Vampir im Schottenrock - Katie MacAlister - E-Book

Vampir im Schottenrock E-Book

Katie MacAlister

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Beschreibung

Die Halbelfe Samantha Cosse wurde aus dem Orden der Wahrsager hinausgeworfen und gründet ihre eigene Detektei, da sie ein besonderes Talent dafür besitzt, verlorene Dinge aufzuspüren. Ihr erster Klient ist der gut aussehende Schotte Paen Scott, der sie damit beauftragt, ein geheimnisvolles Artefakt zu finden. Dass Paen ein Vampir ist, versetzt Samantha in helle Aufregung. Sie ist nämlich fest davon überzeugt, dass sie füreinander bestimmt sind und sie allein dem charmanten Schotten seine Seele zurückgeben kann. Doch Paen glaubt nicht an die Liebe ...

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Seitenzahl: 456

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Inhalt

Titel

Vorwort

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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11

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19

20

Epilog

Impressum

Katie MacAlister

Roman

Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig

 

Dieses Buch habe ich geschrieben, weil mich so viele nette Leute um einen weiteren Vampirroman gebeten haben. Der Held ist Schotte, denn die Damen in meinem Mitteilungsforum verlangten einhellig nach einem schottischen Vampir (der natürlich auch im Schottenrock eine gute Figur machen muss). Allen diesen wunderbaren Leserinnen ist dieses Buch gewidmet.

Abgesehen davon möchte ich an dieser Stelle folgenden Personen meinen großen Dank aussprechen: Vicki L. Ankrapp, Michelle L. Graham und Linda Morrison, die (unabhängig voneinander) die Idee für den Originaltitel dieses Buchs – „Even Vampires Get the Blues“ – hatten. Ich kann euch dreien gar nicht genug für eure Unterstützung und Freundlichkeit danken!

Prolog

„Hi.“ Eine Frau stand in der Tür, und nach ihrer kehligen Stimme zu urteilen, war sie Amerikanerin. „Sind Sie zufällig Payann?“

Paen erschauderte ob der falschen Aussprache seines Namens und sah von einem zerfledderten Manuskript auf. Die Frau musste aus dem Süden der USA kommen. Niemand sonst würde seinen Namen derart verzerren. „Ich bin Paen, ja. Was kann ich für Sie tun?“

„Hi“, sagte die Frau abermals und betrat den Raum. „Ich bin Clarice Miller“, stellte sie sich mit einem strahlenden Lächeln vor.

Paen musterte sie argwöhnisch und fragte sich, wessen Eroberung sie wohl war, als sie ihr sexy, beinahe durchsichtiges Kleid glatt strich und mit wiegenden Hüften durch den Raum schritt, was sie vermutlich für äußerst verführerisch hielt. Daniels vielleicht? Nein, Danny bevorzugte Rothaarige, und diese Frau hatte eine goldbraune Lockenmähne, die ihr bis über die Schultern reichte. Finns? Clarice lächelte ihn noch ein bisschen strahlender an, als sie vor seinem Schreibtisch stehen blieb. Sie könnte zu Finn gehören, dachte Paen, aber sein mittlerer Bruder stand eher auf natürliche Frauen, auf Hexen und Wicca-Priesterinnen. Clarice sah aus, als käme sie direkt aus einem teuren Schönheitssalon oder einer noblen Wellness-Oase. Was bedeutete, dass sie nur …

„Avery sagte, Sie sind der Besitzer von Castle Death?“ Sie legte den Kopf schräg und bedachte ihn mit einem Augenaufschlag, der ihn an Prinzessin Diana erinnerte. Bei der verstorbenen Prinzessin hatte dieser Blick sehr charmant gewirkt – bei der Amerikanerin, die sich vor ihm aufgebaut hatte, allerdings weniger.

Obwohl ihm die ungebetene Besucherin lästig war, blieb er freundlich. „Mein Vater ist der eigentliche Besitzer des Schlosses – das übrigens de Ath heißt, nicht Death –, aber er ist mit meiner Mutter in Bolivien und ich bin sein Stellvertreter. Wenn Sie also eine Frage bezüglich des Anwesens haben, werde ich mich bemühen, sie Ihnen zu beantworten.“

Clarice fuhr mit ihren feuerrot lackierten Fingernägeln an der Kante des Rosenholzschreibtischs entlang. „Ihr Daddy ist in Bolivien? Ist ja interessant. Und Sie müssen hier alles regeln, weil Sie der älteste Sohn sind? Das ist bestimmt viel Arbeit! Avery hat gesagt, die Ländereien erstrecken sich kilometerweit um das Schloss.“

Paen stieß einen kleinen unhörbaren Seufzer aus. Diese Frau war also nur auf Geld aus. In letzter Zeit hatte Avery immer wieder Frauen mit nach Hause gebracht, die sich mehr für den Familiensitz und den dahinter vermuteten Reichtum interessierten als für die Männer, die dort lebten. „Ja, wir haben ein bisschen Land. Und, ja, die Verwaltung des Anwesens kostet einiges an Mühe, aber da mir die Arbeit Spaß macht, ist es keine Last für mich. Aber was kann ich denn nun für Sie tun? Haben Sie irgendeine Frage?“ Er warf einen Blick auf das alte Manuskript, das vor ihm auf dem Tisch lag, und wünschte sich nichts sehnlicher, als in Frieden gelassen zu werden, damit er es zu Ende übersetzen konnte.

„Nun, das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen“, entgegnete sie und schob das Manuskript zur Seite, um sich auf die Schreibtischkante zu setzen. Ihr Lächeln nahm den Charakter eines eindeutigen Angebots an. „Ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein …“ Sie hielt inne und warf einen Blick auf seinen Schritt. „Bei allem, was Sie so brauchen. Wie man mir sagte, bin ich sehr gut in dem, was ich tue.“

Paen lehnte sich zurück, als sie die Beine übereinanderschlug. Dafür, wie das Kleid dabei scheinbar unbeabsichtigt ihre Oberschenkel hochrutschte, hatte sie eine glatte Eins verdient. Wusste sie, was er und seine Brüder wirklich waren? Oder war sie nur auf eine Affäre mit einem echten Schotten aus, wie man es den amerikanischen Touristinnen nachsagte? „Und wobei genau wollen Sie mir behilflich sein?“

„Ach, bei diesem und jenem“, entgegnete sie und leckte sich mit ihrer kleinen rosa Zunge die Unterlippe. Paen beobachtete ihre Annäherungsversuche mit einer gewissen Belustigung. „Das liegt ganz bei Ihnen. Ich bin für alle Vorschläge offen.“

Sie beugte sich vor und gewährte ihm freie Sicht auf ihre üppigen Brüste.

Als Mann fühlte er sich dazu verpflichtet, sie einen Augenblick lang zu bewundern. Nachdem er damit fertig war, schenkte er Clarice ein knappes bedauerndes Lächeln. „Das glaube ich Ihnen. Aber ich muss Sie leider enttäuschen. Ich beschäftige bereits eine Verwalterin, und sie ist ziemlich kompetent, wenn auch zuweilen etwas schwierig. Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, aber es gibt eigentlich nicht viel, wobei ich Hilfe brauchen könnte.“

Sie leckte sich erneut die Lippen, diesmal langsamer. „Da fällt mir bestimmt etwas ein!“

Paen schaute überrascht nach unten. Clarice, die sich durch die Betrachtung ihrer Brüste offenbar ermutigt fühlte, hatte eine Sandale abgestreift und fuhr mit dem nackten Fuß die Innenseite seines Oberschenkels entlang, bis sie seinen Schritt erreichte. „Wollen Sie mir damit zufällig zu verstehen geben, dass Sie gern Sex mit mir hätten?“

„Na, Süßer, ich dachte schon, du fragst nie!“, schnurrte sie und liebkoste ihn mit den Zehen.

Genug war genug. Gelegenheitssex war ihm weiß Gott nicht fremd, ganz und gar nicht, aber er hatte zu arbeiten und keine Zeit, um eine lüsterne Amerikanerin zu bumsen. Er nahm vorsichtig ihren Fuß von seinem Gemächt und schob ihn fort. Bevor sie protestieren konnte, stand er auf, ging zur Tür und hielt sie ihr auf. „Danke für das Angebot, aber es gibt zwei Gründe, warum ich nicht darauf eingehen kann.“

„Zwei Gründe?“, fragte Clarice und machte keine Anstalten, sich vom Schreibtisch zu erheben. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie ihn schmollend ansah. „Welche denn?“

Paen seufzte erneut. Er war es gewöhnt, dass seine drei Brüder von Frauen umschwärmt wurden, aber nur selten warf eine ein Auge auf ihn. In der Regel war er der Jäger. Wie er vermutete, spürten sie, dass er ein gequältes, seelenloses Wesen war, und ließen ihn deshalb in Ruhe.

