während Rick noch sein Werk und mich betrachtete, verschwanden die anderen beiden - Banja mit meinem Hab und Gut.

Ich sah in Ricks Augen und suchte dort etwas wie Sorge oder Hilfsbereitschaft. Irgendetwas, das mir Mut machte. Er schien meinen Blick zu deuten, runzelte die Stirn und sah hinauf zu den Segeln, die über mir sanfte Wellen schlugen.

»Hey, ihr Faulpelze«, rief er röhrend. »Ihr sollt arbeiten. Muss man euch denn alles extra sagen?« Raschen Schrittes entfernte er sich von mir.

Langsam ließ ich meinen Kopf nach hinten gegen den hölzernen Mast sinken. Eine innere Erschöpfung, die ich so nur von der Nutzung meiner Magie kannte, überkam mich. Ich fühlte mich so leer und allein. So hilflos. Das Gefühl übermannte mich, schien mich mit einer ungeheuren Schwere niederzudrücken und alle Kraft aus mir herauszupressen. Hätte ich doch nur auf Kira gehört und wäre nicht allein zum Hafen gegangen. Kira hätte es bestimmt geschafft, sich erfolgreich gegen Obscir zu wehren. Allerdings war ich auch froh, dass meine beste Freundin nicht in Gefahr schwebte. Oh weh. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ich nicht zurück ins Shub kehrte? Und was war mit dem kleinen Samu? Wer würde jetzt auf ihn aufpassen? Erneut zog sich mein Inneres schmerzhaft zusammen. Gab es überhaupt eine Chance, dass ich die beiden je wiedersah?

Ein Paar kalter, grüner Augen, das mich abschätzig musterte, riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Der Pirat, zu dem sie gehörten, war etwa in Obscirs Alter und als ich ihn nun ansah, bleckte er die Zähne. Schnell schaute ich weg und gab mir Mühe, meinen sofort wieder in die Höhe schießenden Puls etwas zu beruhigen.

Vor mir erstreckte sich der Bug der Deamaar. Über eine merkwürdige hölzerne Verlängerung hinweg konnte ich das blaue Meer glitzern sehen, das in weiter Ferne den sich in der Abendsonne verfärbenden Horizont berührte. Wellen schlugen sanft und rhythmisch gegen den Rumpf des Schiffes und ließen es schaukeln. Über mir blähten sich die vergilbten und an zahlreichen Stellen geflickten Segel, und so glitt die Deamaar begleitet von einem faszinierenden Rauschen über die Weite des Meeres. Wäre ich freiwillig an Bord – und auf einem anderen Schiff als der Deamaar - ich hätte es geliebt. Es hätte mir ein Gefühl von Freiheit und Unbekümmertheit beschert. So war es leider das absolute Gegenteil. Alles, was ich empfand, war Furcht vor dem, was kommen würde.

Ich wandte den Kopf etwas, denn der Steuermann schien seinen Kurs anzupassen und weiter nach Westen zu drehen, sodass mir die Strahlen der langsam sinkenden Sonne ins Auge stachen. Das war jedoch das Letzte, worüber ich mich jetzt zu beklagen hatte. Vermutlich konnte ich froh sein, dass ich nicht als neue Galionsfigur mitfuhr. Die Nacht würde hier oben allerdings kalt werden. Schon jetzt reichten die restlichen Sonnenstrahlen kaum aus, um mich zu wärmen und die Erschöpfung tat ihr Übriges und ließ mich zittern.

Mit der hereinbrechenden Dämmerung erklangen auch wieder Schritte in meiner Nähe. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Es verstärkte sich jäh, als ein schon bekanntes Gesicht neben mir auftauchte. Obscir.

»So«, sagte er und stellte die Petroleumlaterne, die er bei sich trug, ab. Sie warf ein flackerndes, gelbliches Licht auf die Umgebung und ließ alles, was nicht mehr von ihrem Schein erfasst wurde, noch dunkler wirken. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie unheimlich es sein würde, wenn die Dunkelheit der Nacht die Dämmerung ablöste.

Obscir dehnte seine Finger und grinste hinterhältig.

Ich hielt die Luft an.

»Wage es nicht, sie anzufassen«, sagte eine Stimme hinter mir, die ich als die Ricks identifizierte.

»Komm runter. Ich habe nur die Lampe abgestellt. Der Befehl des Käpt’ns war ja eindeutig.« Verärgert strich sich Obscir das fettige Haar aus dem Gesicht.

»Nur, weil du Arvid zuhörst, heißt es ja nicht, dass du seine Worte auch behältst.«

»Was soll das werden?«, fragte Obscir angesäuert, wandte sich um und verschwand aus meinem Blickfeld. Auch Ricks Schritte entfernten sich.

Erleichtert, aber auch etwas verblüfft blieb ich allein zurück. Allerdings nicht lange. Als die Nacht endgültig hereinbrach und mich mit eisiger Kälte begrüßte, hörte ich erneut jemanden näherkommen. Der Wind hatte aufgefrischt, blies mir ins Gesicht und spielte mit meinen Haaren, die zu allen Seiten wehten, sodass ich die Person erst gar nicht erkennen konnte. Dann aber machte ich Banjas schlaksige Gestalt im Schein der Lampe aus. Er hob einen Dolch, der im schummrigen Lampenlicht kurz aufblitzte.

Entsetzt riss ich die Augen auf. Gab es eine Planänderung? Wollte der Käpt’n mich doch schon früher als geplant loswerden? Mein Magen verkrampfte sich, während Banja langsam auf mich zu kam. Er ließ die Klinge von oben niedersausen und sogleich fiel das dicke Tau, das mich am Mast gehalten hatte, zu Boden.