„Erstens vögle ich nicht die Frauen meiner Brüder.“ Er kam zu ihr zurück, zog ihr die Sandale an, schubste sie sanft vom Schreibtisch und ging wieder zur Tür. Das war zwar unhöflich, aber er hatte weder Zeit noch Lust, mit dieser Frau zu spielen. „Und zweitens haben Sie keine Ahnung, wer ich wirklich bin. Es wäre das Beste, wenn Sie jetzt gehen.“

„Oh, ich weiß, wer du bist“, sagte Clarice mit rauchiger Stimme und kam auf ihn zugewalzt. Statt ihn anzutörnen, ließen ihn ihre allzu offensichtlichen Verführungsversuche kalt. Hätte ihr wirklich etwas an ihm gelegen und nicht an dem, was er repräsentierte, wäre er vielleicht interessiert gewesen, aber er machte sich nichts vor: Sie war nur auf ihren Vorteil bedacht. „Oder besser gesagt, ich weiß, was du bist.“

Paen blieb regungslos stehen, als sie ihm so nah kam, dass ihr Busen seine Brust berührte. Sie bedachte ihn mit einem wissenden Lächeln, dann legte sie den Kopf in den Nacken. „Avery hat mir alles über dich erzählt. Mach schon, Süßer. Du willst es doch!“

Sein Hunger erwachte, als der Duft der warmen, willigen Frau ihn umfing, und sein Verstand rang mit der Gier. Aber warum sollte er sich eigentlich nicht nehmen, was er von ihr wollte? Schließlich bot sie es ihm freiwillig an. Und wenn Avery erfuhr, dass sie versucht hatte, ihn zu verführen, würde er sowieso nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen – was machte es also, wenn er nahm, was ihm angeboten wurde?

Der Hunger in seinem Inneren wurde immer stärker und verlangte gestillt zu werden. Sie schmiegte sich an ihn, bis ihr Hals nur noch wenige Zentimeter von seinem Mund entfernt war. Er schluckte und versuchte der Gier nicht nachzugeben. Ich bin ein zivilisierter Mensch, sagte er sich, kein wildes Tier, das sich auf jeden Futterbrocken stürzt. Er sog ihren Duft ein und fand außer dem chemischen Geruch eines intensiven Parfüms nichts Unangenehmes. Eigentlich zog er den natürlichen Duft einer Frau allen künstlichen Aromen vor, aber es stand ihm nicht zu, sich zu beklagen. Er fuhr sich mit der Zunge über seine spitzen Eckzähne, während sein Hunger so groß wurde, dass er ihm im pulsierenden Takt seines Herzschlags in den Ohren dröhnte. Der Drang, zuzubeißen und zu trinken, war fast überwältigend. Er musste nur seine Zähne in diese zarte, weiße Haut schlagen …

„Mach schon, Paen! Nimm mich! Nimm mich auf der Stelle! Dann bin ich für immer dein!“

Es war der Triumph in ihrer Stimme, der ihn davon abhielt, seinem Hunger nachzugeben. Ihre Worte erfüllten ihn mit Abscheu, und es war, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

„Sie wissen vielleicht, was ich bin, aber ich weiß auch, was Sie sind“, sagte er mit eisiger Stimme und trat zurück.

„Was?“, fuhr sie auf und sah ihn verwirrt an. „Was soll das heißen? Du willst mich nicht beißen? Du willst nicht von meinem Blut trinken? Du willst mich nicht zu deiner ewigen Gefährtin machen?“

„Nein“, entgegnete er eher amüsiert als verärgert. „Ich werde Ihr Blut nicht trinken und Sie auch nicht heiraten. Ich heiße Paen Alsdair Scott und nicht Dracula, und ich bin weder der Fürst der Finsternis, noch ein Graf, noch ein flotter, romantischer Frauenheld. Ich bin ein einfacher Schotte, der sich für die Geschichte und die Reisen von Marco Polo interessiert und eine Schwäche für Computerspiele hat.“

„Aber … du bist ein Vampir!“, protestierte sie. „Du kannst mich gar nicht zurückweisen!“

„Wir bevorzugen den Terminus ‚Dunkle‘. Das klingt weniger dramatisch, und es kommen weniger Leute mit Fackeln und Holzpflöcken ans Tor. Und was das Zurückweisen angeht …“ Er zeigte auf die offene Tür. „Nochmals vielen Dank, aber ich bin ein beschäftigter Mann. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden?“

„Nicht zu fassen!“ Die Verwirrung in Clarices grauen Augen wandelte sich in hochmütigen Zorn. „Mit dir stimmt was nicht, weißt du das?“

„Ja, dessen bin ich mir bewusst“, entgegnete er lakonisch. „Auf mir lastet ein alter Fluch. Meine Eltern hatten die sieben Schritte des Vereinigungsrituals noch nicht vollendet, als ich geboren wurde, und so habe ich im Unterschied zu meinen Brüdern keine Seele.“

„Aber … dein Bruder hat gesagt, dass nur eine Frau dich retten kann. Er sagte, du brauchst eine Frau, damit du deine Seele zurückbekommst.“

„Ich muss mich offensichtlich noch mal mit Avery unterhalten“, stellte Paen mit einem leisen Seufzer fest. „Er meint es gut, aber ich habe es ihm schon etliche Male gesagt – ich habe nicht die Absicht, mich an eine Geliebte zu binden, selbst wenn ich sie fände.“

„Eine Geliebte?“

„Nur eine Geliebte kann die Seele eines Dunklen retten. Aber um ein glückliches Leben zu führen, brauche ich keine Frau“, erklärte er und schob Clarice sanft aus dem Zimmer. „Ich bin auch ohne ganz zufrieden. Ich habe meine Forschung und die Familie – obwohl sie manchmal höllisch nervig sein kann –, und weil meine Brüder solche Schwerenöter sind, auch jede Menge hübsche Frauen zum Angucken. Vor ein paar Jahren hatte ich sogar eine Freundin, aber die hat mich wegen eines Software-Genies verlassen. Wie Sie also sehen können, bin ich zwar verdammt, aber es geht mir gut. Nochmals danke für Ihr Angebot. Auf Wiedersehen!“

„Aber … du kannst doch nicht … Du musst doch Blut …“

Paen schloss die Tür, während Clarice entrüstet weiterzeterte, und drehte nach kurzer Überlegung den Schlüssel um. Es hatte keinen Sinn, ihr die Möglichkeit zu lassen, erneut sein Arbeitszimmer zu stürmen und ihm Avancen zu machen.

„Endlich allein“, sagte er zu sich und ging an seinen Schreibtisch.

„Nicht ganz.“

Ein Schatten löste sich von der Wand, aus dem sich eine männliche Gestalt herausbildete. Paen beobachtete ihn aufmerksam, war aber nicht übermäßig beunruhigt wegen der unerwarteten Erscheinung, die er für einen Dämon hielt. „Heute ist anscheinend der Tag für Überraschungsgäste. Ich nehme an, es handelt sich nicht bloß um einen Freundschaftsbesuch?“

Der Dämon in Menschengestalt kicherte, was Paen ziemlich verblüffend fand, denn Dämonen hatten eigentlich keinen Sinn für Humor. Dieses seltene Exemplar schien jedoch etwas für Sarkasmus und Ironie übrigzuhaben. „Ich habe nicht vor, dich ins Totenreich zu entführen, falls du das meinst. Also könnte man es in gewisser Weise doch als Freundschaftsbesuch bezeichnen. Ich bin Caspar Green.“

Paen warf einen prüfenden Blick auf die Hand, die der Dämon ihm reichte. Es sah nicht so aus, als seien darin Rasierklingen mit Sprungfedern versteckt oder Pumpen mit tödlicher Säure oder irgendeinem furchtbaren Krankheitserreger, der dafür sorgte, dass man an diversen Körperteilen Geschwüre bekam, bevor sie einem abfielen – aber bei Dämonen konnte man nie wissen. „Ähm … verzeih mir, wenn ich unhöflich bin, aber ich kann mich nicht daran erinnern, jemals von einem Dämon gehört zu haben, der den Namen eines Sterblichen trägt.“

Caspar lächelte. Paen schaute sofort zu der Glasvitrine, in der er seine wertvollen alten Manuskripte aufbewahrte. Wenn Dämonen lächelten, ging normalerweise immer etwas in die Brüche. „Ich bin ja auch kein Dämon. Ich bin ein Alastor.“

„Ein Alastor?“ Der Begriff sagte ihm irgendetwas.

„Ja.“ Caspar legte den Kopf schräg. „Und ich muss sagen, es kränkt mich, dass du mich für einen gewöhnlichen Dämon gehalten hast. Ich dachte, du seist ein Mann mit einem gewissen Scharfsinn.“

„Verzeih mir“, entgegnete Paen mit einem zerknirschten Grinsen. „Ich entspreche eher dem Klischee des typischen weltabgewandten Gelehrten. Ich hatte kaum Gelegenheit, mich unter die Bewohner der Anderswelt zu mischen, aber – korrigiere mich, wenn ich mich irre – ist ‚Alastor‘ nicht nur ein anderes Wort für ‚Dämon‘?“

„Ich bin von dämonischer Gesinnung, das stimmt, doch ich bin kein Dämon im eigentlichen Sinne. Alastoren sind nicht an Dämonenfürsten gebunden, aber sie können von ihnen engagiert werden. Eine bessere Bezeichnung ist ‚Rachegeist‘ – so werden Alastoren im Allgemeinen genannt. Und was meinen Namen angeht: Ich war einstmals ein Sterblicher. Ich verwende lieber einen Namen, der Menschen kein Unbehagen bereitet.“

„Ich bin kein Mensch“, bemerkte Paen und schüttelte dem Alastor schließlich doch die Hand. Er konnte zwar einen Dämon nicht von einem Alastor unterscheiden, aber er war kein Idiot. Er hatte genug Geschichten darüber gehört, wie raffiniert und verschlagen die Kreaturen sein konnten, die im Dienst der finsteren Mächte standen.

„Nein, das bist du nicht, aber manch einer würde sagen, du bist dicht genug dran, um als Mensch durchzugehen.“ Caspar lächelte abermals und zeigte auf einen Stuhl. „Darf ich?“

„Gewiss doch. Äh, ich habe nicht oft Besuch aus dem Totenreich. Was sieht das Protokoll vor? Soll ich dir einen Whisky anbieten, Jungfrauenblut … oder hättest du gern ein kleines Nagetier?“

„Whisky ist in Ordnung“, entgegnete Caspar und setzte sich auf den Stuhl, der vor Paens Schreibtisch stand. „Obwohl, ein Schlückchen Jungfrauenblut …?“

Paen goss etwas Whisky in ein kleines Bleikristallglas und reichte es dem Gast. „Ich bedaure, das ist uns ausgegangen.“

„Ah. Das habe ich mir gedacht. Der Marktwert von Jungfrauenblut ist in letzter Zeit einfach ungeheuerlich. Seit die Jungfrauen ihre eigene Gewerkschaft gegründet haben, sind ihre Forderungen völlig überzogen. Slainte!“ Caspar nahm einen Schluck Whisky. „Ausgezeichnet! Wie alt ist er?“

„Mein Vater hat ihn im Jahr meiner Geburt destilliert und eingelagert“, erklärte Paen, lehnte sich mit der Hüfte an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Weshalb bist du eigentlich gekommen?“

Caspar nahm noch einen Schluck. „Sehr weich für einen Whisky, der … hmmm. Ich würde sagen, er ist ungefähr dreihundert Jahre alt.“

„Zweihundertsechsundvierzig.“

„Aha. Sehr köstlich, trotzdem.“

Paen runzelte die Stirn. Das Wesen, das vor ihm saß und den Whisky seines Vaters trank, hatte zwar seine Neugier geweckt, aber er wollte nicht den ganzen Nachmittag mit höflicher Plauderei verschwenden.

„Der Grund meines Besuchs hat mit deinem Vater zu tun. Du kennst doch bestimmt die Geschichte, wie er deine Mutter kennengelernt hat?“

„Ja“, sagte Paen, und nun beschlich ihn doch ein gewisses Unbehagen. Caspar Green mochte zwar kein Dämon sein, aber wenn sich ein Wesen aus der Anderswelt mit seinem Vater befasste, hatte das bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. „Sie haben sich gegen Ende des Franzosen- und Indianerkriegs kennengelernt. Meine Mutter war Französin. Mein Vater kämpfte auf der Seite der Engländer. In einer Schlacht wurde er schwer verletzt – man hatte ihm beinahe den Kopf abgeschlagen –, und sie fand ihn und pflegte ihn trotz der Einwände ihrer Familie. Dann haben sie sich ineinander verliebt. Aber was hast du mit meinen Eltern zu tun?“

„Eine ganze Menge. Jedenfalls mit ihrem Zusammentreffen. Die Geschichte, die man dir erzählt hat, ist so nicht ganz richtig: Dein Vater war verwundet und deine Mutter hat ihn gesund gepflegt, das stimmt, aber er hat sich die Verletzung selbst zugefügt.“

Paen kniff die Lippen zusammen. Das war doch absurd! Er glaubte Caspar kein Wort. „Warum um alles in der Welt sollte er so etwas Hirnverbranntes tun?“

„Weil ich ihm gesagt habe, dass seine Geliebte ganz in der Nähe ist.“

„Wie bitte?“ Paen starrte den Mann ungläubig an.

Caspar lächelte. Oberflächlich betrachtet war sein Gesicht freundlich, aber Paen war sich sehr wohl der Aura der Macht bewusst, die den Alastor umgab. „Ja. Dein Vater hatte den Dämonenfürsten Oriens beauftragt, seine Geliebte zu finden. Es war meine Aufgabe, sie aufzuspüren, und genau das habe ich getan. Ich habe deinem Vater zu einer drastischen Maßnahme geraten, um in ihren Kreis vorzudringen, denn anders wäre es ihm nicht gelungen. Er tat, was getan werden musste, und der Rest ist Geschichte. Im wahrsten Sinne des Wortes in diesem Fall, aber das ist eben einer der Vorteile, wenn man unsterblich ist.“

„Mal angenommen, es wäre wahr – und das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich – weshalb kommst du mir jetzt damit?“

Caspar stellte sein Glas behutsam auf dem Schreibtisch ab und verschränkte affektiert die Hände über dem Knie, was Paen aus irgendeinem Grund ziemlich nervte. „Dein Vater steht immer noch in Oriens’ Schuld, weil er seine Hilfe in Anspruch genommen hat.“

Paens Miene verfinsterte sich. Noch jemand, der nur auf Geld aus war, diesmal sogar jemand aus der Dämonenwelt! Er ging um den Schreibtisch und nahm das Scheckheft aus der Schublade. „Wie viel?“

„Du hast mich falsch verstanden, Paen. Die Schuld deines Vaters lässt sich nicht mit irdischem Geld begleichen.“

„Ach?“ Paen klappte das Scheckheft wieder zu und sah den Mann argwöhnisch an. „Was will Oriens denn sonst haben?“

„Etwas ganz Simples, wirklich. Eine kleine Affenstatue. Ich glaube, du kennst sie gut. Wie ich hörte, handelt es sich um ein Familienerbstück – die Jilin-Statue wird sie allgemeinhin genannt.“

Paen kramte mit gerunzelter Stirn in seiner Erinnerung. „Eine Affenstatue? Nein, davon habe ich noch nie gehört, und von Kennen kann schon gar nicht die Rede sein.“

Caspar zog einen Zettel aus der Tasche. „Hier ist eine Zeichnung von ihr. Sie ist ungefähr fünfzehn Zentimeter hoch, schwarz, aus Ebenholz. Sie soll aus China stammen und um die sechshundert Jahre alt sein.“

„Ming-Dynastie“, sagte Paen geistesabwesend, während er weiter sein Gedächtnis durchforstete. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater jemals ein solches Familienerbstück erwähnt hätte. Und er kannte jeden Quadratzentimeter des Schlosses und hatte so eine Statue noch nie gesehen.

„Ja. Was du alles weißt! Kennst du dich mit dieser Epoche aus?“

„Nur ein bisschen. Ich habe Nachforschungen über einen Ritter angestellt, der Marco Polo gedient hat, und der war während dieser Zeit in China. Aber kannst du mir auch beweisen, dass das, was du mir erzählst, wahr ist?“

Caspar lächelte schon wieder. Allmählich ging Paen dieses wissende Lächeln auf die Nerven. Ihn beschlich das Gefühl, diesem Kerl nicht gewachsen zu sein, und das behagte ihm ganz und gar nicht. „Ich hatte mir schon gedacht, dass du nach einem Beweis fragen wirst. Ich habe hier …“ Caspar holte ein kleines Ledermäppchen von der Größe eines Reisepasses hervor. „… ein Dokument, das die Unterschrift und das Siegel deines Vaters trägt.“

Paen ging mit dem Schriftstück zu einem anderen Tisch, auf dem eine Lupenleuchte stand, und überflog es rasch. Es besagte lediglich, dass Alec Munroe McGregor Scott aus Darmish, Schottland, schwor, Fürst Oriens oder seinem rechtmäßigen Vertreter im Austausch für die ihm erwiesenen Dienste eine gewisse Jilin-Statue auszuhändigen. Paen, der sich so gut mit altem Pergament auskannte, um erkennen zu können, ob es echt war oder ob es sich nur um auf alt getrimmtes Papier handelte, sah sich das Dokument sehr genau unter der Lupe an. Er nahm sogar ein kleines Taschenmikroskop zur Hand, um die Papierfasern und das rote Wachssiegel zu prüfen.

„Also gut, ich gebe zu, dieses Schriftstück ist echt. Aber warum hat Oriens Hunderte von Jahren damit gewartet, diese Schuld einzufordern?“

„Oriens ist ein viel beschäftigter Dämonenfürst. Vielleicht ist es ihm zwischenzeitlich entfallen, oder er hat erst jetzt Verwendung für die Statue. Aber wie dem auch sei, die Schuld ist jetzt fällig und muss unverzüglich beglichen werden.“

„Ich habe keine Ahnung, um was für eine Statue es sich handelt und wo sie sich befindet. Wenn Oriens schon so lange gewartet hat, dann kann er auch noch drei Monate länger warten, bis meine Eltern aus dem bolivianischen Regenwald nach La Paz zurückkehren, wo sie wohnen.“

Caspar breitete die Hände aus. „So einfach ist das leider nicht. Die Schuld muss innerhalb eines Mondzyklus beglichen werden, nachdem sie eingefordert wurde, sonst ist Oriens dazu berechtigt, Anspruch auf das Pfand zu erheben, das ihm als Sicherheit angeboten wurde.“

Paen gefror das Blut in den Adern. Das wurde ja immer verrückter! „Was für ein Pfand?“

„Es gibt nur eines, was ein Dämonenfürst wirklich will, und das ist eine Seele.“

„Mein Vater hat ihm seine Seele dafür versprochen, dass du seine Geliebte aufspürst?“

„Nein, seine Seele diente bereits als Sicherheit für eine andere, deshalb war das nicht möglich“, entgegnete Caspar kopfschüttelnd. „Er hat sie zwar angeboten, aber Oriens wollte sie nicht als Pfand akzeptieren.“

In Paens Herz bildeten sich kleine Gletscher. „Wessen Seele hat er denn dann als Pfand verwendet?“

Erwartungsgemäß lächelte Caspar. „Nun, die seiner Geliebten natürlich. Er war zwar streng genommen nicht im Besitz ihrer Seele, doch die Tatsache, dass sie als seine Geliebte bereit sein würde, sich für ihn zu opfern, genügte Oriens als Garantie. Und das bedeutet leider, dass ihm die Seele deiner Mutter zufällt, wenn du mir nicht innerhalb von fünf Tagen die Statue aushändigst. Das ist deiner Mutter gegenüber ziemlich unfair, aber so lautet nun einmal die Vereinbarung.“

„Innerhalb von fünf Tagen?“, fragte Paen bestürzt. Er würde eher sterben als zulassen, dass ein Dämonenfürst seine dreckigen Griffel nach seiner Mutter ausstreckte – von ihrer wunderschönen reinen Seele ganz zu schweigen. „Ein Mondzyklus dauert aber länger!“

„Es tut mir leid, aber ich habe eine Weile gebraucht, um dich aufzuspüren“, erklärte Caspar mit geheucheltem Bedauern.

„Das ist doch nicht zu fassen! Aber gut, wir sind zu viert. Wir teilen uns die Arbeit auf und …“

„Oh nein, ich fürchte, das ist nicht möglich.“ Caspar lächelte bekümmert. „Habe ich das nicht erwähnt? Diese Aufgabe musst du ganz allein bewältigen. Du bist der Sohn deines Vaters, verstehst du?“

Paen runzelte die Stirn. „Warum nur ich? Meine Brüder sind doch auch die Söhne meines Vaters!“

„Ja, aber du bist der Erstgeborene. Laut der Vereinbarung, die dein Vater unterschrieben hat …“ Er zeigte auf das Schriftstück. „… muss die Schuld vom Schuldner selbst oder von seinem nächsten Blutsverwandten beglichen werden. Und das bist du, als ältester Sohn.“

„Das ist ja ungeheuerlich! Meine Brüder –“

„Sind nicht berechtigt, nach der Statue zu suchen. Tun sie es doch, gilt die Schuld als nicht beglichen, und das Pfand wird eingefordert.“ Caspar nahm Paen den Schuldschein aus der Hand und verstaute ihn wieder in dem Ledermäppchen. „Du hast nur fünf Tage. Wenn du die Statue nicht innerhalb dieser Frist findest … Nun, wir wollen wirklich nicht mit dem Schlimmsten rechnen.“

„Raus!“, zischte Paen mit zusammengebissenen Zähnen, denn der Schmerz, den ihm die Worte des Alastors bereiteten, drohte ihn zu überwältigen.

„Ich verstehe ja, dass du aufgebracht bist, aber …“

„Verschwinde aus meinem Haus! Auf der Stelle!“, brüllte Paen und stürmte äußerst ungehalten auf den ungebetenen Besucher zu.

„Ich werde mich zwischendurch erkundigen, wie du mit der Suche vorankommst“, sagte Caspar hastig und wich an die Wand zurück, als Paen ihn packen wollte, um ihn aus dem Zimmer zu werfen. Am liebsten hätte er ihn gleich aus dem Land geworfen … oder noch besser von der Erde, wenn das möglich gewesen wäre. „Mach’s gut, bis dahin!“

Paen stieß knurrend ein paar unschöne Beschimpfungen und mittelalterliche Flüche aus, während die Gestalt des Mannes zu schimmern begann und verschwand. Außer weiter vor sich hin zu wettern, führte er in der nächsten halben Stunde vier Auslandsgespräche und ließ drei Boten in den bolivianischen Regenwald aussenden, die nach seinen Eltern suchen sollten.

„Ihr wisst nicht zufällig, wo sie sind oder wo sich diese Affenstatue befindet?“, fragte er abends seine drei Brüder.

„Keine Ahnung“, sagte Avery und zog sich seine Lederjacke über. „Mir sagt doch nie einer was. Ehrlich gesagt kommt mir die ganze Sache reichlich merkwürdig vor. Wir können dir also nicht bei der Suche nach dieser Statue helfen, weil du der Älteste bist? Was ist das für ein Unsinn?“

„Das rührt bestimmt von irgendeinem archaischen, vorsintflutlichen Gesetz her, das vor ein paar hundert Jahren noch galt“, knurrte Paen. „Damals wurden alle möglichen Vereinbarungen und Abkommen auf der Grundlage von inzwischen längst überholten Gesetzen getroffen.“

„Tja, ich will ja nicht herzlos erscheinen, aber da wir dir sowieso nicht bei der Suche helfen können, gehe ich jetzt aus.“

„Nichts dergleichen wirst du tun!“, rief Paen und marschierte an seinem Bruder vorbei. „Du und Daniel, ihr macht euch auf zu den Äußeren Hebriden und bittet den Abt von Lachmanol Abbey darum, seine überaus kostbare Sammlung von Manuskripten aus dem 16. Jahrhundert einsehen zu dürfen. Und die durchforstet ihr dann nach Hinweisen auf diese verdammte Statue!“

„Ich? Warum ich?“ Paens zweitjüngster Bruder Danny sah von seiner Zeitung auf. „Warum fährst du nicht hin? Ich dachte, dieser Dämon hätte gesagt, dass keiner außer dir nach der Statue suchen darf.“

„Ihr werdet ja auch nicht nach der Statue selbst suchen. Ich will mehr über sie wissen – über ihre Herkunft, ihre Geschichte und so weiter. Du bist außer mir der Einzige, der Latein kann. Avery lässt seinen Charme spielen, damit ihr an die alten Schriften kommt, und du übersetzt sie dann.“

„Klingt verdammt langweilig, aber ich tue es für Mum.“ Avery bewunderte sich noch einmal ausgiebig im Spiegel, dann sah er Paen warnend an. „Aber du wirst nicht die ganze Zeit Trübsal blasen und vor dich hin grübeln, wenn wir weg sind, ja? Falls doch, dann bringen wir dir nämlich keine Mädels von unserer Reise mit.“

„Wir gehen ins Kloster, du Idiot!“, bemerkte Daniel und boxte seinen Bruder auf den Arm. Dann reckte er sich und holte seinen Mantel.

„Ich wette, ich könnte selbst da welche finden.“

Paen konnte es sich gerade noch verkneifen, die Augen zu verdrehen. „Ich grüble doch gar nicht. Das tue ich nie.“

Seine drei Brüder brachen in Gelächter aus.

„Paen, du bist der Weltmeister im Grübeln“, sagte Daniel, reckte sich abermals und warf einen Blick auf die Uhr.

„Genau, regelrecht grübelsüchtig bist du!“, rief Finn. „Ich glaube, wir müssen eine Intervention machen oder wir melden dich zu so einem Zwölf-Schritte-Programm an. ‚Hallo, ich heiße Paen und ich bin grüblerisch.‘ Vielleicht würde dir das helfen, mal ein bisschen lockerer zu werden.“ Er grinste seinen Bruder an.

Paen unterdrückte das Verlangen, ihm eine zu verpassen. Finn war genauso groß wie er, und obwohl er gut zehn Kilo schwerer war als sein Bruder, war es ziemlich knapp für ihn geworden, als er sich das letzte Mal mit ihm – oder einem von den anderen beiden – geprügelt hatte.

Also sah Paen seine Brüder nur grimmig an, während er sich zum x-ten Mal fragte, wie seine blonde Mutter und sein dunkelhaariger Vater vier Söhne in die Welt hatten setzen können, die einander so unähnlich waren. Er selbst kam mit seinem schwarzen Haar – das sich immer wieder lockte, wie sehr er sich auch bemühte, es zu glätten – und den grauen Augen nach seinem Vater. Avery war ganz der Sohn seiner hellhaarigen, blauäugigen Mutter, und Finn und Daniel lagen irgendwo dazwischen. „Es besteht ein großer Unterschied zwischen Grübeln und der Sorge um Mums Seele. Was ihr hier seht, ist reine Sorge, der ein Schuss Beunruhigung beigemischt ist, damit ich nicht stumpfsinnig werde. Es ist kein Funken Trübsal in mir.“

„Jetzt kommt’s“, sagte Avery zu Finn.

Letzterer nickte. „Genau! Dass wir uns glücklich schätzen können, weil wir unsere Seelen haben, und dass er verdammt ist und so weiter. Immer dieselbe Leier!“

„Nun, ich bin ja auch verdammt! Ihr wisst doch gar nicht, wie das ist!“, fuhr Paen auf. „Ihr habt nicht die leiseste Ahnung davon, wie sehr ich leide …“

„… und wie qualvoll es ist, ohne Hoffnung leben zu müssen, ohne die Liebe einer Seelenverwandten und ohne Aussicht auf Erlösung!“, riefen seine Brüder im Chor.

Paen knurrte genervt. Er liebte seine Brüder, aber es gab Momente, da hätte er eine Menge Geld dafür gegeben, ein Einzelkind zu sein.

„Und trotzdem behauptest du immer wieder, dass du völlig zufrieden mit deinem Leben bist. Wir haben dir doch gesagt, dass wir Himmel und Hölle in Bewegung setzen würden, um dir bei der Suche nach deiner Geliebten behilflich zu sein“, bemerkte Avery. „Ein Wort von dir genügt, und wir suchen Schottland nach ihr ab – ganz Großbritannien, wenn du willst!“

„Ich habe gestern eine Frau kennengelernt, die dir gefallen könnte“, sagte Daniel nachdenklich. „Ich kann sie anrufen, bevor wir –“

„Nein!“, fiel Paen ihm ins Wort. „Mir reicht es schon mit Averys ständigen Verkupplungsversuchen – bringt mir bloß keine Frau mehr nach Hause, von der ihr glaubt, sie wäre meine Geliebte! Ich brauche keine Frau, die mich rettet. Ich bin vollkommen zufrieden und bin weder trübselig noch grüblerisch, und abgesehen davon komme ich mit der Suche nach der Simia Gestor Coda gut voran.“

„Oh nein, fang nicht schon wieder von diesem Märchen an!“, sagte Daniel und verdrehte die Augen.

„Das ist kein Märchen!“

„Ich weiß, ich weiß“, entgegnete Daniel und hob beschwichtigend die Hände. „Diese alte Schrift, von der du immer redest, gibt angeblich Aufschluss über die Ursprünge der Dunklen und beschreibt sogar eine Methode, wie man den Fluch brechen kann, der auf dir lastet.“

„Ganz genau. Ich muss sie nur finden, und dann kann ich mich selbst von dem Fluch befreien. Ohne dass sich irgendeine Frau einmischt, vielen Dank!“

„Paen, du suchst jetzt schon seit fünfundzwanzig Jahren nach diesem Manuskript – ich denke, allmählich solltest du dir eingestehen, dass es gar nicht existiert“, sagte Avery, und die anderen nickten. „Ich weiß nicht, warum du dich so gegen die Tatsache sträubst, dass du eine Frau brauchst, die dich rettet. Frauen sind etwas Schönes! Sie fühlen sich gut an, sie riechen gut und, das kannst du mir glauben, sie stellen Dinge mit meinem Körper an, die mich vor Glückseligkeit schielen lassen. Du musst dich endlich von dieser ‚Ich rette mich selbst‘-Nummer verabschieden und in die richtige Spur kommen, Bruder. Finde deine Geliebte, lass dich von ihr retten und mach viele kleine Paens!“

Paen funkelte seinen verantwortungslosen Bruder wütend an. „Nur weil ich meinen Schwanz im Zaum halten kann und du nicht …“

„Oh, das kann ich durchaus, aber es macht viel mehr Spaß, ihn von der Leine zu lassen“, entgegnete Avery und schlug Finn auf die Schulter, damit er den Autoschlüssel herausrückte. „Danke, Kumpel. Wir machen uns dann mal auf den Weg zu diesem Ort der Freude. Ich rufe dich zwischendurch an, um durchzugeben, wie viele Frauen ich da aufgegabelt habe.“

„Deine Schwäche für schnelle Autos und leichtlebige Frauen wird dich eines Tages noch umbringen“, ermahnte ihn Paen.

„Es ist einer der Vorzüge der Unsterblichkeit, mein lieber Bruder, dass man tun kann, was man will, wo und wann auch immer, ohne dass es Konsequenzen hat. Das solltest du bei Gelegenheit mal ausprobieren!“

In Paens Wange zuckte ein Muskel. „Einer von uns muss ja ein bisschen Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen und für Ordnung sorgen, solange Mum und Dad weg sind.“

Avery verdrehte die Augen und verließ das Wohnzimmer. Daniel folgte ihm. „In diesem Punkt stimme ich Av zu, Paen“, sagte er beim Hinausgehen. „Du musst ein bisschen lockerer werden und dich von diesem Übermaß an Pflichtbewusstsein befreien, das dir im Nacken sitzt. Ich hab mein Handy dabei und rufe dich an, wenn wir was gefunden haben.“

„Und?“ Paen drehte sich zu Finn um. „Du willst dir doch bestimmt nicht die Gelegenheit entgehen lassen, auch noch ein paar Sticheleien zu dem Thema loszuwerden, dass ich mir keinen Kopf um das Schloss, die Familie und Mums ewiges Glück machen und lieber leben soll, als gäbe es kein Morgen.“

Finn grinste. „Wie könnte ich mir so eine wunderbare Gelegenheit entgehen lassen? Die ganzen verdrängten Gefühle – du solltest dich wirklich mal in so ’ne leckere Zuckerschnute verlieben, dir den Verstand rausvögeln, dich von ihr retten lassen und es mal mit Glücklichsein statt Trübsalblasen versuchen.“

„Weiß du, wie ermüdend es ist, ständig zu wiederholen, dass ich keine Geliebte brauche? Ich kann Frauen haben, wann immer ich Lust auf Sex habe. Sie müssen sich nicht an mich binden, um meine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.“

„Ich kann nicht glauben, dass ich das jetzt sage, aber trotzdem – Paen, du lässt dir eine ganze Menge Vergnügen entgehen, wenn du weiterhin diese emotionale Distanz zu Frauen wahrst. Dein Verhältnis zu ihnen geht ja kaum über das zu einer Prostituierten hinaus! Mir ist klar, dass du denkst, wenn du Zuneigung für eine Frau empfindest, muss sie auch gleich deine Geliebte sein, aber weißt du, du kannst eine Frau, mit der du schläfst, tatsächlich gern haben, ohne dass sie zu deiner Retterin wird. Du kannst sie sogar ein bisschen lieben, auch wenn du fest entschlossen bist, nicht nach deiner besseren Hälfte zu suchen.“

„Ich brauche keine bessere Hälfte“, entgegnete Paen und kämpfte gegen den Drang an, auf irgendetwas einzuschlagen. „So, wie ich bin, bin ich vollständig. Ich muss zwar ewige Qualen erleiden, aber Liebe, Seelen und emotionale Bindungen sind doch reichlich überbewertet. Wenn ich das nicht schon wüsste, müsste ich mir nur euch angucken: Immer wieder verliebt ihr euch in irgendwelche Frauen, und dann jammert ihr herum, wenn sie euch schließlich das Herz brechen – nein, danke! Und falls du mir sonst nichts zu sagen hast, dann verschwinde lieber auch!“

„Ich wollte dich gerade fragen, was ich tun kann, um dir zu helfen“, entgegnete Finn grinsend.

„In Bezug auf die Statue?“ Paen fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er war heilfroh über den Themenwechsel. „Du kannst mir nicht bei der Suche helfen.“

„Nein, schon klar. Aber wie kann ich dir helfen, damit du sie findest?“

Paen hatte das Gefühl, das ganze Gewicht der Welt laste auf seinen Schultern. „Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, wo ich mit dem Suchen anfangen soll. Die Statue wird in den Familiendokumenten nirgends erwähnt, und weil Dad nicht erreichbar ist, bis ihn jemand aufspürt und ihm ein Satellitentelefon in die Hand drückt, stehe ich völlig auf dem Schlauch. Sie könnte irgendwo im Schloss versteckt sein. Sie könnte aber auch irgendwann einmal gestohlen oder verkauft worden sein – woher soll ich das wissen?“

„Hmmm“, machte Finn. „Dann brauchen wir wohl professionelle Hilfe.“

„Professionelle Hilfe? Welcher Art?“, fragte Paen, während sein Bruder zum Telefon ging. „Wenn es auch nur im Entferntesten mit Dämonen zu tun hat, kommt es nicht infrage. Wegen denen haben wir schon genug Probleme.“

Finn kramte alles Mögliche aus seiner Hosentasche hervor und fand schließlich einen zerknüllten Zettel zwischen seinen Schlüsseln und ein paar Münzen. „Nein, nein, keine Dämonen! Ich habe letzte Woche in Edinburgh eine Frau kennengelernt, ein Unterwäschemodel – Mann, die hatte Wahnsinnsmöpse, genau nach meinem Geschmack, groß genug für meine Hände und dabei völlig natürlich … Und die hat mir erzählt, ihre Cousine sei eine ausgebildete Wahrsagerin, mit der sie in Kürze eine Detektei aufmachen wolle. Ich wette, so jemand kann herausfinden, wo die Statue ist. Ich rufe Clare schnell an und frage sie nach der Nummer ihrer Cousine.“

„Mach nur“, sagte Paen griesgrämig und ließ sich in einen Sessel fallen. Obwohl er gerade noch das Gegenteil behauptet hatte, wollte er in diesem Moment nichts anderes, als in Ruhe über die Probleme nachgrübeln, die das Schicksal ihm nun wieder aufgebürdet hatte. Als hätte er nicht schon genug Ballast mit sich herumzuschleppen … „Schlimmer kann es ja nicht werden, wenn wir sie zurate ziehen.“

1

„Und, was meinst du?“

Clare stellte eine Kiste mit Büroutensilien ab, auf der ein Blumenstrauß lag, und runzelte die Stirn. „Nun, um ehrlich zu sein, Sam, von allein hätte ich es nicht angesprochen, aber ich glaube nicht, dass die Krähe, die heute Morgen auf deinem Kopf gelandet ist, ein gutes Omen ist. Das bedeutet, dass dein Leben auf eine gewaltige Krise zusteuert. Aber ich bin hier, um dir zu helfen, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dich davor zu bewahren, komplett verrückt zu werden.“

„Nein … ich wollte wissen, wie du das Türschild findest.“ Ich nickte in Richtung der Schildermalerin, die gerade ihre Schablonen und Farben wegräumte.

„Ach so. Hmm.“ Clare legte den Kopf schräg und betrachtete die frisch gepinselten Worte auf der oberen Hälfte der offen stehenden Bürotür: DASDRITTEAUGE – SAMANTHACOSSE & CLAREBENNET – DISKRETEERMITTLUNGENALLERART. „Sieht gut aus, aber ich finde trotzdem, dass es ein bisschen zu seltsam klingt. Die Leute werden denken, dass wir keine normalen Privatdetektive sind.“

„Wir sind nicht normal, Clare.“

„Du vielleicht nicht! Ich bin so normal, wie es nur geht.“ Sie zog eine Tulpe aus dem Strauß, den sie mitgebracht hatte, ging zum Fenster und rieb mit dem Ellbogen ein Guckloch in den Schmutz auf der Scheibe. „Ein herrlicher Morgen, nicht wahr?“

Ich warf einen Blick auf den wolkenverhangenen Himmel und zuckte mit den Schultern, während ich Papier in mein neues Druck-, Kopier- und Faxgerät einlegte. „Es ist ein typischer schottischer Maimorgen: grau, kalt und nass.“

„Als ich wach wurde“, sagte Clare verträumt und nahm unbewusst eine elegante Pose ein, wie man sie sonst nur auf den Laufstegen der Modewelt bewundern konnte, „waren die hübschen kleinen Blümchen draußen mit Tau benetzt, als wären die Feen mit feuchten Schühchen über sie hinweggetanzt. Klingt das nicht hinreißend? Das habe ich mir ganz allein ausgedacht.“

„Sehr … äh …“ Clare klimperte mit ihren Wimpern, deren Spitzen silbrig glitzerten, und unter ihrem hoffnungsvollen Blick wurde ich weich. „Sehr poetisch. Aber nicht besonders realistisch, oder?“

Sie blinzelte erneut und sah mich mit ihren großen blauen verwirrt Augen an. „Wie meinst du das?“

„Nun … sieh dich doch nur an!“ Ich machte eine Handbewegung in ihre Richtung. „Du bist zwar ganz das Gegenteil von meiner kurzgewachsenen, stämmigen, dunkelhaarigen Wenigkeit – du bist groß, wunderschön, elegant und hast dieses silberblonde Haar, von dem jeder zu schwärmen scheint, aber so, wie du jetzt bist, kannst du trotzdem nicht auf hübschen kleinen Blümchen herumtanzen, nicht wahr? Du würdest sie glatt zerquetschen, wenn du das in deiner menschlichen Gestalt versuchen würdest!“

Clare verdrehte ihre ausdrucksvollen Augen und schlug mir mit der Tulpe auf den Arm. Sie umgab sich immer mit Blumen – sie konnte gar nicht anders, genau wie meine Mutter. Es entsprach einfach ihrer genetischen Veranlagung. „Ich werde dir nicht zuhören, wenn du schon wieder von diesem Unsinn anfängst! Ich werde einfach nicht zuhören!“

Ich fasste sie an den Armen und schüttelte sie sanft. „Du bist eine Fee, Clare! Es wird Zeit, dass du den Tatsachen ins Auge siehst. Du bist eine Fee, dein richtiger Name ist Glimmerharp, und du bist bei meiner Tante und meinem Onkel aufgewachsen, weil deine Feeneltern wollten, dass du es besser hast und nicht in nassen Schuhen umherlaufen musst, um die Blumen mit Tau zu benetzen. Doch sie hätten dich wohl nicht weggegeben, wenn sie gewusst hätten, dass deine Vorstellung von einem besseren Leben beinhaltet, in knapper Unterwäsche vor Fremden mit Kameras auf und ab zu marschieren. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Du bist eine Fee, und je schneller du dir das eingestehst, desto glücklicher werden alle sein, die dir lieb und teuer sind.“

„Ich bin keine Fee – ich bin ein Unterwäschemodel.“

„Du bist beides!“

„Oh!“ Sie zupfte ein Blütenblatt von ihrer roten Tulpe und steckte es in den Mund. „Das nimmst du zurück!“

„Tue ich nicht“, erwiderte ich gelassen und ließ sie los, um den Drucker an den Laptop auf dem alten Eichenschreibtisch anzuschließen, der zukünftig meiner sein sollte. „Es ist die Wahrheit, und das weißt du ganz genau, wie sehr du es auch abstreitest!“

„Du musst gerade von Abstreiten sprechen“, entgegnete sie und ging zu ihrem Schreibtisch, wobei sie eine Spur aus roten Blütenblättern auf dem Boden hinterließ. „Du verleugnest dein Erbe doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit!“

Ich musste lachen, denn schon die Vorstellung, dass ich ignorieren könnte, wer ich war, war ziemlich absurd. „Ich habe ja nun wirklich nicht die geringste Chance, meine Abstammung zu verleugnen, nachdem ich das einzige Kind im ganzen Viertel war, dessen Mutter eine waschechte, lyrikbesessene, spitzohrige, unsterbliche Elfe ist. Die blöden Elfenwitze, die ich mir jahrelang anhören musste, haben mir meine Andersartigkeit sehr bewusst gemacht, und ich will erst gar nicht davon anfangen, was schon die kleinste Anspielung auf Herr der Ringe bei mir auslöst. Ich habe nie verstanden, wie du die Tatsache akzeptieren kannst, dass meine Mutter eine Elfe ist, andererseits aber bestreitest, dass es so etwas wie Feen gibt.“

„Ich weigere mich, mit dir zu sprechen, wenn du so drauf bist“, sagte Clare und nahm eine leere Milchflasche zur Hand, die sie als Vasenersatz mitgebracht hatte. „Ich lasse mir doch so einen aufregenden Tag nicht mit diesem Quatsch verderben!“

„Aufregend?“ Ich sah mich in dem kleinen Büro um, während Clare hinausging, um die Flasche mit Wasser zu füllen. Die Malerin war gegangen, und der schwache Geruch von Acrylfarben hing noch in der Luft. Durch die offene Tür konnte ich in den dunklen, schmuddeligen Flur schauen, der zu ein paar Wohnungen und einer Gemeinschaftstoilette führte.

„So würde ich das hier nicht gerade bezeichnen“, sagte ich so laut, dass Clare mich hören konnte. „Aber keine Sorge! Mit ein bisschen Einsatz und ein paar kreativen Dekoideen aus dem Secondhandladen um die Ecke sind die Spuren der jahrelangen Vernachlässigung schnell beseitigt! Ich wünschte nur, Mila würde kommen und ihre Kartons mit dem Sexspielzeug abholen.“

Clares Stimme hallte über den Korridor, als ich unter den Schreibtisch krabbelte, um den Netzstecker in die Steckdose zu stecken. „Du hättest ihr eben nicht sagen sollen, dass sie ihren Kram bei uns lagern kann.“

„Es war schon schwer genug, sie dazu zu überreden, dieses Büro an mich zu vermieten – aua!“ Ich rieb mir den Hinterkopf, mit dem ich gegen die Schreibtischplatte geknallt war. „Offenbar macht sie in ihrem Sexshop zurzeit ordentlich Umsatz und braucht jede Menge Lagerraum. Abgesehen davon ist sie mit der Miete um hundert Pfund runtergegangen, weil ich mich bereit erklärt habe, ein paar Kartons hier einzulagern.“

Clares Antwort wurde von dem Rauschen des Wassers übertönt. Ich kroch erneut unter den Schreibtisch und zog ein Kabel hinter mir her, um die neue Telefonanlage anzuschließen, die ich gekauft hatte. „Trotz der unanständigen Spielsachen weiß ich nicht, wie aufregend dieser Job hier für jemanden sein kann, der ständig nach Mailand, Paris und Berlin jettet und tausende Pfund damit verdient, in BH und Höschen herumzustehen und einen Schmollmund zu machen.“

Clare kam ins Büro zurück. „Das ist alles nicht halb so aufregend, wie du denkst“, sagte sie. „Deshalb will ich ja auch ein Jahr Pause machen. Ich muss neue Kraft tanken, und die Arbeit hier sollte in dieser Hinsicht Wunder wirken.“

„Äh … okay.“ Ich steckte den Stecker in die Buchse an der Wand, und als das Telefon über mir augenblicklich zu klingeln begann, erschrak ich furchtbar und stieß mir zum zweiten Mal den Kopf an.

„Das Telefon“, sagte Clare eilfertig.

„Oh! Gut, dass du es sagst. Sonst hätte ich gedacht, mein Schirm klingelt!“ Ich setzte mich auf den Boden und rieb mir den schmerzenden Kopf.

„Ich gehe ran“, sagte Clare und lief zu ihrem Schreibtisch. „Dein Schirm klingelt, also ehrlich, Sam, du hast vielleicht eine Fantasie! – Guten Morgen, Das Dritte Auge – Diskrete Ermittlungen aller Art, Sie sprechen mit Clare. Was kann ich für Sie tun?“

Ich krabbelte unter meinem Schreibtisch hervor und fragte mich, während ich meine Hose abklopfte, wer uns wohl anrief. Der Anschluss war erst am Tag zuvor freigeschaltet worden, und ich hatte die Nummer außer Clare nur einer Person gegeben. Es war vermutlich nur die Telefongesellschaft, die prüfen wollte, ob die Leitung stand. Ich schaltete meinen Laptop ein und setzte mich an den Schreibtisch, während Clare immer wieder ein ermutigendes, verständnisvolles „Hm, hm“ von sich gab.

„Verstehe. Nun, ich glaube, das dürfte kein Problem sein, Mister Race. Meine Partnerin hat eine besondere Begabung dafür, verlorene Dinge wiederzufinden. – Oh, tatsächlich?“ Clare sah mich mit großen Augen an. „Dann ist es wohl am besten, wenn Sie mit ihr persönlich sprechen. Bleiben Sie kurz in der Leitung? Vielen Dank!“

„Verlorene Dinge?“, fragte ich. „Das ist doch nicht etwa ein Klient, oder?“

„Doch, doch! Ein gewisser Owen Race. Er ist so eine Art Mittelalterexperte und will, dass wir irgendeinen alten Schinken für ihn finden. Aber Sam, er hat gesagt, dass du ihm von Bruder Jacob empfohlen wurdest. Ich dachte, sie hätten dich aus dem Orden der Wahrsager rausgeschmissen?“

„Haben sie ja auch, aber Bruder Jacob hat gesagt, er hält die Ohren offen, ob vielleicht jemand die Dienste einer gescheiterten Wahrsagerin in Anspruch nehmen möchte. Und anscheinend hat Jake so jemanden gefunden. – Hallo, hier ist Samantha Cosse. Wie ich höre, brauchen Sie Hilfe bei der Suche nach einem bestimmten Gegenstand?“

Der Mann sprach wie Clare ein sauberes britisches Oberschicht-Englisch, das förmlich nach Eton und Cambridge und der BBC roch und mir einmal mehr bewusst machte, wie langweilig und akzentlos mein kanadisches Englisch klang (zumindest für meine Ohren). „Guten Morgen, Miss Cosse. Ja, wie ich Ihrer Partnerin bereits sagte, versuche ich eine sehr kostbare, mittelalterliche Schrift aufzuspüren, die mir kürzlich gestohlen wurde –Simia Gestor Coda heißt sie. Bruder Jacob vom Haus der Divination gab mir zu verstehen, dass Sie dort eine Zeit lang studiert haben und viel Erfahrung mit dem Aufspüren verloren gegangener Gegenstände haben.“

Oje! Er wollte einen Wahrsager, und ich war alles andere als das. Ich musste ihn umgehend darüber aufklären, dass ich nicht das war, wofür er mich hielt. „Nun, ich hatte tatsächlich einige Male Glück und konnte verschwundene Dinge aufspüren, aber wenn sie einen echten Wahrsager suchen, Mister Race, sind Sie bei mir leider an der falschen Adresse. Ich habe zwar im Haus der Divination studiert, aber ich wurde … nun, um es ganz offen zu sagen, ich wurde rausgeworfen, bevor meine Probezeit abgelaufen war. In den Grundlagen der Divination wurde ich also ausgebildet, doch kompliziertere Rituale kann ich leider nicht durchführen.“

„Verstehe. Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen und kann Ihnen versichern, dass ich keinen professionellen Wahrsager brauche. Bruder Jacob hat Sie mir empfohlen, weil Sie offenbar eine Begabung für das Aufspüren von Gegenständen haben, die über das Divinatorische hinausgeht.“

Ich sackte erleichtert in meinem Bürosessel zusammen. Obwohl Jake versprochen hatte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um mir zu helfen, hatte ich gar nicht damit gerechnet, so schnell Kundschaft zu bekommen, doch nachdem ich die unschöne Wahrheit über meine Vergangenheit ausgesprochen hatte, konnte ich mich nun ganz auf den Job konzentrieren, der mir angeboten wurde. „Es ist mir eine Freude, Ihnen sämtliche Ressourcen meiner Detektei zur Verfügung zu stellen“, sagte ich. „Vielleicht können wir uns treffen, um alles Weitere zu besprechen?“

„Ausgezeichnet. Ich bin gerade in Barcelona, aber ich übernehme natürlich gern die Kosten für Ihren Flug hierher.“

„Äh …“, machte ich überrascht, „ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Mister Race, aber unsere Detektei befindet sich noch im Aufbau, und mir wäre nicht wohl dabei, die ganze Arbeit meiner Partnerin zu überlassen.“ Ich winkte Clare und schrieb „Ich soll nach Barcelona kommen!“ auf meinen Notizblock. Clare sah mich entgeistert an. Als wir auf die Idee mit der Detektei gekommen waren, hatte ich ihr versprechen müssen, dass ich den, wie sie es nannte, „unerfreulichen Geschäftskram“ übernehmen würde.

„Nein, Sam!“, raunte sie mir zu.

„Keine Sorge“, entgegnete ich lautlos, dann sagte ich ins Telefon: „Das ist wirklich großzügig von Ihnen, doch ich bin zur Zeit leider nicht abkömmlich. Aber meine …“ Ich zog fragend die Augenbrauen hoch, und Clare nickte eifrig. „Meine Partnerin könnte nach Barcelona kommen. Sie vertritt mich gerne und bespricht mit Ihnen alle Einzelheiten.“

„Ähm … nein, das wird nicht nötig sein“, entgegnete Race. Er klang enttäuscht. Ich sah Clare an und schüttelte den Kopf. „Ich komme gegen Ende der Woche zurück. Dann können wir uns in Edinburgh treffen.“

„Ich würde mich gerne umgehend mit Ihrem Auftrag beschäftigen, wenn Sie mir jetzt schon ein paar Details mitteilen können“, sagte ich in professionellem Tonfall und öffnete ein neues Textdokument auf meinem Laptop. „Beschreiben Sie mir doch den gestohlenen Gegenstand, und später können Sie mir Ihre Versicherungsunterlagen faxen und natürlich den Polizeibericht.“

Zwanzig Minuten später beendete ich das Gespräch und klickte auf „Speichern“.

„Und?“, fragte Clare, während sie geistesabwesend an einer Nelke knabberte. „Haben wir den Auftrag?“

Ich lächelte. „Wir sind engagiert! Hipp, hipp …“

„Hurra! Ich habe doch gesagt, das wird ein aufregender Tag! Obwohl ich schon enttäuscht bin, dass ich nicht nach Barcelona fahre. Eine wunderschöne Stadt! Wir suchen also ein Buch?“

„Ja, etwas in der Art. Ein mittelalterliches Manuskript, das Mister Race gestohlen wurde. Offenbar besitzt er eine ganze Schriftensammlung und hat den Diebstahl erst bemerkt, als er vor einem Monat eine Bestandsliste erstellen ließ. Er lässt seine Haushälterin noch einige Informationen über das Manuskript zusammentragen, aber bis dahin können wir schon mal mit dem arbeiten, was er mir an die Hand gegeben hat. Er hält es für sehr gut möglich, dass ihm das Manuskript von einem anderen Sammler gestohlen wurde.“

„Oooh! Wie spannend! Das ist ja wie ein Kunstraub, nur mit einem mittelalterlichen Buch.“

„Mmm“, machte ich und holte meine Handtasche und meine Jacke. „Ich werde mal ein paar Antiquitätenläden abklappern. Vielleicht kann ich herausfinden, wer die großen Sammler in Großbritannien sind.“

„Und was soll ich in der Zeit machen?“, fragte Clare kauend.

„Du hörst am besten auf, die Blumen wegzufuttern, sonst hast du bald nur noch Stängel in der Vase“, entgegnete ich.

Sie sah mich entrüstet an. „Ich esse keine Blumen!“

Ich warf mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick auf die angeknabberte Nelke in ihrer Hand. Clare starrte die Blume an, als könne sie sich gar nicht erklären, wie sie ihr in die Finger geraten war. „Du bist eine Fee, Clare. Außer hartgesottenen Vegetariern isst sonst niemand Blumen, und weil ich schon mal gesehen habe, wie du ein Steak verschlingst, weiß ich, dass du nicht zu dieser Fraktion gehörst. Wenn du etwas Nützliches tun willst, dann such für mich im Internet nach der …“ Ich schaute in meine Notizen. „… Simia Gestor Coda. Bei so einem Namen muss das Ding doch eine Geschichte haben. Ich wüsste gern alles darüber, was du nur herausfinden kannst. Mister Race hat mir lediglich gesagt, dass die Schrift von einem Magier verfasst wurde, der bei Marco Polo in Stellung gewesen sein soll. Oh, und mach auch eine Liste von den wichtigsten Antiquitätenhändlern in England. Es kann nicht schaden, wenn wir wissen, wer eventuell mit solchen alten Schriften handelt.“

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, diverse Antiquitätenläden in der Gegend um die Royal Mile aufzusuchen, der berühmtesten Straße von ganz Edinburgh. Als ich das letzte Geschäft auf meiner Liste betrat, einen kleinen, verstaubten Laden, der zwischen einer Buchhandlung und einer Gyrosbude versteckt lag, war ich ziemlich frustriert. Die Antiquitätenhändler sprachen äußerst ungern über ihre Kunden, und keiner hatte jemals von der Coda gehört.

Die kleine Glocke über der Tür bimmelte, als ich den Laden betrat. Auch dieser war bis unter die Decke vollgepackt mit Skulpturen, Kunstobjekten, ausgestopften Tieren, merkwürdigen alten Maschinenteilen, Büchern und kolorierten Manuskripten und unzähligen anderen Dingen, die irgendwann einmal von Nutzen gewesen waren. Ich stöberte ein wenig in dem Laden herum und schaute immer wieder zu dem Mann, den ich für den Besitzer hielt. Er stand mit dem Rücken zu mir in der Tür zum Nebenraum und sprach mit jemandem, den ich nicht sehen konnte.

„Scheibenkleister!“, sagte ich zu mir, als ich auf meine Uhr sah. Ich war bereits drei Stunden unterwegs und musste dringend wieder zurück ins Büro, um Clare zu helfen. Ich ging in den hinteren Teil des Ladens, blieb vor einem Regal mit einem ausgestopften Klammeraffen stehen und warf einen ungeduldigen Blick auf den Mann in der Tür. „Ich habe keine Zeit mehiiiiiiih!“

Mir blieb fast das Herz stehen, als der Klammeraffe plötzlich quicklebendig aus dem Regal auf meine Schulter sprang. „Au Mann, du hast mich zu Tode erschreckt! Hallo, Mister Monkey! Also, ich nehme mal an, dass du ein Mister bist. Bei dem Matrosenanzug, den du trägst, kann man das nicht so genau sagen. Bist du hier zu Hause? Natürlich bist du das, was für eine blöde Frage! Was hätte ein Affe sonst in einem Antiquitätenladen verloren? Würdest du deinen Besitzer vielleicht fragen, ob er ein paar Minuten Zeit für mich hat? Nein? Mist. Aber egal, du lieferst mir einen guten Grund, ihn zu stören.“

Der Affe, der sich offensichtlich freute, dass er mir so einen Schrecken eingejagt hatte, sprang wieder ins Regal und strich das Fell an seinem Schwanz glatt.

„Äh … Du bist natürlich nur ein guter Grund, ihn zu stören, wenn du auf meiner Schulter sitzt, also hopp! Komm her … Wie heißt du eigentlich?“

Ich streckte vorsichtig die Hand aus, um ihn am Arm zu streicheln. Da er anscheinend nichts gegen Liebkosungen einzuwenden hatte, fasste ich ihn an seinem mit Edelsteinen besetzten Halsband, das obendrein aus winzigen Nieten zusammengesetzte Buchstaben zierten.

„B …E …P … Aha, hallo, Beppo!“

Der Affe hörte auf, an seinem Schwanz herumzuspielen, und hielt mir seine kleine Hand hin. Er machte so ein würdevolles Gesicht, dass ich mir das Lachen verbeißen musste, und ich schüttelte ihm behutsam die Hand. Zufrieden setzte er die Fellpflege fort.

„Du bist aber ein drolliger kleiner Affe! Also, Beppo, dann komm auf meine Schulter, damit wir dein Herrchen stören können!“

Er ließ seinen Schwanz fallen und hielt mir abermals die Hand hin.

„Hallo!“ Ich schüttelte sie ihm erneut, und er ergriff wieder seinen Schwanz.